Damit wir leben können - Anne Leon Biedermann - E-Book

Damit wir leben können E-Book

Anne Leon Biedermann

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Beschreibung

Untertauchen! Jetzt sofort! Es sind die frühen 1980er Jahre. Lissa, Nora und Pan haben die Nase voll von Niederlagen, Startbahn West, Atomwaffen und US Nato Kriegsvorbereitungen, von der kalten Arroganz westdeutscher Politiker, die die Remilitarisierung des Landes gegen den Protest hunderttausender durchsetzen. Die 1968er Bewegung lange verschwunden wirft sich nun die nächste Generation in die Schlacht für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Will verhindern, dass von deutschem Boden aus erneut Krieg gegen andere Völker geführt wird. Mut, Kraft und Entschlossenheit der Hauptprotagonisten kommen aus ihren unmittelbaren Erfahrungen im Widerstand, mit Polizeigewalt und ewigen Niederlagen. Aber auch Verborgenes aus traumatischen Sphären treibt sie an. Sie greifen nach Sternen, die seit Generationen verloren sind. Sehnen sich nach Freiheit und Gerechtigkeit, überall, und den neuen Menschen, auch in sich selbst. Lissa, Nora und Pan kommen weit und scheitern doch grandios. "Damit wir leben können" ist die Beichte einer Sterbenden, die nichts mehr zu verlieren hat. Sie wirft ein Schlaglicht auf eine frühe Phase des über anderthalb Jahrzehnte andauernden radikallinken westdeutschen Widerstands der 1980er und frühen 90er Jahre.

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EPUB
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Seitenzahl: 762

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Anne Leon Biedermann

Damit wir leben können

© 2017 Anne Leon Biedermann

Lektorat, Korrektorat: Christiane Geldmacher

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-3748-2

Hardcover:

978-3-7439-3749-9

e-Book:

978-3-7439-3750-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DAMIT WIR LEBEN KÖNNEN

Anne Leon Biedermann

In MemoriamAnita Jagienicz-Staufenberg(1952-2011)

Für die Lebenden,insbesondere: Moy und Jael

»aber ... da kommen wir her: die brut aus den vernichtungs- und zerstörungsprozessen der metropolengesellschaft, aus dem krieg aller gegen alle, der konkurrenz jeder gegen jeden, aus … der spaltung des volkes in männer und frauen, junge und alte, gesunde und kranke, ausländer und deutsche (…) aus den betonsilos der vorstädte, den zellengefängnissen, asylen und trakts, aus der gehirnwäsche durch die medien, den konsum (…); aus der depression, der krankheit, der deklassierung, aus der beleidigung und erniedrigung des menschen, aller ausgebeuteten menschen im imperialismus (...)«(Aus der Rede von Ulrike Meinhof, 1974, zur Befreiung von Andreas Baader)

Die im Folgenden geschilderten Ereignisse sind reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit Personen oder tatsächlichen Vorkommnissen wären rein zufällig.

PROLOG

Lange war ich nur ein Schatten. Nicht einmal meiner selbst, sondern der der anderen, trieb ich willen- und gesichtslos dahin. So vergingen Jahrzehnte.

Arbeiten, essen, schlafen. Essen, arbeiten, schlafen.

Stadt, Land, Fluss. Deutschland, Europa, Kontinente, die Welt. Alles drehte sich. Schnell und schneller.

Nur ich blieb, wo ich gefallen war.

Vor langer Zeit, wie eine Wanduhr, während eines Bebens zu Boden gestürzt, das Uhrwerk beim Aufprall zerstört, das Haus verschüttet, in dem sie hing.

Nur der Entdecker dieses Hauses wird mich finden. Wird wissen, dass ich einst gelebt habe. Meine Zeiger, stehen geblieben, verraten die Uhrzeit meines Endes. Ganz plötzlich tauchte die Fremde bei mir auf, vor zehn Monaten. Sie trug einen falschen Namen und wickelte mich schnell um den Finger. Meine Arbeiten mit Zeitzeugen, die sie im Internet entdeckt habe, gefielen ihr ausgesprochen gut, sagte sie freundlich. Jemand mit Erfahrung in Punkto Biographiearbeit sei genau, was sie suche. Ob ich Interesse an einer neuen Aufgabe hätte, von kurzer Dauer, gut bezahlt.

Ich solle eine Erzählung von ihr aufnehmen, sie bearbeiten und nach ihrem Tod veröffentlichen.

»Sabine« kam als reisefertiger Geist. Metastasierender Magenkrebs zerfraß ihren Körper und die Zeit, die ihr blieb. Diktierte Zwangspausen in immer kürzeren Abständen, gefolgt von sturzbachartigen Beichten, getrieben von Sabines Angst, das Ende der Geschichte nicht mehr herauszubringen. Ihr Erzählen wie Wehen, die blutende Erinnerungen aus dem Körper pressten, aus Neuronen, Amygdala und Gewebe. Eine Geburt im Endspurt des Todes.

Diese Geschichte sollte bleiben, wenn sie ging.

Dafür trat Sabine verkeilte Türen ein, ertrug zerrissene Bilder und ausströmende Schmerzen. Schritt voran, auch in Räume, die voller Blut standen.

Nicht nur das eigene.

Und sie zog mich mit. In modrigen Katakomben, Tunneln und Schlupflöchern betrat ich unbekanntes Terrain, einen anderen Planeten, dessen Fremdheit mich erschütterte.

Nicht mal ein Jahrzehnt liegt zwischen Sabines und meiner Geburt. Wohl auch deshalb taumelte mein professionelles Ich bald in Wunden, von deren Existenz ich nicht einmal geahnt hatte.

Überließ ich mich dem Klang ihrer Stimme zu sehr, verschwamm meine Seele in ihrem Atem, tauchte durch ihre erweiterten Pupillen ein, in platzende Erinnerungsblasen und verschmolz in aufquellenden Gefühlen.

Verloren darin wie sie.

Zu Beginn hatte ich keine Ahnung, worum es wirklich ging. Sonst hätte ich ganz sicher die Finger davongelassen.

Gut, dass ich unwissend war, denke ich jetzt.

Wo Sabine tot ist und ich frei bin.

Auch wenn mir die Allmacht hier und da verloren ging, halte ich mein Versprechen. Und erzähle euch Sabines Geschichte. Sie ist ein Splitter im Fleisch der Historie dieses Landes. Nicht mehr. Und nicht weniger.

Bea Sömmerda, Juli 2017

PERSONEN in der Reihenfolge ihres Auftretens

Claudia(geb. 1959), ist fast 24, als sie nur knapp dem Tod entkommt, aber nicht dem Gefängnis.

Sabine(geb. 1961), 23, blond, blauäugig und schmal. Sie lebt und arbeitet einigermaßen zufrieden vor sich hin, bis ihre Kindheitsfreundin Lissa ihr Leben durcheinander rüttelt.

Lissa(geb. 1962), 21, nicht mal 1,65 groß, kompakt, mit mausbraunen Schnittlauchlocken und grünen Augen, beißt sich schon sehr lange so durch. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass es sich lohnt, für ein besseres Leben zu kämpfen. Sie zögert keine Sekunde, als Claudia ihre Hilfe braucht.

Robert(geb. 1956), 28, seit etwa acht Monaten illegal. Kaum in der RAF angekommen, zwingt ihn die plötzliche Verhaftung der engsten Genossen, seinen leicht krummen Rücken zu straffen und die Zähne zusammenzubeißen. Nicht mal 1,80 groß, muss er mit einem Mal ein echter Riese sein.

Nora(geb. 1960), 23, hennagefärbte, sonst mittelbraune Haare. Sie lernte durch ihren Bruder Stefan das Hüttendorf gegen die Startbahn West kennen. Und die großen Träume, die daran hängen. Die bleiben, auch nachdem Stefan sich umbringt.

Ralf, aliasLars(geb. 1957), 27, war mal Sabines großer Bruder. Aber das ist lange her. Nach einigen Jahren Bundeswehr ist er jetzt Agent. Und als „Lars“, angesetzt auf die Linksradikale Nora. Kaum an ihr dran, entwickelt er Gefühle, die der Erfüllung seiner Aufgabe nicht förderlich sind. Nora weckt in ihm einen Schmerz, den Ralf fast vergessen hat: über den Tod seines kleinen Bruders Boris.

Boris(geb. 1970), hat grüngraue Augen, ist mittelblond, weich, zart und sehr zerbrechlich. Er starb mit sechs. Ist manchmal noch präsent. In der Erinnerung derjenigen, die ihn liebten.

Steinert(geb. 1940), Anti-Terror Spezialist, 44, hat drei Jahre in den USA verbracht, zwecks Schulung zur Aufstandsbekämpfung. Er kehrt in die BRD nach Frankfurt am Main zurück, um sie umzusetzen.

Michaelis(geb. 1931), 53, ist grobschlächtig, ungeduldig, nicht sonderlich intelligent. Aber Bulle mit Leib und Seele, Bierbauch und Halbglatze. Es kotzt ihn an, dass ihm der hochnäsige Steinert vor die Nase gesetzt wird, auf den Posten, der für ihn vorgesehen war.

Niko(geb. 1954), 29, rehbraune Augen, dunkelblonde Haare, ist vor vier Monaten untergetaucht, trägt seinen Kopf versteckt zwischen hochgezogenen Schultern, er liebt Thea und Kinder. Letzteres wird ihm zum Verhängnis.

Thea(geb. 1951), 33, dunkelbraune Augen, schwarze Haare, kennt das Bleierne der 70er, hat Haare auf den Zähnen und einen Sack voll Erfahrung. Taucht zusammen mit Niko unter.

Trixi(geb. 1968), 15, haute schon mit dreizehn von zuhause ab. Sie ist spindeldürr und nur 1,50 m groß. Die Hoffnung noch zu wachsen, hat sie nicht mehr. Aber das macht nichts. Denn jetzt trägt sie bunte Haare, macht Musik, liebt Lissa und das, wofür sie steht, und lebt im „Hotze“, einem besetzten Haus in Frankfurt-Rödelheim.

Pan(geb. 1958), 26, hat sich in Thea verknallt und taucht ihr nach. Verlässt sein legales Leben als militanter Widerständler und träumt vom „zusammenkämpfen“ und siegen.

TEIL EINS

EINS

Über die Dächer der Neubausiedlung fiel fahles Morgenlicht. Sechsunddreißig Häuser mit Garten und Garage, drei Reihen mit zwölf Einheiten. Typisch für das Westdeutschland dieser 80er-Jahre, in dem hunderte solcher Siedlungen als neue Vororte aus den Nähten überfüllter Großstädte platzten.

Ein Mann und eine Frau hasteten über den Bürgersteig der schmalen Zufahrtsstraße. Ließen die letzte Häuserreihe hinter sich und erreichten eben das Ende der Straße. Wie abgebissen fiel hier der Asphalt ab, in Brachland. Es führte hinaus in eine freie Ebene, kärglicher Rest ehemaliger Felder, deren Bewirtschaftung dem Bau der Siedlung zum Opfer gefallen war.

Der Mann bückte sich unter einem schweren Rucksack und warf einen kurzen Blick über seine Schulter, hinüber zu den dunklen Fenstern der letzten Häuserreihe. Die Frau dicht hinter ihm, etwa im gleichen Alter, jung, dreiundzwanzig, vielleicht vierundzwanzig.

Der Morgen war noch jung, die Gegend still und menschenleer. Die nachtkalte Erde knirschte unter ihren schnellen Schritten. Hinterließen schon jetzt unauslöschliche Abdrücke, auch wenn die beiden das noch nicht wussten.

Protagonisten einer historischen Umbruchsphase, die eben begonnen hatte. Deren Verlauf sie nicht erahnten. Und doch waren sie Subjekte, Subjekte ihres Schicksals, und der Geschichte. Als Rebellen, deren Entscheidung zu handeln gefallen war.

Jetzt stand die Tat unmittelbar bevor. Vielmehr ihr Scheitern. Und der Tod, der nur noch Atemzüge entfernt auf sie wartete.

Der junge Mann beschleunigte seinen Schritt.

»Jan! Warte!«, rief Claudia. Aber er hörte nicht.

Sie versuchte, Schritt zu halten. Unfreiwillig hatten sie die vergangene Nacht durchgemacht. Weil Jan den Treffpunkt verwechselt hatte, war er zu spät gekommen, über vier Stunden ... Tauchte erst nach Mitternacht in der von Claudia organisierten konspirativen Unterkunft auf. Hektisch und angespannt hatte er sich nach kurzem Gruß hinunter gebeugt, zerrte sich die Schuhe von den Füßen. Und Claudia hatte ihn gemustert. Er hat sich verändert, dachte sie. Und war da noch nicht sicher, ob zum Besseren oder Schlechteren.

Sie kannten sich seit der Oberstufenzeit, sechs, sieben Jahre war das her. Jan war ein Jahr älter. Im Zuge aufflammender Schülerproteste waren sie enge Freunde geworden. Hatten sich, vereint mit tausenden anderen, gegen die Oberstufenreform gestemmt, die Zerschlagung ihrer Klassengemeinschaften. Wollten zusammenbleiben, fachübergreifende Lernprozesse statt Trennung, Spaltung, Kurssystem. Verweigerten sich den staatlichen Plänen, die sie und nachfolgende Generationen zu maximal verwertbaren Fachidioten machen sollten. Zu funktionierenden Rädchen der Maschinerie einer durchkapitalisierten Zukunft, zwecks Gewinnmaximierung für eine winzige Minderheit.

Über vierzehn Monate hatten sie gekämpft, die Proteste weiteten sich aus, klassen-, schul- und städteübergreifend. Aber am Ende waren sie alle gescheitert. Nur eine Menge gelernt hatte man, fürs wahre Leben, übers Rebellieren, über Würde und Stolz und Loyalität und Lüge.

Und Verrat. Altachtundsechziger-Lehrer hatten monatelang rhetorisch brilliert, schwadronierende Revoluzzer, die, kaum drohte Ungemach, einknickten, ihre Schüler über die Klinge springen ließen. Mutierten zu staatstreuen Beamten, Teil der betonierten Machtverhältnisse, an denen die Schüler, die den schönen Reden Taten folgen ließen, sich die Köpfe blutig schlugen. Demonstrationen, Straßenblockaden, das Sprengen von Lehrerkonferenzen, die Mehrheit der Aktiven an Jan und Claudias Schule flogen, oder schafften das Abi nicht, schlechte Noten als Bestrafung.

Nur wenige fielen sanft. Darunter Claudia und Jan. Deren bildungsbürgerliche Elternhäuser Vitamin B einsetzten. Brachten ihre herausgeworfenen Sprösslinge rechtzeitig an einer liberalen Gesamtschule unter, um problemlos das Abitur zu beenden.

Nicht nur die erlittene Niederlage schlug die Rebellen des großen hessischen Schüleraufstands Ende der 70er-Jahre auseinander. Sondern auch die Herkunft, die bestimmte, wer wo wie danach landete.

Aber das alles war jetzt eine gefühlte Ewigkeit her.

Mittlerweile studierten Jan und Claudia an der Frankfurter Universität. Wenn auch mehr auf dem Papier. Denn beide waren seit über zwei Jahren höchst aktiv im Widerstand gegen die Startbahn West. Aber dann … Jan war von einem Tag auf den anderen verschwunden gewesen, Claudia hatte ihn plötzlich mehr als drei Monate nirgends mehr gesehen.

Bis vor sieben Tagen dann. Ein Freund hatte sie kontaktiert, Jan wolle sie sehen. Dringend.

Am nächsten Tag traf sie ihn, konspirativ. Alles befolgend, was der Freund ihr aufgetragen hatte.

Er sei untergetaucht, hatte Jan ihr erzählt, noch während sie ihn freudig umarmte. Er wolle jetzt Ernst machen mit dem Widerstand, mit der Revolution. In einem diskreten Café erzählte er von seiner neu gegründeten Gruppe. Sie wollten mit militanten Aktionen gegen die NATO-Kriegsmaschine den Widerstand voranbringen, mobilisieren, Mut machen. Ihre Militanz verwirkliche ihr legitimes Recht auf Selbstverteidigung. Gegen den organisierten Imperialismus, der den Tod der Menschheit bedeute. Sie würden Teil sein einer wachsenden Front weltweiter Befreiungskämpfe. Und Menschlichkeit. Ihre Aktionen richteten sich nur gegen Sachen, Baufirmen, militärische Projekte, sowas. Menschen kämen nicht zu Schaden. Ob Claudia mitmachen wolle?

Und ob! Stolz hatte sie sich gefühlt, euphorisch! Endlich mehr tun. Zusammen mit Jan, auf neuer Stufe, sie würden nicht mehr unterzukriegen sein.

Ob sie kurzfristig für jemanden einspringen könne, fragte Jan, kurz bevor sie sich trennten, ein Genosse sei krank geworden. Ausgerechnet jetzt. Monatelang hätten sie eine Aktion vorbereitet, stünden kurz davor, sie umzusetzen.

Und Claudia hatte »Ja« gesagt.

Gestern Nacht rieb Jan im Flur seine schmerzenden Zehen, richtete sich auf und straffte seinen Rücken. Stand auf. »Komm!« Er hatte Claudia nur flüchtig angesehen, dann war er ins Zimmer gegangen. »Legen wir los!«

Da hatte sie gewusst, dass seine Veränderung nicht zum Besseren war.

»Warte doch!«, rief Claudia jetzt noch einmal, lauter.

Wieder keine Reaktion.

Sie betrachtete Jans gebückte Gestalt. Das Gewicht des Rucksacks zehrte an seinen Kräften. Aber er hatte partout nicht abwechseln wollen. Nicht ein einziges Mal, seit sie am Fuß der Neubausiedlung aus dem Überlandbus gestiegen und den beschwerlichen Weg zum 1470 Meter entfernten Ziel losgelaufen waren.

Eben erreichten sie die Autobahnbrücke. Fünfzehn Meter über ihren Köpfen donnerte ein Laster über den Asphalt. Claudia hob den Blick. Noch war wenig Verkehr. Bald ist es geschafft, dachte sie und ging schneller.

Sechs Meter vor ihr Jan.

»Nun mach schon!«, rief er, wandte sich kurz zu ihr um. »Oder willst du hier festwachsen?«

Und verschwand hinter einem Betonpfeiler. Dann plötzlich lautes Zischen von dort. Es drang erst bis in Claudias Bewusstsein vor, als es schon wieder verschwunden war.

Sie blieb stehen. »Jan?« Kein Laut.

Auch er war stehengeblieben, hinterm Pfeiler verborgen.

»Jan? Jaaan?« Ihre Stimme schraubte sich höher. Keine Antwort. Aber das Zischen, längst vorbei, vibrierte in Claudias Gehör nach. Wie ein Echo aus der Totalität der Stille. Die absorbierte nicht nur sämtliche Geräusche, sondern gleich alles Leben mit. Durchdrang jede Faser ihres Körpers, fraß wie ein Piranhaschwarm ihre Innereien weg. Bis auf die Angst.

Sie blieb. Und wuchs.

Und in ihrem Schatten braute sich in Claudia die Quintessenz der vergangenen Stunden und Minuten zusammen. Verdichtete sich in diesem Bruchteil einer Sekunde zu einem archaischen Gemisch aus archaischem Wissen, Ahnung und Intuition zu einer einzigen, glasklaren Erkenntnis: kein Entrinnen.

Vorbei!

Claudia wollte schreien: Jan! Aber ihre Lippen klebten zusammen und eine Bleikugel in ihrem Hals zerknirschte jeden Laut. Ihr Herz raste, pumpte Todesangst durch ihre Eingeweide, kalter Schweiß auf ihrer Stirn. Ein übermächtiger Adrenalinschub schraubte sie am Boden fest. Und dann riss die grausige Wahrheit ihre Augen auf, noch bevor der ohrenbetäubende Knall ihr linkes Trommelfell zerriss.

Die Detonation verwandelte die Luft in einen dichten Nebel aus Staub, Betonkieseln und Steinbrocken. Die Druckwelle, vom Brückenpfeiler abgelenkt, erwischte Claudia nicht frontal. Reichte aber um sie vom Boden zu heben und davon zu schleudern. Meter weiter spukte die ergraute Luft sie auf die erzitternde Erde zurück.

Minuten später erwachte sie aus der Bewusstlosigkeit. Sie lag auf der Seite, ihr Mund voller Staub und Kiesel. Sie würgte und spuckte. Atmen. Atmen. Im rechten Ohr ein Geräusch, seltsam, dünn, weit weg. Sie hielt die Luft an. Horchte. Das Läuten einer fernen Kirchturmuhr.

Claudia mühte sich, die blut- und staubverkrusteten Augen zu öffnen. Vergebens. Zaghaft pendelte sich ihr Puls zurück.

Sie wollte aufstehen. Ein stechender Schmerz im linken Bein hinderte sie daran. Also blieb sie liegen. So müde. Der Wind blies starke Böen aus Nordost. Und das Läuten näher heran, Schlag um Schlag, melodisch. Schön. Claudia saugte den Klang in sich auf. So grässlich müde. Sachte ließ sie los. Das alles hier. Auch wenn sie sich nicht erinnerte. Und ihre Seele schwang sich hinauf in die Wolken, in diese Melodie, fort, nur fort, Ton um Ton, weit weg. Eine zarte Welle Glück umschlang sie sanft. Leicht wurde ihr. Ganz leicht.

Die Reise ins Jenseits hat begonnen, dachte sie.

Aber dann war es plötzlich still.

***

»Bini? Mach auf! Ich bin’s«, rief eine Stimme, leicht verzerrt durch die Sprechanlage. Trotzdem erkannte Sabine sie sofort. Auch wenn es mitten in der Nacht war und sie aus tiefstem Schlaf gerissen. Und diesen Spitznamen, den Lissa ihr früher verpasst hatte. Sabine schlang den Bademantel enger um sich und drückte den Türöffner. Und wünschte kurz darauf, sie hätte es nicht getan. Denn Lissa schob eine stumme Fremde in den Flur. Die starrte blicklos ins Nirgendwo, die Haare klebten um ihren Kopf, die Kleidung war völlig verdreckt. Aus ihrem zerrissenen Hosensaum tropfte Blut in den elfenbeinfarbenen Flokatiteppich. Nicht nur weil sie den wöchentlich kämmte, schluckte Sabine schwer.

»Hallo!«, sagte Lissa mit einem lenorweichen Lächeln. Acht Jahre hatte sie nichts von sich hören lassen. Jetzt stand sie einfach so da, leibhaftig. Das Grauen dicht neben ihr.

Aber statt Lissa samt Begleiterin aus der Wohnung zu schieben und eilig die Tür zuzuschlagen, trat Sabine höflich beiseite. Lotste die Besucherinnen in ihr makelloses Wohnzimmer. Dabei stand ihnen die Tragödie deutlich in die Gesichter geschrieben.

Aber das zählte in diesem Augenblick nicht.

Nur Lissa. Ihr traute Sabine offenkundig mehr als dem Leben, dass sie nun führte. Schon das Tremolo von Lissas Bariton in der Sprechanlage hatte alles entschieden, Sabines Inneres überflutet mit dem Schönsten ihrer Kindheit. Und riss die sorgsam hochgeschichteten Wälle und ordentlich vernagelten Zäune um Sabines angestrengt errichtetes Selbst aus den Angeln. Der Prozess, den sie damals mit dem Erwachsenwerden verwechselte, soff innerhalb von Minuten ab. In der Flutwelle des fremden Lebens, das Lissa in jener Nacht in ihre Existenz knallte.

»Es tut mir echt leid«, hatte sie trocken bemerkt und sachte die Tür geschlossen. »Ein Notfall! Wir wussten einfach nicht wohin. Meine Freundin hier … äh, Rosana, ihr Scheißtyp, ein echter Brutalo hat sie … äh, vermöbelt.«

Lissas verräterisches Zögern erinnerte Sabine sofort an all die phänomenalen Geschichten, die sie auch früher immer parat gehabt hatte.

Aber schreckte sie das? Nein! Ganz im Gegenteil. Es verstärkte noch ihr soeben erwachtes Gefühl der Heimkehr, des Ankommens an einem wunderbaren, fast vergessenen Ort.

Mit vereinten Kräften bettete sie, gemeinsam mit Lissa, Rosana aufs Sofa. Und griff zum Telefon, um den Notarzt zu rufen. Aber Lissa riss ihr den Hörer aus der Hand. Auf gar keinen Fall, schimpfte sie, Rosanas Typ sei doch Taxifahrer, der hörte garantiert auch den Funk der Ambulanzen ab um sie zu finden! Verschwand eilig im winzigen Bad, kehrte mit Handtüchern und der geplünderten Hausapotheke zurück. Stopfte Tücher unter Rosana und verarztete sie, so gut es eben ging.

Unterdessen lauschte Sabine interessiert der Fortsetzung von Lissa Geschichte. Der Charakterstudie über diesen Schläger, den sie im Zenit der Rahmenhandlung noch vertiefte. Seit Wochen würde Rosana von diesem Schwein terrorisiert. Vorhin dann hatte sie endlich einen Koffer gepackt, war gerade aus der Wohnung, ausgerechnet da sei er viel früher als sonst nach Hause gekommen. Rosana habe gerade samt Koffer die Straße überquert, da habe das Schwein sie gesehen und sei aufs Gaspedal seiner Schrottlaube getreten, habe die arme Rosana gestreift, aber die Karre dann gottlob gegen einen Poller gesetzt.

Nur deshalb habe es Rosana noch zu Lissa geschafft, ein paar Häuser weiter. Sie waren sofort zusammen raus, zu Lissa würde der Brutalo nämlich zuerst kommen, und dann war ihr Sabine eingefallen. In allerletzter Sekunde.

In der Not ... schoss es Sabine hier durch den Kopf. Wie sehr sie sie die letzten Jahre vermisst habe, fuhr Lissa zärtlich fort, wie oft sie an Sabine gedacht und sogar bei ihr geklingelt habe. Aber sie sei nie dagewesen, bestimmt fünf Mal allein in den letzten Monaten. Echt.

Wie immer sprudelte alles ziemlich flüssig aus Lissa raus. Natürlich fragte Sabine nicht nach.

Sie war in dieser Nacht noch keine dreiundzwanzig, ihr Bewusstsein nichts als ein dichter Dschungel aus verfilztem Gewirr. Aber sie erinnerte sich vage, dass jede von Lissas Geschichten, selbst die frei erfundenen, immer auch echte Wahrheiten enthielten.

Nun seien sie also hier, fuhr Lissa unbeirrt fort. Und es sei wirklich besser, jetzt erstmal da zu bleiben. Dieser Dreckstyp mit seinen ätzenden Kumpels würde nämlich grad garantiert die ganze Gegend durchkämmen. Und weil Rosana ziemlich in der Nähe wohne, sei es jetzt ziemlich unsicher, zurück nach draußen auf die Straße zu gehen.

Erst an dieser Stelle hob Lissa den Blick von ihren Schuhen: Das sei jetzt einfach viel zu gefährlich, murmelte sie und beäugte Sabine. Die sah in diesem Moment ganz genau, was echt war: Lissas Angst.

***

Lissa Mönning war fast zwei Jahre jünger als Sabine. Sie waren in der gleichen Straße einer Ernst May-Siedlung im Nordwesten von Frankfurt aufgewachsen. 1050 kleine Reihenhäuser, dazwischen 12 sechsstöckige Häuser mit größeren Wohnungen, die Ende der 40erJahre mit ausgebombten und kinderreichen Familien belegt worden waren.

Sabine, Teil einer fünfköpfigen Familie, wusste schon früh, dass Lissa ein Bastard war, dem man besser aus dem Weg ging. Und die Mutter ein Flittchen, aus deren Lotterleben Lissa entstanden war. Natürlich trieb das Kind sich herum.Wie der Herr, sagte Sabines Vater,so‘s Gescherr.

Ob es stürmte, hagelte oder schneite, immerzu lungerte Lissa draußen auf der Straße herum.

Lange bevor sie sich kannten, hatte Sabine sie beobachtet, vom ersten Stock aus ihrem Fenster. Streckte sich dann über den Schreibtisch, hinter dem sie nachmittags brav ihre Hausaufgaben machte. Natürlich war sie neidisch gewesen. Was dieser Bastard alles durfte!

Ihre erste Begegnung hatte mit Sabines kleinem Bruder zu tun, Boris. Lissa war die Einzige, die ihm zu Hilfe gekommen war, an einem sommerlichen Samstag Anfang der 70er.

Da war Boris zwei. Der Duft von frisch gemähtem Rasen in der Luft, vor den Reihenhäusern reckten sich stramm Tulpen und Geranien aus den gleichförmigen Vier-Quadratmeter-Beeten. Darüber gebeugte Mütter zupften Unkraut oder setzten Topfpflanzen, ihre Kinder scharwenzelten um sie herum. Vorn an der Straße polierten Familienoberhäupter ihre Autos um die Wette. Kopf an Kopf, Kühlerglanz an Kühlerglanz, die ganze lange, sich in einer Kurve leicht krümmende Straße hinunter. Eine Pflichtübung aller, die ein Auto ihr Eigen nannten, jeden Samstag von Haus zu Haus. Entdeckte man einen Nachbarn mit dem Eimer, sputete man sich, es ihm gleichzutun.

An diesem speziellen Samstag war Sabines Mutter noch nicht vom Einkaufen zurück. Es war zehn Uhr und zwei Nachbarn, ein paar Häuser weiter, wienerten bereits ihre Wagen.

Plötzlich rannte Lissa quer über die Straße auf Sabines Haus zu, zur Eingangstreppe. Dort lag Boris mit blutendem Gesicht am Boden. Sabine stand oben am Fenster und beobachtete, wie Lissa neben ihm in die Hocke ging, ein verknäueltes Tempo aus ihrer Hosentasche friemelte und damit auf Boris' Wange herumwischte. Das war sinnlos. Und mutig. Breitbeinig und wutentbrannt stand nämlich der Vater in der offenen Haustür, aus der er Boris eben die Vortreppe hinuntergeschleudert hatte. Er starrte Lissa an. Drehte sich wortlos um und ging zurück ins Haus. Sekunden später fiel krachend die Tür seines Arbeitszimmers ins Schloss. Erst da traute Sabine sich die Treppe herunter und nach draußen, auf die Vortreppe.

»Wieder gut?«, hörte sie von dort Lissa murmeln. Die scherte sich null um die glotzende Nachbarschaft. Betupfte weiter Boris' bleiche, blutverschmierte Haut. Wie immer weinte Boris lautlos. Seine Tränen verdünnten das aus der geplatzten Braue laufende Blut. Wegen Lissas stetigem Tupfen sah es jetzt wie Windpocken aus.

Sabine, beide Ohren auf Vaters Rückkehr gespitzt, schaute auf die beiden hinunter. Sie konnte sehen, dass Lissa auf ein Wort von Boris wartete. Die kannte ihn ja nicht. Und wusste nicht, dass er nichts sagen würde.

Vollidiotnannte der Vater ihn, sobald er ins Schreien geriet.Lass ihn doch, murmelte die Mutter, falls sie in der Nähe war.

Boris sah nicht ein einziges Mal zu Sabine hin. Seine rehbraunen Augen blieben unverrückt auf Lissas Gesicht geheftet.

»Geht’s wieder?« Sie zerdrückte das blutige Tempo zu einem kleinen Ball. Schnippte es in hohem Bogen fort.

Erst da riss sich Boris’ Blick von Lissa los und folgte dem Flug des blutgetränkten Knäulchens. Es landete mittig auf dem akkuraten Rasenstück, vom Vater per Nagelschere getrimmt. Boris´ Augen weiteten sich. Er wandte sich zurück zu Lissa. Und lächelte.

Hatte er das jemals zuvor getan?, fragte sich Sabine.

Lissa stand auf. »Der redet wohl nicht mit jedem, was?«

»Nein.« Sabine eilte die Stufen hinunter, schnappte Boris´ Hand, zog ihn hoch und zum Haus. Er machte sich steif.

»Wartet doch!« Lissa tat zwei Schritte hinter den beiden her. Aber da erschien der Vater wieder.

»Na, wird’s bald!«, brüllte er. »Rein, aber dalli!«

Boris wollte nicht, stemmte sich dagegen. Aber Sabine zerrte ihn mitleidslos hinter sich her, die Stufen hinauf. Auf gar keinen Fall wollte sie jetzt mit dem Vater allein sein.

ZWEI

Am Morgen blieb Lissa in der Wohnung. Und bestand darauf, dass Sabine zur Arbeit ginge als wäre nichts geschehen. Das würde sie schützen, falls was schiefginge, behauptete sie. Es mache klar, dass Sabine von Nullkommanichts eine Ahnung hätte. Und trotzdem das nicht wirklich zu Lissas Geschichte mit Rosanas brutalem Schlägertyp passte, folgte Sabine ihrer Anweisung.

Kaum ein Auge hatten sie und Lissa zugetan. Immer wieder hatte Rosana wie am Spieß geschrien und sie aus dem Schlaf gerissen. Sie beruhigten sie, wechselten die verschwitzten Laken, auf denen Rosanas hin- und herwälzender Körper das aus kleinen Wunden sickernde Blut verrieb.

Am Morgen waren ihre Augen noch starrer, das Grau um ihre Pupillen hell, fast durchsichtig. Sah man zu tief hinein, sprang Horror zurück.

Das erschreckte, aber es klärte auch. Irgendwie. Rosanas Grauen wie ein brennender Strom, in dem alles Unwichtige verglühte. Ohne jedes Zutun. Eine unnatürliche Gelassenheit übernahm die Regie. Komplizenhaft und nahezu wortlos taten die drei Frauen sich zusammen, aneinandergeschweißt von den Ereignissen. Unfreiwillige Blutsgeschwister inmitten dieser Krise, deren Hintergründe, Zusammensetzung und Folgenschwere Sabine von allen am wenigsten auch nur erahnte.

Sie fuhr früher los zur Arbeit. Ging weiter zu Fuß als sonst, machte Umwege. Wie Lissa es verlangt hatte, prüfte sie gewissenhaft, ob an ihren Fersen Verfolger klebten.

Am späten Nachmittag nach der Arbeit brachte Sabine einen Großeinkauf und diverse rezeptfreie Medikamente mit. Und eine gute Nachricht: Sie hatte keine Schatten bemerkt.

Rosana sprach noch immer kein Wort. Aber die Blutung hatte aufgehört, das Fieber war gesunken und sie aß endlich, wenn auch nur eine halbe Schüssel Grießbrei. Am Abend schauten sie zusammen einen Krimi an, Derrick.

»Sie ist übern Berg«, murmelte Lissa später, nachdem Rosana eingeschlafen war. »Oder?«

Sabine nickte heftig, auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob das stimmte.

»Sie muss sich ein paar Tage ausruhen, dann kommt sie wieder auf die Beine!«, meinte Lissa. »Aber ich, ich muss jetzt mal los.« Wohl wegen Sabines entsetztem Blick ergänzte sie hastig: »Für Rosana schnell eine andere Bleibe finden!« Sabines Wohnung sei viel zu nah an diesen Schweinen dran, die vermutlich draußen irgendwo lauerten. Sie wolle sie auf keinen Fall noch weiter gefährden, betonte Lissa am Ende, eben deshalb müsse sie unbedingt weg.

Sabine knickte ein. Bestand aber darauf, dass Lissa gleich am nächsten Morgen zurückkäme. Noch bevor sie zur Arbeit aufbreche.

Na logo, erwiderte Lissa dankbar. Sabines Hilfe der reine Wahnsinn, das würde sie ihr nie vergessen. Nie! Und dann bat sie, Sabine möge sie doch bitte fahren, das wäre der einzige Weg, jetzt ungesehen aus dem Haus zu kommen. Und aus dem Viertel.

Gibst du ihr erstmal einen Finger, schoss es Sabine durch den Kopf, reißt sie gleich noch Arm mitsamt Schultergelenk und oberen Brustwirbeln raus.

Es sei jetzt fast dunkel, bemerkte Lissa, und kaum Verkehr. Perfekt. Am besten, sie führen gleich los …

Natürlich stimmte Sabine zu.

Sie legten eine kurze Nachricht hin, verließen die Wohnung, fuhren mit dem Aufzug in die Tiefgarage und stiegen dort in Sabines kleinen Fiat.

Lissa legte sich hinten vor die Rückbank und schmiss die mitgebrachte Wolldecke über sich. Dann ging es los. Niemand vorm Haus, und alles blieb still. Nachdem sie das Viertel verlassen hatten, schob Lissa den Kopf unter der Decke vor und dirigierte Sabine quer durch Frankfurt. Nach Neu-Isenburg müsse sie, sagte sie erst. Aber dann, kaum war der Main überquert, musste Sabine Minuten später in die Färberstraße biegen, in einen Hinterhof. An dessen Ende eine Reihe baufälliger Garagen, wo Lissa verkündete: »Ich steig doch hier schon aus! Werfe wohl besser meiner Anwältin noch was ein.« Ausgestiegen, nahm sie Sabine das Versprechen ab, die Sache mit Rosana für sich zu behalten. Und schwor Stein und Bein, dass sie morgen früh wieder da sei. Um in Ruhe über alles zu reden. Zum Abschied umarmten sich die beiden lange. Dann trabte Lissa davon. Und sie sagte nicht: »Bis morgen.«

Deshalb ahnte Sabine schon, dass sie nicht kommen würde.

DREI

Rosana warf sich in Sabines Bett herum. Hektisch flatterten ihre Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern. Mehrmals in den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie diesen Traum geträumt, leicht abgewandelt. Nur der Web blieb immer der gleiche. Auch jetzt ging sie ihn.

Zum Abiturfest der neuen Schule. Dort würde sie Jan wieder treffen. Endlich. Viel zu lang hatten sie sich nicht gesehen. Jan war plötzlich verschwunden gewesen. Aber jetzt war er wieder da! Freudig hüpfte sie den Schotterweg entlang. Hielt dabei Jans Nachricht umklammert, die am Morgen in ihrem Schülerfach gelegen hatte. »Wir treffen uns an der Brücke.«

Sie bog in einen Pfad ein, der von den Häusern weg durch brachliegende Felder führte. Schon bald konnte sie die Brücke sehen. Ragte vor ihr auf, hohe Säulen hielten sie dicht unter den Himmel geklemmt. Der Boden wurde hier weicher, ein Meer aus hellem Sand, fast weiß. Sie zog ihre Schuhe aus, eilte voran.

Und dann sah sie ihn. Jan lief direkt vor ihr, seine Gestalt verschwamm im grellen Sonnenlicht, sie hob die Hand vor ihre Augen und lief los. »Jan!«, rief sie. »Warte! Jan!«

Schneller und schneller eilte sie voran, rannte ihm nach. Und dann war die Brücke direkt über ihr, verdunkelte den Himmel. Aber Jan war mit einem Mal fort, wie vom Erdboden verschluckt. Dann ein ohrenbetäubender Knall – unter ihren Füßen tat sich der Boden auf und der Himmel stürzte ein, spie Schmutz und Steine und Geröll herab. Der Sand war jetzt ein rotes Moor, saugte schmatzend an ihren Füßen. Sie versank. Und schrie. Etwas prallte gegen ihr Gesicht, sie griff danach, ein Ast? Aber es war ein Beinstumpf, weich und blutig, und vor ihr am Boden steckte ein zerfetzter Unterarm, in den ein Lederriemen eingebrannt war … von Jans Rucksack. Sie schrie und schrie und ...

»Wach auf!« Sabine schüttelte sie sanft. »Nur ein Traum, ein böser Traum!« Rosana schlug die Augen auf, ihr letzter Schrei verebbte. Sie starrte Sabine an. Das Grau um ihre Pupillen leuchtete, als hielte jemand dahinter eine grelle Lampe hoch.

»Ein böser Traum!«, sagte Sabine.

Rosana nickte. Und mühte sich zu erinnern, aber da war nichts mehr.

Lissa hielt ihr Versprechen nicht. Kam nicht zurück.

Sabine machte Frühstück und brachte es Rosana ans Bett. Aber die rührte es nicht an. Und schlief wieder ein.

Sabine nahm sich zwei Brötchen, schlich rüber, ließ sich in ihrem Sessel nieder, machte den Fernseher an und den Ton leiser.

Im Hintergrund eines ernsten Tagesschausprechers war das Foto einer Autobahnbrücke zu sehen. In weiter Ferne viel Geröll – die Kamera zoomte es näher – weiträumig hatte die Polizei ein rotweißes Absperrband gespannt. Sabine biss in ihr Brötchen, kaute und nahm einen Schluck Tee. Der Sprecher verschwand. Statt seiner füllte das Foto einer Frau den Bildschirm aus, darunter ein Name: Claudia Töpfer.

Sabine hörte auf zu kauen. Sie kannte die Frau.

Sie lag in ihrem Bett und schlief.

***

Lissa schob sich durch die offene Tür des mehrstöckigen Hauses, eilte die Stufen hinauf. Es stank nach Terpentin. Aus einer Wohnungstür im zweiten Stock schob sich eine grauhaarige Frau in den Weg. »Grüß Gott!« Sie stützte sich auf einen Besenstiel.

»Guten Tag.« Lissa drückte sich an ihr vorbei.

»Hier riecht es aber streng!«, rief die Frau hinter ihr her. »Was ist das bloß?« Lissa drehte sich um. »Ölfarbe! Sind wahrscheinlich Handwerker im Haus. Schönen Tag noch.« Sie ging weiter nach oben. Horchte. Unter ihr schloss sich die Tür. Gut. Ein Stockwerk weiter hielt sie an, vierte Etage, hatte Claudia ihr gestern Nachmittag zugeflüstert, linke Wohnung. Sie klopfte. Viermal kurz, noch mal kurz und einmal lang. Schritte hinter der Tür …

»Pizza kommt später«, wiederholte Lissa den Erkennungssatz, den Claudia genannt hatte.

Ein junger Mann öffnete, zog sie in die Wohnung hinein und schloss die Tür. Terpentingestank verschlug ihr den Atem.

»Robert?«, fragte Lissa.

Er nickte, tiefe Schatten unter seinen Augen. »Hat dich die neugierige Alte unten gesehen?«

»Ja! Hat wegen dem Terpentin gefragt, ich hab sie beruhigt, von wegen Handwerker im Haus.«

»Gut so! Wo ist Claudia?« Sein Blick bohrte sich in Lissas. Er suchte nach etwas, um seine Befürchtungen zu zerstreuen. Aber fand es nicht. »Was ist passiert?«

»Sie ist verletzt. Deshalb hat sie mich hergeschickt. Sie kam vorgestern Nacht zu mir. Ich hab sie untergebracht, bei einer Freundin.«

Lissa folgte ihm ins einzige Zimmer. Setzte sich neben ihn auf ein durchgesessenes Sofa, das einzige Möbel im Raum.

»Erst hat sie keinen Ton gesagt, stand einfach so da, fix und fertig, die Klamotten blutig, zerrissen …« Sie berichtete von dem Schlüssel der Claudia aus der Hand gefallen war. Mehrmals musste sie fragen, bis endlich die Antwort kam:»Das Motorrad draußen, es muss weg!«Lissa hatte die Verletzte aufs Sofa bugsiert, oberflächlich untersucht, sich Lappen, eine Flasche Terpentin geschnappt und war zurück nach draußen. Das Motorrad lag im Hof, direkt vor der Hinterhaustür, auf der Seite, seitlich am Tank blutige Schlieren. Kein Mensch zu sehen, hievte Lissa es in den Stand, schob es um die nächste Ecke, stieg auf, startete und fuhr los. Stellte es ab, vier Kilometer weiter, hinter zwei Containern eines finsteren Hinterhofs. Polierte es mit terpentingetränkten Lappen und haute ab.

Robert hörte aufmerksam zu. Dann fragte er. Ob Claudia was von anderen Genossen gesagt habe, die Hilfe bräuchten? Nein? Okay. Dann erkundigte er sich nach Sabine. Sie sei, beteuerte Lissa, vertrauenswürdig und außerdem politisch nicht aktiv. Sie ins Visier zu nehmen, hatte der Staatsschutz also keinen Grund.

Kaum war Lissa mit ihrem Bericht dieser Nacht durch, stieg ein Kloß in ihrem Hals auf. Sie schluckte schwer, drückte aufkommende Tränen weg und fühlte sich mit einem Mal grässlich zerbrechlich. Hastig senkte sie ihren Blick. Nestelte konzentriert an den Knöpfen ihrer Jacke.

»Anbieten kann ich dir leider nix«, sagte Robert in die Stille hinein, »hier ist alles schon entsorgt.« Sein Arm schwenkte demonstrativ über zwei gepackte Sporttaschen, Tüten mit Abfall in der Zimmerecke.

Aber Lissa reagierte nicht. Robert betrachtete ihr bleiches Gesicht, die blutleeren Lippen, ihre großen Augen. Die ihn jetzt anstarrten. Lange, ohne ein einziges Mal zu zwinkern. »Du bist also eine gute Freundin von Claudia?«, fragte er.

»Nein! Ich hab sie höchstens dreimal gesehen, von weitem, auf einer Demo, einer Veranstaltung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht mal, woher sie meine Adresse hat.« Sie betrachtete ihre Knöpfe.

»Zuverlässige Leute sprechen sich eben rum, auch in der Szene«, brummte Robert. »Keiner bleibt in dieser Hinsicht unsichtbar. Leider. Oder auch nicht.

Denn immerhin hat Claudia dadurch ja ihre perfekte Retterin erwischt. Du hast sie aus der allergrößten Scheiße gezogen, vorerst. Respekt!«

Er lächelte sie an. Aber Lissa hielt den Kopf gesenkt. Tränen tropften auf ihren Schoß.

»Heee«, er legte den Arm um sie, zog sie an sich, »alles wird gut.«

Lissa legte ihre Stirn an seine Schulter. Auf seinem dunkelblauen Pullover breitete sich ein feuchter Fleck aus. Unfreiwillig zum Anker eines sinkenden Schiffs auserkoren, hatte sie viel zu lang die Zähne zusammengebissen. Tapfer sein inmitten der Katastrophe, die Wucht der plötzlichen Bürde enorm. Jetzt fühlte sie sich hart an, wie zu Stein geworden. An dem Claudia hängenblieb anstatt unterzugehen.

»Du kannst auf keinen Fall zu deiner Freundin Sabine zurück«, Robert schob sie sanft von sich, sah sie an. »Aber lass ihr ein paar Zeilen zukommen. Sie muss wissen, dass du sie nicht hängen lässt. Sonst flippt sie aus. Nach Claudia wird schon öffentlich gefahndet. Ich habs gestern Abend schon im Radio gehört. Sie sei an einem fehlgeschlagenen Sprengstoff Anschlag beteiligt gewesen, wird behauptet. Du musst Sabine auf jeden Fall beruhigen! Und zwar schnell.« Lissa nickte.

Die nächsten zwanzig Minuten half sie, die Wohnung fertig zu putzen. Es war nicht mehr viel. Robert war seit sechs Uhr früh hier zugange. Gab die Bude auf, weil sie nicht mehr sicher war. Seit gestern Abend ahnte er, dass etwas schiefgegangen war. Weil Jan nicht zum Treffen gekommen war. Ein Krisentreff, kurzfristig von Robert eingefädelt. Nachdem jemand ihm vor zwei Wochen gesteckt hatte, dass Jan möglicherweise eine militante Aktion plane. Entsetzt hatte Robert alle Hebel in Bewegung gesetzt, seinen Freund zu erreichen. Vor vier Tagen dann endlich Antwort: Er freue sich, Robert wiederzusehen, hatte Jan im Kassiber geschrieben.

Und war nicht aufgetaucht. Das stank zum Himmel. Denn Jan war zwar ein Querkopf, aber absolut zuverlässig. Lissas Bericht befeuerte Roberts Befürchtungen noch. Und auch, dass sie jetzt hier war. Denn er kannte diese Claudia nicht. Sie dürfte eigentlich weder von dieser Wohnung wissen noch davon, dass Robert zurzeit hier war. Das konnte sie nur von einem erfahren haben: von Jan.

Aber wo verdammt noch mal war er?

Keiner der Meldungen hatte ihn erwähnt. Was nichts hieß. Aus ermittlungstaktischen Gründen … verschwieg der Staatsschutz allerlei. Gut möglich, dass Jan verhaftet war.

Robert schüttelte die Sorgen ab, wirbelte mit seinem Lappen. Kein Zaudern jetzt, kein Zweifeln. Säubern und schleunigst die Bude dichtmachen. Das war, was jetzt zählte. Diese Bude war zu heiß geworden. Seit über einem Jahr genutzt von engsten Vertrauten. Auch von Jan. Sollte er verhaftet worden sein, genügte eine winzige Notiz, oder eine Fingerspur Fett auf einer mitgeführten Straßenkarte, um diese Wohnung ins Visier des Staatsschutzes zu rücken. Der würde ausschwärmen und alles im Umkreis von drei Kilometern auf den Kopf stellen, die Nachbarschaft auseinandernehmen, Fotos herumzeigen, vorgeben, nach Drogendealern zu fahnden. Jede ergatterte Spur zog in Windeseile weitere Festnahmen nach sich. Und schnell war man heutzutage dann nicht raus aus der Geschichte. Der kürzlich erweiterte 129a, der sogenannte Kollektivschuldparagraph, lieferte den juristischen Kniff zur effizienteren Eliminierung des linkspolitischen Gegners. Ermöglichte Jahre Knast für die Gesinnung, ohne Beweise für tatsächlich begangene Taten liefern zu müssen. Bald waren sie durch. Robert scheuchte Lissa zur Tür, gab ihr Anweisungen, umarmte sie und ließ sie raus.

Siebzehn Minuten später ging auch er.

***

Frankfurt am Main, Sonderabteilung K 7

»Ein Eigentor! Prima!« Harald Michaelis` Finger pochte auf das Foto der gestern aufgefundenen Leiche des jungen Attentäters. »In diesen Sauhaufen würd ich gern mal reinhalten, den Finger am Abzug lassen und dauerfeuern ...« Er stand grinsend auf. Stefan Steinert ignorierte ihn.

»Wir halten den Toten erstmal unter Verschluss«, sagte er. »Zeit ist jetzt ein kostbares Gut, wir warten in aller Ruhe die Reaktionen der Szene ab und sammeln Infos für künftiges Intervenieren.«

»Infos sammeln? Na dann!« Michaelis rollte die Augen und riss die Tür auf. » Ich hoffe, der verdammte Rest sprengt sich demnächst auch noch selbst in die Luft!«

Er trat hinaus in den Flur. Knallte die Tür zu. Sein grölendes Lachen übertönte seine sich entfernenden Schritte.

Zwischen ihm und Stefan Steinert hatte es sofort gefunkt: Antipathie auf den ersten Blick. Kein Wunder.

Michaelis, seit über drei Jahrzehnten hier im Dienst, jahrelang für die Leitung der Abteilung vorgesehen, war grob ausgebootet worden. Vom Studierten Steinert, neun Jahre jünger, frisch aus den USA eingeflogen. Und das ohne Vorwarnung, von einem Tag auf den anderen. Michaelis war mehr als hintergangen worden. Man hatte ihn gedemütigt.

Das machte die Sache nicht einfacher.

Steinert vertiefte sich in die Fotos auf dem Schreibtisch. Kein schöner Anblick. Die Körperteile lagen im Radius von 115 Metern verstreut. Sie waren seit gestern Nacht eindeutig identifiziert. Jan Jakobi, dreiundzwanzig, seit zwei Jahren als linksradikaler Terrorsympathisant in den Akten geführt, Spitzname: Jeyjey.

Steinert hielt nichts von Michaelis. Den Methoden, denen er und seinesgleichen nachhing. »Reinhalten« war vorgestern. Gegen diesen antiquierten Schwachsinn war die westdeutsche Guerilla immun. Das hatten die vergangenen zehn Jahre einmal mehr bewiesen. Der Hydra des westdeutschen Linksterrorismus waren nach jedem Toten, nach jedem Fahndungserfolg immer neue Köpfe gewachsen. Das Sympathisantenheer bot immer neues Rekrutierungspotenzial. Trotz seit Jahren verfeinerter und potenzierter Überwachungsmethoden stocherten die Ermittlungsbehörden zunehmend im Dunkel. Darauf waren vor fünf Monaten auch noch die letzten Staatsdienst-Träumer unsanft gestoßen worden. Durch die Festnahme von sechs Mitgliedern der illegalen Gruppe. Ein verdammter Zufallstreffer, der einmal mehr bewies, wie ahnungslos sie alle trotz Aufrüstung in den letzten Jahren geblieben waren. Tief war der Schock gewesen: Von sechs gefassten Mitgliedern der Guerillagruppe waren ihnen zwei völlig unbekannt! Zwei! Bewaffnete Staatsfeinde, Topterroristen, über die es keinerlei Hinweise gab, keine Akten, nicht die klitzekleinste Notiz! Phantome, die trotz flächendeckender Überwachungsmaßnahmen und hunderter Spitzel namen- und gesichtslos geblieben waren. Unsichtbar! Die Verhaftung der sechs hatte unmissverständlich offenbart: Weder Geheimdienst noch Staatsschutz wussten verbindlich, aus welchen Personen die illegale Kerntruppe aktuell bestand. Dieser Schock hatte auch sein Gutes. Denn wie lang hätte es ohne diesen Zufallstreffer noch gedauert, bis die Korinthenkacker im Innenministerium endlich bereit gewesen wären, Nägel mit Köpfen zu machen? Steinert wusste: noch Jahre! Aber so. Die Anti-Terror-Elite hatte eilig beraten und war endlich den Ratschlägen von US- Kollegen gefolgt.

Stellten die faktisch laufende Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten und Polizei auf eine andere Grundlage Vernetzten die Strukturen verschiedener Behörden, die Jagd auf Linkterroristen würde effizienter werden. Die gesetzlichen Grundlagen entsprechend zu biegen würde knifflig, aber die Gründung der Koordinierungsgruppe Terrorismus, der KGT, war nun beschlossene Sache. Eine Art Dachverband für bereits laufende Koordinierungen, in ihr würde der europäische Datenaustausch und die länderübergreifende, polizeiliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit weiter intensiviert. Unter strikter Geheimhaltung hatten bereits zwei Treffen stattgefunden, die die Modalitäten plante. Spätestens in zwei Jahren, so der Plan, würde die KGT aus der Taufe gehoben.

Außerdem war der Import des extrem effizienten Counter Insurgency Programms aus den USA, kurz: CIP, beschlossen worden. Es an die heimischen Gegebenheiten anzupassen und hier einzusetzen: dafür war Steinert zurück beordert worden. Nach Frankfurt am Main, an die Spitze der Sonderabteilung K 7. Diese lief bislang unter »Abwehr des organisierten Verbrechens«, darunter war Anti-Terrorismus subsumiert gewesen.

Steinerts Abteilung würde eng mit Kollegen aus dem BKA in Wiesbaden kooperieren, er würde mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, um das K 7 auf den Kampf gegen den Terrorismus zu konzentrieren. Sein ranghöchster Vorgesetzter war, wenn auch inoffiziell, Schaller, der seit über acht Jahren im Innenministerium einen hochdotierten Posten inne hatte, auch wenn niemand so recht wusste, was genau er machte. Hinter vorgehaltener Hand der Schattenmann genannt, hing ihm das Gerücht an, Hirn und rechte Hand des jeweils im Amt befindlichen Geheimdienstkoordinators zu sein. Er würde, hatte Schaller gegenüber Steinert versichert, für den reibungslosen Ablauf aller strategischen Weichenstellungen zu sorgen, insbesondere was gewisse Feinheiten des CIP betraf. »Unsere neue Wunderwaffe««, hatte Schaller das Programm tituliert. Es hatte im Verlauf von knapp einem Jahrzehnt die Black Panther und Weathermenbewegung in den USA vernichtet. Spezialität: der Einsatz geheimdienstlicher Mittel. Und eben das war die einzig richtige Antwort auf die Entwicklungen hier. Die Rekrutierung der nächsten Generation von Linksterroristen fand im Verborgenen statt. Die meisten dieser Radikalen, die sich in Kürze bewaffnen konnten, kamen nicht mal mehr in die Nähe all der ausgeklügelten Überwachungstechniken, mit denen der Staatsschutz seit ein paar Jahren klotzte. Potenzielle Mitkämpfer wurden von Beginn an aus öffentlichen Initiativen und Gruppen ferngehalten. Und nie erfasst. Abhörprotokolle, Spitzelberichte, hunderte akribisch gefertigter Psychogramme, perfektionierte Observationsmethoden, vierzehnköpfige Trupps: alles für die Katz.

Das Gelingen des angelaufenen CIP hing deshalb an dessen Geheimhaltung, und an intelligenten, fähigen Leuten. Teamplayer, die Steinerts Autorität anerkannten, Flexibilität und Entschlossenheit vereinten und den nötigen Neuerungen grundsätzlich positiv gegenüberstanden. Solche Leute waren rar gesät. Ausgerechnet Michaelis, der Dienstälteste, dessen Vorbild zählte, hatte Steinert von Beginn an Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ein bleiernes Relikt aus vergangener Zeit, primitiv und klobig.

Michaelis intrigierte, zog andere auf seine Seite, meist Ältere, die es sich auf ihren Posten bequem gemacht hatten. Auch einige von Steinerts Vorgesetzten im BKA. Ignoranten, kleben geblieben an lang vergangenen Realitäten, hatte Steinert es vor wenigen Tagen in einem Telefonat mit einem engen amerikanischen Freund und Kollegen zusammengefasst: »Statt die Basics für das CIP jetzt durchzuwinken, halten sie krampfhaft am ewig Gestrigen fest.«

»Die warten eben immer noch auf den Endsieg«, hatte der Freund erwidert. Sie hatten schallend gelacht.

***

Lissa war seit über acht Stunden unterwegs. Jetzt war es kurz nach neunzehn Uhr und sie hatte per Bus, Fernbus und langen Fußmärschen fünf Ortschaften und siebenunddreißig Kilometer durchquert. Hatte eine Menge Haken geschlagen, Pausen eingelegt, war zweimal eingekehrt, alles um potenzielle Verfolger zu entdecken. Wie Robert es verlangt hatte. Immerhin, hatte er betont, war sie ziemlich blauäugig zu ihm in die hochkonspirative Wohnung gekommen. Aufgepasst hatte sie schon, doch ja. Aber wirklich auf Nummer Sicher war sie nicht gegangen. Ein fataler Fehler, hatte Robert gesagt, und ja, das leuchtete ihr ein. Jetzt mussten sie beide die Scharte auswetzen. Herausfinden, ob sie noch bullenfrei waren. Jetzt, zehn Minuten, nachdem Lissa in der Hadrianstraße aus dem Bus gestiegen war, war sie sicher: Niemand war ihr auf den Fersen. Sie bog in einen schmalen Weg ein.

Lief im Rücken der Reihenhäuser an den Gärten entlang, nahm zwei Abkürzungen über niedrige Zäune. Sie kannte sich aus, die Römerstadt, zwei Schulen, ein Sportverein, ein Minigolfplatz, ein Spielplatz, ein Friedhof, ein Lebensmittelgeschäft, eine Tankstelle, ein Kiosk. Das wars. Ihr Revier. Sie trat vom Gartenweg auf die Hauptstraße, überquerte sie und wollte drüben eben am Kiosk vorbei, als sie Claudia entdeckte. Vielmehr ein Foto, im Zeitungsständer, auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau am Abend:

Überlebende Terroristin gesucht!

Lissa unterdrückte den Impuls, das Blatt aus dem Ständer zu reißen und den Artikel zu lesen. Sie trat an das winzige Fensterchen, kaufte bei einer freundlichen jungen Frau Kaugummi, Kekse, eine Dose Fanta, eineConstanzeund die Abendzeitung. Betont gelangweilt steckte Lissa alles in ihre Schultertasche und schlenderte davon. Zurück im Schutz der Gärten eilte sie den Weg hinunter bis zurück zur Hadrianstraße. Bog nach links, eilte am Spielplatz vorbei, der Nidda entgegen. Der schmale Fluss schimmerte dunkel in der einsetzenden Dämmerung. Lissa bog am Uferweg nach rechts und eilte auf die Holzbrücke zu, sie musste das Wäldchen erreichen, bevor es dunkel wurde. Als sie die Brücke überquert hatte, scheuchte sie zwei Rebhühner auf, die sich im Schilf niedergelassen hatten. Sonst war hier keiner mehr unterwegs. Fünf Minuten später hatte sie offenes Feld erreicht, zwanzig Minuten im Stechschritt, dann bog sie in den Hauptpfad ins Ginnheimer Wäldchen ein. Kurz danach erhob sich im einbrechenden Dunkel die Silhouette einer kleinen Naturschutzhütte. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, kurz nach neun, sah sich ein letztes Mal um, horchte, dann eilte sie hinter die Rückwand der Hütte und spähte dort durch die verschmutzte Scheibe. Niemand. Schon ein paar Mal war sie hier gewesen, zum Übernachten. Sie rollte einen dicken, teils vermoderten Baumstamm an die Wand, drückte den rechten Fensterflügel auf, dessen Innenriegel defekt war und stieg ein. Drinnen knipste sie ihre Minitaschenlampe an. Hier war alles an Ort und Stelle. Auf der Fensterseite der Tisch, zwei Stühle, der leere Vorratsschrank, gegenüber neben der Tür die beiden zusammengeklappten Metallpritschen mit dünnen Matratzen und der Weidenkorb zwischen ihnen mit den kratzigen grauen Decken. Lissa stieg vom Tisch, holte Decken aus dem Korb, verhängte das Fenster, stellte eine Pritsche auf, kramte die Zeitung aus ihrer Tasche und legte sich hin. Vertiefte sich in den Artikel der Abendzeitung, unter Claudias Foto, blätterte. Im Innenteil befand sich ein weiteres Foto. Von Jan Jakobi.

Lissa schluckte. Jeyjey! Tot! Er habe sich selbst in die Luft gesprengt, behauptete der Artikel. Der Lichtkegel der Lampe flatterte in Lissas zitternder Hand. Sie würgte. Daher war also all das Blut gekommen. Deshalb hatte Claudia so geschrien.

Ein missglückter Sprengstoffanschlag auf eine NATO-Einrichtung, hieß es weiter. Fingerabdrücke, sowie die Analyse der Blutgruppen weiterer Spuren wiesen eindeutig auf Claudia Töpfer als mutmaßliche Mittäterin hin. Sie sei offensichtlich verletzt und vom Tatort entkommen. Nach ihr und mutmaßlich weiteren Mittätern werde gefahndet. Eine Belohnung von 10 000 Mark sei für Hinweise ausgesetzt, an jede Polizeidienststelle ...

Lissa knipste das Licht aus, schloss die Augen. Aber das Gefühl des Schwindels blieb. In ihren Ohren rauschte es. Schlafen? Das konnte sie jetzt vergessen. Sie stand auf, horchte, zog die Decke vom Fenster und kletterte zurück nach draußen. Setzte sich auf die grob gezimmerte Bank vor der Hütte. Atmete tief durch. Ihr Magen rebellierte. Sie würgte, schluckte, atmete, schluckte, würgte. Sie schloss die Augen und atmete tief. Ein, aus, ein ... Lauschte den nächtlichen Geräuschen des Waldes und dem einsetzenden Nieselregen.

Jan. Wie weh das tat.

Über ihr zerrten Windböen aus Nordost an Baumkronen, entfachten sachtes Blätterrauschen, wehten den Geruch von Flieder aus zwei mächtigen Büschen zu Lissa hin, im Laub um sie herum raschelte es. Die eingebrochene Nacht brachte Kälte und säte Feuchtigkeit, jetzt brachen nachtaktive Tiere auf. Und Lissa hörte zu. Wie unschuldig diese Geschöpfe waren, angefüllt mit ihrem kleinen Leben, damit, für sich und ihre Nachkommen das tägliche Futter und die erforderliche Wärme zu organisieren. Sie waren frei. Lissa packte die Sehnsucht, eine von ihnen zu sein. Ein langer Augenblick. Aber er ging vorbei. Und alles war zurück.

Kein Termin jetzt, den sie einhalten, kein Bus, den sie erwischen, kein Weg, auf den sie achten musste.

Niemand hier, den sie beruhigen, beschützen, belügen, dem sie Stärke vorspielen musste. Der sie ablenkte. Sie hinderte. Zu verzweifeln oder davonzulaufen.

Jetzt und hier pirschte sich das Grauen dieser Tragödie dicht heran. Zog einen Riss durch ihre im Stress der letzten Tage aufgetürmte Wand. In ihm breitete sich nun sachte der Geruch des vergangenen Sommers aus.

Und Jans.

Lissa spürte die Wärme dieses einen Nachmittags wieder. Und die Nackenhaare, die sich während ihrer ersten konspirativen Hilfestellung ihres Lebens aufgestellt hatten. Kurzfristig war sie um Hilfe gebeten worden, per Kassiber. Ob sie einen Genossen, der »in Schwierigkeiten war«, für ein paar Tage sicher unterbringen könne? Kurzfristig, in einer Woche. Lissa sagte zu. Am nächsten Tag, aus einer Telefonzelle, per Telefon, per Klingelzeichen an die Nummer eines anderen Bundeslandes, wie es im Kassiber beschrieben war. Der Genosse, den sie sechs Tage später an einer Bushaltestelle abholte, hatte einen anderen Namen genannt. Aber es war Jan gewesen.

Die Hitze des Sommertags, Aufregung und Angst trieben ihr den Schweiß auf die Stirn. Sie hatte lange warten müssen, er war über fünfzig Minuten später als angekündigt gekommen. Lissas Nackenhaare standen steil auf, als er schließlich endlich aus dem Bus stieg. Sie fummelte am bereits zerknautschten grünen Halstuch, dem ausgemachten Erkennungszeichen.

Freudig kam Jan auf sie zu, umarmte sie, nahm ihre Hand und küsste sie verhuscht auf die Wange. »Wir sind ein Liebespaar«, flüsterte er dabei in ihr Ohr, »das ist unauffälliger.«

Und dann hatte er mit ihr geplaudert, ihr die Angst genommen, Schritt für Schritt, auf diesem Viertelkilometer bis zu der Wohnung, die Lissa organisiert hatte. Jan blubberte dahin, über das Wetter, über einen neuen Kinofilm, und wie er sich gefreut hatte, dass sie, eine Unbekannte, ihm durch einen aktuellen Engpass half.

Es war ein Werktag gewesen, gegen eins, wer nicht bei der Arbeit, im Studium, der Lehre war, saß beim Mittagessen. Sie liefen durch die Straßen des leergefegten Viertels.

Jetzt vibrierte Jans Stimme wieder in Lissas Ohr, als wäre er wieder da. Noch da. Als wolle er sich verabschieden von ihr, auf seinem langen Weg ins Jenseits. Lissa schluckte Saures. Eine Faust wie Eisen drückte ihren Magen zusammen, presste ihn nach oben. Sie schluckte wieder. Schob ihre Hand unter ihr T-Shirt, legte sie flach auf ihren Bauch. Wie weh das tat. Jan, kaum älter als sie, war auch nervös gewesen, sie hatte es ihm angehört, trotz seiner sanften, beruhigenden Art. Sie hatte ihn gleich gemocht.

In der Wohnung, deren Mieter die Eltern einer Freundin von Lissa waren, die Mexiko bereisten, hatten sie Nudeln gekocht und Reste vertrockneter Petersilie darüber gestreut. Und Jan hatte gefragt, ob sie denn das Mai-Papier schon kenne. Und weil Lissa zwar von diesem konspirativ verteilten »neuen RAF-Traktat«, wie die Presse es nannte, gehört, aber es nicht bekommen hatte, stieg er direkt ein.

Er hatte keinen Hehl aus seiner Begeisterung gemacht. Er glaubte an diese neue RAF, die selbstkritische, jüngere, an den Aufbruch dieser nächsten Generation, die nun endlich einen Weg aus der selbstproduzierten bleiernen Ära suchte.

Faktisch und praktisch, wie er mehrfach betonte, diese RAF ruhe sich nicht mehr im Avantgarde-Anspruch aus, in der ewigen Besserwisserei, die sich in die militaristisch eskalierte Niederlage und politische Isolation manövriert habe. Diese Leute wüssten, dass die Revolution nur mit einem Zusammenkämpfen zu erreichen sei. Mit allen, die sich jetzt gegen Krieg und Imperialismus erhoben hatten. Wie er selbst ja auch. Nur im politischen Zusammenhang mit der Guerilla würden sie alle aus dem ewigen Stellungskrieg herauskommen, an Durchsetzungskraft gewinnen, in die Lage kommen, dem imperialistischen Krieg faktische Grenzen zu setzen. Eine bewusst geschmiedete Allianz, die die Ein-Punkt-Bewegungen und das andauernde Klein-Klein vereinzelter Grüppchen strategisch überwinden würde. Es käme jetzt wirklich darauf an. Jetzt! Nicht irgendwann. Weil es eben diese Chance gäbe, auch international und dann hatte er aus dem Mai-Papier zitiert:»Die Auseinandersetzung hat sich nach Vietnam von einer Konfrontationsstellung Front und Hinterland zu einer Linie hin verschoben, die quer durch jeden Abschnitt, jeden Kontinent, jedes Land geht.« Und deshalb würde eine schlagkräftige Front hier im Land, und Jans Gesicht hatte geleuchtet, beitragen zum Sieg im internationalen Befreiungskrieg: der revolutionäre Krieg in den europäischen Metropolen könne das Zünglein an der Waage sein, die imperiale Übermacht zum Einsturz zu bringen.

Lissa fror jetzt. Sie zog die Hand unter dem T-Shirt hervor und schlang die Arme um ihre Brust. Weinte. Die heraufbeschworene Erinnerung verstärkte die Monstrosität des Verlustes. Dieses leuchtenden Kriegers. Und weichen Menschen, dessen Zärtlichkeiten Lissa sich hingegeben hatte, in der dritten und letzten Nacht in dieser Wohnung, in der sie Jan tagsüber alleinließ, aus Sicherheitsgründen aber täglich am frühen Abend zurückkehrte. Stunden später, draußen noch dunkel, war er schließlich fortgegangen. Sie solle sich keine Sorgen machen, falls sie erstmal nichts mehr von ihm höre. Möglich, dass er abtauche, er wolle sich einfach nicht mal eben so für Jahre abgreifen lassen. Wie Bernie, sein guter Freund, der Monate zuvor verhaftet worden war. Der wohl ein bis zwei Jahre bekam, wegen des Verteilens eines Flugblatts! Der kürzlich erweiterte Paragraph 129 a ein Instrument nackter Gesinnungsjustiz, mit dem linksradikale politische Inhalte als »Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« mit Jahren Knast abgeurteilt werden konnten. Nicht mit ihm! Jan wusste, was er wollte und würde sich dafür jederzeit dieser beschissenen Kriegsjustiz entziehen. Gerade jetzt. Wo es mit der neu zu schmiedenden revolutionären Front neue Hoffnung gab. Es um alles ging! Und dann war Jan weg gewesen. Erst Monate später, als er verschwunden blieb, hatte Lissa verstanden, dass er dauerhaft untergetaucht war.

Und jetzt?

Lissa beugte sich vor und übergab sich. Wieder und wieder. Bis sie ganz leer war. Dann lehnte sie sich zurück. Wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, lehnte den Kopf weit in den Nacken, sog die kalte Nachtluft tief in sich hinein und suchte den Himmel nach Sternen ab. Aber da waren keine.

VIER

Wieder schrie Claudia, alias Rosana wie am Spieß. Sabine rüttelte sie sanft. Legte die Hand auf Claudias Stirn. Die glühte. Alarmiert schlug Sabine die Decke beiseite, unter den Rändern des Verbands um den Oberschenkel leuchtete ein grellroter Hof. Claudia schlug die Augen auf.

»Die Wunde ist total entzündet!«, sagte Sabine. »Du musst zum Arzt. Sofort!« Claudia schüttelte den Kopf. »Nein!«

»Das muss behandelt werden!«

»Wo ist Lissa?« Claudia setzte sich stöhnend auf.

»Unterwegs.« Sabine erwähnte die öffentliche Fahndung nicht. Wozu auch? Claudia würde sich dann ganz sicher nicht hier wegrühren. »Du musst dich verarzten lassen«, wiederholte Sabine.

»Darüber reden wir, wenn Lissa zurück ist.« Claudia sank ins Kissen zurück, zog die Decke übers Kinn und schloss die Augen.

»Und wenn das zu lange dauert?«

Aber Claudia reagierte nicht, tat, als schliefe sie.

Sabine verließ das Haus, um kurz nach halb sechs, über eine Stunde früher als üblich. Ließ das Auto in der Tiefgarage stehen. Mühte sich, draußen locker zu wirken und erreichte das Ende der Straße erleichtert: niemand Verdächtiges. Sie marschierte voran, ließ die U-Bahn-Station Dornbusch rechts liegen und steuerte eine weit entfernte Bushaltestelle an. Beobachtete angespannt Leute in ihrer Nähe, Autos, Seltsames.

Leider kam ihr bald vieles irgendwie verdächtig vor. Das lag an ihrer Angst und daran, dass sie keinerlei Erfahrung hatte. Nie hatte sie auf ihre Umgebung geachtet, nie einen Zivilfahnder gesehen.

Mit Wucht stieg jetzt Wut auf Lissa in Sabine hoch. Wäre sie doch nie aufgekreuzt! Dann wäre sie selbst noch die Frau, die sie vor drei Tagen gewesen war. Naiv. Unschuldig. Sorgenfrei. Sabine kaufte sich zwei Zeitungen und hastete weiter. Trotzdem kam sie zu spät zur Arbeit, das erste Mal. Sie eilte durch den Flur in ihr Büro, schloss die Tür, hängte ihren Mantel an den Haken und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.

Da entdeckte sie den Briefumschlag. Handschriftlich und persönlich an sie adressiert, vor zehn Minuten, so die Kollegin im Büro nebenan, war er von einem Kurier abgegeben worden. Jetzt riss Sabine den Umschlag auf.

»Liebe Freundin, ich bin aufgehalten worden! Gib mir noch ein paar Tage«, lautete der kurze Text. »Dann erkläre ich dir alles. Solltest du Beunruhigendes über unsere Freundin hören, das ist alles Quark, glaub mir! Bitte pass auf sie auf! Ich komme in den nächsten Tagen wieder bei dir vorbei! Versprochen und: Danke! Li.«

Diese Zeilen beruhigten Sabine. Brachten sie zurück ins Gleichgewicht, brachte ihr die Kraft zurück, stoisch die auf dem Fuße folgenden Erschütterungen herunterzuschlucken. Über das, was sie in den Zeitungen las, im eilig angestellten Radio hörte. Der von Lissa angekündigte »Quark« war grauslich. Und überall. Claudia Töpfer sei die Begleiterin eines Jan Jakobi gewesen … ein Anschlag auf ein NATO-Büro. Jakobi tot, vorzeitig sei die Bombe explodiert. Beide Zeitungen brachten ein Foto dieses Jan Jakobi, mit sechzehn, aus einem Schülerausweis. Und Fotos von der Autobahnbrücke, darunter ödes Gelände, rotweiße Absperrbänder, eingedruckte Pfeile zeigten auf unidentifizierbare menschliche Brocken am Boden.

Sabine ging frühzeitig. Noch vor dem Mittagessen meldete sie sich im Personalbüro krank, eine Magen-Darm-Infektion, sagte sie. Es war nicht wirklich vorgetäuscht. Ihr war hundeelend.

Diese Bilder, die Brocken unter der Brücke, verfolgten sie auf dem Heimweg. Lang war er. Irgendwann blieb sie abrupt stehen. Wusste nicht, wo sie war. Hatte sich verlaufen. Die ganze Welt zusammengeschrumpft, auf den zarten Flaum des sechzehnjährigen Jan Jakobi.

Als sie ihre Orientierung wiederfand, war Sabine überzeugt, dass es ihr jeder ansah. Jan Jakobis Name auf ihrer Stirn, mit Claudias Blut geschrieben.

Mit gesenktem Blick eilte sie voran, sah nichts mehr, außer Schuhe und Stiefeln und Turnschuhen, allesamt mögliche Feinde in einer blutigen Schlacht, in der dieser Junge zerfetzt und sie hineinkatapultiert worden war.

Würde sich doch vor ihr ein Krater auftun! Der diese beschissene Welt durchbohrte. Sie würde sich hineinwerfen. Und selig fallen. Bis sie ausgespuckt würde, am anderen Ende, in eine fremde Galaxie, und entkommen, auf einen fernen Planeten.

Zuhause fand Sabine Claudia aufrecht im Bett sitzend. Die Decke war zu Boden gerutscht, der Fernseher lief, ihre Augen waren geschlossen und ihr Kinn ruhte auf dem Schlüsselbein. Sie schlief.

»Bin wieder da!«, rief Sabine.

Keine Reaktion. Sie eilte zur reglosen Claudia. Der Verband um den Oberschenkel war jetzt eiterdurchtränkt, die entzündete Wunde leuchtete noch greller. Und hatte sich ausgedehnt.

Sabine berührte Claudias schweißnassen Arm.

Die schreckte auf.

»Bin wieder da«, wiederholte Sabine.

Claudia sah weg, zum Bildschirm hin, dann Sabine an, prüfend. »Ich muss hier weg.«

»Keine Angst«, Sabine nickte zum Fernseher hin, »Lissa hat mir geschrieben. Ich weiß, dass das alles Märchen sind.«

»Ja.« Hinter dem Grau um Claudias Pupillen funkelte wieder dieses grelle Licht. »Alles Märchen«, hauchte sie.

Sabine legte die Hand auf ihre glühende Stirn.

»Ganz plötzlich war er nicht mehr da«, murmelte Claudia kaum hörbar »ich habe ihn gesucht. Ein Märchen … ja!«

»Wir warten nicht auf Lissa!« Sabine liefe zur Anrichte und blätterte im Telefonbuch. »Du musst ins Krankenhaus. Vielleicht hast du eine Blutvergiftung. Ich werde nicht hier sitzen und dir beim Abkratzen zusehen.«

»Das geht nicht!«, widersprach Claudia. »Die rufen sofort die Bullen, die Fahndung, die Verletzung ...« Sie brach ab. »Nur wenn … kennst du eine vertrauenswürdige Krankenschwester? Oder einen Arzt?«

Sabine schüttelte den Kopf.

»Oder die Daten einer Frau in meinem Alter? Damit könnte ich zur Not in eine ambulante Notaufnahme ...«

Und weil Sabine nur Bahnhof verstand, klärte Claudia sie auf. Vor- und Nachname, Geburtsdatum und Ort, aktuelle Adresse, inklusive der Name der Krankenkasse, das reiche für eine Erstversorgung in einer Notaufnahme. Weil die Buchhaltung von Krankenhäusern die Daten der Erstversorgten erst nach drei, vier Tagen weiter an die Krankenkasse sandte. Dann erst fliege der Fake auf, und man müsse weg sein.

Sabine überlegte kurz, dann bot sie ihre eigenen Daten an. Aber die wollte Claudia nicht. Sie stecke doch schon viel zu tief mit drin. Habe ihr Unterschlupf gegeben und sei außerdem eine alte Freundin von Lissa. Einfach zu riskant. Würden Sabines Daten auffliegen, sei sie nicht nur verbrannt, sondern gefährdet.

Eine halbe Stunde später fiel Sabine doch noch etwas ein. Die Daten einer ehemaligen Kollegin aus dem Büro, sie waren befreundet gewesen, gingen häufig zusammen in die Kantine, kurz bevor die Kollegin vor einem Jahr ging, hatten sie sich gemeinsam über die Beitragserhöhung zur gesetzlichen Krankenversicherung aufgeregt ...

Der ehemaligen Kollegin könne ehrlich nichts passieren, beteuerte Claudia, als Sabine Bedenken äußerte. Im Zuge der flächendeckenden Digitalisierung wachse der massenhaften Datenklau, weil monumentale Gesetzeslücken existierten, und diese unerschöpfliche Grauzone längst ein Milliardengeschäft geworden sei. Der Handel mit Personendaten boome. Deshalb sei der Ursprung eines geklauten Datensatzes im Ozean der Millionen zur Verkaufsware mutierten, absolut nicht mehr nachvollziehbar.