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Dämonen der Steppe: Ysell wächst in einer Oasenstadt in der Mitte einer gewaltigen Wüste auf, aber hier hält sie nicht viel. Ihre Eltern kümmern sich kaum um sie, und zu allem Überfluss muss sie auch noch zur Strafe für eine Rauferei im Hundezwinger arbeiten. Dort freundet sie sich mit den sprechenden Trosshunden an, die alle paar Jahre mit Auswanderern in die Wüste ziehen. Als sich wieder ein Tross Abenteurer auf den Weg ins Ungewisse macht, schließt Ysell sich zusammen mit ihren Hunden an. Schon bald muss sie feststellen, dass der Marsch noch viel gefährlicher ist, als sie es sich vorgestellt hat. Die Dämonen der Steppe warten schon auf ihre Chance. Der Tross droht in den wasserlosen Weiten der Steppe zu scheitern, als Ysell auf einen etwas linkischen Magier trifft. Ein Fantasyroman mit vielen überraschenden Wendungen, der immer spannend bleibt, denn der Troß muss auf seinem Weg durch die Steppe mit vielen unheimlichen Vorkommnissen fertig werden. All-age-Fantasy at its best! Autoreninfo: michaelstuhr.de Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie künftig bitte auf das Qindie-Siegel.
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Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Michael Stuhr
DÄMONEN DER STEPPE
All-age-Fantasy
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Inhaltsverzeichnis
Titel
IN MEMORIAM YSELL
PROLOG: TIEF IN DER STEPPE
DAS BUCH BOGAN
YSELL
DER ZWINGER
TROSSHUNDE UND TRAGTIERE
BOGAN
LÄUFER
DAS RUDEL
SABÉ
BOGAN UND SABÉ
AM GATTER
DAS BUCH GALIB
AUFBRUCH
DER RINGMARSCH
DIRÉ
NEKOI
GALIB
DER ERSTE CLANSMANN
DER CLAN
DER SIEGELSTEIN
ISAHID-ISHAD
DAS TOTENDORF
RICHTUNG NORDOST
STACHELWALZEN
DAS BUCH OXYL
SPÄHTRUPP
OXYL
SUCHER UND BRINGER
WILDES LAND
DIE TEILUNG
DIE STADT OXYL
EPILOG
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Leseprobe:
Impressum
IN MEMORIAM YSELL
In einer Epoche, so weit von der unseren entfernt, dass das Maß der Zeit es nicht zu erfassen vermag, gab es noch echte Magie auf der Welt. Man konnte Ruhm und Macht erlangen, wenn das Glück einem beistand und man tapfer genug war, an den Rand der bewohnbaren Welt zu ziehen, um dem Chaos ein neues Reich abzuringen. Ysell wusste nichts davon, und sie zog aus, ohne auf Ehre und Reichtum begierig zu sein.
PROLOG: TIEF IN DER STEPPE
Weit zog sich das Ödland vor Ysells Augen bis zum Horizont hin. Die Sandfelder zwischen den Flächen trockener Gräser wurden immer größer, je weiter der Clan sich von der Stadt entfernte. Staubschleier, die der ewige Steppenwind vor sich her trieb, ließen den Eindruck einer bewegten, sanft pulsierenden Oberfläche entstehen. Es war gefährlich hier draußen, wo noch nie ein Mensch gegangen war; überall unter dem Sand konnten die großen, krebsartigen Jumper verborgen liegen, aber Ysells Hunde waren wachsam und sicherten ihren Weg zuverlässig ab.
Ysell schaute sich um: Tross und Clan folgten den Aufspürern in weitem Abstand. Alles war in bester Ordnung.
Seit mehreren Monden zog Ysell nun schon durch die Steppe und das immer währende Gleichmaß der Landschaft schläferte die Sinne ein. Ysell erlaubte es ihren Gedanken, zurückzugehen in die Zeit, in der alles begonnen hatte. Gerade dachte sie daran, wie sie Bogan kennen gelernt hatte und wie niedlich Läufer, ihr mächtiger Leithund, als Welpe gewesen war, als es geschah:
Plötzlich stob vor Ysell eine Sandfontäne auf, und ein riesiger Jumper schoss mit hoch aufgerichteten Scheren aus seiner Mulde. Ysell wich zurück, doch ein zangenartiger Griff um die hartlederne Beinschiene brachte sie zu Fall, und noch bevor sie überrascht aufschreien konnte, war die zweite Schere des Jumpers über ihr. Ohne nachzudenken riss Ysell ihren schweren Knüppel mit beiden Händen in die Bahn des herabsausenden Mordwerkzeugs, das daran abprallte. Sie wollte sich zur Seite rollen, aber die Schere, die ihre Wade umklammerte, hielt unerbittlich fest. Immer stärker wurde der Druck, lange würde die Beinschiene das nicht mehr aushalten. Das riesige, krebsartige Tier versuchte kraftvoll mit der anderen Schere an Ysells Körper heranzukommen. Immer wieder stieß das scharfkantige Instrument wuchtig auf die ungeschützten Körperpartien herab, doch noch gelang es Ysell, die Schere mit Hilfe des Knüppels von sich fern zu halten.
Der Riesenkrebs durchschaute Ysells Abwehrtechnik schnell. Plötzlich griff er den Knüppel direkt an und begann, ruckartig daran zu reißen. Ysell merkte, wie ihr das Holz durch die Finger glitt. Der Jumper war unglaublich stark. Mit einem mächtigen Ruck riss er ihr das Holz aus den Händen und in hohem Bogen flog es davon. Ysell wusste, dass sie tot war, denn schon sauste die armlange Schere auf ihren Unterleib hinab. Mit bloßen Händen griff sie in die Bahn des mörderischen Werkzeugs und brachte es tatsächlich einige Fingerbreit vom Ziel ab, so dass es sich knapp neben ihr in den Sand bohrte. Die Schere begann sich zu öffnen und drängte nun von der Seite auf Ysell zu. All ihre Kraft aufbietend drückte sie das Mordinstrument von sich fort, aber der Jumper war viel stärker als sie. Es war hoffnungslos. In wenigen Augenblicken schon würde sie nachgeben müssen und dann...
Ysell gab sich verloren, denn die Trossleute waren mit den Tragtieren wenigstens zweihundert Schrittmaß weit entfernt. Kalt und leidenschaftslos starrten die Insektenaugen des Jumpers auf sie herab, und Ysell sah, wie die Gier gelblichen Schleim aus seiner Fressöffnung triefen ließ. Verbissen und mit äußerster Anstrengung versuchte sie, die ruckartig auf sie zu drängende Schere fern zu halten und das Unvermeidliche vielleicht doch noch zu verhindern, bis die Hunde heran waren. – Das war sie Bogan schuldig, denn er hatte sie ausgebildet. Ysell kämpfte um ihr Leben, aber sie kämpfte auch, um Bogan nicht zu enttäuschen. - Bogan, mit dem alles begonnen hatte...
DAS BUCH BOGAN
YSELL
Ysell rannte so schnell sie konnte um die Ecke des Marktplatzes, duckte sich unter einem Mauervorsprung hindurch, rutschte auf Knien und Ellbogen durch eine verdeckte Öffnung in der Wand, richtete sich hastig auf und raste mit jagendem Herzen die finstere Gasse entlang. Jetzt hieß es aufzupassen und den Wachen nicht unter die Augen zu kommen, bis der Aufruhr sich gelegt hatte.
Ysell wurde ein wenig langsamer und schaute sich um. Nichts war von den Verfolgern zu sehen; es würde sicher eine Weile dauern, bis die dicken Kerle sich durch das enge Loch gezwängt hatten - wenn sie es überhaupt fanden. Sie konnte sich ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen. - Elfjährige Mädchen waren eben doch gewitzter als erwachsene Männer. -Denen fehlte es nun mal eindeutig an Findigkeit und Phantasie.
Ysell fiel in leichten Trab. Erstaunlich, wie humorlos die Wachen waren, fand sie. Gleich zu fünft hinter ihr herzujagen, bloß weil sie sich einen kleinen Spaß gemacht hatte...
Mit schnellen Schritten ging Ysell weiter zwischen den hohen, lehmbraunen Mauern hindurch, in denen nur da und dort eine schmale Fensteröffnung davon zeugte, dass es sich um die Rückseiten zweier Häuserzeilen handelte.
Ysell war in Sicherheit, das wusste sie. Sorgen machte sie sich bloß um Sabé, ihren Komplizen. Gleich nach ihrer Entdeckung waren die beiden in verschiedene Richtungen geflüchtet und sie hätte gern gewusst, ob auch er den Wachen hatte entkommen können. Gewiss, Sabé war schnell und wendig, aber er neigte auch ein wenig zum Leichtsinn, fand Ysell. Mittlerweile war sie noch langsamer geworden und schlenderte fast durch die vergessene Gasse hinter den Häusern, die nur sie, Sabé und ein paar andere Kinder kannten. Niemand war hinter ihr. Gleich würde sie am Ende der Gasse über die alte Mauer klettern und sich wieder unter die Leute mischen, dann würde sie endgültig in Sicherheit sein.
Eine heiße Welle der Freude stieg in Ysell auf, als sie daran dachte, wie sie die Wachen hereingelegt hatte. - Schade nur, dass sie nicht in den vollen Genuss des Anblicks gekommen war. Gewandt wie ein Salamander erkletterte sie die Mauer, rollte sich über die Mauerkrone und fiel, mit den Füßen voran - einem Wächter in die Arme.
„Ich habe schon gedacht, du kommst nicht mehr!“ Der Mann schloss seine Arme so fest um Ysells Leib, dass ihr fast der Atem verging. „Du bist langsam!“
„W- woher“, stammelte Ysell aufgeregt und vergaß vor lauter Schreck sogar, sich zu wehren, „- wieso?“.
„Wieso ich wusste, dass du hier herauskommen würdest?“ Der Mann lachte grimmig „Glaubst du, dass ich alt geboren wurde? Ich habe diesen Weg selbst wohl an die hundertmal benutzt - und vor mir mein Vater und mein Großvater.“
`Übertölpelt!´ Der Gedanke versetzte Ysell schlagartig in helle Wut. Ohne jede Vorwarnung holte sie mit dem rechten Fuß aus und trat mit aller Kraft nach dem Schienbein des Mannes, holte sich an den metallbesetzten, ledernen Beinschützern aber nur einen abgebrochenen Zehnagel. Der plötzliche Schmerz tat ein Übriges. Außer sich vor Zorn und Angst trat und schlug Ysell um sich und hätte dem Wächter bestimmt in die Nase gebissen, wenn der seinen Griff nicht schnell gelockert und sie zu Boden gelassen hätte. Zu Ysells großem Ärger war er aber gewitzt genug, sie rasch bei ihrem Haar zu fassen und sich einige Strähnen um die Hand zu schlingen. So wurde sie denn, leise Verwünschungen vor sich hin zischend, mit hochrotem Kopf an ihren Haaren durch die halbe Stadt zu den Räumen der Wache geschleppt - ihrem Richter entgegen.
„So, so, Hühnermist also!“ Der Richter nahm seinen Hut ab und schaute nachdenklich hinein. „Das muss aber sehr unangenehm sein für die Wachen, wenn du ihnen Hühnermist in die abgelegten Helme tust. - Hast du denn daran nicht gedacht?“
„Äh, nö“, versicherte Ysell treuherzig „Hab ich wirklich nicht.“
„Und treten und schlagen und beißen, wenn man verhaftet werden soll“, fuhr der Richter unbeeindruckt fort „was soll denn das?“
„Och, das war ja nur Spaß“, beteuerte Ysell „Ich hab mich doch gar nicht richtig gewehrt!“.
„So?“ Der Richter schien irgendwelche Zweifel an dieser Darstellung der Dinge zu haben. „Und wer war dein Komplize?“, wollte er dann wissen.
„Welcher Komplize denn?“ Ysell schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich war allein.“
„Stell dich nicht dümmer als du bist!“ Der Richter sah streng auf Ysell hinab. „Also - der kleine Halunke, der mit dir zusammen gesehen wurde - der die Pferde der Wachen losband - wer war das?“
Ysell konnte es nicht verhindern, dass sich ein belustigter Ausdruck in ihre Augen stahl, als sie daran dachte, wie schnell die Wachen aus dem Haus gestürzt waren, nur an die Pferde denkend - eilig die Helme von der Fensterbank greifend ... Sie achtete jedoch sehr darauf, dass das Lächeln ihre Mundwinkel nicht erreichte. „Niemand.“ Ysell richtete sich zu voller Größe auf und sah dem Richter gerade ins Gesicht. „Niemand war bei mir. Ich war allein!“
„Du könntest es dir leichter machen“, schlug der Richter nun in versöhnlichem Tonfall vor „Wenn du mir den Namen des Jungen gibst, würde ich deine Bestrafung noch einmal überdenken.“
Sabé! schrie eine Stimme in Ysell auf. Gib ihm den Namen, dann lässt er dich in Ruhe! Was kann der Richter schon tun? Er wird euch eine kleine Strafe auferlegen, das hält Sabé schon aus! Aber wenn du bockig bist ... Schnell schüttelte Ysell diese verführerischen Gedanken ab. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie den Richter an. „Ich war allein!“, behauptete sie mit fester Stimme „Nur ich kann bestraft werden.“
„Gut!“ Der Richter nickte ernst mit dem Kopf „Wie du willst. - Es ist jetzt die Zeit der Mandelblüte. Du wirst, bis die letzte Mandel geerntet ist, jeden Tag den Platz der Wachen blitzsauber fegen - und achte dabei besonders auf Hühnermist!“
Wenig später gingen Ysell und der Wächter wieder gemeinsam durch die Stadt, denn selbstverständlich mussten Ysells Eltern von dem Vorfall unterrichtet werden. Kleine Staubwolken wirbelten um die Knöchel der beiden, wenn ihnen jemand entgegenkam, und sie zum Straßenrand hin ausweichen mussten. Der Steppenwind war in diesem Frühjahr besonders schlimm und trug eine solche Menge feinen Flugsandes in die Stadt, dass die Menschen halbe Tage damit beschäftigt waren, die Straßen gangbar zu halten. Ysell wurde es schlecht bei dem Gedanken an ihre Strafe. Der Platz der Wachen war groß, und jeden Tag war eine ganze Karrenladung Flugsand zu beseitigen.
Etwas ließ Ysell keine Ruhe; „Was wäre eigentlich geworden, wenn ich, na sagen wir mal, wirklich einen Komplizen gehabt und ihn an den Richter verraten hätte?“, wollte sie jetzt von dem Wächter wissen.
„Du hattest einen Komplizen, das wollen wir doch mal festhalten“, erwiderte der Mann freundlich. Er führte Ysell jetzt am Arm und sein Griff war lange nicht so schmerzhaft wie auf dem Weg zum Richter; „und wenn du ihn verraten hättest, dann müsstest du jetzt sicherlich ein volles Jahr lang den Platz vor der Wache fegen.“
„Ich werde noch verrückt!“, stöhnte Ysells Mutter und rang in offensichtlich größter Seelenqual die Hände. Mit fahrigen Bewegungen goss sie sich einen Becher Wein aus dem Krug ein, den ihr Mann mitgebracht hatte. „Ich werde noch verrückt!“
Ysell saß schweigend und starr auf der Kante des Betts und schaute mit leerem Blick aus dem einzigen Fenster des Zimmers, in dem die Familie wohnte. Es wurde schon Abend, und sie konnte ihre Eltern, die am Tisch saßen, nur noch als Schattenbilder vor dem etwas helleren Geviert erkennen.
„Du bringst deine Mutter noch ins Grab“, stellte der Vater mürrisch fest und sah Ysell böse an. Er hatte von seiner Frau gerade erfahren, was Ysell heute wieder angestellt hatte. „Du wirst unsere Familie noch in Verruf bringen!“
Mit unbewegtem Gesicht saß Ysell da und erwartete die übliche Strafpredigt. Sie machte sich keine besonderen Sorgen, denn sie hatte desgleichen schon zu oft erlebt. Ihre Eltern regten sich immer wahnsinnig auf, wenn sie bei irgend etwas erwischt worden war, aber sie beruhigten sich auch wieder genauso schnell, wenn Ysell keine Widerworte gab. Neu war an der heutigen Situation nur, dass sie der Obrigkeit aufgefallen und vom Richter verurteilt worden war.
„Das musste ja mal so kommen“, schwadronierte der Vater weiter „dass meine Tochter zur Verbrecherin wird! - Verhaftet - das hat es in unserer Familie überhaupt noch nie gegeben!“
Weil du so ein unverschämtes Glück hast! dachte Ysell, denn sie wusste genau, dass der Alte auf seinen Arbeitsstellen mitgehen ließ, was immer er konnte. Sie sagte aber natürlich nichts und ihr Gesicht blieb leer.
„Verhaftet und verurteilt“, stöhnte die Mutter, legte die Hand an die Stirn und trank gleich darauf in großen Zügen den Becher leer - gleich würde sie ruhiger werden, wusste Ysell, und gleich würde der Vater seinen üblichen Wutanfall bekommen. Ysell machte sich bereit, pflichtschuldig zusammenzuzucken, wenn die Faust auf den Tisch krachte.
„Verdammt noch mal!“, brüllte der Vater auch schon los und hob die Hand. Der Schlag fiel heute schwächer aus als erwartet - kaum mehr als ein müdes „Pong“ war zu hören - trotzdem ruckte Ysell hoch und sah ihren Vater angstvoll an.
„Ich habe es dir schon hundertmal gesagt!“, tönte der weiter. „Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, dann brauchst du dich an meinem Tisch auch nicht satt zu essen! Ein solcher Ausrutscher noch - nur ein einziger - und ich jage dich aus dem Haus! - Hast du das jetzt endlich begriffen?“
Ysell versuchte, schuldbewusst auszusehen und nickte schüchtern. Dabei sah sie sich den Tisch an, von dem sie verstoßen werden sollte. - Ein roh gezimmertes, wackeliges Möbel, das schon solange Ysell denken konnte in Ordnung gebracht werden sollte. Die Tischplatte war glatt und fast sauber, denn der verschüttete Wein und die Reste der kärglichen Speisen wurden täglich mit einem Lappen weggewischt. Was auf dem Tisch stand, war auch nicht sehr verlockend: Ein paar schlecht ausgespülte Becher standen neben Wein- und Wasserkanne und ein Stück altbackenen Brotes wartete auf einem Holzbrett auf seinen Verzehr. - Ysells Abendbrot, auf das sie heute, als Zeichen ihrer Bußfertigkeit, allerdings verzichten würde.
„Nein, nein, nein.“ Ysells Mutter hatte ihren Weinbecher wieder gefüllt, aber jetzt trank sie nicht mehr so hastig und auch ihre Hände zitterten nicht mehr. „Da tut man alles für das Kind, und dann ...“ Ihre Stimme erstarb in einem Schluchzen.
„Sie wird’s nicht mehr tun“, brummte der Vater ihr jetzt beruhigend zu. Bei seiner Standpauke hatte er sich vollständig verausgabt und brauchte nun eine Stärkung. Auffordernd hielt er seiner Frau den leeren Becher hin und ließ sich einschenken. „Ich werde noch verrückt“, seufzte die Mutter halbherzig. Ysell war entlassen. Ohne noch ein Wort zu sagen, verzog sie sich unauffällig ins Bett und rollte sich auf ihrem Platz an der Wand zusammen.
Zwei Handmaß nach Hochsonne war Ysell am folgenden Tag auf dem Platz der Wachen. Mürrisch ließ sie sich von einem feixenden Stadtsoldaten ihr Werkzeug, einen riesengroßen, ausgefransten Besen und eine Holzschaufel, aushändigen und machte sich ans Werk. Tief stieß sie die Schaufel in den ersten, flachen Sandhaufen, der sich an der Treppe zum Haus der Wachen angelagert hatte. Vor Ärger und Anstrengung schnaufend trug sie den Sand dann ein paar Schrittmaß weit zu dem Karren, der später den Abfall vor die Stadt bringen würde. Die Schaufel war zu voll und Ysell verstreute den halben Sand auf dem kurzen Weg. - Jedes Körnchen davon würde sie nachher auffegen müssen. Wütend und verbissen arbeitete sie weiter und tatsächlich waren nach einiger Zeit die größeren Sandhaufen verschwunden. Nun erst ging es wirklich ans Fegen.
Schon bald, nachdem Ysell zu arbeiten begonnen hatte, waren andere Kinder aufgetaucht, um ihr die Plackerei zu „erleichtern“. Im Wesentlichen sah dieser „Beistand“ so aus, dass sie die arme Fronarbeiterin mit ungelenken Sprüngen umtanzten und sie dabei nach Kräften verhöhnten. Erst ein paar heftige Angriffe mit dem hoch erhobenen Besen konnten die Bande davon überzeugen, dass es Ysell egal war, ob die Wachen sie beobachteten oder nicht. Da war es doch erheblich sicherer, ein wenig Abstand zu wahren und die Schmähungen dafür ein wenig lauter herauszubrüllen.
„He, Ysell, da liegt noch ein Stäubchen!“, schrie der dumme Eisor quer über den Platz, wobei er höhnisch grinsend in die Ecke bei den Schafställen zeigte. „Mach das weg!“
Ysell hatte sich inzwischen wieder einigermaßen beruhigt und ignorierte den blöden Tölpel vollständig. Eisor war nur ein knappes Jahr älter als sie, und hatte ihr überhaupt nichts zu sagen. Still und verbissen fegte sie weiter den Hof vor der Wache, so wie der Richter es gefordert hatte.
„Ysell!“ Eisor gab keine Ruhe. „Hier ist Dreck - mach ihn weg!“ Beifall heischend sah er sich zu den anderen Kindern um, die mit ihm hierher gekommen waren, um sich an Ysells Schmach zu weiden.
„Hier ist Dreck - mach ihn weg!“, fielen ein paar helle Stimmen ein und wenige Augenblicke später skandierte der ganze Chor den kurzen, einfältigen Vers; dazu schlugen die Kinder im Takt die Hände zusammen.
Ysell spürte Wut in sich aufsteigen. Ein Kribbeln stieg ihren Rücken hinauf und konzentrierte sich im Nacken, knapp unter dem Haaransatz. Ihr wurde es heiß und ihre Hände krampften sich um den Besenstiel. Ysells Gesicht jedoch zeigte den Ausdruck von Gleichmut und Langeweile. Jedes Anzeichen von Ärger hätte die Bande zu weiteren Gemeinheiten gereizt, das wusste sie. - Und noch eines war sicher - lange würde sie sich das sowieso nicht mehr gefallen lassen!
Plötzlich stürmte ein kleines Mädchen an Eisor vorbei in den Schafstall und kam sofort mit zwei Händen voll schmierigen Strohs zurück. „Hier ist Dreck - mach ihn weg!“, kreischte es vergnügt und warf die stinkenden Halme mitten auf dem Platz hoch in die Luft.
Das war zu viel! Vor Wut aufbrüllend schoss Ysell auf das erschreckt zurücktaumelnde Kind zu, holte weit mit dem Besen aus und ließ ihn mit voller Wucht im Halbkreis knapp über das Pflaster zischen. Der Schlag riss dem Mädchen die Beine unter dem Körper weg, so dass es klatschend auf das Steinpflaster schlug.
Jäh verstummte das Geschrei der anderen Kinder und Ysell blieb ernüchtert stehen. Totenblass vor Schmerz und halb betäubt richtete das Mädchen sich auf und schaute ungläubig auf seinen Unterschenkel, der an einer Stelle leicht abgewinkelt war, wo er niemals hätte abgewinkelt sein dürfen.
Endlose Augenblicke lang stand Ysell da und schaute auf das Kind hinab, das in stummem Schmerz sein Bein umklammert hielt und mit angstverzerrtem Gesicht zu ihr aufsah. Andere Gesichter tauchten auf. Gesichter von Kindern und Erwachsenen, die sich zu dem Mädchen hinunterbeugten und sich dann und wann Ysell zuwandten. Es war wie ein Alptraum, denn was Ysell in den Gesichtern sah, war reiner Abscheu vor ihr und ihrer Tat. Schuldig! - Das war es, was Ysell in allen Gesichtern las. Jetzt fing das Mädchen an laut zu weinen, und der Ausdruck in den Gesichtern der Menge wandelte sich zu nacktem Hass. Nichts wünschte sich Ysell mehr, als alles ungeschehen zu machen. Hätte sie sich doch nur besser beherrscht! - Schon lange bevor die Wachen kamen, hatte Ysell ihren Wutausbruch zutiefst bereut.
„Du benimmst dich wie eine Sandviper“, stellte der Richter fest. „So geht das nicht! - Du kannst nicht jeden angreifen, dessen Gesicht dir nicht gefällt.“
„Aber die anderen ...“, wollte Ysell einwenden.
„Schweig!“, donnerte da der Richter plötzlich los und Ysell duckte sich vor der Gewalt seiner Stimme. „Du hast ein Kind schwer verletzt! Ein Kind, das viel kleiner ist als du! - Was immer es auch getan hat - dass es jetzt mit gebrochenem Bein daliegt und lange Zeit Schmerzen leiden muss, das hat es nicht verdient!
„Ich weiß.“ Ysells Stimme war nicht mehr als ein Hauch. „Das wollte ich wirklich nicht. - Es tut mir so Leid.“
Der Richter tat so, als nähme er Ysells Bedauern überhaupt nicht zur Kenntnis. „Da du also mit Menschen nicht umgehen kannst“, fuhr er scheinbar unbeeindruckt fort, „wirst du dich morgen bei den Zwingern der Trosshunde melden. Ein volles Jahr lang sollst du die Magd des Trossmeisters sein und ich rate dir dringend, dein Temperament zu zügeln - denn Trosshunde sind andere Gegner als kleine Mädchen - die können sich nämlich wehren!“
DER ZWINGER
Mit einem sehr mulmigen Gefühl meldete Ysell sich am nächsten Tag bei Trossmeister Bogan, der sie selbst am Tor des Zwingers in Empfang nahm. Trosshunde waren, soweit Ysell wusste, sehr große, halbwilde Tiere, die für alles andere als ihre Freundlichkeit bekannt waren. Nie sah man einen von ihnen in der Stadt, aber die Geschichten, die über sie erzählt wurden, waren Legion - und es waren alles sehr blutrünstige Geschichten.
Alle paar Jahre, wenn die Bevölkerung der Stadt zu groß wurde, und die Ernten nicht mehr ausreichten, um noch alle ernähren zu können, wurde aus mehr oder weniger freiwilligen Kandidaten eine Gruppe gebildet, die `Land machen´ ging.
So fanden sich dann in etwa jedem siebten Jahr Abenteurer und Glücksritter, Machthungrige und Arme zu einem Clan zusammen. Etliche Leute, denen der Boden in der Stadt aus irgendwelchen Gründen zu heiß geworden war, fanden hier genauso Aufnahme, wie Schuldner, denen die Gläubiger im Nacken saßen. Ertappte Gesetzesbrecher konnten sich schlimmerer Strafe entziehen, wenn sie freiwillig in die Verbannung gingen; und die Obrigkeit nutzte gern die Gelegenheit, die Gefängnisse zu leeren. Jeder konnte sich melden und niemand wurde abgelehnt, solange er noch einigermaßen laufen konnte. So waren denn jedes Mal auch viele Alte dabei, die mitgingen, um ihren Familien nicht zur Last zu fallen. In der ärmeren Bevölkerung war es nahezu eine Ehrenpflicht, sich im Alter einem Clan anzuschließen und die Stadt für immer zu verlassen.
Diese Clans gingen natürlich nicht mit leeren Händen. Zelte, Vorräte, Werkzeuge, Waffen und sonstige persönliche Besitztümer mussten transportiert werden. Hoch beladene Tragtiere bildeten den Tross, der vor dem Clan herzog, das Gepäck beförderte und den Weg ebnete. - Diese Tragtiere und auch den Clan gegen die Gefahren der Steppe zu schützen, das war die Aufgabe der Trosshunde.
Trosshunde waren von wuchtigem Körperbau, ungeheuer stark und kannten keine Angst. Sie konnten schneller laufen als ein Pferd, nahmen es auch mit den gefährlichsten Tieren auf; und selbst ein gut bewaffneter Kämpfer sollte der Legende nach keine Chance gegen sie haben. - Mit diesen furchtbaren Tieren sollte es Ysell jetzt jeden Tag zu tun haben. - Ihr war schlecht vor Angst.
„Du wirst dich vor allem um Läufer kümmern“, brummte Bogan, als er mit Ysell über den Hof des Zwingers ging. „Ein Trosshund reinsten Blutes. - Leider nur ein wenig ungehorsam. Ich traue mich selbst kaum, ihn zu berühren - aber du wirst mit ihm schon fertig werden.“
„I-Ist er groß? - Ist er gemein? - Beißt er? “ Ysell konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte. Ein ausgewachsener Trosshund wog weitaus mehr als sie selbst und konnte armdicke Holzknüppel zwischen seinen Kiefern zermalmen. Was, wenn es ihm nun einfiel, sehr ungehorsam zu sein, und ihr kurzerhand ... Ysell mochte nicht weiterdenken. Die Knie wurden ihr schwach und willenlos taumelte sie dem Alten hinterher, der, mürrisch wie er war, natürlich keine Antwort gab.
Auf der anderen Seite des Hofes war das eigentliche Zwingergebäude. Ein Schuppen, dessen eine Seite mit Eichenstäben vergittert war. „Deinen Hund konnte ich hier nicht unterbringen“, erklärte der Alte im Vorbeigehen „Die Gitter würden ihn nicht halten können.“
Endlich stoppte Bogan vor einem geschlossenen Schuppen am Ende des Zwingergebäudes. Betont vorsichtig fingerte er an dem Riegel der schweren Tür herum und Ysell sah ganz genau, dass er sich so hinstellte, dass er von der sich öffnenden Tür gedeckt war, während sie vollständig ungeschützt auf dem Hof stand.
Ysell kam es vor, als habe der Richter sie zum Tode verurteilt und Bogan sei der Vollstrecker. Knarrend schwang die schwere Tür auf. Mit jeder Faser ihres Körpers bereit, beim geringsten Anlass laut schreiend davonzulaufen, starrte Ysell angstvoll in das Dunkel hinein und sah - einen Welpen.
„Das ist dann also Läufer“, stellte Bogan Ysell das Tierchen vor. „der Name täuscht aber - denn laufen kann er noch nicht so gut.“
Der Alte hatte sie belogen! Ysell merkte, wie die Wut in ihr emporkroch. - Er hatte ihr Schauermärchen erzählt und sie zu seinem Vergnügen wie eine Marionette der Angst über den Hof taumeln lassen. Was erlaubte sich dieser Hohlkopf eigentlich? So konnte er vielleicht mit seinen Viechern umspringen, aber doch wohl nicht mit ihr!
„Du verstehst sicher, dass ich ihn wirklich kaum berühren mag“, drang die Stimme des Alten wie von weit her in Ysells Geist. „Ich habe Angst, ihm mit meinen groben Händen wehzutun. - Und was den Zwinger angeht - die Stäbe könnten ihn tatsächlich nicht halten. Er würde einfach dazwischen durchlaufen.“
Heiße Schauer wallten in Ysell auf. Dieser alte Trottel faselte einen so unerträglichen Blödsinn, dass sie es kaum noch aushalten konnte. Sie spürte genau, dass gleich wieder der Zorn in ihr hochkochen würde.
In diesem Moment jaulte der Welpe im Schuppen angstvoll auf und wich mit tapsigen Schritten zurück. Dann überlegte er es sich aber plötzlich anders, das kurze Fell stellte sich in seinem Nacken auf - und blitzartig machte er mit hochgezogenen Lefzen und zurückgelegten Ohren Front gegen Ysell.
„Was ist denn das?“ Ysell schaute fassungslos auf das winzige Tierchen, das zähnefletschend in dem Verschlag stand - und vergaß dabei ganz, sich noch weiter in ihre Wut hineinzusteigern.
„Er hat gespürt, dass du wütend bist“, antwortete Bogan. „Aber er weiß nicht warum. Er denkt, dass du ihn vielleicht angreifen willst.“
„Aber ich habe doch gar nichts gemacht.“
„Ich sagte doch, er hat es gespürt.“
„Du meinst ...“
„Deine bösen Gedanken haben ihn geängstigt.“
„Er kann meine Gedanken lesen?“ Ysell schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wieso zwingst du mich, dir alles zweimal zu erklären?“ Bogan runzelte die Stirn und sah Ysell streng an. Du hörst meine Worte, aber du scheinst sie nicht zu verstehen! - Hier also meine Antwort - und merke sie dir gut: - Ja! Trosshunde können die Gedanken der Menschen deuten, das macht sie so wertvoll. Mehr noch - sie können sogar mit den Menschen sprechen - und das macht sie noch wertvoller.“
„Sprechen?“, rutschte es Ysell heraus. Sie hätte sich ohrfeigen können. „Entschuldigung!“
Bogan lächelte und fuhr fort, als habe sie nichts gesagt. „Noch eins: Ich habe Läufer deinetwegen von seiner Mutter abgesondert, bevor du kamst. - Hätte sie es erlebt, wie du ihr Junges in Angst versetzt hast, dann würde ich dich jetzt zum Heilkundigen tragen müssen - und die Spur meiner Schritte wäre rot von deinem Blut. - Geh jetzt!“, schloss der Alte „Und sei morgen zur Zeit der Frühsonne wieder hier.“
Läufer hatte sich inzwischen beruhigt, und Bogan schloss das Tor des Schuppens. Dann brachte er Ysell zur Straße und verabschiedete sich von ihr. „Bis morgen.“
Verwirrt schlurfte Ysell die Straße entlang und schaute sich noch ein paar Mal nach dem geschlossenen Tor um. Sie brauchte einige Augenblicke, um wieder zu sich selbst zu finden - und als sie sich gefunden hatte, machte sie sofort ihren nächsten Fehler.
Ysells Stolz ließ es natürlich nicht zu, dass sie sich an Bogans Anweisung hielt. Was bildete dieser verrückte Pupser sich eigentlich ein? - Bis morgen? - Er konnte sie doch nicht herumkommandieren wie einen seiner Hunde. Außerdem hatte sie den niedlichen Welpen gesehen und wollte mit ihm spielen - und zwar sofort.
Kaum zweihundert Schrittmaß von dem Zwinger entfernt machte Ysell kehrt und schlug bald darauf abermals an das hohe Tor aus Eichenholz - aber Bogan wies sie schon an der Pforte ab. „Läufer muss sich erst wieder vollständig beruhigen“, sagte er „Er ist im Moment zu nervös, denn er ist nicht an solche Wutausbrüche gewöhnt. Wenn ihr euch morgen beide wieder beruhigt habt, mache ich euch richtig miteinander bekannt.“
„Och, ich schaffe das schon!“, begehrte Ysell auf, aber damit kam sie bei Bogan sehr schlecht an. „Es geht nicht darum, was du schaffst“, erklärte er ihr mit gefährlich leiser Stimme, und seine wasserhellen Augen waren kalt wie Eis. „Viel wichtiger ist es, was Läufer schafft - und ich glaube, für heute hat er genug von dir. Deine Launen und dein Jähzorn haben dich hierhergebracht, und ich bin trotzdem bereit, es mit dir zu versuchen. - Wenn du durch deine unbeherrschte Art aber den Tieren Schaden zufügst, brauchst du nie wieder herzukommen. Geh jetzt!“
Ysell tobte innerlich. Die Wut schnürte ihr förmlich die Kehle zu. Wohl an die tausendmal verfluchte sie den Alten hundert Schrittmaß tief unter die Erde, und sie dachte sich allerlei grausame Todesarten für ihn aus. So groß war ihr Zorn, dass ihr die Straßen der Stadt trotz des hellen Sonnenscheins seltsam verdunkelt schienen. Nicht rechts und links schauend bahnte sie sich grimmig einen Weg über den belebten Marktplatz und erst als sie die Stadt hinter sich ließ, wurde es etwas besser. Endlich konnte sie wieder freier atmen.
Schlimmer noch als der Zorn auf den alten Bogan war aber ihr Ärger über sich selbst. Sie hatte versagt, versagt und noch einmal versagt! Sie hatte sich bei ihrem Streich erwischen lassen - sie hatte dem Mädchen das Bein gebrochen und sie hatte sich heute dem alten Bogan gegenüber aufgeführt wie eine widerspenstige Ziege. Sie hatte sich in allem, was sie tat, so unsagbar dämlich angestellt, dass es ihr die Schamröte ins Gesicht trieb. Dabei hasste sie doch auf der Welt nichts mehr als die Dummheit. Ysell hasste ihre Wutausbrüche, sie hasste ihre Dummheit - ja, sie hasste sich selbst.
Lange folgte Ysell dem Weg bis weit vor die letzten Häuser der Stadt. Der Wind strich durch die grünen Felder und setzte die Halme des Getreides in wogende Bewegung. Großohrige Mäuse huschten unter den Buschreihen, die die Bewässerungskanäle säumten, hin und her. Ein Vogelpaar spielte am Himmel übermütig Fangen und neugierig schauten Pferde von einer entfernten Koppel aus zu ihr herüber. Ysell sah das alles und sah es doch nicht. Gefangen in ihrem Kerker aus Selbstmitleid war die ganze Welt für sie trübe geworden. Lohnte sich das Leben überhaupt noch?
Langsam ging Ysell zu der Pferdekoppel hinüber. Die Tiere kamen an das Gatter, aber als sie merkten, daß Ysell keine Leckereien für sie hatte, wandten sie sich wieder ab. Ysell schickte ihnen ein paar halbherzige Flüche hinterher und verkroch sich verbittert in dem Heuhaufen, der außerhalb der Umzäunung für die Tiere bereitlag. Lange lag sie dort, und nur langsam wichen ihr Hass und ihr Ärger einem Gefühl der Enttäuschung und der Trauer.
Irgendwann hatte Ysell das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Vorsichtig richtete sie sich auf und spähte über den Rand des Heuhaufens hinweg. Eine Gestalt kam den Weg entlang. - Diesen Gang kannte sie doch? - Natürlich, es war Sabé, er musste sie gesucht haben.
„Hau ab!“, brüllte Ysell aus ihrer Deckung heraus. Sabé blieb stehen und schaute sich verwundert um. Verschwinde!“, schrie sie ihn an, sprang schnell auf und nahm eine drohende Haltung ein. „Hau bloß ab!“ Sabé wich einen Schritt zurück, schüttelte kurz den Kopf und ging dann mit hängenden Schultern zur Stadt zurück. Ysell sah ihrem Freund nach. Es tat ihr Leid, aber er durfte nicht näher kommen - denn er sollte ihre Tränen nicht sehen.
„Ich werde noch verrückt!“, jammerte die Mutter, und der Vater schlug am Ende seiner Strafpredigt mit der Faust auf den Tisch. - Zu Hause gab es also nicht mehr Ärger als sonst auch, als Ysell am Abend heimkam. Ihr Vater arbeitete den ganzen Tag als Tagelöhner auf den Feldern und war der festen Überzeugung, Kindererziehung sei allein Frauensache. Die Mutter hingegen mochte mit Ysells Angelegenheiten nicht belästigt werden und ließ, gewissermaßen als Ausgleich dafür, ihrer knapp zwölfjährigen Tochter in fast allen Dingen freie Hand. Ansonsten hatte sie genug damit zu tun, den ganzen Tag im Stadtviertel herumzulaufen und mal mit dieser, mal mit jener Gesinnungsgenossin über die anderen Frauen der Nachbarschaft herzuziehen. Die Eltern waren sehr jung gewesen, als Ysell zur Welt gekommen war, und warum sie sich einst ein Kind gewünscht hatten, das hatten sie schon längst vergessen. Die Mutter hatte bei Ysells Geburt sehr gelitten und wäre fast dabei umgekommen, wie sie gern und oft erzählte. Ysell hatte den Eindruck, dass sie ihr insgeheim einen Vorwurf daraus machte, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen konnte.
Ysell hatte schon früh die Einsicht gewonnen, dass ihre Eltern es als Belastung empfanden, sich um sie kümmern zu müssen. So war sie aus diesem Klima der Kälte und Gleichgültigkeit geflohen und war ihrer eigenen Wege gegangen. Zusammen mit anderen Kindern hatte sie die Straßen des Stadtviertels unsicher gemacht; aber wenn ihre Spielkameraden nach Hause gerufen wurden, hatte Ysell erst richtig losgelegt. Allein hatte es sich fast noch besser Unfug treiben lassen als in der Gruppe, und Ysell war schlau genug gewesen, sich nicht allzu oft erwischen zu lassen.
Dennoch war natürlich den Eltern so manche Schandtat ihrer Tochter zu Ohren gekommen, aber da sie in der Nachbarschaft sowieso nicht in hohem Ansehen standen, war ihnen das eigentlich egal gewesen. Viel ärgerlicher fanden sie da schon das gelegentliche Ansteigen der Weinpreise, denn Wein musste in Ysells Elternhaus immer auf dem Tisch stehen - sonst gab es ernsthaft schlechte Laune.
Immer dreister waren Ysells Streiche geworden, und gleichzeitig hatte sich bei ihr ein Hang zu Tücke und Jähzorn entwickelt. Die anderen Kinder hatten sie wegen ihrer plötzlichen Wutanfälle zu fürchten und zu meiden begonnen, alle - außer Sabé.
Sabé war so etwas wie der gute Geist in Ysells Leben, wenn sie das auch niemals hätte wahrhaben wollen. In ähnlichen Verhältnissen wie Ysell aufgewachsen, allerdings als Spross einer äußerst kinderreichen Familie, hatte auch er schon früh das Leben auf der Straße dem eigenen Elternhaus vorgezogen. Im Gegensatz zu Ysell war er aber eher in sich gekehrt und fiel durch sein ernstes, nachdenkliches Wesen auf.
Ysell und Sabé hatten beide mit dem untrüglichen Instinkt des Außenseiters in dem anderen einen Artgenossen erkannt - und wenn sie sich auch nie die Freundschaft versprochen hatten, so waren sie doch seit Jahren nahezu unzertrennlich. Es war eine Gemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen, das wussten sie beide. Ysell vermochte es immer wieder, Sabé mit ihren verrückten Einfällen aus seinen selbstquälerischen Stimmungen zu reißen, während er sie davor bewahrte, bei den gemeinsam ausgeführten Streichen allzu weit über das Ziel hinauszuschießen. Ysell kannte kein Maß in diesen Dingen; und ohne den zügelnden Einfluss ihres Freundes hätte es mehr als einmal Verletzte gegeben. Mit Schaudern dachte Ysell daran, was der Richter wohl gesagt hätte, wenn Ysell den Wachen statt Hühnermist glühende Holzkohle in die Helme gefüllt hätte, denn das hatte sie zunächst vorgehabt.
Es war gut, Sabé zu kennen. Wenn Ysell überhaupt einen Menschen auf der Welt hatte, dem sie vertraute, dann war er es. Dennoch sollte viel Zeit vergehen, bis sie ihn wiedersah, denn Ysells Leben änderte sich nun so dramatisch, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.
Am nächsten Morgen erwachte Ysell mit besserer Laune, und es war, als habe der Schlaf allen Ärger und alle Sorgen von ihr abgewaschen. Sie hatte in der Nacht von Läufer geträumt und noch immer meinte sie, das kuschelige Fell des Welpen unter ihren Händen zu spüren.
Wie er sich wohl in Wirklichkeit anfühlte? Rasch sprang Ysell aus dem Bett und eilte zum Fenster. Es war erst zwei Fingermaß nach Sonnenaufgang. Schade! - Gerne wäre sie sofort zum Zwinger gelaufen, aber Bogan hatte sie ja erst für viel später bestellt. Zum Glück fiel Ysell dann aber ein, dass sie es mit der Tageszeit nicht so genau nehmen musste. Sie war ja schließlich fast noch ein Kind. Sollte Bogan ärgerlich sein, weil sie zu früh kam, dann konnte sie ja immer noch so tun, als könne sie Hand- und Fingermaß noch nicht so richtig voneinander unterscheiden. Also nahm Ysell sich vor, pünktlich ein Handmaß vor Frühsonne beim Zwinger zu sein, und ihr Glück zu versuchen.
TROSSHUNDE UND TRAGTIERE
Bogan war nicht ärgerlich, als Ysell pünktlich zwei Handmaß vor Frühsonne vor dem Tor des Zwingers stand. Im Gegenteil, er freute sich sogar, soweit Ysell das bei dem alten Miesepeter feststellen konnte. - Jedenfalls ließ er sie ein.
Wenn Ysell jetzt aber erwartet hatte, sofort zu Läufer geführt zu werden und den ganzen Tag lang mit ihm spielen zu dürfen, dann hatte sie sich gründlich geirrt.
Bogan führte sie vom Tor aus direkt zu einem Schuppen, aus dem ihr ein so schrecklicher Gestank entgegenschlug, dass es ihr fast den Atem verschlug. In dem Schuppen waren gerade vier junge Leute, die Bogan als Aufspürer vorstellte, dabei, Fleischabfälle aus offenen Fässern auf große Fressnäpfe zu verteilen. Die Fässer waren auf einem flachen Karren befestigt. Ein junger Mann balancierte auf dem Rand der Plattform und holte mit einer großen, plumpen Schöpfkelle Dinge aus den Fässern hervor, die Ysell noch nie im Leben gesehen hatte. „Innereien“, erklärte Bogan „Gut für Hunde. Innereien fressen sie am liebsten. - Geh auch mal da rauf.“
Augenblicke später fand sich Ysell, krampfhaft bemüht, nicht gänzlich vornüber zu kippen, bis zu den Hüften in ein Fass gebeugt wieder. Als Neuling stand ihr natürlich die „beste“ aller Arbeiten zu und sie musste mit ihren bloßen Händen die kleinen Fleischstücke vom Boden der Fässer angeln, die ihr Kollege mit der klobigen Schöpfkelle nicht aufnehmen konnte.
Die Aufspürer brachten einen Napf nach dem anderen zum Zwingergebäude und kamen so wenigstens für kurze Zeit in den Genuss atembarer Luft. Nur Ysell schuftete in der stinkenden Baracke ununterbrochen stumm und verbissen vor sich hin.
Danach hieß es Wasser schleppen. Fässer, Karren, Fußboden und Arbeitstisch mussten peinlich sauber geschrubbt werden. Nicht ein Fleischfetzchen durfte Bogan noch vorfinden, wenn er kontrollieren kam, denn sonst gab es furchtbaren Ärger, wie Ysell erfuhr.
Viel später, es war schon zwei Handmaß vor Hochsonne, ging Ysell langsam über den Hof - abwechselnd tief gebückt oder im Entengang. Zwei dünne Brettchen in den Händen, kümmerte sie sich um die Hinterlassenschaften der Trosshunde. Der Kot wurde täglich entfernt und war deshalb auch nicht ausgetrocknet. Ysell begann, Trosshunde zu hassen.
Endlich, zur Zeit der Hochsonne, nachdem sie noch etliche leere Zwinger geschrubbt hatte, durfte sie sich selbst waschen und ein wenig ausruhen.
In dem Futterschuppen und während der Drecksarbeit auf dem Hof hatte Ysell gedacht, dass ihr nie wieder ein Essen richtig schmecken würde, aber der köstliche Duft, der ihr aus der Gemeinschaftsbaracke entgegenschlug, überzeugte sie schnell vom Gegenteil. An warmes Essen war Ysell nicht gewöhnt. Ihre Mutter kochte nur selten und der Vater war’s zufrieden. „Für das bisschen, was ich esse, trinke ich lieber ein wenig mehr“, pflegte er zu sagen und Ysell konnte nur bestätigen, dass das aufs Wort stimmte.
Die beiden Trossleute, die heute Küchendienst taten, hatten sich angestrengt, und das Essen war ihnen hervorragend gelungen. Klein geschnittenes, gebratenes Fleisch war mit vielen verschiedenen Gemüsesorten zu einem würzigen Gericht verkocht worden und Ysell stellte sich brav am Ende der Schlange an, um ihren Anteil zu erhalten. Kurz darauf balancierte sie einen Holzteller und einen ebensolchen Löffel zum nächsten Tisch, an dem noch ein Platz frei war. Ysell hatte nicht gewusst, dass bei den Trosshunden und Tragtieren so viele Menschen arbeiteten, es mussten an die dreißig Frauen und Männer sein, die hier in der Pause zusammensaßen.
Ysell löffelte genüsslich ihr Essen. Es schmeckte noch besser, als es gerochen hatte, und auch als Pekan, ein junger Trossmann von der Tragtierzucht, ihr erklärte, das Essen sei nur deswegen so gut, weil Bogan persönlich jeden Tag die besten Stücke aus den Futterfässern angle, ließ sie sich nicht stören. Sie nickte nur verstehend und besonders genüsslich schmatzend mit vollem Mund, worauf sich Pekan kopfschüttelnd zurückzog.
Bogan selbst aß auch in der Gemeinschaftsbaracke. Nach dem Mahl saß man noch eine Weile zusammen und Bogan unterhielt sich mit einigen Leuten. Er hörte sich an, was für Probleme sie bei der Arbeit hatten, erkundigte sich nach bestimmten Tieren und gab einige Anweisungen und Ratschläge. Ysell spürte, dass alle Anwesenden hier Bogan hoch achteten und seine Meinung respektierten. Ysell war allerdings nicht so ganz zufrieden mit dem Alten - er sollte sie jetzt endlich zu Läufer bringen!
Als habe Bogan ihre Gedanken erraten, stand er nun auf und kam an Ysells Tisch. „Na, wollen wir jetzt mal sehen, was Läufer so macht?“, fragte er Ysell „Dann wasch mal schnell deinen Teller ab und komm.“
Blitzschnell war Ysell auf den Füßen und flitzte zu den Wassereimern, die neben einem Tisch standen. Augenblicke später war sie bereit.
„Wie hat dir denn das Essen geschmeckt?“ wollte Bogan wissen, als die beiden zusammen über den Hof gingen.
„Dafür, dass das Fleisch aus den Fässern kommt, nicht schlecht.“ Ysell meinte, sich eine kleine Frechheit schon erlauben zu können.
„Ja, ja“, sagte Bogan, der den alten Witz sehr wohl kannte „Ich gebe mir auch immer sehr viel Mühe bei der Auswahl.“
Ysell blieb stehen und starrte Bogan mit offenem Mund an. Dann musste sie krampfhaft schlucken und etwas in ihrem Magen machte einen kleinen Hopser. Konnte es sein, dass er wirklich ... Bogan drehte sich zu ihr um und sein Gesicht war todernst - aber nicht lange. Da begriff Ysell, Bogan konnte nicht nur streng sein, er war auch ein altes Schlitzohr und konnte mit gleicher Münze zurückzahlen. So kamen die beiden mit einem Lächeln auf dem Gesicht bei Läufer an.
Vor die Bekanntschaft mit Läufer hatten die Götter erst einmal Ysells Prüfung durch Läufers Mutter gesetzt. Den kantigen Kopf misstrauisch gesenkt, stand sie vor ihren Welpen, als Bogan die Tür des abgelegenen Schuppens geöffnet hatte. Ysell getraute sich keinen Schritt weiterzugehen. Die Hündin hatte, genau wie der kleine Läufer, tiefschwarzes, kurzes Fell; aber sie war so erschreckend groß - sie hätte Ysell das Gesicht lecken können, ohne die Vorderpfoten vom Boden zu nehmen. Noch nie hatte Ysell einen so gewaltigen Hund gesehen. Die Hündin hechelte. Ihre Reißzähne waren so lang wie Ysells Daumen - und auch genauso dick. Diese Hunde sollten sprechen können, hatte Bogan gesagt? Oh ihr Götter! - Hoffentlich hatte Läufer sich nicht über sie beschwert.
Bogan hatte kein Wort gesagt und dem Tier auch kein Zeichen gegeben, als die Hündin plötzlich den Blick von Ysell nahm und zu ihm aufschaute, als habe sie ein Kommando vernommen. Dann ging sie langsam auf Ysell zu, beschnüffelte ihre Hand - und gab den Weg in den Schuppen frei.
„Geh nur“, wurde Ysell von Bogan ermuntert. Ich habe ihr gesagt, dass du freundlich bist, du brauchst keine Angst mehr zu haben.“
„Ich habe keine Angst“, presste Ysell hervor, denn die Furcht schnürte ihr die Kehle zu.
„Dann muss Féira sich wohl irren“, stellte Bogan fest „Das ist seltsam, denn sie irrt sich fast nie.“
„Féira heißt sie? Kann sie spüren, was ich denke?“ Ysell stand wie angewurzelt da. Der große Hund machte ihr immer noch Angst.
„Sie spürt, was ich denke“, erklärte Bogan „Bei dir spürt sie nur, was du fühlst. Sie hat dich übrigens Zweibein-Welpe genannt. Sie sieht keine Bedrohung in dir.“
Zweibein-Welpe! - Das gab Ysell den nötigen Schub. Sie sah sich eher als junge Frau und wollte auch entsprechend behandelt werden. Tapfer ging sie in den Schuppen hinein und schaute sich nach Läufer um.
Obwohl im Schuppen nur Dämmerlicht herrschte, erkannte Ysell Läufer sofort. Die Welpen lagen alle auf einem Lager aus Stroh. Läufer thronte in der Mitte und nuckelte am Ohr eines Geschwisterchens. Plötzlich aber, als habe sie ihn gerufen, ließ Läufer Ohr Ohr sein und sah Ysell an. Hastig strampelte er sich aus dem Nest heraus.
Ysell sah den Welpen an und beugte sich zu ihm nieder. Läufer schien ihr nichts nachzutragen; neugierig kam er auf seinen dicken Pfoten angetapst und sah sie treuherzig an. Ysell spürte, wie etwas in ihrem Inneren nachgab und ganz weich wurde. Liebevoll hielt sie dem Tierchen zur Begrüßung den Zeigefinger entgegen und konnte sich vor Lachen kaum halten, als es unverzüglich anfing, daran zu saugen.
„Nun, Ysell - wie hat dir der erste Tag deines Dienstes gefallen?“, wollte Bogan später wissen und schaute sie ernst an.
„Hm - ja - ganz gut.“ antwortete Ysell, denn es war ja wirklich nicht alles nach Wunsch verlaufen.
Bogan ließ sich durch das Zögern nicht beeindrucken. „Dann kann ich also morgen wieder mit dir rechnen.“ Das war keine Frage, das war eine Feststellung.
„Ja“, bestätigte Ysell „Natürlich!“
„Dann bis zwei Handmaß vor Frühsonne.“ Ysell war für heute entlassen. Sie ging auf direktem Weg nach Hause, verschmähte ihr „Abendessen“ und fiel sofort todmüde ins Bett. Eigentlich hätte sie ja Sabé suchen und ein wenig mit ihm plaudern können - aber das ließ sich ja immer noch nachholen.
Mit jedem Tag, den Ysell länger im Zwinger arbeitete, trat ihr vorheriges Leben mehr und mehr in den Hintergrund. Bald schon konnte sie sich kaum noch vorstellen, dass sie früher den ganzen Tag lang in der Stadt herumgelaufen war. Die Langeweile, die sie früher zu den wildesten Streichen getrieben hatte, war vollständig verflogen. - Im Gegenteil: Ysell hatte manchmal den Eindruck, die Tage seien kürzer geworden - zu kurz, um all das zu erledigen, was zu tun war.
Früh am Morgen schon stand sie jeden Tag vor dem Tor des Zwingergeländes und begehrte Einlass. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, kurz bei Féira und ihren Welpen vorbeizuschauen, bevor der reguläre Dienst begann. Bald schon forderten die Trossleute Ysell dann für alle möglichen Arbeiten auf dem Gelände an. So half sie ihnen, Futter und Wasser zu den Gattern der Tragtiere zu schleppen, fasste mit an, wenn es galt, die Gehege zu reinigen und machte sich nützlich, wo immer sie konnte - alles, um zur Hochsonne und am Abend schnell noch ein paar Fingermaß lang mit Läufer spielen zu dürfen. Nach Einbruch der Dunkelheit wankte sie dann todmüde nach Hause und schlief so lange, bis es Zeit war, wieder zum Zwinger zu gehen. Es war kein böser Wille, der Ysell davon abhielt, Sabé zu suchen, und ihm von ihrem neuen Leben zu erzählen - sie hatte einfach keine Zeit.
Ysell war dabei, die Zaunpfosten eines Gatters dick mit einer übel riechenden, braunen Paste anzustreichen, um sie vor dem ewig schmirgelnden Sand, den der Steppenwind zwischen sie wirbelte, zu schützen. Sie schaute den Zaun entlang, aber die nächsten Trossleute waren über hundert Schrittmaß weit entfernt im nächsten Gehege - keine Chance, sich ein wenig mit ihnen zu unterhalten. Die Gatter waren schon alt und nur der guten Pflege durch Bogan und seine Vorgänger war es zu verdanken, dass überhaupt noch etwas davon vorhanden war. Ein schutzlos dem Wind ausgesetztes Stück Holz hätte dem stetigen Ansturm der dünnen Staubfahnen nicht standhalten können und wäre innerhalb weniger Jahre zu Pulver zerrieben worden. Ysells Arbeit war also wichtig, das wusste sie, aber sie war auch eintönig und lästig. So sehr sie sich auch einzureden versuchte, dass es eine große Ehre sei, den Zaun der Tragtiere vor dem Zerfallen zu bewahren, der Spaß an der Arbeit wollte sich heute einfach nicht einstellen. So verlängerte Ysell ihre Qualen auch noch unnötig, indem sie trödelte. Lustlos tauchte sie den Pinsel in die zähe Pampe und schmierte das Zeug widerwillig und missmutig auf die Pfosten. Obwohl es erst ein Handmaß vor Frühsonne war, taten ihr schon jetzt die Finger und Handgelenke weh.
Wenn doch bloß irgend etwas passieren würde, das sie von dieser Fron erlöste. - Ein Sandsturm vielleicht, oder ein Wolkenbruch, der das Land überschwemmte - vielleicht sogar ein Steppenbrand, der das Gehege bedrohte. - Das wäre richtige Arbeit! Da könnte man sich bewähren! Sie, Ysell, würde als Einzige dem Sturm trotzen und die Tragtiere ungeachtet der sie umtosenden Sandmassen in Sicherheit bringen. - Oder wenn bei der Überschwemmung alle anderen nur darauf bedacht waren, nicht zu ertrinken, würde sie sich heldenhaft in die Fluten stürzen und die Tiere auf den nächsten Hügel treiben. - Und bei einem Steppenbrand erst! Da würde sie ...
Ysell war ganz in ihrem Heldentraum gefangen und hörte das Herannahen der zwei kämpfenden Hengste zu spät. Die weichen Fußballen der Tragtiere verursachten kaum ein Geräusch auf dem sandigen Boden der Koppel.
Plötzlich stürmten zwei große Schatten auf der anderen Seite des Zauns heran und krachten in vollem Lauf gegen die Planken. Das oberste der drei langen Hölzer zerbrach mit einem splitternden Laut und Ysell sprang schnell zurück, um nicht von den herabfallenden Teilen getroffen zu werden. Der Pinsel fiel ihr aus der Hand und der Eimer mit dem Schutzanstrich kippte um, als der schwere Balken auf ihn fiel.
Die zwei Tragtiere, die in den Zaun hineingerannt waren, wirbelten herum und durchquerten die Koppel abermals in rasendem Galopp. Ysell erkannte Jomo und Arkas, zwei von Nekois Hengsten. Arkas war Jomo dicht auf den Fersen und trieb ihn mit Bissen in die Kruppe und den Höcker vor sich her. Arkas war viel schneller als Jomo und jedes Mal, wenn dieser die Richtung ändern wollte, war er schon neben ihm und trieb ihn weiter auf den gegenüberliegenden Zaun zu. Wieder krachte Jomo gegen die Balken und Arkas drängte mit seinem Körper unbarmherzig nach. Dabei schnappte er nach der Schulter seines Rivalen und riss ihm das Fell auf einer handtellergroßen Fläche aus.
Blass, die Hände zu Fäusten geballt, stand Ysell dort, wohin der Schreck sie gebannt hatte, und wusste nicht, was sie tun sollte. Es war Paarungszeit, und in allen Gehegen kämpften die Hengste um die Stuten, das wusste sie; aber das hier war kein normaler Kampf mehr. Jomo hatte verloren, er war auf der Flucht, das musste Arkas doch erkennen, aber er ließ Jomo nicht in Ruhe. Immer wieder bedrängte er ihn mit Bissen und presste ihn mit groben Stößen gegen das Gatter. Jomo war vor Angst halb wahnsinnig; offenbar wusste er nicht, was er tun sollte, denn Arkas verstieß gegen alle Regeln. Schließlich machte er sich mit einer verzweifelten Anstrengung wieder von dem Angreifer frei und floh mit schäumendem Maul quer über das Gelände. Ysell erkannte, dass er genau auf die Lücke im Zaun zuhielt, hinter der sie stand. Sie wollte fortlaufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Verzweifelt riss sie die Arme hoch, damit die Tiere sie nicht überrannten. Entsetzt sah sie, wie Jomo zum Sprung über die beiden unteren Querbalken ansetzte, und erst im letzten Moment schaffte sie es, sich zur Seite zu werfen, aber da flogen auch schon zwei riesige Schatten über sie hinweg und der Boden erzitterte unter dem Aufprall zweier schwerer Körper. Jomo war schlecht aufgekommen und gestürzt, und Arkas war voll in ihn hineingerannt. Nun wälzten sich beide Tiere in einem wirbelnden Knäuel aus Zähnen, Beinen und zotteligem, sandfarbenen Fell auf dem Boden.
Plötzlich war Nekoi da. Ungeachtet der Gefahr rannte die ältere Trossfrau auf die Tiere zu, die sich gerade wieder aufrappelten; in der Hand hielt sie den dünnen Strick mit der Schlinge, das Hauptwerkzeug der Trossleute.
Ysell richtete sich auf und sah, wie Nekoi versuchte, die Schlinge um beide Vorderbeine von Arkas zu bringen, sie erwischte jedoch nur eines davon und der Hengst riss ihr mit einer unwilligen Bewegung den Strick aus den Händen. Es schien Ysell, als werfe Arkas dem fliehenden Jomo noch einen letzten abfälligen Blick zu, dann setzte er sich wieder in Trab und sprang mit einer hochmütig-eleganten Bewegung in das Gehege zurück. Die Schlinge um sein linkes Vorderbein saß fest und das Seil schrammte mit einem sirrenden Geräusch über das Holz.
Plötzlich stutzte Arkas. Drei andere Trossleute waren auf der Koppel aufgetaucht und stellten sich ihm im Halbkreis entgegen.
Ysell konnte erkennen, dass das Geschlecht des Hengstes angeschwollen war. Wütend starrte er die Männer an und scharrte unruhig im Staub.
„Er will zu den Stuten!“, rief Nekoi aufgeregt den anderen zu. „Bringt ihn zu Fall! Er darf sich nicht paaren!“
„Aber er hat doch gewonnen“, wandte Ysell halblaut ein. Niemand achtete auf sie. Langsam ging sie zum Zaun, um den Fortgang des Kampfes zu beobachten.
Arkas hatte keinesfalls die Absicht, sein Recht auf Paarung aufzugeben. Zögernd machte er ein paar Schritte auf die Trossleute zu. Das Seil ringelte sich im Staub wie eine Schlange, die sich in sein Bein verbissen hatte. Nekoi schwang sich eilig durch die Lücke im Gatter - und dann ging plötzlich alles ganz schnell.
Arkas wandte den Kopf Nekoi zu, die sich ihm von hinten näherte, und wich tänzelnd zur Seite aus. Darauf hatten die anderen Trossleute nur gewartet, zwei Schlingen flogen heran und legten sich um seinen Hals. Arkas schnaubte zornig auf und stieg steil nach oben. Seine Beine wirbelten in wilder Abwehr durch die Luft, da legte sich eine weitere Schlinge um das andere Vorderbein. Nun konnte auch Nekoi ihr Seil wieder aufnehmen und das Schicksal des Hengstes war besiegelt; es dauerte nur noch Augenblicke, bis er mit einem dumpfen Laut zu Boden stürzte.
„Hol Bogan!“, rief Nekoi Ysell zu „Beeil dich!“
Wenig später stand Ysell keuchend vor Bogan und berichtete ihm in kurzen Worten, was geschehen war.
„So, Arkas also.“ Bogan nickte grimmig - „Nun, das haben wir schon lange geahnt.“ Ein böses, kurzes Schnaufen ausstoßend ging er zu einem Wandschrank, dem er eine längliche Metallkassette entnahm. Mit schnellen Bewegungen stellte er den Kasten auf den Tisch, öffnete ihn und überprüfte den Inhalt. Ysell sah ein Messer mit kurzer, nach innen gebogener Klinge und einige Flaschen, die Bogan jetzt anhob, in der Hand wog und kurz schüttelte. Offenbar war er mit dem Ergebnis zufrieden, denn er verschloss den Kasten wieder und klemmte ihn sich unter den Arm. „Weißt du, was ich gleich tun werde?“, fragte er Ysell.
„Ich - ich glaube ja.“
„Du musst es nicht mit ansehen“, sagte Bogan im Hinausgehen. „Du kannst auch hier bleiben.“
Ysell war es übel vor Aufregung. Nichts hätte sie im Moment lieber getan, als möglichst weit von dem Gehege fortzubleiben. „Kann ich dir dabei helfen?“, fragte sie unsicher.
„Vielleicht“, antwortete Bogan „Aber ich will zusehen, dass ich allein zurechtkomme.“
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