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Peter Kümmel, der Theaterkritiker der ZEIT, hat ein literarisches Wimmelbuch geschrieben. Zweihundert Geschichten, Legenden, Geistesblitze, Romane im Zeitraffer und Szenen in Zeitlupe enthält dieser Band. Wir erfahren von einem Straßenmaler, der die Autobahn Stuttgart – München mit seinem Gemälde komplett bedeckt. Wir betreten eine Stadt, die jeden Morgen neu erbaut und abends wieder abgerissen wird. Wir hören von einer bedeutenden Tageszeitung, die von einem einzigen Menschen gelesen und anschließend ins Feuer geworfen wird. Von Friedhöfen, die eigentlich Bahnhöfe sind. Und von Sisyphos, der nach Ersatzteilen für seinen Stein sucht. Absurde Geschichten? Ja. Vor allem aber: Zweihundert Funken, die unsere Welt beleuchten.
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Seitenzahl: 109
Peter Kümmel
Miniaturen
Erste Auflage
© 2021 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Joachim von Zepelin
Korrektorat: Peter Natter
www.secession-verlag.com
Typografische Gestaltung und Satz: Julie Heumüller
Herstellung: Daniel Klotz, Die Lettertypen, Berlin
ISBN 978-3-907336-06-9
eISBN 978-3-907336-07-6
Ein Witz
Leonardo,
Das Hinsehen im Kino
Wenn er Selbstgespräche führte,
Fußnote von weither
Spinnen
Die Qual der Wahl
Der Präsident spielt Fußball
Fußball II
Kinder sind Detektive
Saga
Die Kampagne
Eine schöne Frau
Sprungbereitschaft
Mantel der Geschichte
Hunger
Ein Mann steht allein auf einem Friedhof
Moderne Höflinge
Er ist so gekrümmt,
Im Kino
Theaterprobe
Allgegenwärtiger!
Der untreue Mann
Ein einsamer Mann
A 100
Die höflichen Prügler
Digga!
Die Ähnlichen
Raushalten!
Zornhaube
Prominenz
Jungbrunnen
Die Zeitung und das Feuer
Als der 93. Präsident
Der Trinker
Die Zeitung für morgen
In Fetzen
Engländer
Eine Justiz,
Einsame Spitze
Weltbühne
Stil und Angst
Roll over!
Das Jahr von oben
Gott
Seitdem
Du nicht!
Kammerschauspieler
Bevorstehende Enthüllung
Der Blick zum Himmel
Lorbersand und Siebensilber
Verschwundene Geräusche
Alt geworden
Wer kommt Gott am nächsten?
Die Nachricht
Der Schreck,
Unterwegs
Sie waren gewarnt
Eiserne Regel
Von der Bildfläche
Nach dem Tod seiner Frau
Ein Arzt,
Die Außerirdischen
Mundhöhlengeschichten
Oder
Am Ziel
Der HOLLYWOOD-Schriftzug
Gott will seine Geschöpfe besuchen
Der verschollene Passagier
Zweierlei Blick
Konversation im Imperfekt
Der Mut zur vollen Stunde
Der schwunghafte Handel
Nicht vor dem Abend lesen
Einer hält Wache
Jugend
Otto Preminger
Spätvorstellung
Die Anschleicher
Letzter Anschlag
Er traf
Das überfüllte Versteck
Sie leben in einem fürchterlichen Diesseits,
Warum mache ich Sudokus?
Es ist unmöglich,
Durchaus plausibel,
Der Demente
Zu spät
Der wütende Mann
War Theatre
Ein Gemäldetitel
Besserer Titel
Schaulust
Hinüber
Das Flugzeug bebt,
Schon steht das Haus in Flammen
Schon sinnvoll,
Seit Monaten ausgebucht
Die wahren Meister
Jeder Gedanke an einen Toten
Der Bettler
Die Drohung
Der Blick,
Fahrenheit 451,
Vorahnung
Entwaffnet Euch
Huhu
Wer da?
Der Film des Lebens
Augenblitz
Bildlegende
Wahre Geschichte
Willkommen
Doppelgänger
Zwiestadt
Last Train
Der schamvolle Abtaucher
Fernes Unglück
Die junge und die alte Scham
Wie kurz war die Zeit
Wüsten und Ozeane
Staubwunder
Das extreme Querformat
Im Profil
Vom Inventar
Der Entkommene
Mönche
Alle!
Ein Pakt
Er nimmt
Noch immer gibt es nichts Besseres als das Kino,
Das fliegende Auge
Endspiele
Ein Fluss,
Die Schleife
Zornelite
Das Tattoo
Ein Theaterpublikum,
Ein Traum
Tote sind beschäftigt,
Stell dir vor,
Großes Kino
Morgens im Halbschlaf
Die Metalltheke
Das Fluchtfahrzeug als Beute
Im Herbst
Der Kranke im Hospital
Ein Friedhof aus erfundenen Menschen
Das Paar,
Kurze Lunte
Die Stadt der 24 Typen
Das Erwachen
Länder im Flug
Der Geheimruhm
Eine Insel,
Die Zeitreise
Alle sind eine Familie
Einer hat mit den Göttern vereinbart,
Der Besoffene, sagt man, hat einen Affen
Die Kinos,
Waffenstillstand
Nach der Katastrophe
Strategiewechsel
Verstecke
Das Applausgeheimnis
Ein Nachruf
Kulturelles Zentrum und Mittelpunkt des Dorfes
Ein Taschendieb,
Klassische Musik
Büroroman
Der Denker
Das hässliche Gesicht
Ich sehe keine Filme mit Lebenden,
Mir fallen Situationen ein,
Rushhour
Die Europäer in Indien,
Irgendwann
Der Hypochonder
Ein Konzertpianist,
Wenn Schönheit schwindet,
Der kleine Teufel
Die Kanzlerin
John Bercow
Als die Kollegen
Der Unterschied zwischen Amerika und Deutschland
Der beliebte Mann
Die Frau im falschen Körper
Alter Professor
Ein Transportmittel verschwindet
Ein Gewitter,
Höhere Diplomatie
Ein Supermodel
Symmetry
Sobald er seinem Herzen Luft macht,
Der heilige Zorn
Die Verschwörung der Gerührten
Totenwache
Die Diamantenleser
Zwei Kollegen
Har har!
Mein Körper
Man geht
Die Stadt und der Mord
Zwei Männer, kurz vor dem Ende
Der Verurteilte
Gebt mir 100 Jahre Zeit, und ich werde die Welt verändern, sagt einer. Die Bitte wird ihm erfüllt, er bekommt 100 Jahre extra. Aber seine Kompositionen sind Plagiate, seine Gedichte verbrennen, seine Firmen gehen pleite, seine Raubzüge scheitern, seine Familien verstoßen ihn, seine Staatsstreiche werden niedergeschlagen; er schafft es immer nur, Stellvertreter zu werden, er liegt im Staub von Tanger, Madrid, Manila, nichts bleibt, kein Lied, kein Datum, nicht mal eine Anekdote. Nur ein Witz, den die Leute über ihn erzählen. Dieser Witz wird eines Tages auch ihm erzählt. Und was soll ich Ihnen sagen? Er lacht mit den anderen. Er erkennt sich nicht.
beschenkt mit einem zwei Tonnen schweren Block des besten Marmors, hat den Auftrag, ein Kunstwerk seiner Wahl zu fertigen. Nach vier Jahren ist der Marmor vollständig aufgebraucht, das Werk vollendet. Was hast du geschaffen, fragt man ihn. Leonardo öffnet seine Hand. Aus dem Stein schlug er einen Kiesel wie jenen, den er als Kind im Fluss gefunden hatte, zwei Gramm schwer, kleiner als das Ei einer Wachtel. Er sagt, er habe Gott rühmen und das Werk der Strömung verstehen wollen.
ermöglicht mir das Wegsehen im Alltag. Im Kino stille ich meine Neugier; ich sammle Menschenvorräte. Ich stärke mich für all die U-Bahnfahrten, während derer man keine Gesichter betrachten darf (nur die der mitreisenden Hunde).
hörte er Dinge, die er durch bloßes, inneres Denken nie erfahren hätte.
Die Raumsonde Voyager ist tiefer ins All vorgedrungen als jeder andere von Menschen gebaute Flugkörper. An ihrer Außenhaut trägt sie die Zeichnung einer nackten Frau und eines nackten Mannes, damit Außerirdische, die dem Satelliten begegnen, eine Vorstellung von dessen Erbauern haben. Am vergangenen Donnerstag kam Voyager, der etliche Milliarden Kilometer von uns entfernt sein sollte, zur Erde zurück. Sie landete im pazifischen Ozean und wurde erst Tage später entdeckt. Nach ihrer Bergung entdeckten die Ingenieure der NASA, dass die Zeichnung der menschlichen Körper an der Außenseite des Satelliten behutsam mit rotem Stift korrigiert worden war.
benutzen zweierlei Fäden: einen nicht klebenden und einen klebenden. Mit dem nicht klebrigen, dem Konstruktionsgarn, bauen sie zunächst ein Arbeitsnetz, über das sie dann ihr Fangnetz ziehen. Es gibt also ein Vorder- und ein Rücknetz. Ich denke mir, dass Intrigen genauso laufen: Du brauchst ein Netz, in dem du ungestört vorankommst, und eines als Falle. Vermutlich haben große Intrigenkünstler sogar zwei Telefonbücher: eines, das klebt, und eines, das nicht klebt.
Ein alter Seher hat die ganze Nacht, in seinem Sessel dösend, ein Dutzend Menschen gesehen, denen heute etwas Tödliches zustoßen wird. Bei Sonnenaufgang hat er einen von ihnen ausgewählt, dessen Rettung ihm sinnvoll erscheint. Nun schickt er seinen Assistenten mit genauen Anweisungen los, um diesen Stürzenden aufzufangen. Anschließend wendet er sich den Pferdewetten zu; denn er ist ein Kesselflicker, ein Flickschuster unter den Propheten, und er hat in der Nacht auch gesehen, wer heute das Rennen von Belleville gewinnen wird.
Die Geduld, ja Langmut des Präsidenten hatte einen tieferen Grund. Wenn er sich langweilte, spielte er in Gedanken Fußball. Er war ein Liebhaber des europäischen Fußballs, und schon vor Jahren hatte er sich eine ideale Mannschaft zusammengestellt, die aus einigen der besten Spieler der Welt und einigen völlig unbekannten, da von ihm erfundenen Spielern bestand, und die den Vorzug besaß, dass sie nur in seiner Fantasie existierte.
Andere lassen beim Nachdenken eine Kette durch ihre Finger gleiten. Er ließ, auch beim Einschlafen, beim Autofahren und sogar bei der Liebe, ein Fußballspiel in seinem Kopf ablaufen.
Es war die Idee des Ensembles, die ihn faszinierte: der durch elf Körper ausgedrückte eine Gedanke. Man sah ihn über mehrere Jahre seltsam unbeteiligt in Konferenzen, in Fernsehsendungen, in Flugzeugen sitzen, und wer eingeweiht war, wusste, dass er jede Möglichkeit nutzte, sich aus der Gegenwart zu verabschieden, um bei seiner Mannschaft zu sein. Derweil erledigten seine Berater und Minister draußen das Nötige. Er blieb meistens drinnen.
Ganze Nächte verbrachte er spielend, und es fiel ihm schwer, einzuschlafen, weil auch im Schlaf die Turniere weitergingen. Es kamen die Bolivien-Krise und das Attentat auf den Außenminister, Georgien ging unter und der Kongo wurde unbewohnbar, es starb seine Frau, er verlor sein linkes Bein wegen eines Tumors – aber aus der Operation erwachte der Präsident mitten in einem Angriff seiner Mannschaft. Derweil trübte sich die ökonomische Situation Amerikas ein. Bisweilen musste er sich, um frische Spieler und neue Spielzüge zu entwickeln, ein echtes Fußballspiel zuführen, meistens im Fernsehen, ganz selten auch im Stadion, wobei das Stadionerlebnis ihn stets enttäuschte und sich als vulgärer Abglanz der großen Kunst erwies, die in seinem Kopf stattfand. Sein Volk mochte, ja, es liebte ihn; die Schicksalsschläge, die er erlitten hatte, erfüllten es mit Fürsorge für seinen Präsidenten. Hatte sein Gesicht nicht den Glanz eines Heiligen?
Aber im Innersten wurde der Präsident beherrscht von einem rollenden Ball. Wenn er spazieren ging (mit Prothese umgeben von Leibwächtern), entwarf er Spielzüge oder dachte über den Einkauf neuer Stürmer nach. Er verbrachte Stunden damit, seine Spieler in Interviews nach ihrem Befinden zu befragen. War er selbst Teil dieser Mannschaft? Er war in jedem einzelnen Spieler. Er war in allen Köpfen, in denen wiederum der Fußball herrschte.
Morgens weckte ihn der Torjubel. Er war noch nicht recht wach, da spielten die Männer in seinem Kopf schon wieder. Endlose Turniere gewannen sie – gegen Real Madrid (mit Ferenc Puskás und Cristiano Ronaldo), gegen den FC Liverpool (mit Mo’ Salah und Kevin Keegan), gegen Ajax Amsterdam (mit Matthijs de Ligt und Johan Cruyff).
Draußen begann der Krieg gegen Mexiko. Er kümmerte sich kaum darum. Denn drinnen entglitt ihm seine Mannschaft. Sie spielte nun allein, von selbst, ununterbrochen. Er war nicht mehr ihr Beherrscher, sondern der von ihr Getriebene. Er erreichte seine Spieler nicht mehr. Lustlos verfolgte er ihre Siege, die wie gegen seinen Willen in ihm geschahen. Notgedrungen war er selbst sehr viel unterwegs, die Welt brannte, wie man so sagt, auch mit Russland gab es nun eine Krise. Und drinnen war es seine Mannschaft, die auf Reisen ging: immerzu im Flugzeug, unterwegs zum nächsten Spiel.
Der Präsident wurde dafür gerühmt, dass es ihm gelang, in der beklemmenden historischen Situation Ruhe zu bewahren und seinem Volk, ja der gesamten westlichen Welt ein so würdiger Führer zu sein; er lächelte, doch innerlich war er am Ende. Er musste diese Mannschaft loswerden. So fasste er einen fürchterlichen Entschluss. Eines stürmischen Nachmittags schickte er sie auf eine letzte Reise. Alle Spieler stiegen ins Flugzeug und machten sich auf zu einem Champions-League-Auswärtsspiel nach Manchester. Über dem Ärmelkanal brachte er das Flugzeug in einem Gewitter zum Absturz. Es gab keine Überlebenden.
Kurz danach erklärte er Brasilien jenen Krieg, der immer noch anhält. Und was ging in seinem Inneren vor? Nach einer Phase der Verzweiflung und einer der Leere begann er sich für Musik zu interessieren. Er hörte die Brahmsschen, Mahlerschen, Beethovenschen Sinfonien in den Interpretationen der großen Orchester. Er ist jetzt noch mehr unterwegs, zwei Dutzend weiterer regionaler Konflikte, in die seine Regierung auf die eine oder andere Weise verstrickt ist, zwingen ihn dazu. Und die Krise mit Russland spitzt sich zu. Überall ist sein ausgleichendes Wesen gefragt. Die Reisen geben ihm Gelegenheit, abends Konzerte zu besuchen, sofern in den betreffenden Ländern noch ein Musikleben stattfindet. In Wien fällt ihm eine Harfenistin auf, in Köln eine Oboe, in Boston ein Hornist, in Glasgow ein Pauker. Und am Ende des Jahres wagt er das Ungeheuerliche: Er stellt sich im Geist ein eigenes Sinfonieorchester zusammen, das höchsten Ansprüchen gerecht wird und aus den besten Instrumentalisten besteht. Dirigiert wird es von ihm selbst. Kurz nach Weihnachten erklärt er Russland den Krieg. Dennoch strahlt er eine große Zufriedenheit aus. Er hat sein Orchester kürzlich auf Welttournee geschickt. Momentan gastieren sie in Tokio.
Wenn die Kameras nach der Übertragung des Länderspiels bei den Spielern blieben, sie in die Garderobe, ins Auto, auf dem Nachhauseweg, beim Abendessen und Zubettgehen begleiteten – es würden Millionen Zuschauer mitgehen. Ich jedenfalls habe diesen Männern schon längst die Lizenz gegeben, auch abseits des Spielfelds für mich zu kämpfen, ja mich vollständig zu vertreten.
Sie studieren und durchschauen die Urtäter, ihre Eltern und deren erwachsene Verbündete. Sie legen ihnen das Handwerk und ziehen sie am Ende aus dem Verkehr. Deshalb die Liebe des Publikums zum Thriller: Er versetzt uns in die Position des Kindes.
Früher belauschte ich meine Eltern beim Beischlaf, nein: Ich hörte weg. Jetzt hören meine Kinder uns beim Beischlaf, und ich bin sicher: Auch sie hören weg. Und am Ende, zu Besuch in ihren Familien, werde ich daliegen und auf den Beischlaf meiner Kinder horchen. Die einzige Konstante wird die dünne Wand sein, die uns trennt.
Ein Mann hat seine Frau verloren und ist entschlossen, sie aus der Unterwelt zurückzuholen. Doch er bricht nicht, wie Orpheus, in den Hades auf, um mit den zuständigen Göttern zu verhandeln. Er bleibt an der Oberfläche und startet eine gewaltige Werbekampagne, deren Star und »Gesicht« seine Frau ist. Nicht für ein Produkt wird geworben, sondern für die schöne Tote. Und der Bedarf, die Sehnsucht der Lebenden nach dieser Frau saugt sie schließlich nach oben.
kommt mir auf der Straße entgegen. Ihr Anblick löst Angst und Erleichterung aus. Leise sage ich zu ihr: Da bist du ja endlich wieder! Die schöne Frau ist das Älteste, was es stammesgeschichtlich gibt, so alt wie das Krokodil oder die Spinne: immer schon da. Ein Urgesicht, von Millionen Frauen jeden Morgen am Spiegel mit Farbe nachgezogen. Und so sehr wie vor dem Krokodil fürchte ich mich vor ihr.