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Die Autorin Marion Bischoff hat in ihrem neuen historischen Roman die Liebes- und Leidensgeschichte ihrer Großeltern nachgezeichnet und geriet dabei in einigen Situationen an die Grenzen ihres künstlerischen Handelns. Es gelang ihr mithilfe besonderer Unterstützung eine Schreibblockade zu überwinden und dem Roman die nötige Tiefe und trotzdem eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen. Obwohl sie ihren Großvater Walter Bischoff, nie persönlich kennengelernt hat, verbindet sie ein inniges und tiefgründiges Verhältnis mit ihm. Während ihrer Recherchearbeit lernte die Autorin den Historiker Stefan Sauer kennen, von dem sie wertvolle Informationen über das Maschinengewehrbataillon 10 erhielt, in dem ihr Großvater diente. Soldatenjargon, Dienstgrade, Leben an der Front: Über all das hatte sie sich vorher nicht viele Gedanken gemacht. Doch dank des intensiven Austauschs mit Stefan Sauer konnte die Autorin sich dem Soldatenleben ihres Großvaters annähern und es verstehen lernen. Als großer Sieger nach dem erfolgreichen Westfeldzug lernte Walter Bischoff die berühmte Coco Chanel kennen. Trotz des angenehmen Gefühls einen Sieg errungen zu haben, hatte Walter nur einen Wunsch: Zurück nach Hause. Nach einem kurzen Zwischenhalt in der pfälzischen Heimat gehörte er zu den Wehrmachtssoldaten, die bei der Operation Barbarossa den Großangriff auf Russland starteten. In der Heeresgruppe Nord war er lange Zeit entlang der Ostsee im Einsatz. Städte wie Reval (heute Tallin), und Leningrad, das heutige St. Petersburg gehörten zu seinen Zielen. Hier stellte sich auch eine der Schlüsselfragen für seine Enkelin: Wie hat der Großvater die verhungernde Stadt Leningrad erlebt? Eingeschlossen in dem kleinen Städtchen Cholm, das als strategisch wichtiger Knotenpunkt für das Erreichen Moskaus galt, wurde Walter mit den härtesten Widrigkeiten der Kriegsführung konfrontiert. In all diesen Schreckensmomenten wünschte er sich zurück zu seiner jungen Liebe Elisabeth. Auch sie hatte die Folgen des Krieges und ihre permanente Sorge um Walter zu bewältigen. Beide wünschten sich nur eins: wieder zusammen zu sein. Und so entstand der gemeinsame Satz: Ich wäre gern da, wo du bist …
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2021
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© 2021 _e-book-AusgabeRhein-Mosel-VerlagBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel. 06542/5151, Fax 06542/61158www.rhein-mosel-verlag.deAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-916-3Ausstattung: Stefanie ThurLektorat: Gabriele Korn-SteinmetzKorrektorat: Melanie Oster-DaumAutorenfoto: Herbert Reiter
Da, wo du bist ...
Historischer Roman
RHEIN-MOSEL-VERLAG
Lass nicht Hass dein Leben bestimmen.Die Liebe ist es, die unser Leben erfüllt.
In dankbarer Erinnerung an meine Großeltern Elisabeth und Walter Bischoff
Prolog
Oktober 1937
»Nein! Nicht auch noch du. Du bist doch erst einundzwanzig. Und wir brauchen dich so nötig hier.« Susanna Bischoff streichelte kopfschüttelnd über die Wange ihres Sohnes. Trotz seiner Bartstoppeln spürte er ihre von der Feldarbeit rauen Hände.
»Mütterchen, du machst dir zu viele Sorgen«, antwortete Walter und nahm sie beruhigend in den Arm. »Was soll denn schon passieren?« Er drückte sie fest an sich, damit sie ihm nicht ins Gesicht schauen konnte.
Schluchzend lag sie an seiner Brust. »Warum muss ich bloß all meine Buben hergeben? Warum?«
»Du gibst uns nicht her. Du leihst uns nur aus«, antwortete er zuversichtlicher, als ihm zumute war.
»Ich wünschte, es würde verboten.«
»Was?«
»Der Wehrdienst.«
Walter lachte auf. »Ich bin doch nur in Pirmasens. Das ist nicht weit. Da kann ich mit dem Zug heimkommen, wenn ich frei habe.«
»Ich will aber nicht, dass meine Buben Uniform tragen müssen.« Die schrille Stimme seiner Mutter bohrte sich in Walters Magengrube. »Soldatenuniformen haben noch immer Krieg bedeutet.«
»Wer spricht denn von Krieg? Ich bin jedenfalls stolz darauf, dass ich die Uniform tragen darf.« Er schob seine Mutter ein wenig von sich und richtete sich auf. »Und du kannst auch stolz sein. Ihr beide. Ihr habt uns so gut erzogen, dass man jetzt fürs Vaterland nicht auf uns verzichten will. Das kannst du allen und überall erzählen.«
»Ach, Junge.«
Die rot geweinten Augen seiner Mutter schmerzten ihn, doch trotz seiner leise aufkommenden Zweifel fühlte er sich auch sehr zufrieden. Es war schließlich nicht leicht für ihn gewesen in den letzten Jahren. Die Geschwister waren allesamt älter als er und gingen eigene Wege. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Vater in der Landwirtschaft zu helfen, nachdem die übrigen Söhne ausgeflogen waren. Dabei hätte er so gern eine Schreinerlehre gemacht. Oder im Büro gearbeitet. Möglichkeiten konnte er sich einige vorstellen.
»Versprich mir, dass du auf dich Acht gibst.«
Walter nickte, strich der Mutter tröstend über den Rücken und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Ja, sie tat ihm leid. Sie war eine alte, gebeugte Frau mit grauem Haarknoten, die in ihrem langen Leben so einiges hatte mitmachen müssen. Und wenn er nun zum Wehrdienst einrückte, war noch eine Arbeitskraft weniger auf dem Hof. Trotz seiner Vorfreude auf das Kommende fiel ihm der Abschied nicht leicht.
Sie schüttelte schweigend den Kopf, kehrte ihm den Rücken zu und verschwand hinter der schweren hölzernen Eingangstür des elterlichen Bauernhauses.
Mit ausladenden Schritten lief er hinaus zu den nahen Feldern. Zwischen den reifen Ähren ließ er sich auf die Erde fallen und zerrte den Brief hervor, den ihm der Postler vorhin zugestellt hatte. »Soldat. In Pirmasens. M10 Bataillon. Winzler Straße. Westwall«, murmelte er und legte sich rücklings auf den Boden. Das hörte sich alles sehr zukunftsträchtig an. Aber so genau konnte er sich nicht vorstellen, was da auf ihn zukam. Gedanklich versuchte er sich zu orientieren. Die Winzler Straße war ihm bekannt, da war er schon einmal durchgefahren. Dort gab es dieses Barackenlager. Ob er dort mit den anderen Soldaten einziehen würde? Walter lächelte. Eigentlich war es egal, wo sie nächtigten. Hauptsache, es gab etwas zu tun.
Vor seinen Augen tanzten die Weizenhalme, die in der Sonne golden schimmerten, und eigentlich war alles wie an den Tagen zuvor. Eigentlich …
Als er zurück ins Haus kam, stand die Mutter in der Küche, hielt das zusammengeknüllte Taschentuch in der Hand und wischte sich immer wieder über die Wangen.
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher bald wieder wohlbehalten bei euch.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt, lief in den Pferdestall und verabschiedete sich vom Vater.
»Pass auf dich auf, Bub! Man kann keinem trauen. Und ihr seid so nah an den Franzosen. Die sind hinterlistig«, mahnte sein alter Herr, und der musste es wissen.
Nun war es so weit. Mit dem Rucksack auf dem Rücken schwang Walter sich auf das klapprige Herrenrad, das der Großvater ihm vermacht hatte und ließ es an dem steilen Berg vor seinem Elternhaus anrollen. Mit einer Hand winkte er den Eltern zu, drehte sich jedoch nicht mehr zu ihnen um. »Bis bald!«, rief er, ehe er um die Ecke bog. Er wischte sich schnell die Tränen weg und trat kräftiger in die Pedale. So jagte er über die holprige Landstraße, grüßte im Vorbeifahren den Ecker-Bauern, der gerade auf seinem Fuhrwerk vom Feld kam und ließ den Blick schweifen über die Äcker und den Wald. Der Bach glitzerte, als seien in der Nacht die Sterne vom Himmel gefallen. Das alles werde ich vermissen, dachte er.
Es war nicht weit nach Hornbach und mit dem Rad war der Bahnhof schnell zu erreichen. Er versuchte, das Rumoren in seinem Bauch zu ignorieren, das zusehends stärker wurde. Was wird mich erwarten?, fragte er sich immer und immer wieder.
Am Bahnhof angekommen, schob er sein Fahrrad in die Hecke hinter den Gleisen. Er klopfte mit der flachen Hand auf den Sattel. »Mach’s gut, mein alter Drahtesel.«
Lydia, die nur zwei Jahre älter war als er, würde das Rad in den nächsten Tagen abholen. Das hatte er mit seiner Lieblingsschwester vereinbart.
Noch einmal sah er sich um, atmete tief ein und blies die Luft hörbar aus. »Los gehts, Soldat Bischoff«, feuerte er sich selbst an.
Beim Einsteigen hielt er dem Schaffner seine Einberufung entgegen. Der betagte Herr musterte ihn. Als sich ihre Blicke trafen, nickte der Grauhaarige. »Alles Gute, mein Junge.«
Walter lächelte. »Danke.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Eigentlich hätte mich der Vater gebraucht.«
»Wie so viele Väter«, gab der Schaffner zurück und wandte sich dem nächsten Fahrgast zu.
Im Zug saßen etliche junge Männer. Ein paar von ihnen trugen Uniformen. Walter freute sich, bei Dienstantritt auch eine zu bekommen. Manche redeten mit einem eigenwilligen Dialekt, bei anderen glaubte er, sie schon einmal gesehen zu haben. Er schob sich auf einen der letzten freien Sitze im Abteil. Neben ihm am Fenster schlief einer. Die Mütze ins Gesicht gezogen, den Kopf nach hinten gelegt. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb. Unwillkürlich musste Walter grinsen. Den bringt scheinbar nichts aus der Ruhe.
Ein lauter Pfiff ertönte und der dunkle Qualm der Lok hüllte die Fenster ein. Wieder ein Pfiff und schon setzte sich der Zug in Bewegung. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Draußen lichteten sich die Rauchschwaden und die Landschaft zog vorbei. Da regte sich auch sein Sitznachbar. Mit einer Hand schob er sich die Kappe aus dem Gesicht und schlug die Augen auf. »Servus, ich bin der Kurt.«
»Walter«, antwortete er und reichte dem fremden Kameraden die Hand.
Kurt setzte sich aufrecht, schlug sich mit flachen Händen auf die Oberschenkel. »Und, wohin führt dein Weg?«
1. Schuhfertigung – von wegen!
August 1939
»Ach, Lisbethchen, da bist du ja endlich.«
Elisabeth machte einen Knicks und presste die Lippen zusammen. Wie sie das hasste! Diese anbiedernde Freundlichkeit, die nicht ernst gemeint sein konnte. »Morgen«, nuschelte sie und vermied es, ihren Chef anzusehen.
»Ist das nicht ein wunderschöner Tag heute? Die Sonne strahlt, die Vögel zwitschern«, säuselte er, drehte sich mit einer ausladenden Armbewegung um seine füllige Achse und blieb erst stehen, als seine Hand das hölzerne Treppengeländer berührte. Er strich sich durch das von Pomade glänzende Haar und trommelte mit seinen Wurstfingern auf dem Knauf des Geländers, das mit den feinen Schnitzereien besser in ein Schloss als in eine Schuhfabrik gepasst hätte.
Elisabeth antwortete nicht. Sie legte die Hände aufeinander und harrte auf seine Anweisungen, die unweigerlich folgen würden.
Herr Kolb schob sich an ihr vorbei und betrat die Fabrikräume. »Du weißt, was zu tun ist?« Die Fettwulst unter seinem Kinn wabbelte, als er mit dem Kopf die Stufen hinauf deutete. Elisabeth nickte. Ihr Magen krampfte sich zusammen und allein beim Gedanken daran, die nächtlichen Hinterlassenschaften ihres Vorgesetzten und seiner Familie zu entsorgen, würgte es sie. Dass dies zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, obwohl sie keine Hausangestellte war, sondern in der Fabrik arbeitete, war ihr von Anfang an unmissverständlich klargemacht worden. Als Jüngste der Angestellten war sie selbstredend auch für diese hauswirtschaftlichen Dienste verantwortlich.
Mit jeder Stufe, die sie den Schlafstuben des Fabrikanten näherkam, fühlten sich die Beine bleierner an. Auf dem Podest hielt sie einen Augenblick inne, lauschte und wusste, alle Familienmitglieder waren ausgeflogen. »Das ekelhafteste zuerst«, murmelte sie und öffnete die Tür zum Eltern-Schlafzimmer. Sofort stach ihr der Geruch von abgestandenem Urin in die Nase. Reflexartig hielt sie sich eine Hand vors Gesicht. Im Dämmerlicht schob sie einen Fuß vor den anderen. Seit sie einmal in den Nachttopf getreten war, ließ sie besondere Vorsicht walten. Zugleich kochte sie vor Zorn, weil die Familie es nicht für nötig hielt, wenigstens die Vorhänge zu öffnen und das Tageslicht hereinzulassen. Das elektrische Licht anzuknipsen, wagte sie nicht in Erinnerung an den Tobsuchtsanfall ihres Vorgesetzten vor einigen Wochen. Damals hatte sie sich erlaubt, den Lichtschalter zu betätigen.
Endlich konnte sie den Vorhangstoff fühlen. Sie schob die Gardine auf und öffnete das Fenster ganz weit, beugte sich über den Sims und atmete tief durch. Dann drehte sie sich um. Vor dem Bett stand der Nachttopf. Ein weißes Emaillegefäß mit blauem Blümchenmuster und voll gelber Brühe. Noch schlimmer empfand sie allerdings die Ränder auf dem Holzfußboden. Ob er das extra macht?, fragte sie sich wie so oft und stellte sich den Dicken vor, wie er breitbeinig über dem Nachttopf stand und es plätschern ließ. Oder sollte er beim Aufstehen dagegen gestoßen sein und seine Hinterlassenschaften waren übergeschwappt?
Elisabeth griff das Gefäß und trug es bedächtig die Treppe hinunter. Dabei atmete sie so flach es ging.
Der Urin brach sich in kleinen Wellen an der Emaillewand des Nachttopfes.
Unten im Hof leerte sie die Brühe auf den Misthaufen und beeilte sich, wieder ins Haus zu kommen. Sie wusch den Nachttopf in der Putzkammer aus, holte Eimer und Bürste, füllte heißes Wasser ein und gab einen kräftigen Schuss Schmierseife hinzu.
Dann lief sie zurück ins Schlafzimmer. Dort zerrte sie die schweren Bettdecken der Kolbs heraus und hängte sie ins offene Fenster. Die Kopfkissen legte sie obendrauf.
Schließlich kniete sie sich auf den Fußboden, tauchte die Bürste in den Eimer und schrubbte über die hässlichen Ränder auf den Dielen. Nach und nach färbte sich das Holz dunkel. Elisabeths Oberarme schmerzten, doch sie feuerte sich selbst an, um möglichst schnell fertig zu werden.
Nachdem der Boden rundum feucht war, klopfte sie das erste Kissen am Fenster aus, brachte es zurück zum Bett und zurrte das Leintuch glatt. Bedächtig legte sie das Kissen auf seinen Platz zurück und strich mehrfach über den Stoff, um nur ja keine Falten zu hinterlassen. Genauso akribisch ging sie beim zweiten Kissen und den Bettdecken vor.
Zum Schluss kippte sie das Fenster und zog die Tagesgardine zu.
Ehe sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal um und betrachtete zufrieden ihr Werk.
Die Kinderzimmer waren schnell erledigt und dann konnte sie sich endlich der Beschäftigung widmen, die ihr wirklich Spaß machte: In der Schuhfabrik arbeiten.
Die älteren Arbeiterinnen hatten ihr bereits einiges beigebracht, seit sie im Juni mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder Karl nach Clausen gezogen war. Wenn Herr Kolb wüsste, dass sie mit Marie gesteppt hatte … Elisabeth grinste bei der Vorstellung seines empörten rotfleckigen Gesichtes.
Nähmaschinengeratter drang ihr entgegen, als sie durch die breite Tür mit der milchigen Scheibe in den Fabrikraum trat. In Dreierreihen saßen die Frauen hier in der weitläufigen Fertigungshalle und erledigten ihre Arbeit.
»Lisbeth, wo bleibst du denn so lange? Ich brauche neues Futter«, echauffierte sich Erna im Befehlston und deutete mit dem Ellbogen in Richtung der Lagerräume.
Sie biss die Zähne aufeinander. Es war immer das Gleiche. Einige der älteren Frauen führten sich auf, als hätten sie was zu sagen. Dabei war Erna auch nur eine einfache Fabrikarbeiterin, wie die anderen. Elisabeth nickte und zwang sich, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Räum du doch den Dreck vom alten Kolb weg, dann brauchst du nicht so lange auf mich zu warten, fluchte sie in Gedanken, eilte ins Lager, packte dort so viel von dem benötigten Futter auf den Arm, wie sie tragen konnte und lief zurück zu ihrer Kollegin.
»Geht doch«, murmelte Erna, ohne sie anzuschauen.
Da winkte ihr eine Frau aus der mittleren Reihe zu. Die fünfundzwanzigjährige Marie, die immer besonders nett Unterstützung anbot, konnte ihr gerade nicht zur Seite stehen. Sie war in ein Gespräch mit dem Bruder des Chefs vertieft. Elisabeth hatte den Eindruck, dass Justus Kolb seinen Bruder genauso wenig mochte wie sie. Kein Wunder, wenn der Alte ihn ständig wie einen Lakaien behandelte. Nur weil Justus viele Jahre jünger war, hatte der Dicke die Firma übernommen. Obwohl er keine Ahnung von dieser Arbeit hier hatte. Das konnte sie den Gesprächen der Frauen entnehmen, wenn der Kolb wieder einmal irgendwelche seltsamen Arbeitsaufträge verteilte.
Justus hingegen konnte sogar steppen. Erst vergangene Woche war er auf einmal neben ihnen aufgetaucht, als an Maries Maschine eine Nadel auszutauschen war. Mit flinken Fingern half er ihr und steppte anschließend den Schuhschaft fertig. Augenzwinkernd stand er auf. »Wenigstens mal wieder kurz an der Maschine«, hatte er geflüstert und war gleich wieder im Lager verschwunden.
Der ist bestimmt auch nicht mehr lange hier, dachte Elisabeth. Denn viele junge Männer aus dem Ort waren mittlerweile zum Wehrdienst eingezogen worden.
Wenn ich etwas erbitten dürfte, würde ich mir den Justus hier in die Fabrik wünschen und den Dicken sonst wo hin. Aber diesen Gedanken verwarf sie gleich wieder. Auf jeden Fall war Justus ein netter junger Mann. Dazu auch noch gut aussehend mit seinen kurzen braunen Haaren, den strahlend blauen Augen und dem muskulösen Körper. Sobald er die Arme hob und sich der Ärmelstoff seines Hemdes spannte, dachte Elisabeth daran, wie hart Justus arbeitete. Ganz anders als sein älterer Bruder.
2. Evakuierung
1. September 1939
Anstatt wie geplant nach Hause zurückzukehren, wurde Walters Wehrmachtszugehörigkeit erneut verlängert. Ebenso wie seine Brüder war er im Dienst für das Vaterland tätig, hatte jedoch Glück, denn von Pirmasens aus konnte er seinen Heimatort Mauschbach bei Zweibrücken gut erreichen. Vor einer Woche waren sie aus Pirmasens nach Waldfischbach verlegt worden. Die ganze Mannschaft verteilte sich allabendlich auf die umliegenden Gemeinden. Walter, sein Feldwebel Herbert Schmitt und einige Kameraden fuhren seither bei Feierabend nach Clausen, einem Dorf auf einer Anhöhe umgeben von dichtem Waldbestand. Seit Wochen kursierten Gerüchte unter den Soldaten, dass es bald vorbei sein könnte mit dem Frieden und dass sie sich auf einen französischen Angriff vorbereiten mussten. Die Kontrollen entlang des Westwalls wurden verschärft, der Bunkerbau vorangetrieben. Niemand durfte das Bunkerareal in Niedersimten ohne eindeutigen Auftrag betreten. Nun hatten sie also erfahren, dass ein deutscher Angriff auf Polen noch vor Sonnenaufgang stattgefunden hatte. Weitere Details kannte keiner der Soldaten. Doch es war eine kurze Ansprache des Bataillonskommandeurs angekündigt. Das gesamte Bataillon war dafür in den frühen Morgenstunden am Sammelpunkt in Waldfischbach angetreten. Leises Gemurmel drang durch die Reihen. Walter beobachtete die Kameraden ringsum. Einige alberten herum, andere standen als stille Beobachter dazwischen. Er kaute auf der Unterlippe und versuchte, sich selbst zu beruhigen, denn er spürte, dass etwas in der Luft lag. Da trat Major Kohler mit seinen Offizieren vor die Truppe. Schlagartig verstummten die Gespräche.
»Meine Herren, die Lage hat sich geändert. Heute sind unsere Truppen in Polen einmarschiert. Der Führer hat es prophezeit: Wir lassen uns nicht von der polnischen Meute angreifen! Wir schlagen unerbittlich zurück!« Die Worte Major Kohlers waren mehr als deutlich. Dabei hatte Walter sich schon darauf eingestellt, nach Hause zu dürfen. Endlich den Bauernhof zu übernehmen. Hoffentlich zeigten die Eltern Verständnis.
»Jetzt heißt es für uns Acht geben auf die Franzosen und die Engländer. Unserem Bataillon wurden Grenzsicherungsaufgaben zugewiesen. Die Franzosen besetzen seit Tagen die Maginotlinie und wer weiß, was die im Schilde führen. Mit sofortiger Wirkung beziehen wir in unserem Abschnitt Position entlang des Westwalls. Im Angriffsfall verteidigen wir bis zum letzten Mann. Zugleich ergeht der eindringliche Befehl, dass wir Deutschen nicht den ersten Schuss abgeben. Verstanden?! Alles Weitere erfahren Sie von Ihren Vorgesetzten.« Der Major sah sich verständnisheischend um. »Die Räumung der roten Zone ist in vollem Gange. Krankenhaus und Waisenhaus sind bereits evakuiert. In den umliegenden Dörfern sind viele Zivilisten bereits weg. Helfen Sie, wenn Ihre Hilfe nötig ist. Ansonsten gilt unser Auftrag: Grenzsicherung! Mit allen verfügbaren Kräften. Abtreten! Heil Hitler!« Kohler reckte den Arm empor.
Walter war noch ganz benommen von den Worten des Majors. Das bedeutet unweigerlich Krieg, dachte er. Dabei fiel ihm Louis, der Zimmermann aus Schweben ein. »Der einzig nette Franzose«, hatte Vater mal gesagt. Und Walter mochte den kahlköpfigen Mann, der ihnen geholfen hatte, als vor vielen Jahren nach dem Gewitter ein Teil der Scheune eingestürzt war. Louis hatte sie immer im Sommer besucht und Trauben mitgebracht. Im Gegenzug bekam er von Mutter stets Milch, Käse und Räucherfleisch. Wann immer Louis auftauchte, gab es ein Fest. An das letzte vor wenigen Wochen erinnerte er sich noch genau. Was war das wieder lustig gewesen. Und nun? Sollte er ihn plötzlich als Feind betrachten?
Auf dem Weg nach Kröppen, wo sie sich treffen sollten, um ihre genauen Einsatzorte des Tages zu erfahren, beobachtete Walter auf einer Wiese mehrere Kühe. »Ach du Schreck. Halt an!«, rief er aufgeregt und trommelte mit beiden Fäusten gegen das Führerhaus des Mannschaftswagens.
»Schmittchen drehte sich zu ihm um. »Was ist?«
»Da! Das Vieh. Denen platzen bald die Euter.«
Herbert verlangsamte die Fahrt und noch ehe der Wagen hielt, sprang Walter heraus. Er lief zu der Weide, redete beruhigend auf die Kuh ein, die ihm am nächsten stand. »Haben wir Eimer?«
Kurt kam angerannt und hielt ihm einen hin. »Ich halte sie«, sagte er.
»Hoffentlich lässt sie uns ran.« Walter stieg über den Zaun, näherte sich der Kuh mit ausgestrecktem Arm. Als er ihr nahe genug war, streichelte er sie. »Jetzt erlösen wir dich von deiner Qual«, sagte er und strich dem Tier sanft über den Hals. Er stellte den Eimer unter ihren prall gefüllten Euter, berührte behutsam die roten Zitzen. Ruhig blieb das Tier stehen und Walter begann die Melkbewegungen ganz vorsichtig. Mit jedem warmen Milchstrahl, der in den Eimer schoss, wurde die Erleichterung der Kuh deutlicher. Nach ein paar Minuten zitterte sie und Walter hielt inne. Mit einer Hand klopfte er ihr auf die Seite. »Schon gut, du armes Vieh. Jetzt ist es dir leichter.«
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Euter leer war. Walter ließ von der Kuh ab und steuerte die nächste an. Das klägliche Muhen jagte ihm einen Schauer über den Rücken. So ruhig das erste Tier ihn hatte gewähren lassen, so nervös war das zweite.
»Guck dir das an«, sagte Walter und deutete auf den Euter, der noch dicker zu sein schien als der erste. Als er sich neben sie kniete, beschloss er, gar nicht erst einen Eimer zu benutzen. Es war egal, wohin die Milch sich entleerte. Es ging nur darum, den Tieren Erleichterung zu verschaffen. Seine Knie versanken in der feuchten Erde der Weide. Leise redete er mit dem Tier, berührte den Euter. Mit dem Hinterbein trat sie aus. Reflexartig beugte er sich zur Seite, richtete sich wieder auf. »Ich muss ein paar Züge schaffen. Dann merkt sie, es wird besser«, feuerte er sich selbst an. »Kurt festhalten!«
Der Kamerad legte ein Seil um den Hals des Tieres, knotete es an dem mitten auf der Weide stehenden Baum fest und hielt den Strick zusätzlich mit beiden Händen. »Fang endlich an«, rief Kurt ungeduldig. Ihm war offenbar auch nicht ganz wohl bei der Sache.
Von der Straße kamen einige Kameraden näher, beobachteten Walters Arbeit und suchten dann selbst in Zweiergruppen die restlichen Tiere auf. Nach und nach war von der Weide zufriedenes Muhen zu hören. Schmittchen mahnte zum Aufbruch. »Männer, wir müssen weiter. Die Pflicht ruft.«
Viel später als gedacht, erreichten sie Kröppen. Der Ort lag wie ausgestorben vor ihnen. Bei einem der ersten Häuser am Ortseingang stand die Tür offen. Ob die vergessen hatten, abzuschließen? Was war das? Ein grauer Haarschopf? In diesem Moment hielt der Wagen. Walter trat neben seinen Feldwebel. »Ich glaube, da ist noch jemand im Haus.«
»Unmöglich.« Schmittchen tippte sich gegen die Stirn.
»Soll ich nachschauen?«
»Wenn es dich beruhigt. Aber flott.«
Walter lief los, blieb vor dem Hauseingang stehen und rief: »Hallo ist jemand da?« Er hielt sich am Türrahmen fest, sah hinein. Und dann betrat er das Haus, aus dem ihm ein Geruch von frischen Kräutern in die Nase stieg.
Eine schmale Holztreppe führte nach oben. Er lauschte. »Hallo?«
»Gehen Sie!«, ertönte in diesem Moment eine klare Frauenstimme.
Also doch. Er hatte sich nicht getäuscht. »Wo sind Sie denn?«
Keine Antwort.
»Hören Sie, Sie können nicht hierbleiben. Die Franzosen …«
»… haben mir noch nie im Leben was getan«, giftete die Stimme und nun tauchte der graue Schopf unter der Treppe auf. Eine zierliche Frau mit Perlenkette um den Hals und einer fein gesteckten Frisur stand ihm gegenüber. Ihre Augen blitzten, als seien sie die Funken für das nächste Gewitter.
»Es ist besser für Sie«, gab Walter zu bedenken.
»Was? Die Heimat verlassen? Nicht wissen, wohin ich gehe? Allein? Ohne meine Tiere? Du weißt nicht, was du redest, mein Junge.«
Es dauerte eine Weile, bis Walter die Frau überzeugen konnte, dass der Aufenthalt hier viel zu gefährlich war. Sie wollten die Frau nach Pirmasens zum Bahnhof bringen. Doch dann kam ein Fuhrwerk näher. Schmittchen hielt es an und die Leute waren bereit, die Frau mitzunehmen.
Sie hatte sich noch einmal ins Haus zurückgezogen und als sie heraustrat, entwich Walter ein Laut der Bewunderung.
»Kommen Sie, geben Sie mir Ihren Koffer.« Er nahm der alten Dame den großen Lederkoffer aus der Hand. Sie erinnerte ihn an seine Großmutter, die auch so liebenswerte Fältchen um die Augen hatte. Fein sah sie aus in ihrem dunkelgrünen Rock und der weißen Rüschenbluse.
Jetzt stand sie vor ihm mit neckischem Filzhütchen auf dem Kopf, als sei sie unterwegs zur Sommerfrische.
»Sie finden bestimmt eine gute Bleibe. Und vielleicht dauert es ja gar nicht lange, bis Sie wieder zurückkönnen.« Aufmunternd sah er sie an.
Die Dame winkte ab. »Lass gut sein, mein Junge. Ich weiß schließlich, was hier passiert. Alles schon mal da gewesen. Mein Mann ist in Russland geblieben. Irgendwo in einer Stadt an der Ostsee.« Sie senkte den Kopf. »Und jetzt ist es wieder so weit.«
Walter presste die Lippen aufeinander. Sein Vater hatte öfter davon erzählt, wie es damals gewesen war, vierzehn-achtzehn. Schlimmes musste er erlebt haben, sein alter Herr. Aber Walter war davon überzeugt, dieses Mal würde es nicht so weit kommen. Und die Evakuierung war ganz gewiss nur eine Vorsichtsmaßnahme. Aber die alte Dame wirkte so überzeugend, dass sich ein leiser Zweifel bei ihm einschlich, wie so oft in letzter Zeit. Dennoch sagte er: »Ach, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«
Glücklicherweise rief in diesem Moment der Bauer von seinem Fuhrwerk: »Sind wir dann so weit? Wir wollen weiter.«
Vorn mahnte Herbert Schmitt mit einer ungeduldigen Geste zur Eile. Beherzt ergriff Walter die Hand der alten Dame und zog sie sacht hinter sich her, hievte ihren Koffer neben das schon auf dem Wagen befindliche Gepäck und half ihr beim Aufsteigen. »Machen Sie es gut. Und kommen Sie gesund wieder nach Hause«, sagte er.
Für einen Moment legte sie die Hand auf seinen Arm. »Pass auf dich auf, mein Junge«, raunte sie ihm entgegen. Dann ließ sie sich neben einer kräftigen Frau nieder, die Walter dem Bauern zuordnete. Sie sah ihn nicht mehr an.
Er atmete tief durch und sprang mit einem Satz auf die staubige Straße zurück. Die eingespannten Pferde setzten sich wieder in Bewegung. Walter hob die Hand, um zu winken, doch die alte Frau saß mit geschlossenen Augen da. Also wandte er sich ab und marschierte zurück zu seinen Kameraden.
Den ganzen Tag über konnte Walter sich nicht richtig konzentrieren und war froh, dass sie lediglich einen kurzen Wegabschnitt zu sichern hatten. Stundenlang schritten sie zu dritt auf und ab. Außer einem verscheuchten Reh und ein paar Vögeln, die sich ihr Zwitschern nicht nehmen ließen, gab es nichts zu sehen.
Schmittchen, der Feldwebel, war ihr Truppführer. Er war ein Jahr jünger als Walter und mindestens einen Kopf kleiner.
»Was für ein Tag«, sagten beide wie aus einem Mund, als sie nebeneinander im Wagen saßen.
Herbert ließ den Motor an. Der stotterte, als habe er Keuchhusten. »Mit der Karre werden wir keinen Krieg gewinnen«, murrte Walters Vorgesetzter mit dem jungenhaften Gesicht, der ihm bereits zum Freund geworden war.
»Immer noch besser als jeder Fußmarsch.« Walter drehte die Kurbel der Seitenscheibe und hielt den Arm hinaus. »Jetzt bin ich echt gespannt auf das Abendessen in unserer Bleibe.«
Der Fahrtwind wehte ihm um die Nase, als sie den Wald passierten. Dann ging es durch Rodalben. Hier war er schon einmal gewesen, als der Zug Richtung Pirmasens umgeleitet worden war. Damals, als er im Herbst 1935 zum Reichsarbeitsdienst einrücken musste. Es war eine interessante, aber auch anstrengende Zeit gewesen. Der Aufbau der Bunker entlang des Westwalls und die vielen Panzersperren, die sie betoniert hatten, wirkten heute wie eine Festung. Er nickte zufrieden. Niemals würde ein Panzer diese Passage überwinden können. Schade, dass er seinem Vater bei den Besuchen zu Hause davon nichts erzählen konnte. Der winkte immer nur ab und grummelte vor sich hin. Und die Mutter mahnte unentwegt, er solle auf sich Acht geben. Vor zwei Wochen hatte sie wieder ein paar Tränen verdrückt, als Walter und seine Brüder Friedrich und Emil gemeinsam bei den Eltern waren und sich dann in unterschiedliche Richtungen verabschieden mussten. Friedrich war im Reichsinneren eingesetzt und Emil diente in Bayern. Zum Glück hatten auch seine älteren Brüder beruhigend auf die Mutter eingeredet. Bald wären wieder alle Zuhause vereint, hatten sie voller Zuversicht versichert. Ebenso wie die anderen beiden Brüder, die wenige Tage zuvor gemeinsam abgereist waren. Doch seit gestern hatte sich einiges verändert. Am meisten wahrscheinlich für Albrecht, der in Polen war. Walter hoffte, der Fünfunddreißigjährige durfte auch weiterhin die Feldküche bedienen und musste nicht an die Front. Ernst, der besonnene und ruhige Bruder, der im Januar zum dritten Mal Vater geworden war, hatte ganz andere Pläne gehabt. Mittlerweile arrangierte sich auch dieser ältere Bruder mit seinem Soldatendasein.
Jetzt ging die Fahrt wieder bergan. Die holprige Straße schlängelte sich zwischen Buchen und Kiefern hindurch, die ihren Harzduft durch die gewitterschwangere Luft schickten.
Schließlich lichtete sich der Wald und Felder säumten den Weg. Vor ihnen tauchten Häuser auf, als seien sie vor die baumbewachsenen Hügel des Pfälzerwaldes gemalt. Ein Bild wie auf einer Postkarte. Das dachte er jedes Mal, wenn ihr neues Quartier vor ihnen auftauchte. Doch heute, mit den Wolkenformationen am Himmel, wirkte es noch schöner. Walter griff nach Herberts Arm. »Willst du mich zu einer wilden Romanze verleiten?«
Der tippte sich gegen die Stirn und zog eine Grimasse. »Da kann ich mir was Besseres vorstellen als dich. Ungewaschen, unrasiert, staubig.«
»Ich hoffe, der Waschkübel ist heute voll im Gasthof.«
Walter klopfte mit beiden Händen auf seine Uniformhose, von der kleine Staubwölkchen aufstoben.
Erneut tippte Herbert sich gegen die Stirn, hielt aber gleich wieder mit beiden Händen das schwarze Lenkrad des hustenden Opel Olympia fest.
Als sie ins Dorf einfuhren, richteten sich die Blicke der Menschen auf sie. Da standen Frauen vor ihren Häusern, ein Fuhrwerk hielt mitten auf der Straße an und zwei Jungs betrachteten die beiden Soldaten in dem Opel mit großen Augen. Man merkte gleich, dass hier im Dorf nur selten Autos vorbeifuhren.
Walter winkte den Buben zu, die sofort ehrfurchtsvoll die Arme zum Hitlergruß nach oben rissen.
Die imposante Kirche des Ortes tauchte jetzt wieder vor ihnen auf. Herbert verlangsamte die Fahrt und hielt kurz hinter dem Gotteshaus am Straßenrand an. Das Gasthaus Buckel lag zentral in der Dorfmitte. Walter stieg aus, treckte sich. Vor ein paar Tagen war er hier mit seinem hölzernen Koffer angekommen. Den hatte ihm sein Großvater zusammengezimmert, als er im November 1937 nach Pirmasens einrücken musste. »Damit du deine Habseligkeiten zusammenhalten kannst, falls es mal an die Front geht«, hatte der weißköpfige Alte gesagt. Damals war sich Walter sicher gewesen, er übertreibt. Doch inzwischen schienen sich all die Prophezeiungen zu bewahrheiten.
Mit Schmittchen unterhielt er sich lange über die Grenzsicherung und was wohl auf sie zukommen mochte. Und dann wanderten seine Gedanken wieder zum Bruder, der jetzt irgendwo in Polen diente und hoffentlich nicht direkt in die Kämpfe gegen diese Untermenschen verwickelt war. Das hatte der Führer mehr als deutlich erklärt: Denen war nicht zu trauen. Damit schien er recht zu haben, denn sie hatten es schließlich gewagt, das Reich anzugreifen. Wie es mit diesen beunruhigenden Nachrichten wohl der Mutter ging? Und was die Franzosen jetzt im Schilde führten? Sie galten schließlich als Polens Verbündete. So viele Fragen, auf die es keine Antworten gab. Und er wollte auch nicht mit den Kameraden darüber reden. Auf keinen Fall! Nicht, dass die am Ende dachten, er sei ein Feigling.
Zum Glück hatte Walter sich einen freien Tag am Wochenende sichern können, weil er nach Hause wollte.
»Von Mauschbach aus können wir Franzosenluft schnuppern«, hatte der Großvater schon oft gesagt. Wenn jetzt bereits Pirmasens evakuiert wurde, dürfte es den Eltern kaum besser ergehen.
3. Feierabend
1. September 1939
Die schrille Glocke läutete den Feierabend ein. Elisabeth ließ den Karton mit Schuhteilen an der Wand entlang zu Boden rutschen. Ihr Rücken schmerzte. In der Stepperei im Nebenraum wurden Stühle gerückt. Alle Arbeiterinnen hatten es jetzt eilig, nach Hause zu kommen. Elisabeth trat aus dem Lagerraum heraus, in dem sie den ganzen Nachmittag Kisten gepackt und beschriftet hatte. Einige Frauen ächzten beim Aufstehen. Wenn ich nur mal hätte sitzen dürfen, dachte Elisabeth bei sich. An der vordersten Steppmaschine reckte Anni die Arme in die Luft. Mit ihr, die ebenso alt war wie Elisabeth und ganz in ihrer Nähe wohnte, hatte sie sich angefreundet.
Sie griff nach der Liste, die auf dem kleinen Tischchen neben der Tür lag, und notierte die Anzahl der Schuhe, die sie verpackt hatte. Dann eilte sie zum Büro ihres Chefs.
Herr Kolb lehnte am Schreibtisch, den Blick nach draußen gerichtet. Erst als Elisabeth die Tür aufschob, drehte er sich zu ihr um und fixierte sie.
Sie legte die Liste vor ihm ab und lächelte ihn kurz an. »Schönen Abend noch«, presste sie hervor, versuchte allerdings seinem Blick auszuweichen.
»Gleichfalls«, gab er freundlich zurück. Als sie den Raum schon wieder verlassen hatte, rief er ihr hinterher: »Gute Arbeit, Elisabeth!«
Sie sprang die letzten beiden Stufen des Backsteinbaus hinunter. Es staubte, als sie auf der Straße landete. Anni, die auf sie wartete, grinste schelmisch. »Du kannst es nicht lassen, gell?«
Ausgelassen hakte Elisabeth sich bei ihrer Freundin unter. »Feierabend. Da werde ich wieder munter.«
Obwohl es schon später Nachmittag war, brannte die Sonne noch vom wolkenlosen Himmel.
»Jetzt freue ich mich auf ein kaltes Pfefferminzwasser.« Elisabeth malte mit dem Zeigefinger ein Glas in die flirrende Luft.
»Pfefferminzwasser. Prost!« Anni löste sich aus ihrem Arm und stob mit dem Fuß eine Staubwolke auf.
»Hör auf, sonst sehen wir aus wie die Feldarbeiter.« Elisabeth schubste ihre Freundin in die Seite. Beide beschleunigten ihre Schritte, winkten den Frauen zu, die in ihren Gärten arbeiteten, beobachteten den alten Höffner, der seinen Zaun reparierte, und hatten bereits die Dorfmitte passiert, als sie ein Knattern vernahm, das immer lauter wurde. Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Mit gerunzelter Stirn musterte sie die hinter ihnen liegende Straße.
»Das werden die Soldaten sein.« Anni hielt inne, drehte sich auch um. »Die wohnen doch jetzt hier. Bei Buckels im Gasthaus.«
»Soldaten?« Elisabeth zog die Stirn kraus. »Du spinnst ja. Was sollen denn wir hier im Dorf mit Soldaten?« Doch irgendwie machte sich ein Gefühl von Unsicherheit in ihr breit, das sie nicht erklären konnte. So war sie froh, als das Motorengeräusch verstummte, ohne dass sie etwas gesehen hatte. Was auch immer das für ein Fahrzeug gewesen sein mochte, es war nicht mehr zu hören und das war gut so.
Zu Hause ließ Elisabeth das kalte Wasser in Vaters Schoppenglas laufen und gab drei Tropfen von dem Essigwasser hinzu, das ihre Mutter mit Pfefferminze angereichert hatte. Sie nahm ein paar kräftige Schlucke von dem kühlen Getränk und stellte dann prustend das Glas ab.
In diesem Moment betrat ihre Mutter mit rotem Kopf die kleine Küche unter der Dachschräge. Vor Kurzem hatte Elisabeth mit ihren Eltern die viel zu enge Zwei-Zimmer Wohnung in Clausen bezogen. Mit ihrem achtjährigen Bruder Karl teilte sie sich ein Zimmer, das durch die beiden Betten und eine kleine Kommode komplett ausgefüllt war. Jetzt glühten die Räume unter der Spätsommersonne. Die Luft war stickig.
Mutter hievte den großen Weidenkorb mit der nassen Wäsche auf den Küchentisch.
»Warum hast du mich nicht gerufen? Ich hätte dir doch geholfen.« Elisabeth sah ihre Mutter verständnislos an.
»Hab dich nicht kommen hören«, gab die knapp zurück.
Elisabeth zog den Korb zu sich, wollte gerade nach der Hose ihres kleinen Bruders greifen, da hielt ihre Mutter sie zurück. »Geh lieber Milch holen.« Sie drückte Elisabeth die Kanne in die Hand.
Elisabeths Schultern sackten nach vorn. Da war sie froh, endlich zu Hause zu sein, und jetzt sollte sie noch mal durchs Dorf. Unwillkürlich fiel ihr wieder das komische Motorengeräusch ein und dass Anni erzählt hatte, es wohnten Soldaten im Gasthaus. Mit denen wollte sie nichts zu tun haben. Aber um zum Becker-Bauern zu gelangen, musste sie dort vorbei. Sie wusste, wenn ihr die Mutter etwas auftrug, gab es keine Widerrede. Also eilte sie die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg. Diesen Gang wollte sie so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Nun gelangte das Dach des Gasthauses in ihr Blickfeld. Ob da wirklich Soldaten einquartiert waren? Das machte ihr Angst. In Gedanken summte sie vor sich hin. Doch nicht einmal damit gewann sie ihre Leichtigkeit zurück.
Sie war nur noch ein paar Schritte von dem großen Gedenkkreuz in der Dorfmitte entfernt, da entdeckte sie tatsächlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite Männer, die Uniformen trugen.
Anni hatte recht, dachte sie. So oft hatten ihre Eltern in den vergangenen Wochen von der Ruhe vor dem Sturm gesprochen. Wann immer der Vater vom Kriegswinter 1917 von seiner Gefangenschaft in Belgien und den ewigklammen Klamotten auf dem Leib berichtete, schauderte es Elisabeth jedes Mal. Was würde die jungen Burschen erwarten, die jetzt dort drüben standen? Sollten auch sie gegen übermächtige Gegner antreten müssen? Oder wenn gar der Vater nochmals in einen Krieg ziehen müsste? Was sollte dann aus ihnen werden?
Ihre Hände wurden feucht und sie krallte die Finger fester um den hölzernen Griff der Milchkanne. Nur nicht hinüberschauen, befahl sie sich selbst und beschleunigte ihren Schritt.
Gemurmel drang herüber. Die Soldaten schienen sich angeregt zu unterhalten. Jetzt pfiff einer anerkennend und Elisabeth stieg die Hitze ins Gesicht. Sie zwang sich, auf den Boden zu schauen und war froh, als sie an der Kirche vorbei und um die Kurve gebogen war.
4. Welch ein Anblick
1. September 1939
Walter lehnte sich an die kühle Bruchsteinmauer des Gasthauses. Er schloss die Augen und seine Soldatenkappe schob sich über das Gesicht, als er den Kopf zurücklegte. Von vorn schlug ihm jemand gegen den Schild und seine Kopfbedeckung fiel zu Boden. Die anderen lachten. Walter blinzelte, schob den schmächtigen Kurt eine Armlänge von sich. »Jockel«, murmelte er und grinste dabei. Dann hob er die Kappe auf, klopfte den Staub herunter und setzte sie sich wieder auf den Kopf.
Gerade wandte er sich seinem Freund zu, da bemerkte er eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war ein Mädel mit zwei schwarzen Zöpfen, die in der Abendsonne glänzten, als seien sie mit Goldpuder bestäubt. Sie trug einen Rock und darüber eine Schürze, die ihre Taille betonte. Auch die Bluse zeigte erkennbare Wölbungen an der richtigen Stelle. Walter sah ihr hinterher und überlegte, wie alt sie wohl sein mochte.
Sie trug eine Milchkanne in der Hand. Warum nur richtete sie den Blick krampfhaft auf ihre Füße? Ob sie so schüchtern war? Aus den wenigen Metern Entfernung wirkten ihre Gesichtszüge sanft und ebenmäßig. So eine könnte ihm gefallen. Er seufzte, hielt sich jedoch sofort die Hand vor den Mund.
Sein Interesse blieb den anderen nicht verborgen. Schon pfiff Herbert Schmitt einen dieser schrillen Laute, wie kein Habicht sie hätte einnehmender von sich geben können. »Geh halt rüber zu ihr«, zischte der Kamerad ihm zu. Jetzt drehten sich auch die anderen um und es ertönte aufmunterndes Gemurmel.
»Ach, hört auf!« Walter winkte ab. »So wie die aussieht, ist sie doch längst unter der Haube.«
»Woher denn. Die ist so jung. Außerdem: Wenn du sie nicht fragst, wirst du es nie erfahren.« Schmittchen deutete in Richtung der jungen Frau, deren Gestalt immer kleiner wurde und schließlich verschwand. »Zu spät.«
»Jetzt lasst es gut sein.« Walter versuchte, betont lässig zu wirken, und fühlte sich lächerlich dabei.
»Hübsch war sie schon«, meinte Hans, der erst vor ein paar Tagen aus der Eifel zu ihnen gestoßen war. Der drahtige Kamerad war zwei Jahre jünger als Walter, doch von Beginn an hatten sie sich verstanden. Mit seinem spitzbübischen Grinsen und den lustigen Sprüchen unterhielt Hans die Männer schon seit dem ersten Abend.
Walter hob abwehrend die Hand, lehnte sich dann wieder gegen die Hauswand und schloss die Augen. Auf keinen Fall wollte er den anderen zeigen, wie sehr ihm die junge Unbekannte gefiel.
Es dauerte nicht lange, da näherten sich erneut Schritte. Diesmal aus der anderen Richtung. Herbert stieß Walter an. »Da kommt sie wieder«, flüsterte der Kamerad.
Diesmal pfiff keiner. Vielmehr klebten die Augenpaare der anderen Soldaten an ihm. Walter richtete sich auf, beobachtete die Schwarzhaarige, und als sie nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war, nahm er all seinen Mut zusammen.
»Guten Abend!«, rief er hinüber. Seine Hände zitterten ein wenig. So etwas war ihm noch nie passiert. Was war nur mit ihm los? Als sie sich umdrehte, für einen Augenblick ihren Schritt verlangsamte und ein leichtes Nicken andeutete, hielt er den Atem an.
»Geh zu ihr!«, zischte der lange Fritz.
Doch Walter konnte sich nicht bewegen. Er stand da, sah, wie das Mädel sich wieder in Bewegung setzte und wenig später zwischen den Häusern aus seinem Sichtfeld verschwand.
»Hier. Post für dich!«, rief Herbert und wedelte mit einem Brief vor Walters Gesicht.
»Wer schreibt?« Er griff danach und erkannte sofort die Handschrift seiner Mutter. Mit einem Finger fuhr er in den Umschlag und riss ihn auf. Schnell faltete er das Papier auf.
Mein Junge,
Ich nehme an, du bist gar nicht weit von uns für das Vaterland tätig und doch konntest du uns jetzt nicht helfen, als wir binnen drei Tagen das Haus verlassen mussten. Die Evakuierung ging schnell. Wir haben die Hühner auf den Wagen gepackt und die Kühe vor das Fuhrwerk gespannt. Wenn du diese Zeilen liest, sind wir unterwegs. Es hieß, wir müssen ins Reichsinnere nach Franken umsiedeln.
Mach dir keine Sorgen. Der Vater, deine beiden Schwestern und ich schaffen das schon. Sobald wir eine Bleibe gefunden haben, melde ich mich bei dir.
Gib auf dich Acht, den Franzosen ist nicht zu trauen,
geliebter Sohn.
In inniger Liebe
Mutti
Noch einmal las er diese Zeilen. So hatte sie ihn noch nie angesprochen: innige Liebe. Seltsam. Vor seinem inneren Auge sah er seine Eltern auf dem Fuhrwerk sitzen, bepackt mit den wichtigsten Habseligkeiten. Und Lydia hockte bestimmt mit ihrem gewinnenden Lächeln neben dem Vater, schob sich unentwegt die widerspenstigen Locken aus der Stirn und wollte die Zügel halten. Das war schon in Kindertagen ihr wichtigstes Ziel gewesen. Walter faltete den Brief zusammen. Offenbar war auch die siebenunddreißigjährige Erna mitgefahren. Ob sein ältester Bruder Jakob mit seiner Familie den gleichen Weg gehen musste? Wie still es dann in ihrer Straße sein mochte, im ganzen Ort. Wenn das Wirtshaus geschlossen und niemand im Dorf mehr zu Hause war. Ein kühler Schauer kroch ihm über den Rücken und bündelte sich in einem unüberhörbaren Bauchgrummeln.
5. Propaganda
1. September 1939
»Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer selbst sich von den Regeln einer humanitären Kriegsführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind.«
Die Stimme Hitlers klang ein wenig verzerrt aus dem Volksempfänger. Elisabeth beobachtete ihren Vater, der zunächst mit versteinerter Miene dasaß, dessen Gesichtszüge sich aber zusehends entspannten. Als im Volksempfänger Applaus aufbrandete, klopfte er anerkennend auf die Tischplatte.
»Was bedeutet das?« Sie sah ihren Vater fragend an.
»Der Führer macht Ernst. Wir lassen uns nicht von den Polen auf der Nase herumtanzen. Die werden überrollt, bis kein Stein mehr auf dem anderen steht. Dann ist Ruhe.«
»Sind wir denn stark genug?«
»Mädel, wo denkst du hin? Unser Führer weiß, was er tut. Der kennt sich aus. Er war einer von uns vierzehn-achtzehn.«
»Aber du hast doch erzählt, wie schlimm das damals war.«
Für einen Moment flackerten Vaters Augen. Dann strich er sich durch das licht gewordene Haar. »Umso wichtiger, uns jetzt nichts gefallen zu lassen. Schon gar nicht von diesen Untermenschen aus dem Osten.« Mit diesen Worten erhob er sich und schlurfte zum Fenster.
So gern hätte sie ihm noch mehr Fragen gestellt. Sie wollte verstehen, warum die Soldaten hier im Ort waren. Doch ihr Vater lehnte sich aus dem Fenster und beachtete sie gar nicht mehr.
Im Nebenzimmer weinte Karl, der nach einer Auseinandersetzung mit dem Vater Stubenarrest hatte.
Elisabeth sog die Luft ein, nahm einen neuerlichen Anlauf, denn es ließ ihr keine Ruhe. »Aber du hast doch immer gesagt, der Krieg ist schrecklich. Und jetzt?«
»Die Polskis provozieren und haben wohl nicht gedacht, dass wir Deutschen uns nicht alles gefallen lassen. Ja, wir sind friedlich. Wir wollen keinem was. Aber wenn diese Untermenschen ernsthaft glauben, sie könnten gegen uns etwas ausrichten, dann werden sie schon sehen, was sie davon haben. Unsere Wehrmacht schlägt keiner!« Zufrieden nickte er seiner Tochter zu.
»Polen ist weit im Osten, oder?« Inständig hoffte sie, der Vater würde ihre Frage mit einem deutlichen Ja beantworten. Je weiter weg das alles war, umso besser.
»Weit von hier. Sicher.« Der Vater deutete aus dem Fenster. »Aber unsere Soldaten sind schon dort.« Unwillkürlich dachte Elisabeth an die Männer vor Buckels Gasthaus. »Und was machen die Soldaten in Clausen?«
»Grenzsicherung gegen die Franzsacken. Denen kann ja keiner trauen.«
Aus dem Volksempfänger drangen noch immer laute Heil Hitler-Rufe.