Dachdecker Fridolin - Hansjakob Marti - E-Book

Dachdecker Fridolin E-Book

Hansjakob Marti

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  • Herausgeber: Cameo
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Dachdecker Fridolin steht nach einer Flutkatastrophe, die ihm die Frau und seinen sechs Kindern die Mutter genommen hat, von einem Tag auf den anderen vollkommen mittellos da. Das enge Tal, in dem die Familie immer schon gelebt und in dem er sein Auskommen gefunden hat, wurde durch das Wasser in eine tödliche Falle verwandelt. Er und seine Kinder können nicht auf Hilfe hoffen, denn das Unglück hat Tod und Verderben über Mensch und Tier gebracht, und nur eine einzige weitere Überlebende findet aus all dem Chaos zu ihnen. Um dem Hungertod zu entrinnen, bricht die kleine Schar – das älteste Kind ist gerade mal zehn Jahre alt, das jüngste erst drei – auf zu einer riskanten Klettertour, die sie über den Berg und schließlich in die angrenzende Ebene führen soll. Fridolin weiß, dass die Zukunft, selbst wenn dieses Vorhaben gelingt, dennoch ungewiss aussieht. Dieser Zukunft wird sich die Familie jedoch stellen – mit enormem Mut, großer Zähigkeit, viel Geduld – und eisernem Zusammenhalt.

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Seitenzahl: 228

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Hansjakob Marti wohnt seit seiner Geburt im kleinen Bergdorf Matt, weit hinten im Glarnerland. Er absolvierte eine landwirtschaftliche Ausbildung und arbeitete immer als Landwirt und Älpler. Als Lehrlingsausbilder und in verschiedenen Gremien tätig, lernte er viele Leute kennen.

Schon sein erstes Buch «Niggälifallä», erschienen im So-media-Verlag, fand eine große Leserschaft.

Sein Buch in Glarner Mundart, «Mit denä Steinä muurä, wo mä het!», gab er im Herbst 2018 im Eigenverlag heraus. Gesundheitliche Probleme zwingen ihn oft dazu, im Haus zu bleiben – vor allem bei großer Kälte. Und so wagte er sich im Winter 2017/18 an seinen ersten Roman mit dem Titel «Blutige Spuren im Schnee».

Copyright © 2022 Cameo Verlag GmbH, BernAlle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kulturfür die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Susanne Schulten, DuisburgUmschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, BernDruck und Bindung: CPI Books GmbH, LeckISBN: 978-3-03951-005-4eISBN: 978-3-03951-009-2

Hansjakob Marti

Dachdecker Fridolin

Roman

Inhalt

Über den Autor

Prolog

Die Katastrophe

Was tun?

Auf der anderen Seite

Fundstücke

Ein Ausweg

Hier und dort

Angst und Schrecken

Mut und Zusammenhalt

Gerechte Strafe

Jenseits der Wasserscheide

Mutters Bruder

Mit offenen Armen

Zwei üble Burschen

Großeinkauf

Eine Lüge

Der Überfall

Norma

Fünfzehn Jahre später

Gute Aussichten

Heimsuchungen

Neue Familienmitglieder

Die Wahl

Der Unfall

Diebe und Wilderer

Die Erfindung

Die Festhalle

Guter Lohn für gute Arbeit

Vergangenheit und Zukunft

Das Tal

Epilog

Die Natur versteht keinen Spaß,

sie ist immer wahr, immer ernst,

immer strenge, sie hat immer recht,

und die Fehler und Irrtümer

sind immer des Menschen.

Johann Wolfgang von Goethe

Die Kinder des Dachdeckers:

Fridolin, zehn Jahre

Regina, neun Jahre

August (Güst), sieben Jahre

Kaspar, sechs Jahre

Barbara, vier Jahre

Elisabeth, drei Jahre

Prolog

Vermutlich schon seit Jahrtausenden hatte sich das zunächst nur winzige Rinnsal den Weg des geringsten Widerstandes gesucht. Das leicht verwitterbare Gestein sorgte dafür, dass sich das Wasser immer tiefer graben konnte, bis schließlich ein kleiner Bach mit Böschungen auf beiden Seiten entstanden war. Das Einzugsgebiet des Baches wurde durch die Rutschungen, die das eilige Gewässer verursachte, immer größer, was wiederum die Wassermenge, die er mit sich führte, erheblich erhöhte. Immer wiederkehrende Rutschungen von den Böschungen sorgten nun oft für Staus, die erst verdrängt werden konnten, wenn der Wasserdruck zu hoch wurde. Weil aber mit den Böschungen auch ab und zu Bäume ins Rutschen gerieten, die zusammen mit Steinen, Sand und Laub das Abfließen blockierten, suchte sich das Wasser auch immer wieder neue Wege. Dennoch: All das konnte nicht verhindern, dass die Ausschwemmung sich immer tiefer in den Boden grub.

Was die Wassermassen jedoch nicht so leicht bezwingen konnten, das war der eigentliche Fels. Felsige Verengungen, die wie Flaschenhälse wirken, kann man zuvorderst in Tälern immer wieder sehen. «Steter Tropfen höhlt den Stein!» Das galt schon vor Tausenden von Jahren als Weisheit, und dies stimmt immer noch. Und so haben sich manchenorts in den Tälern die Bäche auch in felsigen Gebieten einen Abfluss gegraben, wenn auch eher in die Tiefe als in die Breite.

Als die Menschen die Täler besiedelten, fürchteten sie nicht bloß die Bäche als solche, sondern auch die nebenbei entstandenen Sümpfe mit all ihren Tücken und Lebewesen.

Schon früh versuchten sie, das Wasser in einigermaßen geordnete Bahnen zu lenken, was freilich mit bloßer Handarbeit ein schwieriges Unterfangen war, und vor allem bei Unwettern kamen immer wieder Leute ums Leben, die Bäche und Flüsse hatten zähmen wollen.

Bauern siedelten in diesen Tälern. So wurden die Hänge kultiviert, noch bevor man in den flacheren Gebieten damit begann. Die Weisheit unserer Urahnen lautete dazu: «Wenn ein Bauer am Tag einen halben Quadratmeter urbar macht, hat er einen Taglohn verdient.»

Bäche und Lawinenhänge jedoch wurden sorgfältig gemieden, wenn Gebäude errichtet werden sollten. Erst als die Menschen sich mit Bachwuhren gegen das Wasser zu schützen lernten, wurden die ebenen Flächen von Steinen und Stauden befreit, und man legte Wiesen an.

Und doch kann es bei lang anhaltenden Niederschlägen auch heute noch passieren, dass Rutschungen und Überschwemmungen zweihundert, sogar dreihundert Jahre alte Gebäude treffen und mit sich reißen.

Die Katastrophe

Der Regen trommelte schon seit einer Woche unaufhörlich auf das Schindeldach oben am Hang. Es war, als ob der Himmel sämtliche Schleusen geöffnet hätte. Eine Wetterbesserung war auch für diesen Tag nicht abzusehen. In einigen sehr steilen Lagen hatte es bereits Rutschungen gegeben, in den Runsen schwollen die Bäche an, und die Bäche wurden zu reißenden Flüssen. Der Boden oben am Hang war bereits jetzt schon bis tief ins Innere durchweicht.

Fridolin, seine Frau Barbara und seine sechs Kinder standen neben dem Haus, und alle schauten besorgt den steilen Hang entlang hinunter. Zuunterst, wo noch ein paar Meter fast ebenes Land zwischen Bach und Steilhang lagen, tobte der Wildbach mit Urgewalt durch das Tal. Schon seit zweihundert Jahren stand das Haus oben auf seinen Grundmauern, von wo aus Fridolin täglich seiner Arbeit nachging. Dachdecker war schon sein Vater gewesen, weshalb hätte er nicht auch Dachdecker werden sollen? Die Arbeit gefiel ihm im Sommer ganz besonders, und im Winter fertigte er wochenweise Schindeln an, und zwar aus Holz, das auf der Sonnenseite des Tales geschlagen wurde, weil es eben viel besser zu spalten war als jenes von der Schattenseite. Aber zuerst musste das Holz geschlagen, entastet, entrindet und zu kurzen Stücken zersägt werden. Fridolin ging die Arbeit nie aus, aber er konnte sie sich einteilen, wie er wollte. Konkurrenz war keine zu befürchten, aber er führte seine Arbeit immer gründlich und für die Hausbesitzer erschwinglich aus.

Schon im letzten Jahr hatte ihm manchmal sein ältester Sohn – der ebenfalls Fridolin hieß – zur Seite gestanden, wenn es darum ging, ein Dach noch vor den oft wechselnden Wetterlagen fertigzustellen. Der Junge brachte ihm jeweils ganze Büschel Schindeln über eine Leiter aufs Dach, weshalb sein Vater sie bloß noch richtig verlegen und anschließend mit Nägeln und Hammer befestigen musste. Fridolin Junior konnte so von des Vaters Arbeit profitieren und erlernte sie von Grund auf.

Barbara hatte begreiflicherweise genug zu tun mit den restlichen fünf Kindern, wobei ihr Regina, die bloß ein Jahr jünger war als Fridolin, viel Arbeit abnahm. Die Kinder wurden nicht verwöhnt, aßen, was auf den Tisch kam, litten aber nie Hunger. Auch wenn zwei oder oft auch drei von ihnen auf demselben Laubsack schlafen mussten, war dies doch niemals ein Problem. Ihre Kleider waren meist zweckmäßig geschneidert, auch weil die kleineren Geschwister die Sachen der größeren austragen mussten, bis diese gar nicht mehr zu gebrauchen waren. Freilich waren die Mutter und Regina vor allem zur Winterszeit oft mit Faden und Nadel beschäftigt, um die zerrissenen Fetzen irgendwie wieder zusammenzuflicken, in der Hoffnung, dass sie wieder ein paar Wochen halten würden. Und wenn Wolle vorhanden war, wurden auch Pullover, Handschuhe, Socken und Zipfelmützen gestrickt.

Jede Woche mussten sich alle mit sauberen Kleidern ausrüsten, was wiederum hieß, dass Mutter mindestens einmal pro Woche große Wäsche hatte. Ihr machte dies aber gar nichts aus. Sie war eine mittelgroße, robuste Frau mit weizenblonden Haaren und einem hübschen Gesicht. Problemlos konnte sie sich auch bei ihrer Kinderschar durchsetzen, wenn diese wieder einmal der Hafer stach. Ob im Freien oder zu Hause: Wenn Barbara die Bande das zweite Mal zur Ordnung rief, wussten alle, dass dies die letzte Warnung war, bevor man ein paar kräftige Hiebe mit der flachen Hand auf den Hintern bekam. Nie wurden sie aber grob geschlagen, sondern bloß auf diese Weise zur Ordnung gerufen, und nur selten musste der Vater durchgreifen, weil eins der Kinder gar zu großen Unfug trieb. So hörte man jahrein, jahraus eine fröhliche Kinderschar oben am Hang, die im Freien herumtollte oder Verstecken spielte.

Jetzt, im April, war der Schnee teilweise bereits weg, vor allem auf den steilen Dächern, von wo er schon einige Male abgerutscht war. Fridolin hätte dort gern nächste Woche seine Arbeit wieder aufgenommen, aber bei diesen sintflutartigen Niederschlägen war das ein Ding der Unmöglichkeit. Und so stand der kräftige Mann mit dem wettergegerbten Gesicht jetzt also mit der ganzen Familie vor dem Haus, schaute sich um und fragte sich, was er tun sollte.

Lange konnte er den Hang aber nicht beobachten, denn jetzt erst begann die eigentliche Katastrophe. Haus und Hof, ja, sogar die Erde selbst und die ganze Familie wurden plötzlich durchgeschüttelt, die ganze Welt bebte. Scheiterbeigen fielen um, der Kamin stürzte über das Dach auf den Boden hinab. Ein unheimliches, dumpfes Grollen erklang, Fensterscheiben gingen in die Brüche. Auch der Gartenzaun neben dem Haus brach auseinander.

Fridolin erstarrte – er hatte in seinem fünfzigjährigen Leben noch nie ein Erdbeben erlebt und schon gar nicht ein derart heftiges. Die beiden kleinsten Kinder, Barbara und Elisabeth, stürzten, und weil sie an Mutters Händen hingen, rissen sie diese ebenfalls um. Fridolin, kreideweiß im Gesicht, aber wieder aus seiner anfänglichen Starre erwacht, wollte ihnen aufhelfen, als plötzlich der ganze Berghang zu rutschen begann. Erst langsam, dann immer schneller, glitt er samt Haus und Familie in die Tiefe, und alle schrien, zappelten und griffen nacheinander in Todesangst.

Die Mutter war geistesgegenwärtig genug, ihre beiden Jüngsten in die Arme schließen und krampfhaft festzuhalten. Fridolin, groß und kräftig, umfasste mit seinen starken Armen die größeren vier Kinder und rutschte auf dem Bauch liegend samt Haus und Garten den Hang hinunter. Aus den Augenwinkeln sah er, wie auch am gegenüberliegenden Hang drei Häuser mitsamt Grund und Boden in die Tiefe gerissen wurden.

Durch den immer noch herabrauschenden Regen hörte man über den auf allen Seiten herabrutschenden durchweichten Hängen ein tiefes, bedrohlich klingendes Grollen und Rumpeln, auch das Geräusch von nachrollenden großen und kleinen Steinen war zu hören.

Je tiefer es sie aber ins Tal riss, umso stärker wurde dieses Grollen vom Rauschen des Baches übertönt, der laut rumpelnde Baumstämme und kleinere Felsen mitführte und zu einer reißenden Bestie geworden war. Und während sie zu Tode erschrocken und schreiend immer weiter in die Tiefe schlitterten, zerfiel unter ihren Leibern der Erdboden. Risse wurden zu tiefen Spalten, das Haus zerbrach in Stücke, um alsbald ebenfalls Richtung Tal zu stürzen.

Fridolins Frau fiel drei, vier Meter von ihm entfernt in eine solche Spalte und entschwand aus seinem Blick. Er, mit der Last von vier Kindern in den Armen, schaute besorgt in Richtung des reißenden Flusses. Seine verzweifelten Rufe und Stoßgebete gingen jedoch im übrigen Lärm unter. «Bloß nicht bis in den Fluss, bloß nicht in den Fluss …», schrie er fortwährend.

Mit einem Mal lag der ganze Hang still. Sofort stand Fridolin auf und half auch seinen Kindern hoch. Er keuchte vor Anstrengung, dann erbleichte er, als er Richtung Fluss schaute. Weil auf beiden Seiten des Tales die Hänge bis in das Gewässer hineinschossen, staute sich das Wasser in Sekundenschnelle. Ganze Bäume mitsamt ihren Wurzeln rollten in den kreuz und quer wallenden Wogen daher. «Sofort weg hier!», schrie er und stieß seine Kinder durch das Rutschgebiet wieder den Hang hinauf. Aber schon sanken zwei von ihnen, August und Regina, bis zu den Knien ein.

Es war auch für ihren Vater äußerst schwer, so schnell voranzukommen, wie er das wollte, weil alle gleichermaßen in dem morastigen Erdreich versanken. Vater Fridolin bemerkte zwar, dass beide Kinder die Schuhe verloren hatten, als er sie aus dem Morast gezogen hatte, aber zumindest Fridolin Junior bemühte sich, von Stein zu Stein zu springen, und kam so einigermaßen voran. Kaspar versuchte, es ihm gleich zu tun, rutschte aber auf den glitschigen Steinen aus und fiel vornüber in den weichen Morast. Weil aber inzwischen der Vater mit August und Regina auf seine Höhe kam, konnte er Kaspar wieder auf die Beine helfen.

Die Zeit wurde knapp. Schon wurden sie von einer flachen, zu ihnen heraufschwappenden Welle der grauen Brühe bespritzt. Die Kinder, verweint und verstört, schauten sich immer wieder mit panischen Blicken um, wo sie endlich etwas festen Boden unter die Füße bekämen. Da entdeckte Fridolin Junior unmittelbar weiter oben einen Hügel, der schon immer dort gewesen war und sich nicht bewegt hatte.

Er zog mit der Hand Regina den Hang hinauf. Kaum waren sie auf dem Hügel, mühten sich auch August und Kaspar durch den Schlamm nach oben. Kaspar hatte es noch nicht ganz auf den Hügel geschafft, als Fridolin laut schrie und auf den Vater weiter unten zeigte. Der plagte sich schon seit geraumer Zeit, seinen eingeklemmten linken Fuß wieder frei zu bekommen, und das schäumende Wasser hatte ihn schon fast erreicht. Als er aufsah und feststellte, dass die Kinder wenigstens vorläufig in Sicherheit waren, konzentrierte er sich voll auf sein Bein, aber alles Zerren und Ziehen half nicht. Verzweifelt beobachtete er, wie Fridolin seinen Geschwistern Anweisungen erteilte und dann zusammen mit August wieder zu ihm herabkletterte, um ihm aus seiner Not zu helfen.

Langsam, aber sicher ging ihm die Puste aus. Er wollte den beiden zurufen, um Himmels Willen nicht mehr zurückzukommen, aber eine weitere Welle der grauen Brühe schwappte über ihn hin, sodass er Wasser schluckte und sofort nach Luft schnappen musste. Dann waren seine Söhne auch schon bei ihm und zerrten jeder an einem Arm ihres Vaters, so fest sie konnten. Auch er selber raffte sich noch einmal zu einer übermenschlichen Anstrengung auf, um seinen Fuß doch noch zu befreien. Und plötzlich ging es wie von selbst. Der Fuß ruckte hoch, allerdings ohne Schuh, denn durch das Zerren und Rupfen war die Schuhschnur gerissen. Aber er war frei.

Zusammen quälten sich die drei hangaufwärts, wo sie neben den beiden anderen vor Angst schlotternden Kindern auf den nassen Boden sanken. Der Vater lag wie benommen am Boden, wischte sich aber nach kurzer Zeit Schlamm und Dreck aus Mund und Nase, setzte sich auf und fragte: «Wo ist Mutter?»

Alle schauten sich um.

«Da!», schrie Kaspar plötzlich.

Tatsächlich stand die Mutter noch weiter oben, mit je einem Mädchen an den Händen. Auch die drei versuchten verzweifelt, auf den Beinen zu bleiben. Vater sprang auf, um ihnen zu helfen, und Fridolin wollte ihnen zur Seite stehen, als August plötzlich schrie: «O nein!»

Mit vor Schreck verzerrtem Gesicht blickte der Vater den Hang hinauf, wo sich eine weitere Rutschung mit vielen Steinen auf Mutter und Töchter zubewegte.

Weil alle entsetzt nach oben zeigten, warf auch Barbara einen Blick hinauf und sah, dass ein runder, drei Kubikmeter großer Felsbrocken auf sie zurollte. Im ersten Moment erstarrte sie vor Schreck, weil auch sie stecken geblieben war. Dann aber packte sie blitzschnell Barbara, warf sie fast zwei Meter weit neben sich in den Dreck und achtete dann nicht weiter auf sie, weil sie nun auch Elisabeth hochhob und die Tochter mit allen ihr noch verbliebenen Kräften ebenfalls so weit wie möglich weg und aus dem Bereich des heranrasenden Steinbrockens warf.

Dann musste die übrige Familie hilflos und mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Mündern dabei zuschauen, wie die Mutter unter dem tonnenschweren Stein verschwand. Und als wäre das noch nicht genug, rollte der Stein ab diesem Moment keinen Meter mehr weiter. Die Kinder heulten und schrien durcheinander, und auch Fridolin rollten die Tränen über die Wangen in den Bart. Die beiden Jüngsten, nach ihrem Wurf wie gelähmt, erwachten nun aus ihrer Erstarrung und versuchten in diesem Chaos aus Dreck, Wasser und Steinen aufzustehen. Aber erst als Sohn und Vater Fridolin sie auf die Beine zogen, konnten sie zusammen wieder mühsam den Rückweg antreten.

Nun, vorläufig auf dem Hügel in Sicherheit, schlotterten alle Kinder vor Angst, Gram und Schrecken. Der Vater und sein Ältester kämpften sich noch einmal durch den Dreck und Schlamm bis zu dem Stein vor, der Barbara unter sich begraben hatte. Mit den bloßen Händen, dann mit flachen Steinen versuchten sie den Stein zu untergraben, damit er doch noch einen Meter weiterrollte und die Mutter wieder sichtbar würde. Jedoch: Der Schlamm umschloss den Stein wie Beton. Es war ein hoffnungsloses Unternehmen, welches sie bald aufgeben mussten, weil sie permanent in Gefahr waren, von nachrollenden Steinen erschlagen zu werden.

Der Vater weinte, als er mit Fridolin zu den anderen Kindern zurückkehrte. Er schloss sie alle in seine Arme, und er wusste: Sie hatten sie endgültig verloren – er seine Frau, die Kinder ihre Mutter. Weitere Rettungsversuche gleich welcher Art wären jetzt nicht bloß hoffnungslos zu spät gekommen, sondern auch lebensgefährlich gewesen.

Als er sich umsah, stellte er zudem fest, dass sie immer noch nicht in Sicherheit waren, weil die fürchterlichen Fluten immer noch nicht ihren Weg durch die zahlreichen Hangrutschungen gefunden hatten und die graubraune Brühe sich nun zunehmend gefährlich staute. Er nahm sich zusammen, packte die beiden Jüngsten an den Händen und schritt voraus. Da, wo sie sich befanden, war der Morast nicht mehr so klebrig und tief, sodass sie schneller vorankamen, und zum Glück stieg das Gelände nun nur noch leicht an. So konnten sie der weiterhin anschwellenden, tobenden und grollenden Gischt entkommen. Und schließlich, weiter oben unter einer alten Wettertanne, konnte sich die verzweifelte Familie zusammenkauern und endlich einigermaßen sicher fühlen. Doch die Mutter war für immer fort.

Von dort, wo sie sich befanden, konnte sich der Vater einen ungefähren Überblick auf die Katastrophe verschaffen, als er aufgestanden war und sich die Nebelfetzen etwas verzogen hatten. Freilich interessierte das nur ihn; die Kinder heulten und schrien in ihren verdreckten, durch und durch nassen und zerrissenen Kleidern, weil sie nun auch noch jämmerlich froren.

Fridolin bot sich ein Bild des Grauens. Soweit er etwas durch den immer noch zügellos herabströmenden Regen in der näheren Umgebung erkennen konnte, war überall bloß noch unvorstellbare Zerstörung zu erkennen. Die Hänge, allesamt beidseitig des Tales abgerutscht, hatten alle Gebäude und die meisten Bäume mit sich gerissen. Andere Menschen waren weder oben an den Hängen noch unten in der Nähe des Flusses zu erkennen. Ob sie wirklich alle tot waren? Einfach so, ausradiert von einer Minute auf die andere? Das konnte und durfte doch nicht sein … Dann überfiel ihn wieder die Trauer um seine geliebte Ehefrau. Er hockte sich hin, ließ den Kopf hängen und stierte schluchzend vor sich auf den Boden.

Doch schon bald rissen ihn die Fragen und das Weinen der sechs Kinder aus seiner Trauer: Ob man Mutter nicht vielleicht doch noch finden könnte? Ob denn niemand sonst trockene Kleider hätte? Ob es nirgends Wärme gebe? «Vater, was soll ich tun?», «Ich habe keine Schuhe mehr!», «Vater, mir ist so kalt!».

Ihm wurde klar, dass er unbedingt irgendwo einen Unterschlupf finden musste, wo seine Kinder sich aufwärmen könnten. Aber wo? Er selbst hatte noch einen Schuh, aber am andern Fuß hing bloß noch eine tropfnasse und vollkommen verdreckte Socke. Also bat er zunächst einmal alle Kinder, ihre Schuhe auszuziehen und, so gut es ging, den Dreck daraus zu entfernen. Dann wurden sämtliche Strümpfe und Socken ausgewrungen und ebenfalls einigermaßen gesäubert. Nun bekamen jene Kinder, die Socken und Schuhe verloren hatten, von ihren Geschwistern die Socken, die anderen schlüpften mit nackten Füßen in ihre Schuhe, und die Kleider der beiden Kleinsten wurden zusätzlich vom gröbsten Dreck befreit, während die beiden zusammengekauert Unterschlupf fanden unter Vaters Jacke, die allerdings schwer war vor lauter Dreck und Nässe.

Plötzlich war wieder ein eigenartiges Krachen und Gurgeln zu hören. Das Wasser ging sofort zurück, hatte doch endlich seine aufgestaute Gewalt die verschiedenen Muren durchbrochen, und es strömte nun, mit Sicherheit unhaltbar, durch die enge Schlucht vorn am Tal in die Ebene hinaus. Vater Fridolin mochte sich gar nicht vorstellen, was dies für die Menschen in der Ebene draußen bedeutete. Diese gewaltige Flut war bestimmt schlimmer als jeder Staudammbruch, weil sie so viel tödliches Geröll und ganze Waldabschnitte mit Stämmen, Wurzeln und Ästen mit sich führte – eine tödliche Walze. Er stand wieder auf; er musste seine Kinder in Bewegung halten, damit sie nicht auskühlten.

Im Tal hatten bis anhin zwölf Familien gewohnt. Eine davon hatte keine Kinder, die andern zwei bis fünf. Fridolins Familie war die größte. Zusammen kletterten sie mühsam zu einem etwas höher liegenden Wäldchen hinauf, das nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Dort oben hatte Vater Fridolin unter einem vier Quadratmeter großen Blechdach immer Dachschindeln gespalten und zugeschnitten. Die Schindeln, die er aus einem Holzklotz gehauen hatte, wurden säuberlich der Reihe nach gebündelt, schließlich mit langen Weidenruten umwickelt und so zu handlich großen Bünden zusammengebunden. Es war nur ein offener Unterstand, aber ihm fiel keine andere Möglichkeit ein. Die Nachbarsfamilie, die bloß dreißig Meter von den Fridolins entfernt gewohnt hatte, war vermutlich in ihrem Haus gewesen, als alles zu rutschen begann. Das bedeutete, dass diejenigen, die nicht schon beim Zusammenbruch des Gebäudes von Balken erschlagen oder von Mauern erdrückt worden waren, später im zähen Morast ums Leben gekommen waren.

Der Stall neben dem Wohngebäude, in dem sich die ganze Landwirtschaft der Nachbarn, bestehend aus zwanzig Rindviechern und zwölf Geißen, befunden hatte, war vermutlich bis in die Fluten hinuntergestürzt – oberhalb dieser Rutschung waren fast kein Geröll oder Ablagerungen zurückgeblieben. Vom Haus selbst waren noch zwei, drei Dachbalken über dem Morast verstreut zu entdecken, aber sonst war weder Menschen noch Tiere zu sehen oder zu hören.

Der Hauptweg durchs Tal hinaus, gerade breit genug für ein Pferdefuhrwerk, war eigentlich immer die Achillesferse der hiesigen Talbewohner gewesen. Ihn konnte der Dachdecker sofort vergessen, weil dort schon bei kleineren Fluten oft kein Durchkommen mehr war. Deshalb hatten die Bewohner des Tales seit Generationen immer vorgesorgt – und ihre Notvorräte stets kontrolliert und, wenn nötig, ersetzt. Wusste man doch schließlich, dass es bis zu drei Wochen dauern konnte, bis der Fahrweg im Tal wieder benutzbar war, wenn ihn wieder einmal das Wasser mitgerissen hatte. Nun jedoch war alles in Minutenschnelle ausradiert worden, Haus und Hof, Kleider und alle anderen Habseligkeiten, Vorräte, Werkzeuge und Tiere…

Auch weiter hinten im Tal war auf der Seite der Fridolins kein Durchkommen, weil der Fels vom Berg bis ins Tal hinunterreichte. Hier hatte vor der Flut eine Brücke auf die andere Talseite und zu den restlichen Bewohnern geführt. Die meisten waren Bauern, fast zuunterst hatte ein Schmied gewohnt und etwas weiter oben ein kleiner Laden gestanden, wo die Talbewohner ihre Waren für den täglichen Gebrauch kauften. Eine Auswahl hatte es nie gegeben. Von den Esswaren bis hin zu Schaufel und Pickel war jeweils immer bloß ein Produkt erhältlich gewesen – Reklamationen oder Streitereien hatte es deswegen aber nie gegeben. Alle vierzehn Tage brachte ein Pferdefuhrwerk Nachschub, und der Lieferant wusste nach vielen Jahren ziemlich genau, was und wieviel davon sie hinten im Tal benötigten. Brachte er von einem Posten einmal etwas zuviel, nahm er es kurzerhand wieder mit. Brachte er zufällig einmal zuwenig, wurde dieser Posten vierzehn Tage später extra berücksichtigt.

Zwischen Bach und Hanglage wären zwar noch auf der ganzen Länge ein paar Aren einigermaßen ebenen Landes nutzbar gewesen, weil aber der Bach schon früher manchmal über die Ufer getreten war, hatte dort niemand ein Gebäude errichten wollen. Lieber baute man mit genügend Abstand zum Gewässer, weiter oben am Hang.

Erst nachdem sich die Fridolins, unter dem Blech zusammengedrängt, gegenseitig hatten wärmen können, hob sich der Nebel so weit, dass Vater Fridolin die Situation auf der andern Talseite überblicken konnte. Er traute seinen Augen nicht: Auch dort drüben stand kein einziges Gebäude mehr. Sämtliche Hänge waren abgerutscht und hatten mit Sicherheit Tod und Verderben über die Menschen gebracht. Wie viele von ihnen – wenn überhaupt – sich hatten retten können, würde erst die Zukunft zeigen. Eigentlich, so schoss es Vater Fridolin durch den Kopf, hatten er und seine Kinder sogar noch Glück gehabt. Was wäre aus den Kindern geworden, wenn ihn das gleiche Schicksal ereilt hätte wie seine Frau Barbara? Allerdings waren sie bloß für den Moment davongekommen. Was die Zukunft bringen mochte, war auch für ihn ein Rätsel.

Sofort machte er sich mit Hilfe der drei Buben daran, die Schindelbünde umzuschichten, sodass sie ein Geviert mit einer kleinen Öffnung bildeten. Die Bünde waren auf langen Latten gelagert, welche er jetzt wegnahm, weil er daraus eine Verlängerung des Daches konstruieren wollte. Die Latten waren aber zu dünn, als dass Vater Fridolin sich hätte darauf hinknien können. Also hievte er seinen Sohn auf die Latten. Der musste dort oben die Schindeln nach den Anweisungen seines Vaters verlegen. Freilich hatte er weder Hammer noch Nägel, um sie festzumachen, weshalb Kaspar und August nun kleine Steinplatten suchen mussten, um die Schindeln zu beschweren, damit sie nicht beim kleinsten Wind weggeblasen wurden. Währenddessen versuchten Regina und ihre beiden kleineren Schwestern, die seitlichen Löcher zwischen den Bünden mit nassem Laub zuzustopfen.

Es war und blieb eng in ihrem Unterschlupf. Vater Fridolin hätte gern in der Mitte des Raumes ein kleines Feuer entfacht, um ihre Kleider zu trocknen. Aber die Zündhölzer in seinem Hosensack waren nass wie alles andere auch. Als es bereits zu dämmern begann, versuchte er, seine Kinder so eng wie möglich einzuquartieren. Erstaunlicherweise weinte keines von ihnen mehr, wohl, weil alle beschäftigt waren. Erst als der Vater die letzte Lücke in ihrem provisorischen Unterstand schloss, beklagte sich die kleine Elisabeth, sie habe Hunger. Regina konnte sie mit dem Versprechen beruhigen, dass sie sich am nächsten Morgen darum kümmern würden, denn jetzt im Dunkeln könne man nichts Essbares finden. Die Kinder konnten sich auf dem kahlen Erdboden, aber immerhin im Trockenen, zum Schlafen hinlegen, und sie schlummerten – komplett übermüdet und überfordert – schnell ein, derweil für den Vater bloß noch die neu mit Schindeln eingedeckte Seite zur Verfügung stand. Die jedoch war kalt und nass.

Er saß noch lange mit dem Rücken an die Schindelbünde gelehnt, wo er lautlos weinte, und seine Tränen wollten einfach nicht versiegen. Der Tag lief immer und immer wieder vor seinen Augen ab, wie ein Film. Immer wieder versuchte er zu ergründen, was er vielleicht falsch gemacht hatte, oder was er hätte tun sollen, damit die ganze Familie überlebte. Indes, es fiel ihm nichts dazu ein. Der wochenlange Regen allein hätte kaum so viel Verderben gebracht, aber als noch das Erdbeben mit einer ungeahnten Stärke hinzukam, da war es um die Bewohner dieses Tals geschehen gewesen. Ab dem Augenblick, in dem seine Frau mit den beiden Kleinsten gestürzt war, hatte er nie mehr auch nur die geringste Chance gehabt, ihr irgendwie zu helfen oder ihr auch nur die Hand zu reichen. Als er schon fest daran geglaubt hatte, sie alle könnten es schaffen, rollte noch dieser Brocken daher und begrub Barbara ein für alle Mal unter sich. Dabei fragte er sich immer wieder, ob er, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, es auch fertiggebracht hätte, noch rasch die beiden Kleinen dem Verderben zu entreißen, um sich anschließend überrollen zu lassen. Bei dieser Vorstellung schluchzte er erneut auf. Seine Frau hatte, selbst in höchster Not, den Kleinsten das Leben gerettet.

Erst gegen Mitternacht sank ihm der Kopf auf die Knie, und auch er schlief, ebenfalls todmüde, für ein, zwei Stunden. Erschrocken wachte er dann erneut auf, weil Kaspar laut schrie: «Nein, nein!» Sofort aber hörte er, wie Sohn Fridolin den kleinen Bruder leise beruhigte, und wie die Kinder wieder einschliefen. Allerdings nicht für lange, diesmal schrie Barbara laut: «Mami, Mami, halt mich fest!» Aber auch diesmal konnte Regina, die zwischen den beiden Kleinen lag, ihr Schwesterchen besänftigen.

Auf der anderen Seite des Tales gab es kaum Überlebende, weil sich die meisten Leute wegen des Dauerregens in den Häusern befunden hatten, als die Erde zu beben begann. Sie waren zu erschrocken, um schnell genug reagieren zu können. Erst als ihre Häuser begonnen hatten, sich zu neigen