Damals in Broxten - Friedrich Neumann - E-Book

Damals in Broxten E-Book

Friedrich Neumann

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Beschreibung

»Die meisten Erinnerungen an die alte Zeit sind schöne. Ob die Zeit so war, ist eine andere Frage, denn man erinnert sich an die guten Dinge besser als an die schlechten.« (Friedrich Neumann 2017) Kann ein Leben ohne Fernsehen, Smartphone und Facebook glücklich sein? Dieses Heftchen enthält nicht die Memoiren eines berühmten Mannes. Es ist eine Zusammenstellung des Alltäglichen, der Erinnerungen, Erlebnisse, Anekdoten und dummer Vorfälle. Einige davon waren so wichtig, dass sie im Gedächtnis blieben. Also schmunzeln Sie, ziehen Ihre Stirn in Falten oder schütteln Sie den Kopf, alles ist möglich und erlaubt. Bei den Fotos aus dem Familienalbum wundert man sich über Gesichtsausdruck, Kleidung und Frisuren. Die Seite eines Soldbuchs oder die Ernennungsurkunde zum Lehrer sind für uns heute kaum zu entziffern, der Text verblüfft. Aber das Gute ist, es handelt sich um echte Dokumente und wahre Geschichten aus erster Hand.

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Die meisten Erinnerungen an die alte Zeit sind schöne.

Ob die Zeit so war, ist eine andere Frage,

denn man erinnert sich an die guten Dinge besser

als an die schlechten.

Friedrich Neumann; Herbst 2017

Autor Friedrich Neumann (Kerli) im September 2017

Daten zur Familie Neumann in den Geschichten

Vater Johannes Neumann

07.10.1892 – 02.08.1940

Mutter Hinderike Neumann geb. Gerke

22.05.1897 – 10.09.1984

Heirat Johannes und Hinderike

06.06.1919

Friedrich Neumann (Kerli)

27.03.1925

Wilhelmine Neumann (Mine)

14.04.1921 – 25.12.2013

Bruder Hans Neumann

15.04.1928 – 02.11.2005

Bruder Rolf Neumann

21.02.2030 – 23.08.2006

Angenehm ist am Gegenwärtigen die Tätigkeit,

am Künftigen die Hoffnung

und am Vergangenen die Erinnerung.

Aristoteles

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Koautors

Vorwort des Autors

Meine Eltern

Es wird Broxten

Kinderstreiche

Hilfsbereitschaft

Ehrgefühl

6. Medizinische Versorgung

Dumm gelaufen

Schulalltag

Leer Ostfriesland

Politik

Schulisches und Umzug

Vorwort des Koautors

Broxten. Worte mit X haben etwas Geheimnisvolles. Dann wird oft ein Buchstabe übersehen. Oder zwei. Meint er etwa: »Früher als Boxer?« Nein, das ist es nicht. »Ah, ich weiß schon. Früher in der Bronx.« Weit gefehlt. Es heißt tatsächlich Broxten und ist ziemlich genau das Gegenteil von dem New Yorker Stadtteil.

Die Ansammlung verstreuter Höfe und Häuser wird als Bauernschaft bezeichnet und gehört zu Venne, einem Ortsteil von Ostercappeln. Noch keine Idee?

Da geht es Ihnen wie vielen anderen auch. Hier zwischen dem Dümmer See und Osnabrück fanden sich schon die Römer nicht zurecht und blieben im Sumpf stecken. Die Archäologen sind sich ziemlich einig, der Ort der Varusschlacht liegt nur acht Kilometer entfernt bei Kalkriese. Hätte sich Varus die Ortsnamen übersetzen lassen, wäre er vielleicht nicht so ahnungslos in die Falle getappt. Aber die Ortsnamen gab es erst später.

Broxten im Kartenausschnitt aus: www.viamichelin.de

Venne ist die nächste größere Siedlung. Ihr Name steht für die Landschaft: Venn, Fenn, ein morastig-sumpfiger Bereich. Broxten. Zugrunde liegt das niederdeutsche Wort ›brôk‹, Bruch, Sumpf-, Moorland.

Heute wirkt es nicht mehr ganz so matschig wie zur Zeit der Römer. Kultivierung, Entwässerung, Begradigung und Verrohrung von Bächen und Flüssen. Naturschützer bedauern es und das Hochwasser sucht jetzt andere Gebiete heim. Aber immer noch bestimmt die Landwirtschaft das Bild der Gegend. Auch die Gewohnheiten der Menschen haben sich geändert. Aus den Geschichten meines Vaters habe ich entnommen, dass sie sich damals noch besucht haben. Unglaublich. Sogar zu Fuß über vier Kilometer Entfernung. Heute gibt es dafür ja Twitter, Facebook oder WhatsApp. Dann halfen sie sich auch noch gegenseitig. Wurde geschlachtet, bekamen die Nachbarn etwas ab. Der Lehrer im Ort wurde durch Nachbarschaftshilfe unterstützt. »Das möchte ich heute aber nicht mehr«, wollten Sie gerade sagen: »Dafür ist doch der Staat zuständig. Und Hausschlachtungen gibt es sowieso nicht mehr.«

Also doch die gute alte Zeit?

Es waren die Jahre 1922 bis 1838. Sechzehn Jahre lang lebte die Familie des Autors, meines Vaters, in Broxten. Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, Weimarer Republik, Inflation, Wirtschaftskrise. Dann die politischen Unruhen, Nazis, SA, SS, Pogrome. Auf dem Land verlief das unspektakulär. Zu Essen gab es auf dem Land immer genügend. Als erschreckend wurde nur empfunden, dass Tausende von hungernden Arbeitslosen aus dem weit entfernten Ruhrgebiet bis aufs Land kamen. Sie tauschten fast alles gegen Lebensmittel. Wenn sie nichts mehr hatten, bettelten sie. Deshalb war es vorteilhaft, auf dem Land zu wohnen.

Es ist merkwürdig, mein Vater erwähnte es in den Geschichten nie, bis zum Auszug 1838 aus ihrem Haus, dem Schulgebäude in Broxten, hatten sie kein elektrisches Licht. Erst als ich ihn danach fragte, fiel ihm dieses Detail wieder ein. Strom wurde also nicht dringend vermisst. So unwichtig ann technischer Fortschritt sein, wenn das Leben andere Prioritäten setzt.

Dieses Heftchen enthält nicht die Memoiren eines berühmten Mannes. Es ist eine Zusammenstellung des Alltäglichen, der Erinnerungen, Erlebnisse, Anekdoten und dummer Vorfälle. Einige davon waren so wichtig, dass sie im Gedächtnis blieben. Also schmunzeln Sie, ziehen Ihre Stirn in Falten oder schütteln Sie den Kopf, alles ist möglich und erlaubt. Und das Gute ist, es handelt sich um wahre Geschichten aus erster Hand.

Die Älteren werden sagen: »Ja, so war das damals.« Für die junge Generation mag es zum Nachdenken anregen, dass ein Leben auch ohne Fernsehen, Smartphone und Facebook glücklich sein kann.

Die Erlebnisse des Autors geraten mit diesem Buch jedenfalls nicht in Vergessenheit.

Um die Persönlichkeitsrechte zu achten, wurden einige Namen geändert. Einige Anmerkungen, die mit der Abkürzung "Anm.:" in den Text eingefügt wurden, beleuchten den geschichtlichen Hintergrund, Sie stammen größtenteils aus der freien Enzyklopädie Wikipedia. Die Personenfotos stammen aus den Fotoalben der Familie Neumann. Im Anhang finden Sie einige Daten der in dieser Geschichte vorkommenden Mitglieder der Familie.

Adressfeld einer Postkarte von 1935 an Rolf Neumann. Man beachte die Anschrift.

Vorwort des Autors

Broxten. Dort im Schulhaus am Alten Damm bin ich am 27. März 1925 geboren. Jetzt blicke ich im Alter von zweiundneunzig Jahren auf ein langes Leben zurück. Auch auf meine Jugend in der Gegend. Nur wenige sagen Friedrich oder Fritz zu mir. Schon die Oma nannte mich Kerli. Das war in Ostfriesland, besonders in der Umgebung von Leer eine Bezeichnung für den ersten Sohn. In Broxten war der Name unbekannt, dort wurden die Söhne oft Bubi genannt.

Die meisten Erinnerungen an die alte Zeit sind schöne. Ob die Zeit so war, ist eine andere Frage, denn man erinnert sich an die guten Dinge besser als an die schlechten. Ich habe lange Zeit über die Erlebnisse in der Jugend nachgedacht und wollte sie immer aufschreiben. Dann wurde es doch etwas Modernes, ich sprach in ein Aufnahmegerät. Das konnte ich oft nicht richtig bedienen und dann musste ich das Ganze noch einmal von vorne erzählen. War der Anfang gemacht, wurde es wie eine Sucht und ließ mich nicht mehr los. Die Erinnerungen kehrten zurück, ob ich es wollte oder nicht. Je mehr ich erzählte, desto mehr Dinge fielen mir ein. Erlebnisse, amüsante Anekdoten, aber auch Geschehnisse, über die ich heute anders denke, als damals. Mir wurde vorgeworfen: »Die Geschichte habe ich jetzt schon dreimal gehört.« Das habe ich tatsächlich nicht gemerkt und meinte: »Kann sein, aber dann war sie wichtig.« Die Hilfsbereitschaft der Nachbarschaft, Spielen in der Natur, Schwimmen im Mühlenbach, Freunde, Fußball.

Es ist merkwürdig, das elektrische Licht habe ich damals nicht vermisst. Wer ist heute noch in der Lage, sich nachts eine Kerze anzuzünden, um damit auf die zwanzig Meter entfernte Toilette zu gehen? Es sind nicht nur die fehlenden Alltäglichkeiten, die mich nachdenklich machen, es war auch Nazizeit. Die verschonte mit ihren Auswüchsen selbst so abgelegene Ortschaften wie Venne und Broxten nicht. Ich wollte mich erinnern, suchte ich in alten Kisten nach Bildern und Dokumenten. Sehr viel war verloren gegangen. Das was ich fand, sah ich lange an. Jedes Mal fiel mir dabei eine neue Geschichte dazu ein.

Heideschule 2017 (Foto: Hannelore Neumann)

Heideschule um 1929; Johannes, Anna, unbekannt, Ricki, Kerli

1: Meine Eltern

Ostfriesen

Alte Fotos aus Leer, Ostfriesland. Ja, stimmt, die Familie stammte überhaupt nicht aus Broxten. Vater und Mutter besaßen im Ort als Ostfriesen sogar einen exotischen Status. Aus diesem Grunde muss ich etwas weiter ausholen und mit den Eltern beginnen.

Mein Vater Johannes, Hans genannt, und sein Bruder waren Vollwaisen. Die Mutter war bei der Geburt des dritten Kindes gestorben. Sein Vater war Lehrer in einem kleinen Dorf in Ostfriesland. Er starb wenige Jahre später an Tuberkulose. Beide Kinder kamen zu ihrem Onkel nach Leerort, der dort Lotse auf der Ems war. In der Freizeit lagen sie mit ihrem Lotsenschiff am Ufer und angelten. Mein Vater berichtete stolz, er wäre nur mit Fisch groß geworden. An Bord musste er bei allem helfen, was anfiel.

Später wollte er wie sein verstorbener Vater Lehrer werden. Dazu wurde eine Aufnahmeprüfung für die Präparandenanstalt nötig. Nur damit durfte er ohne Abitur zur Lehrausbildung.

»Ich habe bestanden! Ich habe bestanden!« Sein Onkel meinte daraufhin: »Das ist nicht gut! Wärst du durchgefallen, könntest du direkt bei mir auf dem Schiff anfangen!«

Oft entscheidet das Schicksal über die Zukunft, er hatte es in die eigene Hand genommen. Doch dann kam der Krieg dazwischen.

Vater im Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg traf auch meinen Vater. Der Militärpass bestätigt seinen Diensteintritt zum 10.2.1915 beim Reserve-Jäger-Bataillon Nr. 10. Es wurden Frankreich, Verdun, dann der Osten und wieder zurück.

Es folgte die Aufnahme in das Lazarett. Am 21.9.2016 in die Heimat entlassen, entziffere ich im Soldbuch, das ich in einem alten Karton auf dem Dachboden gefunden habe. Er nannte niemals den wahren Grund für seine Krankheit, kannte ihn nicht, oder durfte es nicht sagen. Die Lungenkrankheit, die er seit der Rückkehr aus dem Krieg mit sich schleppte, führte später zu einer vorzeitigen Pensionierung und zum frühen Tod.

Mein Sohn und Mitautor brachte erst heute den Verdacht auf Verletzung der Lunge durch Giftgas in Frankreich. Denke ich über Vaters versteckten Andeutungen nach, könnte das tatsächlich ein Grund für die Krankheit gewesen sein.

Auszug Soldbuch 21.9.2016

2: Es wird Broxten

Vater beendigte seine Ausbildung 1919 und wurde als Lehrer im Emsland eingestellt.

Ernennungsurkunde Johannes Neumann vom 13. März 1919

(Anm.: Man beachte den letzte Satz, mit dem er aufgefordert wurde: " ... der Ihnen anvertrauten Jugend ein mustergültiges Vorbild sein und sich überhaupt so verhalten werden, wie es sich für einen treuen christlichen Lehrer wohl ansteht.)

Mutter war auch aus Leer und er lernte sie dort als junges Mädchen kennen. Als Tochter aus »höherem Haus«, ihre Eltern besaßen eine gut gehende Gastwirtschaft, kam eine Schule in der Stadt nicht infrage. Sie wurde in die Schweiz auf ein Lyzeum geschickt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, riet man ihr dringend, in der Schweiz zu bleiben. Aber die strenge Erziehung dort war nichts für sie. Außerdem hatte sie Heimweh nach Leer und ihrer Familie. Am 6.6.1919 heiratete er meine Mutter Hindericke, genannt Ricki.

Hindericke Neumann geb. Gerke und Johannes Neumann

Damals wie heute, ein junger Lehrer wurde dorthin versetzt, wo Bedarf bestand. Der alte Schulmeister war pensioniert und Vater kam 1922 zur Heideschule nach Broxten. Der Ort sollte für sechzehn Jahre seine und unsere neue Heimat werden. Zu der Zeit hatte noch jeder Ortsteil eine eigene Schule. Es fuhren keine Busse. Die Kinder kamen zu Fuß oder mit dem Rad. Asphaltierte Straßen gab es auch nicht. Es ging über einen Erdweg, »Alter Damm« genannt, oder über die zahlreichen namenlosen Feldwege. Der Weg vor unserem Haus bekam erst später den Namen »Schulstraße«. Das Schulgebäude gibt es noch. Früher hieß es »Heideschule« und wird heute »Alte Schule« genannt. Die Verwendung als Soziale Einrichtung für Kinder und Jugendliche ist eine würdige Fortsetzung der ehemaligen Funktion.

Die Schülerinnen und Schüler kamen aus einem Umkreis von mehreren Kilometern. Ihre Eltern betrieben nebenher Landwirtschaft oder besaßen einen kleinen Bauernhof. Auf den Wegen gab es tiefe Furchen durch die Ackerwagen und zu beiden Seiten Gräben zur Entwässerung. Hinter den Gräben verlief jeweils ein schmaler Fußpfad. Er war so fest, dass man dort auch mit dem Fahrrad fahren konnte. Den benutzten auch die Schüler. Die Anwohner gingen dort zu Fuß nach Venne zum Einkaufen oder zum Arzt.

Venner Moor (Foto Hannelore Neumann 2017)