PORTALFEUER - Michael Stuhr - E-Book

PORTALFEUER E-Book

Michael Stuhr

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Beschreibung

Bis vor wenigen Monaten war Moulder-City eine sterbende Stadt, da die Ölquellen vollig versiegt waren. Plötzlich sprudelt der wertvolle Rohstoff jedoch wieder reichlicher als je zuvor. Jeffs Vater verdient beim Wachdienst der Moulder-Oil-Company nicht schlecht, und die Familie ist zufrieden. Eines Tages wird er aber bei einem Dienstunfall schwer verletzt. Jeff und seine Schwester versuchen herauszubekommen, warum der Unfall vertuscht werden soll; statt auf Antworten stoßen sie aber nur auf immer neue Fragen: Wie kommt ein haiähnliches Wesen mitten ins Weideland? Warum beschäftigt die Förderfirma einen Astrophysiker? Und die größte Frage von allen lautet: Wo kommt eigentlich das Öl her, das Moulder wieder zu einer reichen Stadt gemacht hat? Ein spannender Actionroman um junge Leute auf der Suche nach der Wahrheit, geschrieben vom Verfasser der Reihe "Das Team". 282 Standardseiten Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie künftig bitte auf das Qindie-Siegel.

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Seitenzahl: 286

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Michael Stuhr

PORTALFEUER

Science-Mystery

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

EPILOG

Leseprobe

Prolog "DAS GESCHENK"

Impressum neobooks

PROLOG

EIN TAG IM HERBST

NEBENWELT

Der Drache trieb mit ruhigen Bewegungen seiner Schwingen in den höheren Schichten der Atmosphäre dahin, aber er war wachsam. Er hatte lange keine Nahrung gehabt und der Hunger war um diese Jahreszeit besonders gefährlich. Schon bald würde die kalte Witterung ihn zu träge für die Jagd werden lassen, und wenn er den Winter überleben wollte, musste er vorher noch Beute machen. Schon jetzt war es an manchen Tagen so kalt, dass die Beutetiere sich in ihren Höhlen verkrochen und von ihren Vorräten lebten.

Sanft griff der Wind unter die grauen, ledrigen Schwingen und der Drache schwebte ohne jede Kraftanstrengung hoch über einem nebelverhangenen Wald flacher, farnähnlicher Gewächse, als er plötzlich einen schwachen, rötlichen Blitz und eine Bewegung in der Ferne wahrnahm.

Sofort ruckte der flache Kopf herum. Er verlagerte sein Gewicht, ließ sich in einer lang gezogenen Kurve näher herantreiben und benutzte das Fernaugenpaar.

Die starke Vergrößerung zeigte ein leichtsinniges Lebewesen, das einsam auf dem flachen, von dichtem Schlingkraut überwachsenen Boden stand. Der große Kopf und die zwei Beine ließen keinen Zweifel zu: Ein Beutetier! Es strahlte einen unverkennbaren Impuls von Angst aus.

Der Drache stellte fest, dass sein Opfer unbewaffnet war. Er hatte es schon erlebt, dass Beutetiere sich wehrten. Noch heute spürte er die Narbe, die eine tiefe Wunde von einem angespitzten Stock hinterlassen hatte. Nicht, dass es der Beute letzten Endes etwas geholfen hätte, aber es hatte den Drachen vorsichtig gemacht.

Von diesem Tier hier drohte keine Gefahr. Der Drache bewegte seine Schwingen ein wenig und ließ sich in einer großen Schleife tief hinabsinken, um sich in eine günstige Angriffsposition zu bringen. Die Nebelfetzen über dem überall wuchernden Schlingkraut gaben ihm gute Deckung. Kaum eine Handbreit über dem Boden glitt er schlangengleich mit hoher Geschwindigkeit dahin. Noch hatte die Beute ihn nicht bemerkt. Die bernsteinfarbenen Augäpfel rollten eine Vierteldrehung weit und das Pupillenpaar für den Nahbereich kam unter den knochigen Augenwülsten zum Vorschein.

Plötzlich flimmerte die Luft hinter der Beute und aus dem Nichts tauchten zwei weitere Beutetiere auf. Auch sie strahlten die typischen Impulse aus, die irgendwo zwischen Besorgnis und Angst lagen. Auch sie waren unbewaffnet. Der Drache kümmerte sich nicht um sie. Er hatte sein Opfer bereits ausgewählt und hielt unbeirrt darauf zu.

Die Gestalten bewegten sich unsicher, sahen nach hier und nach dort, aber den mit hoher Geschwindigkeit angreifenden Drachen bemerkten sie nicht. Zu perfekt verschwamm das blasse Grau der schuppigen Haut in den Nebelfetzen.

Im letzten Moment bewegte der Drache seine Schwingen und schoss vor den wie erstarrt dastehenden Gestalten aus dem Dunst empor. Die Angstimpulse verstärkten sich zu einem einzigen gemeinsamen Aufschrei.

Es war ein sehr großes Beutetier, aber es leistete nicht den geringsten Widerstand und es hatte auch gar keine Chance dazu. Die mächtigen Kiefer schlossen sich krachend um den Schädel, und der Schwung des Drachen fegte sein Opfer von den Füßen. Der leblose Körper wurde noch ein Stück weit mitgerissen. und sank dann kraftlos nieder.

Eilig hockte der Drache sich mit halb abgespreizten Schwingen in Drohhaltung über seine Beute, um seinen Anspruch auf das Futter zu sichern, denn er spürte, dass ein raubgieriger Konkurrent in der Nähe war.

Hass- und Neidimpulse aussendend kam ein weit kleinerer Drache über das Schlingkraut herangeschossen. Er sah sehr hungrig aus und seine Gedanken waren ganz auf Angriff ausgerichtet.

Der Drache über der Beute machte sich bereit, um sein Fressen zu kämpfen. Sein Gegner kam flach über dem Boden mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu, aber dann war er plötzlich in einem rötlichen Blitz verschwunden.

KAPITEL 1

DONNERSTAG, 04:37 AM

MOULDER-CITY

Der schwere Peterbilt-Truck zog eine Fahne aus schwarzen Rußwolken hinter sich her, als er den Highway erreichte und Geschwindigkeit aufnahm. In der morgendlichen Stille war das Geräusch des mächtigen Dieselmotors meilenweit zu hören, das immer wieder aufdröhnte, als der Fahrer hochschaltete, Die mehr als einen Meter hohen Reifen unter dem randvollen Tankauflieger begannen auf dem Asphalt zu singen, als die Tachonadel über die Fünfzig-Meilen-Marke stieg. Noch nahm der Fahrer das Gas nicht zurück. Mehr als achttausend Gallonen Premium-Benzin im Rücken ließ er den Truck mit fünfundsechzig Meilen in der Stunde den Highway rund um Moulder-City entlangschießen. Er hatte es eilig, denn der Disponent der Moulder-Oil-Company hatte ihm gerade mal einen einzigen Tag für die Fahrt zu den Tankstellen in Galveston gegeben.

Rechts zogen die letzten Häuser der Stadt vorbei und voraus kreuzte die Interstate. Die Siebe der Schalldämpfer waren nicht mehr ganz in Ordnung, und beim Herunterschalten wehten ein paar glimmende Rußpartikel aus dem hoch aufragenden Doppelauspuff über den Tankauflieger. Der Fahrer merkte nichts davon, oder es machte ihm nichts aus. Zügig bog er auf die Interstate ab und wechselte sofort in den nächsthöheren Gang, als er die freie Strecke vor sich hatte.

Das Geräusch des Trucks war noch nicht in der Ferne verklungen, als bereits der nächste Tanklastzug den Highway erreichte.

Knapp eine halbe Meile von der Stelle entfernt, an der der Highway und die Interstate sich kreuzten, drehte Jeffrey O´Bannion sich im Bett um und murmelte im Schlaf ein paar unverständliche Worte. Eigentlich störte ihn das entfernte Geräusch der Tag und Nacht vorüberziehenden Tanklaster nicht, aber seit er mit seiner Familie hierhergezogen war, träumte er jede Nacht davon, einen schweren Truck zu lenken, der nach und nach immer mehr außer Kontrolle geriet. Der Traum endete jedes Mal damit, dass er völlig hilflos mit hoher Geschwindigkeit auf eine Stadt zu raste, ohne abbremsen zu können.

Obwohl es recht nahe an den zwei Hauptverkehrsadern von Moulder lag, war das Haus, das die O´Bannions jetzt seit einem Vierteljahr bewohnten so etwas wie ein Paradies für Jeff. Sein Vater war bis vor kurzem bei der Militärpolizei in Fort Worth gewesen und so hatte die Familie in all den Jahren nur die engen Unterkünfte kennen gelernt, die man den Soldatenfamilien zur Verfügung stellte. Hier dagegen bewohnte Jeff zusammen mit Shereen, seiner knapp ein Jahr älteren Schwester, das gesamte Dachgeschoss, in dem es sogar ein eigenes Badezimmer gab. `Luxus pur´, fand Jeff, und da konnte ihn das bisschen Gebrumme von den Schnellstraßen rundum nicht wirklich stören.

Schon bog der nächste Tanklaster auf die Interstate ein und das auf- und abschwellende Motorgeräusch drang aus der Ferne durch die halb geöffneten Fenster herein. Irgendein lockeres Blech schepperte an dem Fahrzeug. Weit vor der Stadt leuchtete es über den alten Ölfeldern kurz rötlich auf, wie von einem fernen Gewitter. Jeff drehte sich wieder auf die andere Seite und schlief weiter.

Bislang war Jeffrey O´Bannion nicht sehr vom Leben verwöhnt worden. Mit seinen siebzehn Jahren war er mit der Familie zusammen schon viermal umgezogen, was für ein Soldatenkind eigentlich noch ziemlich wenig ist. In den verschiedenen Schulen, die er in Andrews, Mannheim und Fort Worth besucht hatte, hatte er Zwölfjährige getroffen, deren Väter schon fünfmal versetzt worden waren.

Einerseits hatte Jeff dieses Leben recht interessant gefunden. Besonders die zwei Jahre in Deutschland hatten ihn sehr beeindruckt. Dass es ein Land geben könnte, in dem Baseball nahezu unbekannt war und selbst Jugendliche in aller Öffentlichkeit rauchten, ohne dass sich jemand daran störte, das hatte er nicht vermutet. Und dann gab es da noch die Autobahnen...

Jeffs Vater hatte sich, als sie nach Deutschland gekommen waren, in einem Anfall von Leichtsinn einen gebrauchten Dreier-BMW von einem Kameraden gekauft, der in die Staaten zurückging. Eines Nachmittags, Jeff war mit seinem Vater unterwegs gewesen, um ein paar Besorgungen zu machen, waren die beiden auf die Idee gekommen, mal auszuprobieren, was der Wagen so leistete. Kurz entschlossen war Jeffs Dad auf die Autobahn Richtung Heidelberg eingebogen und hatte Vollgas gegeben. Niemals im Leben würde Jeff den Stolz vergessen, als der Wagen nach einigem Anlauf auf der schnurgeraden Strecke die unglaubliche Geschwindigkeit von über hundertachtzig Stundenkilometern erreichte. Mit voll durchgetretenem Gaspedal hatten sie alle anderen Fahrzeuge überholt und weit hinter sich gelassen. – Mehr als hundertzehn Meilen in der Stunde! Jeff und sein Dad hatten sich in diesem Augenblick wie die Könige der Autobahn - ach was - wie die Könige der Welt – gefühlt, bis plötzlich ein mit Bauarbeitern besetzter und mit Farbkübeln und einer Aluleiter auf dem Dach beladener Omega-Kombi lässig an ihnen vorbeigezischt war.

Die Rückfahrt war dann wesentlich langsamer und recht schweigsam verlaufen. Erst kurz vor Mannheim war es Jeffs Dad dann eingefallen, dass Opel ja zum General-Motors-Konzern gehörte und es deswegen ja eigentlich ein amerikanischer Wagen gewesen war, der sie überholt hatte. - Wenigstens ein kleiner Trost!

Jeffs Mutter und Shereen hatten übrigens nichts von dieser Eskapade erfahren. In stillschweigender Übereinkunft hatten Jeff und sein Dad niemals etwas davon erzählt. Die beiden Frauen hielten nämlich alles, was über das in den Staaten übliche Speed-Limit von fünfundfünfzig Meilen hinausging, für glatten Selbstmord.

Der BMW war nach der Versetzung des Vaters nach Fort Worth in Deutschland zurückgeblieben und als Danny und Paddy geboren wurden, war mit den kleinen, sportlichen Autos sowieso Schluss gewesen. Jetzt waren Familienkutschen angesagt, und Jeffs Mom hatte einen Mitsubishi-Minivan bekommen. Von seiner Abfindung, die er von der Army erhalten hatte, hatte Jeffs Dad sich dann einen Chevy-Suburban gekauft. Ein Wal von einem Auto, aber mit reichlich Platz für alle.

Die letzte Station des unruhigen Soldatenlebens war also Fort Worth gewesen, und Jeff hatte die leise Hoffnung, hier in Moulder vielleicht einmal Freunde zu finden, von denen er sich nicht schon bald wieder trennen musste. Sein Vater hatte jetzt einen sehr gut bezahlten Job beim Werksschutz der ‚Moulder-Oil-Company‘, und es sah so aus, als könne die Familie hier endlich einmal so etwas wie Wurzeln entwickeln.

Was Jeff anging, so hatte das bislang aber noch nicht so gut geklappt. In seinem bisherigen Leben war er immer und überall der Neue und der Fremde gewesen, sodass er aus dieser Rolle auch jetzt nicht so leicht herausfinden konnte. Er litt nicht wirklich darunter; es war nur so, dass er im Umgang mit seinen Altersgenossen immer noch eine gewisse Distanz wahrte, und das kam hier in Moulder nicht so gut an. So beschränkten sich Jeffs Kontakte auf zufällige Treffs in Hamburgerbuden und Milchbars und auf seltene private Besuche, aber eine richtige Freundschaft hatte sich daraus bislang nicht entwickelt.

Das Leben in Moulder-City kam Jeff sowieso seltsam vor: Es gab hier viele, die, wie die O´Bannions, von außerhalb hierhergezogen waren. Eigentlich war Moulder bis vor ein paar Monaten eine ebenso sterbende Stadt gewesen, wie alle Gemeinden hier in der Gegend. Der ganze Reichtum der Gegend hier war dem Erdöl zu verdanken gewesen. Von Jahr zu Jahr war die Fördermenge jedoch gesunken, und niemand, der ein wenig vom Ölgeschäft verstand, machte sich Illusionen darüber, woran das lag: Die Vorkommen unter dieser Region von Texas waren völlig erschöpft, und die ehemals reichen Städte verödeten nach und nach. Die Facharbeiter waren in Scharen fortgezogen, um woanders Arbeit zu finden und viele Geschäfte hatten schließen müssen, weil nach und nach die Kundschaft ausgeblieben war.

Auch Moulder-City hatte kein Geld mehr gehabt und selbst dringend notwendige Reparaturen waren vom Rat der Stadt aus finanzieller Not auf die lange Bank geschoben worden. Viele Häuser hatten leer gestanden und Moulder war langsam zur Geisterstadt geworden.

Draußen, im weiten Weideland, hatte es nicht besser ausgesehen: Die alten Bohrlöcher und Pipelines waren verfallen, und so manche Erdölraffinerie rostete in den Weiten des Graslandes still vor sich hin, bis vielleicht einmal die Demontagetrupps kamen und allen verwertbaren Schrott abholten.

In diese allgemeine Stimmung des schleichenden Untergangs hinein war die Nachricht, dass die Moulder-Oil-Company ein neues, reichhaltiges Vorkommen entdeckt hatte, wie eine Bombe eingeschlagen. Die Fachleute meinten zwar, dass auch diese Quelle nach wenigen Wochen versiegen würde, aber das war nicht so. Tag und Nacht wurden Millionen von Barrels besten Rohöls durch die Pipelines in die neu erbaute Raffinerie der Moulder-Oil-Company gepumpt, und Güterzüge und Tanklaster verteilten den wertvollen Treibstoff über das ganze Land.

Das wertvolle Öl sprudelte nun schon seit Monaten, und der ‚M.O.C.‘ gelang es sogar, ihre Fördermenge von Woche zu Woche zu steigern. Ganz gleich, was die Fachleute meinten: die M.O.C. stellte Arbeitskräfte ein und die Menschen kamen von weither, um sich ihren Anteil am unverhofften Reichtum zu sichern.

So war auch Jeffs Familie hierhergeraten; mitten hinein in den neuen Ölboom von Moulder. Alles sah sehr gut aus: Die Stadt blühte gewissermaßen über Nacht zu neuem Leben auf. Die M.O.C. zahlte gut. Die Häuser der Angestellten waren gepflegt und geräumig, auf den Straßen der Stadt wurde der Asphalt ausgebessert und nirgendwo sonst in der Region sah man so viele neue, große und teure Autos auf den Parkplätzen der Supermärkte.

Alle Geschäfte der Stadt, vom Drugstore bis zum Klempner, lebten vor allem von dem Geld, das die Moulder-Oil an ihre mehr als zweitausend Angestellten auszahlte, und solange alles glatt lief, fragte niemand danach, wie so etwas möglich war.

Es sah wirklich so aus, als würde es mit Moulder-City für viele Jahre nur noch bergauf gehen, denn noch ahnte niemand, dass der neue Reichtum nur darauf beruhte, dass die M.O.C. das Tor zur Hölle aufgestoßen hatte - und es nicht wieder zu schließen vermochte.

KAPITEL 2

DONNERSTAG, 04:30 PM

DAS INSEKT

Der dunkelgrüne Chevy Suburban bog in einem weiten Bogen in die Straße ein und Jeff nahm seine Schultasche vom Bürgersteig auf. Eigentlich hätte er schon lange zu Hause sein können, aber heute Morgen war sein alter Honda-Scooter nicht angesprungen und er hatte sich von seiner Mutter zur Schule bringen lassen.

Jeff hob grüßend die Hand und der Chevy fuhr an den Randstein. Wegen der abgedunkelten Scheiben war vom Wageninneren kaum etwas zu erkennen.

Kühle Luft mit einem Hauch von feuchter Windel wehte Jeff entgegen, als er die Tür öffnete und den Fuß auf das Trittbrett setzte. Er stellte zuerst die Schultasche in den Fußraum und stieg dann ein.

“Hi, Dad!” Jeff zog die Tür ins Schloss. “Wo kommen die denn her?” Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Rücksitz, wo Danny und Paddy, die knapp anderthalbjährigen Zwillinge, in ihren Kindersitzen saßen.

“Deine Mutter ist mit Edna Blenheim nach Dallas gefahren. Irgendein plötzlicher Notfall in Ednas Familie. – Da hat sie mir die beiden zur Firma gebracht. Deswegen auch die Verspätung. Hab fast ´ne halbe Stunde gebraucht, die Sitze hier einzubauen.”

“Oh!”, sagte Jeff mitfühlend und traute sich kaum, seine Bitte auszusprechen, denn schließlich kam sein Vater gerade von der Arbeit. – Trotzdem musste es sein. “Äh, könnten wir noch kurz bei ‚Tools & Parts‘ vorbeifahren?”, fragte er. “Ich bräuchte ´ne neue Zündkerze für den Scooter.”

“Hast du die denn immer noch nicht gewechselt?”, seufzte Steve O´Bannion und sah seinen Sohn vorwurfsvoll an. “Die war doch schon lange fällig.”

“Man spart, wo man kann!”, meinte Jeff und grinste. “Hat doch bislang noch funktioniert.”

“Ist auch ´ne Einstellung”, meinte der Vater gleichmütig und bog in die Straße ein, an der der Werkzeugladen lag.

Zehn Minuten später hatte Jeff sich die neue Kerze besorgt und sie waren endlich auf dem Heimweg.

Zurzeit war Moulder-City eine einzige Baustelle und sie mussten einen Umweg fahren, weil die Straße, die in ihr Viertel führte, gerade neu geteert wurde. Aber auch sonst sah man überall Scharen von Handwerkern herumlaufen, die Häuser renovierten. Telefonleitungen wurden verlegten und lange ungenutzte Geschäftsräume wurden nach den Wünschen der neuen Besitzer ausgebaut.

Die ganze Stadt war im Aufbruch: Gipskartonplatten und Profilschienen standen und lagen auf den Bürgersteigen herum, Bauholz war in den Vorgärten aufgestapelt und überall parkten die Lieferwagen der Handwerker. Über der ganzen Stadt lag eine Aura hektischer Betriebsamkeit und darauf, dass Moulder bis vor einigen Monaten fast eine Geisterstadt gewesen war, wäre ein zufälliger Besucher niemals gekommen.

“Beiß?”, kam Paddys Stimme zaghaft vom Rücksitz. Die Stimme klang ängstlich und Jeff drehte sich auf seinem Sitz halb um. “Beiß?”, fragte Paddy wieder. Er saß stocksteif in seinem Kindersitz und schielte mit halb abgewandtem Gesicht auf ein großes graues Insekt, das auf seinem nackten Ärmchen herumkroch.

“Beiß!”, meinte Danny, Paddys Zwillingsbruder, fachmännisch vom Nebensitz aus, was bedeuten sollte, dass er überzeugt war, dass das Insekt gefährlich sei.

Das Tier sah mit seinem fast fingerlangen Körper wirklich ziemlich bedrohlich aus. Mit einer raschen Bewegung schob Jeff seinen Oberkörper zwischen den Sitzlehnen hindurch und wischte es von Paddys Arm herunter. Es fiel auf die Sitzbank und Jeff gab ihm schnell noch einen Schubs, der es auf den Boden des Wagens beförderte. Dann schnappte er sich Paddys Arm und sah kurz nach, ob das Tier zugestochen hatte.

“Aua!”, behauptete Paddy und strahlte seinen großen Bruder mit leuchtenden Augen an.

“Kein Aua!” Jeff ließ den Arm wieder los. “Hast Glück gehabt.”

“Lück!”, bestätigte Danny vom Nebensitz her und quiekte vergnügt.

Das Insekt war auf den Rücken gefallen und einfach so liegen geblieben. Jeff zog die Augenbrauen zusammen und beugte sich ein wenig zu dem Tier hinab. Es schien ihm nicht gut zu gehen, denn es machte keinerlei Anstalten, zu fliehen oder anzugreifen. Es lag einfach nur da und wackelte ein wenig mit den Fühlern und Beinen herum. Es starb gerade, das war ziemlich sicher.

Schon schwebte die Schachtel mit der Zündkerze über dem Insekt, um es zu zerquetschen, aber dann überlegte Jeff es sich anders. So ein Tier hatte er noch nie gesehen, und das brachte ihn auf eine Idee: Shereen, seine ältere Schwester, wollte Biologin werden und machte in der Schule einen Bio-Leistungskurs nach dem anderen. Sie interessierte sich für Viehzeug aller Art, und da würde sie sich doch bestimmt über dieses abscheuliche Tierchen freuen.

Gedacht, getan! Jeff öffnete die Pappschachtel, nahm die Zündkerze heraus und steckte sie in die Tasche. Die leere Schachtel schob er so an das Insekt heran, dass er es aufnehmen und hineingleiten lassen konnte. Es passte gerade so in den schmalen Karton. Sorgfältig verschloss er die Schachtel, setzte sich wieder richtig hin und steckte sie in seine Schultasche.

“Was war denn?”, wollte Steve O´Bannion wissen und sah kurz zu seinem Sohn hinüber.

“Och nix”, meinte der. “Nur so´n komisches Insekt.”

“Insekt?” Der Vater zog die Augenbrauen zusammen. “Was für ein Insekt?”

“So ´ne Art Motte oder Hornisse vielleicht”, gab Jeff Auskunft. “Mit so komisch grauen Flügeln. - War aber schon halbtot.”

“Schmeiß es raus!” Das war kein Vorschlag, das war eine Anweisung.

“Nee, das bring´ ich Shereen für ihre Sammlung mit”, erklärte Jeff. “Die mag doch so´n Zeug.”

“Wenn du meinst – meinetwegen.” Der Vater hob gleichgültig die Schultern, aber Jeff merkte, dass er eigentlich überhaupt nicht einverstanden war. - Seltsam, er war doch sonst nicht so empfindlich. Erst vor kurzem hatte er selbst ein komplettes, natürlich leeres, Wespennest für seine Tochter von der Arbeit mitgebracht.

Draußen vor der Stadt, auf den über fünfhundert Quadratmeilen Gelände der Moulder-Oil, wo Jeffs Vater Streife fuhr, hatte sich die Natur im Lauf der Jahre ein gutes Stück Terrain zurückerobert. Die alten Pipelines, die stillgelegten Pumpstationen und sogar das Moulder-Airfield, der ehemalige Flugplatz der Region, wo heute nur noch ein paar Flugzeugwracks herumstanden - das alles war nach und nach wieder von Tieren verschiedenster Art besiedelt worden. Am Tag von der Sonne aufgeheizte Pumpenhäuser dienten in der Nacht wärmesuchenden Schlangen als Unterschlupf, die leeren Rohre der rostigen Pipelines waren ideale Rückzugsgebiete für Coyoten, und die Eidechsen nutzten jedes erwärmte Metallstück, um sich darauf zu sonnen. Daneben gab es auf den alten Ölfeldern natürlich auch Insekten aller Art, die den Vögeln als Nahrung dienten, die in jeder sich bietenden Nische nisteten.

In dieser Umgebung des Verfalls bewegte Jeffs Vater sich jeden Tag. Zu bewachen gab es da draußen wohl nicht sehr viel, aber trotzdem war die Moulder-Oil ziemlich eigen mit ihrem Grund und Boden. Das Einzige, was Jeffs Vater je von seinem Job erzählt hatte, war, dass es zu seinen Aufgaben gehörte, die wenigen Wanderer und Jäger, die sich auf das Gelände wagten, aufzuspüren und zurückzuschicken. – Und jetzt war er leicht angesäuert, weil Jeff dieses Insekt nicht aus dem Fenster warf. Wie konnte ein Mensch, der sich Tag für Tag in der freien Natur aufhielt, etwas dagegen haben, dass dieses tote Insekt in seinem Wagen war?

Jeff verstand es nicht und im Moment war es ihm auch ziemlich egal. Er hatte dieses Vieh für Shereen eingepackt und sie würde es, verdammt nochmal, auch kriegen! Außerdem hatte er gleich die Kerze an seinem Roller zu wechseln, und er wusste nicht, wo der Kerzenschlüssel war. Also lehnte er sich zurück und dachte angestrengt nach, wann und wo er ihn zuletzt gehabt hatte.

Als sein Vater den Suburban in die Wohnstraße lenkte, war Jeff sich ziemlich sicher, dass der Schlüssel in der Garage unter ein paar Putzlappen lag. Ganz in Gedanken hatte er gar nicht gemerkt, wie nahe sie schon am Haus waren. Jetzt, wo es so überraschend vor ihm auftauchte, sah er erst wieder, wie geräumig es wirkte. Jeff hatte sich so schnell an das Gute gewöhnt, dass er sich manchmal bewusst vor Augen rufen musste, wie es früher gewesen war.

Die Army hatte Captain O´Bannion und seiner Familie zwar auch Häuser in den verschiedenen Garnisonen zur Verfügung gestellt, aber die waren immer zu eng gewesen, um wirklich gemütlich zu sein. Das hier war dagegen ein wirklich tolles Haus mit einer Doppelgarage und reichlich Platz rundum. – Nichts Besonderes, hier in dem Viertel, aber Jeff kam es manchmal so vor, als sei das hier der Gipfel von allem, was man je erreichen konnte. Die engen Wohnungen, der Lärm der Exerzierplätze, das Oliv der Uniformen und der Fahrzeuge in den Garnisonsstädten, das war alles so weit weg, als habe er es auf einem anderen Planeten erlebt. Sie hatten es geschafft! Sie waren der Enge und der ständigen Kontrolle entkommen, und plötzlich durchströmte ihn ein Glücksgefühl, wie er es nur ganz selten erlebte.

Nachdem sie die hungrigen Zwillinge versorgt und zu Bett gebracht hatten, machten Jeff und sein Vater sich ein paar Sandwiches und aßen sie auf der Terrasse hinter dem Haus. Anschließend hätte Jeff gern ein paar Runden im Pool gedreht, aber da es so etwas hier nicht gab, verzichtete er eben darauf. Seufzend machte er sich daran, den Motorroller wieder fahrbereit zu machen, und als auch das erledigt war, holte er seine Tasche aus dem Flur und ging auf sein Zimmer.

Eine Klimaanlage gab es nur im Erdgeschoss und hier oben unter dem Dach war es ziemlich warm, aber das störte Jeff nicht weiter. Gut gelaunt fischte er den schmalen Zündkerzenkarton aus der Tasche, schüttelte ihn ein wenig, hielt ihn ans Ohr und öffnete ihn erst dann vorsichtig. Nichts bewegte sich darin. Das Tier war tot, genau wie er es vermutet hatte. Einen Moment lang dachte Jeff daran, die Schachtel einfach in Shereens Zimmer auf den Schreibtisch zu stellen, aber dann hatte er eine bessere Idee:

Vor über einem Jahr hatte Jeff zum Valentinstag von einem Mädchen in Fort Worth eine kleine Schmuckschachtel mit lauter Herzchen darauf geschenkt bekommen. Für ihn war das Ganze eher peinlich gewesen, denn das Mädchen hatte ihm das Ding in aller Öffentlichkeit mitten auf dem Schulhof überreicht – und zwar unverpackt und mit einem Liebesgedicht darin. Da es eigentlich ein sehr nettes Mädchen war, hatte Jeff nur den Zettel mit dem Gedicht verschwinden lassen und die Schachtel aufgehoben. Bestimmt hundertmal hatte er sie schon zur Seite geschoben, wenn sie im Weg war. Eine richtige Verwendungsmöglichkeit hatte er nämlich nie dafür gefunden, und das war jetzt mal eine Chance, das Ding auf die elegante Art loszuwerden. Also schnappte er sich die Schachtel, klappte den Deckel auf und ließ das Insekt aus dem Karton sachte hineingleiten. Natürlich fiel es wieder auf den Rücken und der blassgraue Bauch mit den stecknadeldünnen Beinen, die in die Höhe ragten, war nun wirklich kein schöner Anblick.

Jeff schnaufte unwillig. Wenn er schon bereit war, seiner Schwester eine Super-Herzchenschachtel mit einem Super-Insekt darin zu schenken, dann sollte das Ganze auch einigermaßen was hermachen. Ein paar Schubser mit der Spitze eines Kugelschreibers brachte das tote Tier wieder auf die Beine und in die richtige Position in der Mitte der Schachtel. Jetzt sah es so richtig lebensecht und eklig aus.

Zufrieden mit seinem Werk wollte Jeff den Deckel gerade zuklappen, als ihm etwas auffiel: Er zog die Augenbrauen zusammen und neigte den Kopf tief über die Schachtel. Irgendetwas war ihm von vornherein an dem Tier komisch vorgekommen, von seiner ungewöhnlichen Größe und seiner widerlich grauen Farbe mal abgesehen. Jetzt aber, wo es auf dem Boden der Schachtel hockte, da konnte Jeff erkennen, was an diesem Tier nicht stimmte: Es hatte zu viele Beine!

‚Insekten haben sechs Beine‘, hatte Jeff mal im Bio-Unterricht gelernt, daran erinnerte er sich mit absoluter Gewissheit und auch daran, dass Spinnen acht Beine haben und nicht zu den Insekten gerechnet werden. Dieses Tier hier hatte aber acht Beine, die unter dem toten, kleinen Körper hervorragten. Acht Beine und vier Fühler vorne am Kopf, die es insgesamt fast wie einen Tausendfüßler mit Flügeln aussehen ließen.

Jeff schüttelte den Kopf. Wenn man den Bio-Lehrern trauen konnte, dann hatte er hier etwas vor sich, das es überhaupt nicht geben konnte. So etwas wie eine geflügelte Spinne war im Baukasten der Natur angeblich nicht drin.

Einen Moment lang spielte Jeff mit dem Gedanken, das Insekt zu behalten und morgen mit zur Schule zu nehmen, aber versprochen war versprochen, auch, wenn Shereen nichts davon wusste. Wenn es sich wirklich um ein ganz besonderes Tier handelte, dann wollte er die Lorbeeren dafür gern ihr überlassen.

Er besah sich den kleinen Kadaver noch einmal gründlich: Grundfarbe Grau, ein hornissenartiger Körper, ledrig wirkende Flügel, wie die eines großen Nachtfalters geformt und vier Beinpaare. – Also immer noch ganz und gar eindeutig acht Beine!

Plötzlich ging ein winziger Ruck durch das Tier und Jeffs Kopf zuckte zurück. Einen Moment lang dachte er, er habe sich getäuscht und das kleine Monster sei doch noch lebendig. Das war aber nicht so, wie er gleich darauf erleichtert feststellte. Es war immer noch ganz und gar tot, nur die Beine hatten auf einer Seite nachgegeben und standen jetzt nach außen ab. Gleichzeitig bemerkte Jeff einen matten Schimmer auf dem kleinen, toten Körper, so, als sei ein dünner Feuchtigkeitsfilm darauf. Der war ihm vorher nicht aufgefallen, aber schließlich besah er sich seinen Fund jetzt zum ersten Mal gründlich. Irgendwie sah das Biest mit diesem feuchten Glanz auf dem Leib noch ekliger aus, als vorher und zufrieden nahm Jeff die Schachtel auf, um sie in Shereens Zimmer zu balancieren.

Nachdem er die Herzchenschachtel in der Mitte von Shereens Schreibtisch platziert hatte, riss er sich ein post-it vom Stapel herunter, schrieb seiner Schwester einen kleinen Gruß darauf und klebte es an den offenen Deckel.

So, das war erledigt! Jeff trat zur Tür, drehte sich um und besah sich zufrieden sein Werk. - Vielleicht bekam Shereen sogar für die Entdeckung einer neuen Spezies den Nobelpreis. Mehr konnte man ja nun wirklich nicht tun, um ein guter Bruder zu sein.

Ein Blick auf die Uhr sagte Jeff, dass bis zum Abendessen noch reichlich Zeit blieb, ein paar Sachen für die Schule zu erledigen. In Anbetracht der Tatsache, dass morgen der letzte Schultag vor den Sommerferien war, beschäftigte er sich allerdings lieber gut anderthalb Stunden lang mit ein paar Computerprospekten. – Irgendwo musste das Geld schließlich hin, das er demnächst in seinem Ferienjob bei ‚Jonnys eggs & more‘ verdienen würde, und ein neuer Computer war schon lange fällig.

Irgendwann rumorte etwas unten im Haus und Jeff stellte mit halbem Ohr fest, dass seine Mutter zurückgekommen war. Er rieb die Fingerspitzen seiner rechten Hand an dem rauen Stoff der Jeans, weil sie ein wenig juckten und las weiter.

Im Erdgeschoss klingelte das Telefon. Jeff kümmerte sich nicht darum. Er hatte sich gerade in den neuen Dell-PC mit Viertausender-Taktung verliebt – der allerdings auch ein wenig zu teuer war, um ihn mit dem Geld eines einzigen Ferienjobs bezahlen zu können.

Die Stimmen von Danny und Paddy drangen von unten herauf. Sie hatten jetzt wohl ausgeschlafen und wollten wieder versorgt werden. Jeff rubbelte unbewusst die Fingerspitzen der rechten Hand mit dem Daumen. Er hörte, wie die Mutter seinen Namen rief, legte die Prospekte zur Seite und ging hinunter.

“Noch nicht einmal vier Stunden kann man euch mit den Kleinen allein lassen!”, behauptete Julie O´Bannion und tippte zur Bekräftigung ihrer Worte mit dem Zeigefinger auf ihre Armbanduhr. “Noch nicht einmal vier Stunden!”

“Aber es ist doch gar nichts passiert”, versuchte Jeffs Vater einzuwenden. Damit kam er bei seiner Frau allerdings schlecht an.

“Nichts passiert?”, fragte sie in einem Ton, der nichts Gutes bedeutete. “Ist das etwa nichts?” Sie zeigte auf das Ärmchen von Paddy, den sie vor sich auf dem Schoß sitzen hatte. Jeff sah, dass sich ein gelblicher Streifen über die Haut zog und der Kleine mit der anderen Hand darauf herumrubbelte, weil es wohl juckte.

“Du, das war vorhin noch nicht da”, beteuerte der Vater. “Ich hab ihn ins Bett gelegt und er ist eingeschlafen. Alles ganz normal!”

“Nicht mal vier Stunden!”, zischte Jeffs Mutter, um dann mit völlig veränderter Stimme “Armer Paddy! Armer, kleiner Paddy!” zu gurren.

Jeff wusste, dass er im Moment keine Chance hatte, sie zu beruhigen. Von den ganzen O´Bannions hatte seine Mutter das meiste Temperament, und wenn sie sich aufregte, dann tat sie es gründlich. Vor allem, wenn jemandem aus der Familie etwas passierte, dann rastete sie förmlich aus. – Und Paddy war etwas passiert, das konnte jeder sehen.

“Zeig mal, du Zwerg”, sagte Jeff, trat näher heran und griff nach Paddys Ärmchen, um es sich anzusehen.

“Du hast ja auch sowas!”, Die Mutter zog Paddy von Jeff weg. “Hat er das von dir?”

Jeff zuckte zurück und sah sich seine Hand an. Jetzt wurde es ihm zum ersten Mal bewusst, dass er die ganze Zeit an seinen Fingerspitzen herumgerubbelt hatte, weil sie ein wenig juckten. “Shit!”, fluchte er. “Was ist das? Das muss von dem verdammten Vieh kommen.” Die Fingerspitzen seiner rechten Hand waren genauso gelb wie der Streifen auf Paddys Arm.

“Was für ein Vieh? Was ist hier eigentlich los?”, blitzte die Mutter und versäumte es vor lauter Ärger sogar, Jeff für das Schimpfwort zu rügen. “Hätte vielleicht mal jemand die Güte, mich aufzuklären?”

“Ja, klar doch!” Jeff erzählte in kurzen Worten, wie er Paddy im Wagen vor dem Insekt gerettet hatte, und das schien irgendwie beruhigend auf seine Mutter zu wirken. Jedenfalls gab sie ihm den Auftrag, die Anti-Juck-Salbe aus der Hausapotheke im Bad zu holen. Liebevoll versorgte sie Paddys Arm, während Jeff sich ein wenig von dem Zeug auf die Fingerspitzen rieb. – Das Zeug war wirklich gut, jedenfalls hörte der Juckreiz schlagartig auf.

Genauso schnell wie sie explodierte, konnte Jeffs Mutter sich auch wieder beruhigen, und als sie sah, dass es Paddy wieder gut ging, setzte sie ihn zu Danny in den Laufstall und fing an, das Abendessen zuzubereiten.

“Ist Shereen noch nicht da?”, wollte Jeff von seinem Vater wissen.

“Die hat vorhin angerufen, dass sie spät kommt.”

“Hm.” Jeff war ein bisschen enttäuscht. Er war doch zu gespannt, wie sie auf sein Geschenk reagierte. Na ja, dann würde sie es eben etwas später finden.

Weil Jeffs Mutter mit Edna Blenheim unterwegs gewesen war, gab es heute Abend nur Fertigkartoffelbrei mit Fertig-Hamburgern und Fertigsoße, angereichert mit Fertiggemüse. Jeff und sein Vater nahmen das als gerechte Strafe dafür hin, dass sie nicht besser auf die Zwillinge aufgepasst hatten und da es zudem schnell zubereitet war, blieb Jeff gleich unten.

Nach dem Essen ging Jeff auf sein Zimmer, schrieb ein paar E-Mails an alte Freude aus Fort Worth, ließ nebenbei MTV laufen und besuchte kurz zwei Chatforen. Da derzeit niemand online war, den er kannte, schaltete er den Computer aber schon bald aus und nahm sich einen Roman von Stephen King vor.

Gegen elf Uhr zwang er sich dazu, das Buch zur Seite zu legen, wenn er auch gerne noch bis zum Morgengrauen weitergelesen hätte. Kurz vor dem Einschlafen hörte er Shereen die Treppe heraufkommen. Kurz bevor er endgültig wegdämmerte, bemerkte er noch, dass sein Daumen schon wieder an den Fingerspitzen herumrubbelte. So ganz war der Juckreiz doch noch nicht verschwunden.

KAPITEL 3

DONNERSTAG, 11:04 PM

DIE MUTATION

Gerade zog auf der Interstate wieder einer der schweren Tanklastzüge vorbei und Jeff drehte sich auf die andere Seite, als es heftig an der Tür klopfte.

“Jeffrey O´Bannion, bist du da drin?”, rief Shereen unnötig laut durch das dünne Holz.

Wer immer in dieser Familie ‚Jeffrey‘ zu Jeff sagte, der meinte es in dem Moment garantiert nicht gut mit ihm.

“Ja, was ist denn?” Jeff richtete sich im Bett halb auf und sah auf die Leuchtziffern des Weckers. Er hatte bestenfalls fünf Minuten geschlafen.

Die Tür öffnete sich, das Licht flammte auf und seine Schwester stand mit wutblitzenden Augen im Türrahmen. “Wenn das ein Scherz sein soll, dann verstehe ich ihn nicht!”, fauchte sie und hielt Jeff die offene Herzchenschachtel entgegen. “Ich bin ein Geschenk von Jeff!” las sie mit gerunzelter Stirn von dem post-it-Zettel ab. “Was bitte ist das hier? Was soll das?”

“Wie? Was?” Jeff blinzelte schlaftrunken in die Helligkeit. “Steht doch da! Ist ´n Geschenk von mir an dich. Jetzt freu dich und lass mich in Ruhe!”

“Freuen?” Shereen schüttelte verständnislos den Kopf. “Worüber bitte soll ich mich denn freuen?”

“Na über das Flattervieh mit den vielen Beinen!”, stöhnte Jeff über so viel Begriffsstutzigkeit. “Auf sowas bist du doch sonst ganz verrückt.”

“Auf sowas? Wohl kaum!” Shereen kam mit zwei raschen Schritten näher und hielt Jeff die Schachtel so hin, dass er hineinsehen konnte.