Da geht Kafka - Johannes Urzidil - E-Book

Da geht Kafka E-Book

Johannes Urzidil

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Beschreibung

»Kafka war Prag und Prag war Kafka.« Urzidil, selbst jüngster Dichter im legendären Kreis um Franz Kafka, Max Brod und Franz Werfel, entführt uns in sein Prag der 20er Jahre und beschreibt anschaulich die dichte schöpferische Atmosphäre, in der sich damals die Größen der Literatur und Kunst bewegten. Dieser Erzählband ermöglicht dem Leser ein besseres Verständnis der komplexen Persönlichkeit Kafkas und seiner Werke, denn er spricht aus der Vertrautheit mit dessen geistiger Heimat. Das Prag jener Zeit mit seiner deutschen, tschechischen und jüdischen Geschichte durchdringt mit seiner geistigen Lebendigkeit jede Zeile dieser beeindruckenden Sammlung, die damit einem der bedeutendsten Literaten des 20. Jahrhunderts ein sehr persönliches Denkmal setzt.

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© 2023 Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: akg-images, Berlin

Satz: Ralf Paucke

E-Book Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8472-3

www.langenmueller.de

Inhalt

I Im Prag des Expressionismus

II Edison und Kafka

III Das Reich des Unerreichbaren

IV Umgang mit Sirenen

V Brand

VI Der Hebräischlehrer

VII Golem-Mystik

VIII Denkmale

IX Vita brevis, ars longa

X 11. Juni 1924

XI Gedenkrede

XII Über die Vernichtung des Geschaffenen durch seinen Schöpfer

Nachwort von Herbert Rosendorfer

Bibliographische Nachbemerkung

Verzeichnis der Personen

I Im Prag des Expressionismus

Wie kam es dazu, daß deutsche Dichtung und Literatur in den zehner und zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts gerade in Prag mit so besonderer Kraft und Originalität gedeihen konnten? Welches Aggregat von Lebenskräften hatte an dieser dichterisch erfüllten und schöpferischen Atmosphäre Anteil? Ich sollte es wissen, denn ich wurde dort geboren, wuchs dort auf und war Zeuge und Teilnehmer jener mit weltweiten Ideen, immer neuen Formen und sittlichen Begeisterungen erfüllten deutschen Prager Geisteswelt. Aber ein rasches und eindeutiges Urteil über die Gründe dieser Erscheinung kann nicht gefällt werden, und die sozialen, biologischen oder sonst im Materiellen wurzelnden Voraussetzungen können mir nur teilweise behilflich sein. Ein Phänomen wie die Ansammlung einer auffallend großen Zahl schöpferischer Persönlichkeiten höchsten, hohen oder zumindest sehr beachtlichen Ranges während einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne auf dem engen Raum einer Stadt (wie ähnlich einst in Weimar oder in Concord, Massachusetts) ist in der Hauptsache immer etwas Sublimes und Metaphysisches. Die meisten der Prager deutschen Autoren waren Juden, aber sie waren von ihrer jüdischen Zugehörigkeit nur fallweise durchdrungen. Ihr deutsches Sprachbewußtsein bestimmte ihr Geschichtsbewußtsein stärker, als dies etwa ihr Stammesbewußtsein vermochte (um hier Begriffe zu verwenden, die der Prager Philosoph Felix Weltsch sehr überzeugend in einer Studie über Kafka aufgestellt hat). Eine gewisse, aber auch nur unvollkommene Stütze mag mir bei meiner Betrachtung die Idee der Gestalt und Gestaltsqualität bieten, die ja übrigens auch in Prag von meinem Lehrer Christian Freiherr von Ehrenfels und später durch den Prager Max Wertheimer entscheidend entwickelt wurde. Sie noch am ehesten ermöglicht den erkennenden Anblick des Geheimnisses einer literarischen Physiognomie, deren disparate Einzelzüge sich zu einer unanalysierbaren Gesamtschönheit vereinigen.

Die Prager deutschen Dichter und Schriftsteller hatten gleichzeitigen Zugang zu mindestens vier ethnischen Quellen: dem Deutschtum selbstverständlich, dem sie kulturell und sprachlich angehörten; dem Tschechentum, das sie überall als Lebenselement umgab; dem Judentum, auch wenn sie selbst nicht Juden waren, da es einen geschichtlichen, allenthalben fühlbaren Hauptfaktor der Stadt bildete; und dem Österreichertum, darin sie alle geboren und erzogen waren und das sie schicksalhaft mitbestimmte, sie mochten es nun bejahen oder auch dieses oder jenes daran auszusetzen haben. Jeder dieser Quellpunkte nun bezog seine Dynamik aus zwei Sphären: aus dem ortsgebundenen Pragertum und aus dem zentripetal anflutenden Böhmentum. Dieses wiederum bestand aus den teils ansässig gewordenen, teils von der deutschen Universität herangezogenen Sudetendeutschen; aus einem Grundstock tschechischen Landvolkes, das nach der Landeshauptstadt, später Staatshauptstadt, gravitierte; aus tschechischen oder auch deutschen Landjuden, die als mittlere Gutsbesitzer oder Gutspächter einen besonderen Typus darstellten; dann aber aus dem eingeborenen böhmischen, zum Teil auch tschechisch betonten österreichischen Adel (sowie dem deutsch, das heißt österreichisch katexochen empfindenden) mit seinen Palais in der Stadt und seinen prächtigen Landsitzen rundum in Böhmen, uralt und in manchen Fällen sogar noch in die Zeit der Přemysliden-Könige zurückreichend, einem Adel also, dem selbst die Habsburger als relative Neuankömmlinge erscheinen mochten. All dies wirkte zusammen, mit alledem fand sich ein Dichter konfrontiert und geriet dadurch sehr bald aus der Sphäre örtlicher Gebundenheiten in die des Grundsätzlichen.

Tschechische Dichter und Schriftsteller, noch tief verstrickt in ihre nationalen Bestandskämpfe, konnten sich solcher Grundsätzlichkeit nicht anheimgeben, obschon sich Vorzeichen hiefür in der Literatur bei den Brüdern Josef und Karel Čapek, bei mehreren eine gewisse Weltweite anstrebenden bildenden Künstlern und in der tschechischen modernen Musik ankündigten, jener Ausdrucksform also, die am ehesten und unmittelbarsten unter Beibehaltung des nationalen Stigmas ein künstlerisches Weltbürgertum erreichen konnte. Deshalb waren auch die persönlichen Beziehungen der Prager deutschen Dichter und Schriftsteller zu den tschechischen Malern und Musikern lebhafter als die zu den tschechischen Autoren. Die geradezu groteske Sprachbarriere wirkte dabei auch noch mit. Nicht alle deutschen Literaten waren mit der tschechischen Sprache vollkommen vertraut (obwohl das von den Juden unter ihnen weitgehend gelten konnte), und nur wenige tschechische Autoren sprachen Deutsch oder mochten es sprechen.

Für die deutsch schreibenden Prager bildete die zuweilen freundschaftliche, zumeist politisch turbulente und streitlustige – von antisemitischen Anwandlungen auch tschechischerseits nicht völlig freie – Symbiose und Wechselwirkung, dieses Durcheinanderglühen des alchemistischen Prager Schmelztiegels, die causa causarum eines literarischen Freimuts, der sich sehr bald seinen dichterischen Ausdruck in allen Rängen schuf und für den um jene Zeit die Bewegung, die man Expressionismus nannte, ein machtvolles Entbindungsmittel darstellte. Denn vermöge seines nationalen, sozialen und konfessionellen Facettenreichtums bot ihnen Prag in der Tat das geistige Potential einer Groß- und Weltstadt, viel brillanter als so manche weit volkreichere europäische Metropole.

Zwar hatte in Prag schon vormals ein deutschsprachiges literarisches Eigenleben bestanden, und wir können seinen Spuren sehr genau folgen, wenn wir den Verbindungen Goethes mit Böhmen nachgehen und in der Folgezeit dem Schaffen der »Achtundvierziger« sowie noch später dem der Dichter der »liberalen Ära«, die mit Friedrich Adler und Hugo Salus noch in meine Jugendentwicklung herüberreichte. Auch Rilke wurde jener »liberalen Ära« noch mancherlei schuldig, doch leitete er zugleich den Ausbruch der Deutschprager Dichter ins Europäische ein. Seit Rilke datiert die Epoche, deren Leistungen dann unter dem entscheidenden Einfluß Max Brods durch Kafka und Werfel eine mondiale Streuung erlangten. Derartiges war vorher aus Prag nicht gekommen, obwohl während des ganzen 19. Jahrhunderts dort so viel Deutsch gesprochen wurde, daß die hunderttürmige goldene Hauptstadt der Tschechen oberflächlicherweise manchen Unwissenden beinahe schon als »deutsche Stadt« galt, eine Mißdeutung, die später bittere Folgen haben sollte.

Rilke hatte die tschechische Umwelt nachhaltig vom Volkstum aus erlebt. »Böhmischen Volkes Weise« klang ihm im Ohr und mag sich mancher Wortformung und Satzwendung bei ihm mitgeteilt haben. Das ist Schicksal, dem sich keiner in keinem Lande entziehen kann noch soll, denn es ist auch Bereicherung des eigenen. Aber Rilke wandte sich zeitig von Prag ab. Mit den Menschen und den Geschicken der Stadt und des Landes hat er zu wenig gelebt, Schmerz und Glück zu wenig mit ihnen geteilt. Das aber konnte nicht von Paul Leppin oder Franz Werfel, nicht von Paul Kornfeld oder Max Brod, nicht von Felix Weltsch, dem philosophischen Kopf, nicht von dem religionsweisen Hugo Bergmann, von Willy Haas, dem kritischen Mentor, oder Egon Erwin Kisch, dem »rasenden Reporter«, gelten. Und selbstverständlich am allerwenigsten von Franz Kafka, in dem Prag daheim ist wie Zürich in Keller oder Concord in Thoreau. Alle genannten Prager lebten mit der Stadt, verdankten ihr das Beste, wurden Zeugen der ansteigenden politischen Vehemenz der Tschechen, des immer mehr nachlassenden Lebenswillens der Habsburger Monarchie, zugleich aber im Gelände der deutschen Literatur, das sie geistig mitbewohnten, der Befreiung der literarischen Ausdruckskräfte von den Residuen der Baumbach-Ära. Bei diesem revolutionären Prozeß konnten sie gerade in Prag übernationaler sein als wo immer sonst in deutschen Landen.

Sprachlich und atmosphärisch verfügten sie über einen direkteren Zugang zu den großen Russen. Ich las zum Beispiel Tolstoj und Dostojewskij nicht bloß in deutscher Übersetzung, sondern auch tschechisch, und das bedeutet, diese Autoren nicht nur vermöge des Verstandes, sondern gleichsam aus einem verwandten Herzen heraus zu begreifen. Die moderne tschechische Malerei, radikal und kühn vorstoßend, riß weite Sichten nach Frankreich auf. Die ungeheuere natürliche Musikalität der Tschechen umgab uns, und die besten Zeugnisse des in Prag lange gepflegten, nun aber schon hinsinkenden Wagnerismus wurden bereits von den Schöpfungen einer durch Alexander von Zemlinsky, den Lehrer und Schwager Schönbergs, heraufgeführten neuen musikalischen Epoche überboten. Freilich konnten und wollten wir uns den Wirkungen Hauptmanns und Wedekinds im Drama, denen Georges und Hofmannsthals in der Lyrik nicht entziehen, aber Prag blieb eine autochthone, noch mehr: eine geistig autarke Welt, die zum Beispiel ein Karl Kraus – obschon selbst aus Mittelböhmen stammend – von Wien aus überhaupt nicht mehr verstand und jedenfalls völlig verkannte.

Aber nicht mehr der sentimentale Zauber Prags konnte die dichterischen Emotionen der dortigen deutschen Expressionisten auslösen (wie er mit gotischer und barocker Magie noch die Verse der Adler und Salus getönt hatte), sondern das realistische Leben, das sich Verwandelnde, darin die Gottheit ist, das Soziale, das Humane und Weltfreundschaftliche, das schlechthin Europäische, zu dem gerade diese Stadt der unaufhörlichen kämpferischen Antithesen stündlich herausforderte. Unter solche Forderung waren die Deutschprager Dichter viel entschiedener gestellt als die auf ihr Nationalgefühl verpflichteten Tschechen oder die Sudetendeutschen draußen im Lande. (Ich redigierte eine Zeitlang eine literarische Zeitschrift, die ich geradezu ›Der Mensch‹ benannt hatte und die als gemeinsame weltbürgerliche Tribüne deutscher und tschechischer Dichter beabsichtigt war. Sie hielt sich freilich nur ein knappes Jahr, denn »was ist vom Menschen und könnte dauern?«.)

Prag war die Stadt der Raconteure, der magischen Realisten, der Erzähler mit exakter Phantasie. Gewiß war Werfel ein weithin vernehmbarer lyrischer Herold und der ethisch respektgebietende Rudolf Fuchs ein reiner, tiefgründiger Lyriker. Gewiß war Paul Kornfeld einer der Protagonisten des expressionistischen Dramas. Aber die Entscheidungen von größter Tragweite wurden in der Prager deutschen Prosa getroffen. Sie drang am wirksamsten in der Welt vor, sie war frei von einengendem Provinzialismus und verfügte über den weitesten Gesichtskreis, an dem auch sehr bald diejenigen Autoren Anteil hatten, die von außen in das Prager Magnetfeld gelangten, wie etwa Ernst Weiss, Hermann Ungar und Ludwig Winder (alle drei aus Mähren), Oskar Baum oder Melchior Vischer (beide aus Innerböhmen). Im Prag jener Phase entwickelten sie sich zu Exponenten einer anzufordernden allgemeinen Geistes- und Weltfreiheit.

So, wie ich jenes Prag heute noch vor Augen habe, erscheint es mir im wesentlichen als kafkaeske Stadt. Das mag heutigentags selbstverständlich und fast trivial klingen, aber ich – und nicht nur ich – fühlte das bereits, als Kafka dort noch mit uns weilte. Obzwar Prag in Kafkas Werk höchstens in gelegentlichen Umschreibungen deutlich wird, ist es doch überall in den Schriften enthalten, wie das Salz jenes buddhistischen Gleichnisses im Wasser. Obzwar das Salz als solches nicht sichtbar wird, schmeckt dennoch das Wasser ganz und gar salzig. So ließe sich in jeder Gestalt, jeder Situation, jeder Milieuschilderung Kafkas das Pragerische nachweisen. Nur ein Beispiel: ›Die Verwandlung‹, nach deren Erscheinen Kafka zu dem Vater meiner Frau, Professor Karl Thieberger, den er auf der Straße traf, bemerkte: »Was sagen Sie zu den schrecklichen Dingen, die sich in unserem Haus abspielen?« Wer das für einen bloßen Scherz hielte, der weiß eben nichts von Kafka. Es war – wie fast alles bei ihm – zwar Ironie, aber eben nicht bloße Ironie, sondern zugleich ernster Realismus.

Zur Zeit der Hauptproduktion Kafkas war Prag am typischsten Prag und auch am typischsten kafkaesk. Man kann die eigentliche Essenz jenes Prag durch Kafka vollkommener begreifen und definieren als durch jeden anderen Autor, ganz bestimmt aber eher durch ihn als durch jedwedes tschechische Werk jener Zeit, obwohl ein solches prädestiniert scheinen müßte, Prag darzustellen. Das ist vielleicht auch einer der unwillkürlichen Gründe dafür, daß auf tschechischer Seite immer wieder Versuche gemacht werden, Kafka als eine Art verhohlenen Tschechen darzustellen und ihn aus der deutschen Literatur zu eskamotieren, wobei unter anderem die amerikanische Begriffsbestimmung der Nationalität nach dem Geburtsstaat solchen Bestrebungen unvermerkt dadurch dienlich ist, daß sie Kafka zuweilen als »Czech writer« bezeichnet. Das ist natürlich barer Unsinn, denn ein Schriftsteller gehört zur geistigen Repräsentanz der Sprache, in der er denkt und schreibt. (Wenn Kafka einmal an seine tschechische Freundin Milena Jesenská schrieb: »Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich, aber das Tschechische ist mir viel herzlicher« – so muß man bedenken, daß dieser Satz nicht als »literarische« Aussage zu bewerten, sondern an eine tschechische Geliebte gerichtet und auf diese abgestimmt ist. Auch für den Prager Rilke hatte das Tschechische zweifellos einen »herzlichen« Klang, den es in der Tat für jeden hat, der diese Sprache vom Volke aus kennt und womöglich [wie eben Kafka, Rilke, Brod oder auch der Verfasser dieser Betrachtungen] in tschechischer Umwelt aufwuchs oder die Sprache selbst zu sprechen weiß.)

Unser oft genug gelästertes, zwar nicht akzent-, aber durchaus dialektfreies Prager Deutsch konnte sich seit dem Mittelalter auf der Prager Sprachinsel unversehrt erhalten, eben weil es den verschleifenden und dialektisierenden Einwirkungen des Provinzialen und Landschaftlichen nicht unterworfen war. Das war für die Literatur ein einzigartiger Segen. Denn wir Prager Deutschen dichteten und dichten noch immer in der Sprache, in der wir leben und die wir auch tagsüber sprechen. Das galt schon von Karl Egon Ebert ebenso wie von Rainer Maria Rilke und von Egon Erwin Kisch. Zwischen Dichtung und Lebenssprache bestand für die Deutschprager niemals eine Kluft, kein inneres – wenn auch noch so unbewußt vollzogenes – Umschalten ist nötig. Diese völlige Koinzidenz der Sprache des Lebens mit der des Dichtens ist wahrscheinlich das stärkste Form- und Wirkungsgeheimnis der Prager und besonders gerade Kafkas. Wer ihn als Menschen sprechen hörte, der hört ihn auch bis in die kleinste Nuance aus jeder seiner Zeilen. Dies ist das Geheimnis einer inneren Identität, die wir Prager so lange als möglich gehütet haben und die mit uns Letzten entschwindet.

II Edison und Kafka

In Prag gab es ein Kaffeehaus »Edison«. Herr Turnovsky, Vater eines meiner älteren Mitschüler, war der Eigentümer. Der amerikanische Erfinder, der 1911 in Prag weilte und von einem Fenstertisch aus das Treiben auf dem Wenzelsplatz zu beobachten liebte, hatte Herrn Turnovsky gestattet, sein Lokal fortan »Edison« zu nennen. An der Wand über dem Tisch hing ein großes Lichtbild des »Weisen von Menlo Park«, geschmückt mit dessen eigenhändiger Unterschrift. Unter diesem Bild saß ich einmal mit Kafka. »Ein denkwürdiges Dokument«, sagte dieser ernst und zugleich mit jener leisen Ironie, die auch dem Ernstesten bei ihm anhaftete. (Man mußte auf der Hut sein, denn zuweilen sagte er auch Ironisches ironisch, nicht um es zu unterstreichen, sondern um es gleichsam aufzuheben.)

Amerikaner kamen dazumal nur selten nach Böhmen. Die meisten von ihnen besuchten Karlsbad und Marienbad, und einige kamen dann wohl auch nach Prag. Der Besuch Edisons mußte freilich besonders auffallen. Er war damals schon ein älterer Herr mitenergisch geprägtem, echt amerikanischem Gesicht, zugleich mit etwas Künstlerischem in seinem Gehaben, etwas Prometheischem, das dem Lichtbringer, dem praktischen Genie mit seinen 1200 Patenten wohl anstand. Kafka trug in sein Tagebuch (11. November 1911) die Bemerkung ein, Edison habe »in einem amerikanischen Interview über seine Reise durch Böhmen erzählt, seiner Meinung nach beruhe die verhältnismäßig höhere Entwicklung Böhmens darauf, daß die Auswanderung der Tschechen nach Amerika so groß ist und daß die einzelweise Zurückkehrenden neues Streben von dort mitbringen«. Diese Schlußfolgerung war wohl nur zu geringem Grade richtig. Hauptsächlich mochte sie darauf zurückgehen, daß einer der liebsten Mitarbeiter Edisons, der Prager Ingenieur Kolben, aus Amerika in seine Heimat zurückgekehrt und daselbst in der Industrie sehr bald führend geworden war. Kolben war allerdings kein Tscheche, sondern gehörte – ebenso wie Kafka – dem Prager deutschen Judentum an. Aber auch einen tschechischen Schüler und Freund Edisons gab es in Prag, den Ingenieur Frantíšek Křižík, der in Prag die Bogenlampe als Straßenbeleuchtung eingeführt und dort auch die erste elektrische Straßenbahn erbaut hatte. Daß ich mit Kafka unter jenem Edisonbildnis saß, war übrigens nur zufällig; denn Kafka besuchte Kaffeehäuser nur selten. Aber er kam doch zuweilen ins »Continental«, ins »Arco« oder eben auch ins »Edison«, und ich entsinne mich noch einer anderen Gelegenheit, wie er unter jenem Edisonbild in größerem Kreis nach einer Vorlesung Ludwig Hardts diesem erstaunlichen Rezitator lauschte, der stundenlang prachtvolle ostjüdische Geschichten zum besten gab.

Kafkas Eintragung über Edison und sein Interesse an seiner Erscheinung war keineswegs beiläufig, sondern gehörte dem Magnetfeld an, das sich dann 1912 in den ersten Skizzen des fragmentarisch gebliebenen Romans ›Der Verschollene‹ auswirkte, von Max Brod postum unter dem Titel ›Amerika‹ veröffentlicht (das Anfangskapitel ›Der Heizer‹ allerdings schon 1913 in der von Kurt Wolff geschaffenen Reihe ›Der jüngste Tag‹). Die wichtigste zu diesem Roman gehörende Amerikaaufzeichnung Kafkas ist die Tagebucheintragung ›Traum‹ vom 11. September 1912. Der Träumer, das heißt Kafka, erlebt sich selbst mitten im Hafen von New York. »Der Himmel war grau, aber gleichmäßig hell. Ich drehte mich, frei der Luft von allen Seiten ausgesetzt, auf meinem Platz (einer aus Quadern weit ins Meer hinausgebauten Landzunge) hin und her, um alles sehen zu können. Gegen New York zu ging der Blick ein wenig in die Tiefe, gegen das Meer zu ging er empor. Nun bemerkte ich auch, daß das Wasser neben uns hohe Wellen schlug und ein ungeheuer fremdländischer Verkehr sich auf ihm abwickelte. In Erinnerung ist mir nur, daß statt unserer Flöße lange Stämme zu einem riesigen runden Bündel zusammengeschnürt waren, das in der Fahrt immer wieder mit der Schnittfläche je nach der Höhe der Wellen mehr oder weniger auftauchte und dabei auch noch der Länge nach sich in dem Wasser wälzte. Ich setzte mich, zog die Füße an mich, zuckte vor Vergnügen, grub mich vor Behagen förmlich in den Boden ein und sagte: ›Das ist ja noch interessanter als der Verkehr auf dem Pariser Boulevard.‹«

Diese Traumvision bildet die Erlebnisparallele des turbulenten Hafenbildes der Einfahrt in New York in ›Der Heizer‹, zu dem anschauliche persönliche Berichte von Amerikabesuchern, aber bestimmt auch die Beschreibung der Ankunft in New York in den ›American Notes‹ von Charles Dickens beigetragen haben. Kafka wünschte ja auch, das Buch möchte wie ein Dickens-Roman zu lesen sein, »nur bereichert um die schärferen Lichter, die ich der Zeit entnommen, und die matteren, die ich selbst aufgesteckt hätte«. Den wichtigsten Beitrag freilich lieferte Kafkas »exakte Phantasie«, die sich besonders an dem »ungeheuer fremdländischen Verkehr« entzündete, der in ›Der Heizer‹ lustvoll beschrieben wird. Seine Imaginationen waren so korrekt, daß er in ›Der Verschollene‹ die doch von ihm nie wirklich gesehenen amerikanischen Autobahnen mit einem ebenso gewaltigen wie völlig zutreffenden Bild kennzeichnet: »Ein mächtiges Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wird und das dem betörten Auge so körperlich erscheint, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.« Hier werden in der Metapher Riesenmassen aufgespeicherter natürlicher und technischer Energien entbunden, und wer amerikanische Highways kennt, wird die Echtheit dieser vehementen Vision bestätigen.

Nicht minder gegenständlich ist Kafkas Darstellung der Verkehrsdichte New Yorks. Es ist, als hätte er die Metropole jetzt, fünfzig Jahre später, genauest studiert. »Straßen, wo das Publikum in großer, unverhüllter Furcht vor Verspätung in fliegendem Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren, vorwärts drängte … riesenhafte Wagen, so auffällig in ihrem Bau und so kurz in ihrer Erscheinung, daß man nicht Zeit hatte, auch nur das Vorhandensein von Insassen zu bemerken … Kolonnen von Fuhrwerken, die in fünf die ganze Breite der Straße einnehmenden Reihen so ununterbrochen dahinzogen, daß niemand die Straße hätte überqueren können … wenn an einzelnen Stellen infolge allzugroßen Andrangs von den Seiten her Umstellungen vorgenommen werden mußten, stockten die ganzen Reihen und fuhren nur Schritt für Schritt … Dann aber kam es vor, daß für ein Weilchen alles blitzschnell vorbeijagte, bis es, wie von einer einzigen Bremse regiert, sich wieder besänftigte.« Ein anderes konkretes Bild: »Die Brücke, die New York mit Brooklyn verbindet, hing zart über dem East River, und sie erzitterte, wenn man die Augen klein machte. Sie schien« – im Vogelschaubild – »ganz ohne Verkehr zu sein, und unter ihr spannte sich das glatte Wasserband.« Die psychophysische Prägnanz dieser Bilder entspricht der klaren Sicht soziologischer Phänomene, so daß Kafka zum Beispiel die Umstände eines amerikanischen Liftboys in den Tatsachen nicht nur eindrucksvoll, sondern sogar richtiger schildert als etwa Theodore Dreiser, der doch auf Grund persönlicher Anschauung und als Amerikaner schrieb. Wenn aber Kafka in den Eingangszeilen von ›Der Heizer‹ die Freiheitsstatue ein Schwert zücken läßt anstatt der wirklichen Lampe, so war das keineswegs ein lapsus calami oder gar visionis, sondern eine symbolische Absicht, ein Dahinterblicken ähnlich dem Hawthornes (in seiner Einleitung zu ›Der scharlachrote Buchstabe‹) bei Betrachtung des amerikanischen Wappenadlers über dem Zollhaus seiner Heimatstadt Salem in Massachusetts.

In Kafkas erstem Buch, ›Betrachtung‹ (1912), tauchen bereits amerikanische Anspielungen auf. Da ist der in einen einzigen dichten Satz gebannte Wunschtraum, »Indianer zu werden« (dem sich eine Tagebuchnotiz über Kämpfe zwischen Indianern und amerikanischen Regierungstruppen gesellen ließe), oder die Antwort eines schönen Mädchens, das einem Anwärter auf ihre Gunst vorhält: »Du bist kein breiter Amerikaner mit indianischem Wuchs, mit waagrecht ruhenden Augen, mit einer von der Luft der Rasenplätze und der sie durchströmenden Flüsse massierten Haut; du hast keine Reisen gemacht zu den großen Seen und auf ihnen. Also bitte, warum soll ich, ein schönes Mädchen, mit dir gehen?« Ironisch gemeint? Gewiß. Aber ebenso wehmütig ernst auf sich selbst hinblickend. Zu allem auch noch eine Vorhaltung, mit der besonders mancher Anwärter heute bei einem schönen Mädchen zu rechnen hat. Kafkas Tagebücher enthalten Bemerkungen über die Mädchen New Yorks, jung, berufstätig und hübsch gekleidet; über das Leben eines Warenhausangestellten in Chicago und die dortigen Verhältnisse; über die tschechischen Ansiedler in Nebraska, die amerikanischen Wahlen und das amerikanische Parteiensystem (auf Grund eines von Kafka mit angehörten Vortrags des tschechischen sozialdemokratischen Politikers Soukup); über jemanden, der die Frage stellt, »warum es den Amerikanern so gut geht, obwohl sie bei jedem zweiten Wort fluchen«. Die Erscheinung Benjamin Franklins beschäftigte Kafka außerordentlich, vor allem psychologisch. Aus dem (November 1919) geschriebenen langen ›Brief an den Vater‹ geht hervor, daß Kafka seinem Vater Franklins Autobiographie zu lesen gegeben hatte, um ihm die Wechselbeziehung zwischen Franklin und dessen Vater vorzuführen. (Auch in dem Prosastück ›Elf Söhne‹ spiegelt sich etwas von Franklins klarsichtigem und zugleich liebendem Realismus.)

Kafkas Interesse an Amerika, seine Informiertheit wie sein innerlich erschlossenes dichterisches Wissen um die ferne Welt (in vielem mit jenem Goethes vergleichbar, der den Hafen von Boston auch genau beschreiben konnte und von Amerika mehr wußte, als ihm aus Büchern und persönlichen Berichten zukommen konnte) bilden aber keineswegs die direkte Ursache für das heftige Interesse der Amerikaner an Kafka, dessen Name als literarisches Haushaltwort ebensooft gebraucht und mißbraucht wird wie der Freuds als psychologisches oder der Einsteins als eines Schwurzeugen dafür, »daß alles relativ sei«. Zwar kann man die Befassung mit Kafka heutzutage als ein Weltphänomen bezeichnen (das nunmehr auch fühlbar in den Ländern hinter dem »Eisernen Vorhang« zur Geltung kommt, sogar in Kafkas Geburtsland), aber am stärksten bekunden sich die Einwirkungen Kafkas doch in der angloamerikanischen Sphäre. Ich stutzte schon 1939, als mir im Londoner ›Daily Telegraph‹ mitten in einem Tagesbericht der Ausdruck »Kafkalike« begegnete, also eine selbstverständliche Anwendung des Namens, die seine Gemeinkenntnis beim durchschnittlichen Leser voraussetzte. In Amerika dann stieß ich seit 1941 unablässig und zunehmend auf den Namen Kafkas, nicht nur im Kreise von Schriftstellern oder ein geistiges Leben führenden Menschen. Der Name war ein allgemeiner Begriff geworden für die Seelenproblematik des Individuums innerhalb gewisser von Unsicherheiten aller Art, von unerreichter oder unverarbeiteter Religiosität gequälter Schichten. Sie glauben sich selbst und ihre Ausweglosigkeit in Kafkas Menschen zu erkennen; daß Kafkas eigene Persönlichkeit problematisch war, daß sein autobiographisches Werk über dem Leser immerzu mit aller Kraft sich zersplittert wie das magische Licht über den amerikanischen Highways, drängt introvertierte Naturen zu einem hohen Grad von Identifizierung. Sie übersehen dabei den unbestechlichen Realismus Kafkas, seinen Humor und die herrliche Ironie, mit der er sich über die Erscheinungen zu stellen wußte, um ihnen dadurch den Charakter des Problems zu belassen (eine Anregung Goethes), seinen durchdringenden Blick, der den faxenlosen Urzustand der Dinge und Menschen bloßlegte.