Dämonendämmerung – Die Auserwählte - Sabine Reiff - E-Book

Dämonendämmerung – Die Auserwählte E-Book

Sabine Reiff

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Beschreibung

Dorotheas Leben als Lokalreporterin in einem verschlafenen Nest im Schwarzwald verläuft eintönig, bis sie bei einem Interview den Historiker Alexander Maar kennenlernt. Der ebenso attraktive wie charismatische Mann zieht sie schnell in ihren Bann, doch sie ahnt nicht, dass sich hinter der menschlichen Fassade ein Jahrtausende alter Dämon verbirgt, der sie zur Braut erwählt hat und das Schicksal der Welt in ihren Händen liegt, denn in Kirchbronn formieren sich dunkle Mächte… Doro muss sich ihrer Bestimmung stellen und kämpfen, um ihr Leben, um ihre Freiheit und um eine Liebe, die alle Grenzen des Diesseits überschreitet. Spannende Romantic Fantasy auf ca. 400 Seiten.

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Seitenzahl: 611

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Dämonendämmerung – Die Auserwählte

 

Sabine Reiff

Impressum

 

Sabine Reiff

Dämonendämmerung – Die Auserwählte

Copyright Sabine Reiff, Juli 2012

Version 3.0, Stand August 2012

ISBN 978-3-8450-1181-3

 

Titelgestaltung: Rainer Wekwerth unter Verwendung eines Fotos von Nejron Photo, fotolia.com

 

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

Sabine Reiff

Neue Straße 40

74369 Löchgau

www.sabine-reiff.com oder auf Facebook www.facebook.com/sabine.reiff.16

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen oder sonstigen Printmedien, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

 

Dieser Text umfasst eine Länge von ca. 430 Normseiten (ca. 122.000 Wörter / ca. 786.300 Zeichen inkl. Leerzeichen).

PROLOG

Nachts

 

Es war Herbst, die Zeit des Jahres, in der sich Sommer und Winter für wenige Wochen vereinigten. Tage und Nächte beherbergten noch einen trügerisch warmen, fast zarten Hauch, doch die Kälte des Winters, die mit eisigen Klauen alles Leben umschlang, würde schon bald folgen.

Gelal witterte in das ihn umgebende Schwarz hinein; wie jede Nacht war er auf der Jagd nach Emotionen. Rastlos durchstreifte er die Träume der Menschen auf der Suche nach Gefühlen, die seine unbändige Gier nach Ekstase stillten, ihn nährten und ihm Kraft gaben. Und seit Anbeginn seiner Existenz war die Dunkelheit dabei seine stille, wohlwollende Verbündete. Nacht für Nacht offenbarte sie sich ihm als reich gedeckter Tisch, indem sie ihm die Seelenregungen der Menschen zeigte. Ihre Träume. Ihre Ängste. Ihre geheimsten Wünsche, die ihn anlockten und an denen er sich labte.

Jeder menschlichen Emotion haftete ein ureigener Geruch an und ebenso variantenreich war später der Geschmack. Angst besaß eine brennend ätzende Note und war wenig bekömmlich. Neid, Missgunst und Hass wurden von der Bitterkeit überlagert, die sie in dem jeweiligen Menschen auslösten. Diese Gefühle sättigten zwar nicht, aber sie linderten das dringlichste Verlangen. Am nahrhaftesten waren reine, unschuldige Empfindungen, wie Liebe, Glück und Zufriedenheit und ebenso verführerisch rochen sie auch. Manchmal blumig und leicht, manchmal süß und schwer, manchmal nach Sonne und Wind und ganz selten verströmten sie den unbefleckten Duft von frisch gefallenem Schnee. Er versuchte sich zu erinnern, wann dieser Wohlgeruch das letzte Mal seine Sinne berauscht hatte. Es lag Ewigkeiten zurück, denn solch reine Empfindungen waren nur sehr wenigen Menschen vorbehalten und machten sie zu außergewöhnlichen Geschöpfen.

Der Hunger nach Emotionen ergriff von seiner gestaltlosen Hülle Besitz und drängte sein Innerstes zur Vereinigung. Er ließ sich auf einer alten Eiche nieder, die majestätisch auf dem Berggipfel thronte. Von hier oben konnte er das schmale Tal zu seinen Füßen in seiner vollen Länge überblicken. Ein reißender Wildbach zerschnitt es in zwei nahezu gleiche Hälften. An seinem oberen Ende schmiegte sich ein verschlafenes Städtchen gegen die steil ansteigenden Hügel, an seinem unteren erstreckte sich eine weite Moor- und Wiesenlandschaft. Und dort, im Höllengrund, lag auch sein Versteck. Die Einheimischen mieden diesen Ort, denn seit jeher rankten sich um ihn dunkle Geschichten, für ihn hingegen war die alte Wassermühle mit der Zeit zu einem schützenden Refugium geworden. Von seinem Hochsitz beobachtete er, wie nach und nach in den Fenstern der Häuser die Lichter erloschen. Bald lag die Stadt vollständig im Dunkel der Nacht, und er durfte sich ganz nach Incubusart in die süßen Träume seiner Opfer schleichen. Nur noch ein kurzer Moment der Gefahr trennte ihn von der weiblichen Wollust, die auf ihn wartete und die er begehrte, weil sie sein Dasein rechtfertigte. Es waren die Augenblicke, in denen er der menschlichen Welt seine dämonische Gestalt offenbaren musste, um seine Sinne zu schärfen und für diese Nacht, die richtige Wahl zu treffen.

Gelal glitt zu Boden, während seine Augen die Umgebung nach ungebetenen Gästen absuchten. Das leise Knistern von Tannennadeln, Blättern und Waldboden unter seinen blanken Fußsohlen verriet, dass seine Verwandlung bereits begonnen hatte. Momente, in denen er gezwungen war, sein wahres Äußeres zu zeigen, bedeuteten für ihn stets Gefahr, da seine aufragende, bläulich schimmernde Gestalt wie eine Magnesiumfackel aus der Dunkelheit hervorstach. Und seltsame Erscheinungen erweckten nun einmal die Neugier. Zwar gerieten die meisten Menschen bei seinem Anblick in Panik und flohen, doch es änderte nichts an den Tatsachen: Wer die Macht besaß, für den war es ein Leichtes, ihn in den Sekunden der Schutzlosigkeit zu bannen und von dem mächtigen Incubusfürsten Gelal blieb nichts als ein dämonischer Lakai. Eine grässliche Vorstellung, zumal er ein wirklich angenehmes Leben führte. Seine Pflichten als Incubus bestanden vornehmlich darin, Seelen für die Legionen der zweiundsiebzig Hauptdämonen zu rekrutieren, welche die Zwischenwelt – seine Welt – regierten. Das Sahnehäubchen seines Bestehens bildete allerdings der ganz persönliche Obolus, den er an die Höllische Brut zuentrichteten hatte und der ihm das Privileg verlieh, sich mit auserwählten Menschenfrauen zu paaren. Gebannt würde ihm nichts von alledem bleiben, danach war er ein Sklave des Unvollkommenen, eine wertlose Kreatur, die weder zur dunklen Seite noch in die Welt der Menschen gehörte. Von einem beschwörungskundigen Menschen verfemt, war er ein willenloses Spielzeug und zu demselben verachtungswürdigen Schicksal verdammt, das schon viele seiner Art in einem Moment der Unvorsichtigkeit ereilt hatte. Er schüttelte sein imposantes Widderhaupt, um die lästigen Gedanken aus seinem Verstand zu vertreiben. Ein unerwarteter Widerstand ließ ihn abrupt in seiner Bewegung innehalten. Instinktiv zog er die Lefzen hoch und entblößte ein mit rasiermesserscharfen Zähnen bewehrtes Gebiss. Noch immer hielt ihn Etwas gefangen. Sein Kopf schnellte mit aller Kraft nach vorn. Über ihm ertönte ein spröde splitterndes Geräusch und ein schwerer Gegenstand fiel dumpf zu Boden. Er war wieder frei. In einer rasanten Bewegung drehte er sich um die eigene Achse, bereit, sein freies Leben mit allem, was ihm zur Verfügung stand, zu verteidigen. Seine Arme schnellten in Richtung des vermeintlichen Feindes, um ihn zu packen und wenn nötig in Stücke zu reißen…

Irritiert betrachtete er den am Boden liegenden Eichenast, dann suchten seine Augen ein weiteres Mal akribisch das Gelände um ihn herum ab, aber da war niemand. Keine Menschenseele. Das einzige Geräusch im weiten Umkreis verursachte sein peitschenartiger Schwanz, der immer noch, in einem letzten Rest Anspannung, unruhig über den Boden zuckte. Seiner Kehle entwich ein verärgertes Knurren; er war wieder Herr seiner Sinne.

 

Gelal richtete seinen Körper zu voller Größe auf. Er blähte die schmalen Nüstern, schloss die Augen und sog den berauschenden Duft ein, den ihm die Nacht entgegen trug. Es waren Emotionen in ihrer reinsten Form, die unschuldigen Empfindungen einer sich gerade entfaltenden Liebe. Sie stammten von einem heranwachsenden Mädchen, an der Grenze zwischen Kind und Frau. Seine Sinne täuschten ihn nicht, denn an ihren Gefühlen haftete noch der typische Duft frisch erblühter Rosen. Die Unbeflecktheit ihrer Emotionen würde ihn nähren und ihm die Stärke geben, die er für die Eroberung seiner Auserwählten brauchte. Er lächelte bei der Vorstellung an das, was ihn erwartete. Die nach Rosen duftende Kleine konnte er viele Male heimsuchen, so lange bis er die Liebe aus ihren Träumen und die Zufriedenheit aus ihrem Leben gestohlen hatte. Zurück blieb am Ende eine leere menschliche Hülle, ein armes Geschöpf, das keine Ahnung hatte, wem sie ihr Leid letztlich verdankte. Und eines nicht allzu fernen Tages würde sie ihre Seele verpfänden, damit sie endlich wieder das Gefühl von Glück spüren durfte. Er empfand kein Mitleid mit seinen Opfern; alles im Leben hatte seinen Preis. Und es gab Wünsche, die kosteten die eigene Seele.

Bereits wenig später war er sich sicher, das Bild des jungen Mannes genau vor Augen zu haben, der das Herz der Kleinen erobert hatte. Sobald er neben seinem Opfer lag, würde er die Gestalt des Teenagers annehmen. Nur für den Fall, dass die Kleine bei ihrer ersten Heimsuchung plötzlich aufwachte, denn er wollte jede Form von Panik bei dem Mädchen vermeiden. So etwas verdarb nicht nur den Geschmack, sondern auch die Freude. Schließlich spiegelte eine Heimsuchung durch einen Repräsentanten der Triebwelt immer die perfekte Illusion in Sachen Liebeskunst wider. Sie war die Verführung zur Sünde der Wollust, der schöne Traum, der die körperliche Begierde weckte. Der Alptraum, der die Opfer um den Verstand brachte, stand ganz am Ende seiner nächtlichen Besuche, wenn alle Zufriedenheit aus den Herzen der Heimgesuchten verschwunden war und Hochmut, Neid, Zorn, Habgier, Maßlosigkeit oder Trägheit die Oberhand über den menschlichen Geist gewonnen hatten, dann waren ihre Seelen für die Zweiundsiebzig, die über alles Sein herrschten, bereit.

 

Gelal ließ seinen Körper wieder mit dem Dunkel der Nacht verschmelzen. Sekunden später stand er am Bett des Rosenmädchens. Fasziniert betrachtete er sein Spiegelbild in der vom fahlen Mondlicht beschienenen Fensterscheibe. Er trug die Gestalt eines leger gekleideten, schmächtigen Sechzehnjährigen mit fransigen, aschblonden Haaren und einem viel zu lang geratenen Gesicht. Die blassen Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Schmunzeln.

Wo die Liebe doch hinfällt, dachte er und schlüpfte unter ihre Decke, um ihr den ersten erotischen Traum ihres Lebens zu bescheren.

Kapitel 1 – Spuren des Lebens

Das monotone Alarmsignal des Weckers riss Doro aus dem Schlaf. Mühsam öffnete sie die Augen. Die Zahlen auf der digitalen Anzeige zeigten in einem grell leuchtenden Grün 7.00 Uhr an. Eigentlich musste sie aufstehen, doch ihr Körper verweigerte an diesem Morgen den Gehorsam. Ihre Hand tastete nach dem Druckknopf, mit dem sich der Alarm ausschalten ließ. Wenigstens noch ein paar Minuten wollte sie sich die wohlige Wärme ihres Bettes gönnen, bevor sie sich der Welt da draußen stellte. Endlich hatte sie den Schalter gefunden und augenblicklich kehrte die schläfrige Stille in ihr Schlafzimmer zurück. Einen Moment überlegte sie, in der Redaktion anzurufen und sich für den heutigen Tag krankzumelden. In diesem langweiligen Kaff passierte sowieso nichts, was einen Bericht in der Zeitung wert gewesen wäre, denn die Themen wiederholten sich in regelmäßigen Rhythmen. Sie fühlte sich elend, einsam und verlassen und das einzig Sinnvolle war, wenn sie diesen Tag komplett ignorierte. Trotzig zog sie die Daunendecke über das Gesicht und presste die Augenlider aufeinander; gleich darauf war sie wieder eingeschlafen…

 

Doro schreckte aus dem Schlaf hoch. Heute war der 14. Oktober und sie musste dieses verdammte Interview führen. Der Typ hieß Maar oder so ähnlich und war angeblich ein angesagter Historiker. Ihr Chef persönlich hatte ihr diesen Termin aufgehalst, somit blieb ihr gar keine Wahl, als in der Redaktion zu erscheinen. Sie raffte sich auf und schleppte sich ans Fenster, um an den schweren, dunklen Vorhängen vorbei, einen Blick ins Freie zu wagen. Über dem Tal lag dichter Nebel, anscheinend wollte die Trostlosigkeit an diesem Morgen überhaupt kein Ende nehmen.

Sie ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, legte ihre Hände unter dem Strahl zusammen und benetzte ihr Gesicht. Sie hob den Kopf, um die junge Frau im Spiegel vor ihr zu betrachten. Aus den dichten, schwarzen Wimpern lösten sich die letzten Mascarareste des gestrigen Make-ups. In wässerig dunklen Rinnsalen liefen die Tropfen über blasse Wangen, folgten einem energisch geschwungenen Kinnbogen und rollten den Hals hinab, um schließlich in ihrem grauen Schlafshirt zu versickern. Aus dem schmal geschnittenen, hellhäutigen Gesicht funkelten ihr herausfordernd große blaugrüne Augen entgegen.

„Dorothea Bergmann, reiß dich zusammen“, flüsterten ihre vollen Lippen.

Gestern hatten sie den neunundzwanzigsten Geburtstag ihrer besten Freundin Lille gefeiert und ihr übler Kater heute Früh zeugte davon, dass mit fortschreitender Stunde jedes Maß für Vernunft verloren gegangen war. Manche Dinge lernte man offenbar nie oder man behielt sie einfach nicht lange genug im Gedächtnis. Ihr Blick fiel auf die Narbe über ihrer linken Augenbraue. Im Lauf der Jahre war sie dünner und weniger auffällig geworden, aber für ihr eigenes Empfinden stach sie immer noch wie ein dilettantisch aufgeklebter roter Faden aus ihrem Gesicht hervor. Ihre Finger zogen sorgfältig und schnell die einzelnen Strähnen ihres Ponys in Form, damit der Makel bestenfalls noch zu erahnen war. Erst danach wusch sie sich ihr Gesicht.

Sie nahm ihre Armbanduhr von der weißen Keramikablage unterhalb des Spiegels. Während des Anlegens sah sie flüchtig auf das Zifferblatt; sie musste los. In einer hektischen Drehung wirbelte sie in Richtung der Tür und sofort ereilte sie ein reißender Schmerz. Aus dem Augenwinkel heraus erhaschte sie ihr Spiegelbild. Ihr hübsches Gesicht hatte sich in Sekundenbruchteil in eine greisenhafte Fratze verwandelt. Ihre Hand glitt suchend am Waschbeckenrand entlang, bis sie endlich Halt fand. Der massive Schmerz ließ nach und ihre Gesichtszüge entspannten sich wieder. Sie humpelte zurück ins Schlafzimmer. Mit bedächtigen Bewegungen, die absolut nicht zu ihrem Alter passten, zog sie sich an.

Doro nahm die Tablettenschachtel von ihrem Nachttisch, drückte zwei Schmerztabletten aus der Blisterpackung, steckte sie in den Mund und warf den Kopf in den Nacken, damit die Pillen auch ohne Wasser ihren Hals hinunterglitten. Sie wiederholte den Vorgang, dann war sie bereit, das Haus zu verlassen. Im Vorbeigehen nahm sie den schwarzen Lederrucksack und ihren Schlüsselbund vom Flurtischchen. Während sie die Wohnungstür hinter sich schloss, dachte sie darüber nach, ob sie das Auto nehmen oder zu Fuß in die Redaktion gehen sollte. Als sie hinaus ins Freie trat, hatten sich bereits die ersten Sonnenstrahlen durch den Morgennebel gekämpft. Sie hob den Kopf, die Wärme auf ihrer Haut tat gut und erhellte die lichtlosen Winkel ihrer Seele. Solche Momente waren selten und deshalb galt es umso mehr, sie so lange wie möglich auszukosten. Ihre Entscheidung war gefallen. In Kürze setzte die Wirkung der Schmertabletten ein und sie beschloss, den knappen Kilometer ins Büro zu laufen.

Sie folgte der Straße, die sich in mehreren sanften Kurven, bergab in Richtung der Ortsmitte schlängelte. In den Gärten blühten schon Dahlien, Astern und Herbstanemonen. Ihr Blick wanderte weiter zu dem kleinen Park am unteren Ende der Straße. Die Herbstzeitlosen übersäten die Rasenflächen mit ihren zartlila Kelchen und das Laub der Bäume hatte satte Rot- und Goldtöne angenommen. Ein sicheres Zeichen, dass der Sommer endgültig vorüber war und der Herbst sein Zwischenspiel gab, bis diesem schließlich die kalten, dunklen Monate folgten, die sie so verabscheute, denn es war die Zeit der schweren Gedanken, der Selbstzweifel, der Einsamkeit und der Hoffnungslosigkeit, die sich in all den Jahren nicht aus ihrem Verstand vertreiben ließ.

Bald fünf Jahre lag der Unfall nun zurück, der ihr Leben radikal verändert hatte, trotzdem kam es ihr vor, als wäre es gestern gewesen. Die Länge eines Wimpernschlages hatte ihre Zukunft als Vielseitigkeitsreiterin zerstört, hatte ihren großen Traum, auf den sie seit ihrer Jugend hingearbeitet hatte, wie eine Seifenblase platzen lassen. In den Wochen und Monaten danach war Doro in ein bodenloses Loch gestürzt, aus dem ihr bis heute keine Befreiung gelang. Zu tief waren die Spuren, die der Unfall hinterlassen hatte, auf ihrem Körper als unschöne Narben und auf ihrer Seele als schwelende Wunden, die nicht verheilen wollten. Sie waren die schlimmsten. Vielleicht taten sie mittlerweile ein bisschen unterschwelliger weh, doch der Schmerz saß immer noch tief genug, damit sie weder Ruhe noch Frieden fand. Selbst nach all den Jahren, fühlte sie sich verkrüppelt, nutzlos, entstellt und wenig begehrenswert und ihr innigster und gleichzeitig absurdester Wunsch war das Nichtauffallen geworden. Sie wollte in der Anonymität versinken, die ihr nicht nur Unterschlupf gewährte, sondern auch Schutz versprach. Besonders schwer zu ertragen waren die stillen Momente, in denen sie alleine war, dann holte sie die Vergangenheit ein. Bleischwer hingen die Erinnerungen in ihrem Kopf fest, ließen sich nicht abschütteln und umhüllten sie mit der Endgültigkeit eines Leichentuchs. Nein, diese Gefühle umhüllten sie nicht, denn aus einer Umhüllung hätte sie sich befreien können, sie umschlangen Doro mit ungeahnter Kraft und formierten sich, um sie zu erdrücken. Sie nahmen ihr die Luft zum Atmen und die Lust am Leben. Sie hielten sie solange gefangen, bis sämtliche Farbe aus ihrer Welt wich. Übrig blieb Schwarz. Nichts als leeres Schwarz. Und die Frage, um die unermüdlich ihre Gedanken kreisten. Eigentlich war es keine richtige Frage, sondern nur ein einzelnes Wort: Warum?

Doro wusste genau, dass es auf dieses Warum keine vernünftige Antwort gab, denn sie war einfach nur an jenem Tag zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. So etwas nannte sich Schicksal… Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war Viertel vor Neun. Wenn sie vor Maar in der Redaktion sein wollte, musste sie sich beeilen.

Kapitel 2 – Das Interview

Doro stürmte an den Empfangstresen im Eingangsbereich. Atemlos stützte sie die Arme auf das halbhohe Sperrholzungetüm, das dem aparten Siebziger-Jahre-Design nach zu urteilen, mindestens zehn Jahre älter war als sie selbst.

„Morgen, Doro. Alles okay mit dir?“, wollte Lille wissen, die gerade mit dem Sortieren der Hauspost beschäftigt war.

Lille hieß eigentlich Liliane Sommer und war beim Boten eine Art Mädchen für alles. Vom Empfang der Besucher über die Kleinanzeigenannahme am Schalter, bis hin zur Postverteilung schloss ihre Tätigkeit so ziemlich jede Arbeit ein, auf die andere keine Lust hatten.

„Ja, klar. Ich habe bloß total verpennt. Ist er schon da?“, fragte Doro.

„Wer?“ Lille strich sich schwungvoll eine dicke, rote Locke hinters Ohr, ohne von ihren morgendlichen Sortierarbeiten aufzusehen.

„Alexander Maar. Der Typ, mit dem ich das Interview führen soll.“

„Nein. Der hat vor ein paar Minuten angerufen. Der kommt erst gegen Zehn.“ Lille sah von ihrer Arbeit auf. „Willst du einen Kaffee?“

Doro nickte wortlos, während sie sich insgeheim wunderte, wie frisch Lille nach dem gestrigen Gelage wieder aussah und woher sie ihre unverschämt gute Laune nahm.

Lilles Kaffee war legendär. Das schwarzbraune Zeug schmeckte zwar nicht, aber es war stark und eignete sich ausgezeichnet zur Katerbekämpfung. Sie folgte Lille in die kleine Kaffeeküche am Ende des Gangs. Die Art, wie leichtfüßig sich ihre Freundin, trotz ihrer ausgeprägten Rubensformen bewegte, faszinierte sie seit jeher. Aber da war noch mehr. Nicht selten wünschte sie sich wenigstens ein bisschen von Lilles unerschütterbarer Frohnatur und ihrem Glauben daran, dass alles im Leben nicht nur seinen Sinn hatte, sondern, dass alles eines Tages auch wieder gut werden würde. Sie beobachtete Lille, wie sie den Kaffee eine Spur zu schwungvoll in die Tasse kippte und einen Teil der Brühe zum Überschwappen brachte. Die Folge waren einige unschöne Spritzer auf Lilles grün-orange-pink geblümter Baumwollbluse, die ihrem ausgeprägtem Ökolook jedoch keinen Abbruch taten. Lille grinste und hob in einer Na-was-solls-Geste die Schultern.

Doro nahm ihr den Becher ab. „Danke, Lille. Was würde ich bloß ohne dich machen?“

„Kläglich untergehen“, scherzte Lille zurück, doch Doro wusste, dass sie recht hatte.

Mit dem randvollen Becher in der Hand machte sie sich auf den Weg zu ihrem Büro. Wenn sich Maar schon verspätete, wollte sie die restliche Zeit nutzen, um noch einmal ihre Notizen durchzugehen.

Sie packte ihr Notebook aus dem Rucksack und legte es auf den Schreibtisch. Das moderne Gerät wirkte auf der abgegriffenen Holzplatte wie ein Gegenstand aus einer anderen Welt. Denn ihr Büro war, wie alle anderen Räume auch, vor ungefähr vierzig Jahren das letzte Mal neu eingerichtet worden. Lille tröstete sie immer damit, dass die Siebziger momentan wieder voll im Trend lagen…

Doro setzte sich an ihren Schreibtisch und seufzte leise. Das Interview mit Alexander Maar lag ihr tonnenschwer im Magen. Maar war nicht nur Historiker, sondern auch ein passionierter Sammler alter Beschwörungsbücher und sein Spezialgebiet war die Dämonologie. Sie hatte sich bei ihren Recherchen intensiv bemüht, aber leider keinen finalen Zugang zu diesem Thema gefunden. In ihrem tiefsten Innern hielt sie Dämonenforschung für ausgemachten Quatsch. Genauso wenig, wie es in ihren Augen einen gütigen, Gerechtigkeit liebenden Gott oder Engel, gleich welcher Form gab, genauso wenig glaubte sie an die Existenz von Teufel, Fegefeuer, höllischen Legionen, Dämonen oder irgendwelchen Mischwesen, die aus den Verbindungen zwischen Mensch und Dämon hervorgehen konnten. Das war Blödsinn. Geister, Dämonen, Vampire, Werwölfe oder sonstige Fabelwesen existierten nicht und als logische Schlussfolgerung konnte sich somit auch kein Mensch mit ihnen paaren.

Sie nippte an ihrem Kaffee, verzog angewidert das Gesicht, kippte den restlichen Inhalt des Bechers in den nahezu blattlosen Benjamini auf der Fensterbank und schob den Kaffeepott bei Seite. Sie nahm ihren erbarmungswürdig kurzen Fragenkatalog zur Hand. Offensichtlich gab es nicht viel, was sie von Alexander Maar wissen wollte und noch immer konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, was einen erwachsenen Mann dazu brachte, sich beruflich mit solch abgedrehtem Kram zu beschäftigten.

Das Läuten des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sie nahm den Hörer ab. „Bergmann.“

„Dein Besuch ist da“, flötete Lilles fröhliche Stimme am anderen Ende in die Leitung.

„Führst du ihn bitte ins Besprechungszimmer? Ich komme gleich.“

„Klar doch.“

„Danke, Lille“, gab sie zurück und legte auf; sie packte ihre Unterlagen zusammen und ging ins Erdgeschoss.

 

Doro stand vor der Tür des Besprechungszimmers. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal vor einem Termin derart nervös gewesen war. Zögernd legte sie ihre Hand auf die Türklinke, in der Hoffnung, dass sich ihre momentane Aufregung in den nächsten Sekunden doch noch legte. Maar wartete jetzt schon über fünf Minuten. Ob es ihr passte oder nicht, sie musste da rein.

Alexander Maar stand am Fenster. Er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und machte keine Anstalten, sich nach ihr umzudrehen. Leise schloss sie die Tür und ging die wenigen Schritte zum Konferenztisch herüber, um ihre Sachen abzulegen; Doro ließ Maar dabei nicht aus den Augen. Er war normal groß, hatte halblanges, dunkles Haar; seine Figur wirkte schlank und insgesamt wohl proportioniert.

„Alexander Maar?“, fragte sie.

Ihr Gesprächspartner drehte sich in ihre Richtung. „Ja.“

Doro umrundete den Konferenztisch und hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen. „Dorothea Bergmann. Ich werde mit Ihnen das Interview führen. Es freut mich, Sie persönlich kennenzulernen. Ich habe bei meinen Recherchen viel über Sie gelesen…“

„Was Sie nicht sagen, Fräulein Bergmann.“

Alexander ergriff ihre Hand. Sein Händedruck war fest und angenehm warm, und obwohl in seiner Stimme keine erkennbare Gefühlsregung lag, hatte sie einen samtigen Klang.

„Frau Bergmann, bitte“, korrigierte sie ihn.

Alexander ließ ihre Hand los. „Gut, Frau Bergmann, dann lassen Sie uns anfangen.“ Er wies mit einer lustlos wirkenden Geste auf den Stuhl rechts neben ihm.

Doro lächelte kurz und hoffte, auf diese Weise das Eis zwischen ihnen zu brechen. Bevor sie sich setzte, legte sie Notizbuch, Kugelschreiber und die Mappe mit ihren Recherchen zurecht. Alexander hatte sie die ganze Zeit beobachtet, aber sein teilnahmsloses Gesicht verriet weiterhin nichts über sein Innerstes. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig, vielleicht war er auch älter. Maar schien weiter abzuwarten, er räkelte sich in dem weißen Lederfreischwinger, bis er eine bequeme Sitzposition gefunden hatte, dann schlug er seine Beine übereinander und nahm eine fast statuenhafte Haltung ein. Ihr Blick war jeder seiner geschmeidigen Bewegungen gefolgt und es stand außer Frage, ihr Gesprächpartner war ebenso unnahbar wie attraktiv.

„Frau Bergmann, können wir jetzt bitte anfangen? Meine Zeit ist begrenzt“, sagte er höflich, aber bestimmt.

„Ja, natürlich.“ Doro blickte auf und sah Alexander ins Gesicht. Seine Züge waren männlich, aber nicht ausgesprochen markant. Die Wangenknochen sprangen leicht hervor. Seine Nase war gerade, wenn auch einen Tick zu breit und auf seinem scharf gezeichneten Kinn und seinen Wangen lag der erste Anflug eines dunklen Bartschattens. Die ebenmäßig geschwungenen Lippen seines Mundes formten ein amüsiertes Lächeln.

„Geht es Ihnen heute gut, Frau Bergmann?“, fragte Alexander. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.

„Ja, und vielen Dank, dass Sie für dieses Gespräch Zeit gefunden haben“, antwortete Doro und wunderte sich, wieso er das Wort heute in seiner Frage benutzte.

„Gerne“, gab Alexander mit einem leichten Unterton der Eile zurück.

Sie schlug ihr Notizbuch auf und nahm den Kugelschreiber zur Hand, damit ihre Finger beschäftigt waren. „Herr Maar, Sie haben einen ungewöhnlichen Beruf.“

„Was ist am Beruf des Historikers ungewöhnlich?“

„Ich meine damit mehr das Thema, mit dem Sie sich beschäftigen. Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet die Beschwörung von Dämonen zu erforschen?“

„Ich hatte schon immer eine Schwäche für die Aktivitäten der dunklen Seite. Außerdem sind Dämonen faszinierende Geschöpfe.“

Alexander lehnte sich zurück. Seine langgliederigen Finger durchfuhren sein volles Haar und verschränkten sich schließlich in seinem Nacken. Unter dem dünnen Stoff seines hellen Hemdes zeichnete sich ein durchtrainierter Oberkörper ab.

Doro widmete sich ihren Notizen, bevor sie wieder anfing, ihn anzustarren. „Und was ist das Faszinierende an ihnen?“, fragte sie.

„Sie verfügen über Wissen, Macht und Fähigkeiten, die der Menschheit verwehrt sind. Man könnte diese Wesen durchaus als vollkommen bezeichnen.“

Stichwortartig schrieb sie mit. „Vorausgesetzt es gibt sie. Gelten Dämonen nicht von alters her als Urheber von Krankheiten?“

Alexander machte eine abfällige Handbewegung. “Frau Bergmann, Ratten sind Überträger von Krankheiten!“

„Aber Sie stimmen mir zu, dass Dämonen Diener des Bösen sind.“

Er grinste selbstverliebt. „Sehen Sie, Gut und Böse sind beides Extreme, die sehr nah beieinander liegen. Meinen Beobachtungen zu Folge, sind die Grenzen dazwischen fließend.“

„Können Sie mir das näher erläutern?“, fragte Doro. Zu ihrer eigenen Überraschung, war ihre anfängliche Aufregung komplett verflogen.

„Sicher“, entgegnete Alexander, auch er schien nicht mehr ganz so leidenschaftslos wie zu Beginn ihres Gespräches, „Sagt Ihnen der Name Gilles de Rais etwas?“

„Natürlich. Rais war ein französischer Feldherr des fünfzehnten Jahrhunderts und zudem ein brutaler Massenmörder. Ihm wird nachgesagt, er hätte vor jeder Schlacht die zweiundsiebzig Hauptdämonen der Ars Goetia um Beistand gebeten. Belial war übrigens sein Favorit.“

„Beliar.“

„Belial, Beliar. Das ist ein und derselbe Dämon. Im Mittelalter war er wohl recht populär. In vielen Berichten wird sogar behauptet, Beliar wäre der Teufel persönlich.“

„Bravo, wie ich sehe, haben Sie sich vorbereitet. Aber was Rais betrifft, so weisen Ihre Recherchen leider Lücken auf.“

Sie blickte ihn fragend an.

Alexander fuhr fort: „Wussten Sie etwa nicht, dass der ehrenwerte Gille auch mit dem Schutz Jeanne d´Arcs beauftragt war? Und wenn ich mich recht erinnere, stand die Dame auf der Seite der Guten. Zumindest aus französischer Sicht.“

„Herr Maar, Sie wollen nicht ernsthaft Rais als Heilsbringer glorifizieren. Nicht nach den Verbrechen, die er begangen hat.“

„So, welche denn?“

„Immerhin hat er einhundertvierzig Kinder auf grausamste Weise getötet!“, erwiderte Doro aufgebracht.

Alexanders Gesicht hatte wieder diesen unnahbaren Ausdruck angenommen. „Und durch seine militärischen Siege hat er abertausende Franzosen vor Repressalien durch die Engländer bewahrt. Ich missbillige, genau wie Sie, Rais Abartigkeiten, aber sehen Sie es von einer höheren Warte aus. Objektiv betrachtet war der Stellenwert seiner Vergehen gering, im Vergleich zu seinen Verdiensten für sein Volk, sonst hätte man ihn nicht Jahre lang gewähren lassen.“

Es kostete sie Überwindung, Alexanders Gedanken zu folgen. Emotionslos betrachtet hatte er im Kern der Sache vielleicht Recht, trotzdem wollte sie nicht seine Meinung teilen.

„In meinen Augen hinkt Ihr Vergleich“, entgegnete sie mit einem spürbaren Anflug von Zorn in der Stimme.

Alexander verschränkte die Arme vor der Brust und beugte sich ihr entgegen. „Eigentlich geht es mir gar nicht um Rais, sondern um die Position des scheinbar Guten im Allgemeinen. Warum hat das Gute die Perversion gegen die Kinder überhaupt zugelassen? Wo ist das Gute, wenn es darum geht, die Menschen vor Kriegen, Krankheit und Selbstzerstörung zu bewahren?“

Alexanders Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Obwohl sie kein gläubiger Mensch war, hatte sie sich nach dem Unfall oft ähnliche Fragen gestellt.

„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht“, gab Doro zurück. Sie konnte nicht leugnen, dass sie auf seine Erklärung gespannt war, doch Alexander blieb ihr die Antwort schuldig. Sie legte den Kugelschreiber bei Seite und sah zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich.

„Wie sieht für Sie das Paradies aus?“, fragte er leise, ohne seine Augen von ihr zu nehmen. Trotz der augenblicklichen Sanftheit seiner Stimme, hatten seine Worte etwas Herausforderndes.

„Auch darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, erwiderte sie halblaut. Eine unterschwellige Unruhe breitete sich in ihrem Körper aus. Die Unterhaltung lief eindeutig in die falsche Richtung und Doro fürchtete, endgültig die Kontrolle zu verlieren.

Alexander Maar lehnte sich zurück. „Das ist seltsam, oder? Im Gegenzug möchte ich wetten, dass Sie eine ziemlich genaue Vorstellung von der Hölle haben. Eine lebensfeindliche Einöde, die aus Trostlosigkeit, Feuer und gequälten Kreaturen besteht.“

Stück für Stück übernahm er die Gesprächsführung. Doros Herz hämmerte vor Aufregung heftig gegen ihre Rippen, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben.

„Ich denke, die meisten Menschen haben dieses Bild der Hölle vor Augen“, sagte Doro, während die von Alexander beschriebene Szenerie auf unerklärliche Weise in ihrem Kopf zum Leben erwachte.

Maar lächelte in sich gekehrt. In Doro begann eine eigenwillige Mischung aus Unbehagen und Faszination zu keimen. Sie spürte, wie sein Einfluss auf sie immer stärker wurde. Irgendetwas passierte mit ihr, für das sie keine Erklärung fand.

„Wenn Sie mich fragen, Frau Bergmann, liegt es daran, weil jeder Mensch seine ganz eigene Hölle durchlebt. Nehmen wir nur Ihren Reitunfall.“

Der Satz traf sie wie ein Faustschlag. „Woher wissen Sie davon?“

„Oh, auch ich habe ein wenig recherchiert. Sie haben immerhin knapp eine Woche lang den Sportteil der Zeitungen im ganzen Land beherrscht. Das tragische Ereignis ist am 13. November vor fünf Jahren passiert. Nicht wahr?“

„Mein Unfall hat mit diesem Interview nicht das Geringste zu tun!“, rief sie.

Alexander musterte sie. „Machen Sie sich nichts vor, unser nettes Plauderstündchen ist weit von einem professionellen Interview entfernt.“

Doro hatte Mühe, weiterhin ruhig zu bleiben. „In jedem Fall schweifen wir gerade vom Thema ab“, versuchte sie sowohl ihn als auch ihre aufsteigende Angst abzublocken. Etwas Starkes tastete plötzlich nach ihrem Innersten und sie war außer Stande, es zu stoppen.

„Keineswegs“, fuhr Alexander ruhig fort, „Beschreiben Sie mir bitte Ihre Gefühle, als Sie erfuhren, dass sich alle Ihre Zukunftspläne plötzlich in Luft aufgelöst hatten.“

Die Erinnerung an diesen Tag schmerzte und Maar hatte kein Recht dazu, sie mit seinen Fragen zu quälen. Doros Angst drohte in Panik umzuschlagen und sie verspürte den Drang aus dem Zimmer zu flüchten, doch eine unsichtbare Kraft hielt sie zurück.

„Sie haben nicht die leiseste Ahnung, was ich empfunden habe. Also, hören Sie auf in etwas herumzustochern, was Sie nichts angeht!“, entgegnete sie und wunderte sich gleichzeitig über die Bestimmtheit, mit der die Worte über ihre Lippen kamen.

Alexander legte überrascht den Kopf schief, anscheinend ging es ihm ähnlich. Dann stand er mit einem Mal hinter ihr. Seine Hände ruhten auf ihren bebenden Schultern. Seine Daumen fuhren in kreisenden Bewegungen ihren Nacken entlang.

„Beruhigen Sie sich, Frau Bergmann. Ich will Ihnen nur helfen“, sagte er dicht neben ihrem Ohr.

Seine Stimme floss wie ein warmer Strom aus Ruhe und Sanftheit durch ihren Körper. Ihre Anspannung ließ nach; ihre Angst zog sich in einen entlegenen Winkel ihres Ichs zurück. Sie fühlte sich von allem befreit, was sie bis dahin belastet hatte. So unglaublich es auch klang, genau in diesem Moment war sie glücklich und sie genoss die Berührungen, die von seinen warmen, weichen Händen ausgingen.

„Es stimmt, dass diese Zeit eine Art Hölle für mich war“, erwiderte sie leise, „Aber das liegt Jahre zurück und mittlerweile habe ich mich mit meinem neuen Leben arrangiert.“

Alexander Maar war auf seinen Platz zurückgekehrt. „Verzeihung, aber Ihre Beschreibung klingt alles andere, als zufrieden.“

Seine Worte zerrissen Doros Wohlgefühl. Auf Alexanders Gesicht lag ein eigentümlicher Ausdruck. Er schien von abwartend über besorgt bis hin zu einer tiefen, innerlichen Befriedigung so ziemlich jede Gefühlsregung zu umfassen.

„Träumen Sie nicht manchmal davon, dass Ihre körperliche Beeinträchtigung reparabel wäre?“, fragte er.

„Eine verlockende Vorstellung, aber leider völlig illusorisch“, antwortete sie.

Alexander lächelte verständnisvoll. „Das ganze Leben besteht aus Verlockungen. Na los, gönnen Sie sich ein paar Minuten Träumereien.“

Doro erwiderte sein Lächeln. „Und was wird aus unserem… Interview?“

„Das ist jetzt Nebensache. Ich werde Ihnen die entsprechende Information geben, die Sie für Ihren Artikel brauchen.“

Sie legte ungläubig ihre Stirn in Falten. „Und Sie lassen mich auch bestimmt nicht hängen?“

Alexanders Lippen bogen sich zu einen breiten Grinsen nach oben. „Nein. Das verspreche ich Ihnen.“

„Also, gut. Ich habe mir mehr als einmal Gedanken darüber gemacht, wie eine zweite Karriere für mich aussehen könnte. Um im Profireitsport noch einmal von vorn anzufangen, bin ich zu alt, aber ich könnte als Trainerin arbeiten. Mein Ziehvater besitzt in der Nähe sogar einen Reitstall und ich glaube, er könnte tatkräftige Unterstützung gut gebrauchen. Ich hätte auch einige Ideen, was wir verändern könnten…“ Sie machte eine Pause. Alexander nahm mit erschreckender Leichtigkeit ihren Gedankenfaden auf und führte ihn fort.

„Mit den richtigen Sponsoren könnten Sie mit etwas Glück ein richtiges Reitsportzentrum aufbauen. Dazu noch ein paar lukrative Beraterverträge. Sie hätten ein sorgenfreies Leben“, sagte er.

Doro nickte, während sich die angenehmen Gefühle aus ihrem Körper zurückzogen, um einer abgrundtiefen Unzufriedenheit zu weichen.

„Hören Sie auf damit, Maar! Sie wissen genau, das sind nichts weiter, als Hirngespinste“, rief sie unbeherrscht.

Alexanders geheimnisvolle Augen fixierten sie. Sein Gesicht hatte eine Ernsthaftigkeit angenommen, die es ihr unmöglich machte, seinem Blick auszuweichen. Ihre Hände ballten sich unter der Tischplatte zu Fäusten. Sie fühlte, wie sich ihre Fingernägel in die Haut ihrer Handflächen gruben. Auf unerklärliche Weise schien Dank Alexander Maar ihr verlorengeglaubtes Leben wieder in greifbare Nähe zu rücken. Ein Strudel aus Gedanken wirbelte in ihrem Kopf herum. Was, wenn ihr tatsächlich jemand helfen konnte. Wenn es Spezialisten gab, die über neuartige Behandlungsmethoden verfügten, von denen sie bislang nichts gehört hatte? Wieso sollte sie diese Chance ausschlagen? Sie wollte doch nichts Verwerfliches. Sie wollte nur endlich wieder sie selbst sein, und das war ein legitimer Wunsch.

Alexander betrachtete sie abwartend. „Ich sehe es Ihnen genau an, Sie ziehen in Betracht, dass ihre Träume nicht nur bloße Hirngespinste sind. Lassen Sie uns noch einen Schritt weiter gehen. Welcher Preis erschiene Ihnen dafür angemessen, wenn Sie wieder in Ihrem alten Beruf arbeiten könnten? Und seien Sie ehrlich mit sich selbst, das hier…“, er machte eine Handbewegung, deren Bestimmtheit alles im Umkreis von einem Kilometer einschloss, „…ist nicht die Zukunft, die Sie sich vorstellen.“ Alexanders seidenweiche Stimme nährte die maßlose Gier, die in Doro aufkeimte und betäubte den kritischen Teil ihres Verstands. Sie wog ab, was es kosten konnte. Schlimmstenfalls eine Beteiligung an ihrem zukünftigen Erfolg. Ein akzeptabler Preis.

„Jeder, der nötig ist“, sagte sie mit fester Stimme.

„Sind Sie sich da auch ganz sicher?“

„Ja.“ Ihr Blick streifte eine Randbemerkung auf ihrem Notizblock, der sie bisher keine Bedeutung beigemessen hatte. Bedenke gut, welchen Dämon du um Beistand ersehnst. Jeder von ihnen hat seinen Preis und der könnte deine Seele sein.

Doro sprang auf. Schlagartig lichtete sich der gedankliche Nebel in ihrem Kopf. Was hatte sie getan? Sie hatte keine Ahnung, wer dieser Alexander Maar in Wirklichkeit war. Wie war es ihm gelungen, derart leicht in ihren Verstand vorzudringen?

„Wer zum Teufel sind Sie, Maar?“, fragte sie.

Alexander ging lächelnd auf sie zu. Dicht vor ihr blieb er stehen, dann legte er seine Lippen nahe an ihr Gesicht und flüsterte: „Ich kann Sie beruhigen, liebe Dorothea, der bin ich nicht.“

Ein kalter Schauer lief über Doros Rücken. Regungslos sah sie zu, wie er den Raum verließ.

Kapitel 3 – Seltsame Ereignisse

Lille wollte Doro noch auf ein Glas Wein einladen, doch sie lehnte ab. Das Interview mit Maar hatte sie durcheinander gebracht und sie benötigte Zeit für sich, um in Ruhe darüber nachzudenken, so hatten sie sich für den folgenden Morgen um halb acht im Café Baier verabredet.

Es dämmerte bereits, als Doro ihre Wohnungstür aufschloss. Auf dem Heimweg war sie noch an dem kleinen Supermarkt vorbeigegangen. Sie hatte ein Schälchen Gartensalat mit Joghurtdressing und eine Aufbackpizza mitgenommen. Außer Diavola waren alle anderen Sorten ihrer Lieblingsmarke ausverkauft gewesen. Es gab Tage, die waren wirklich seltsam. Sie legte ihren Rucksack auf seinen angestammten Platz.

 

Eine halbe Stunde später hatte sie geduscht, saß in ihrem blassrosa Bademantel auf der Couch und hielt die ofenheiße Pizza in der Hand. Auf dem Couchtisch hatte sie den Salat und ein Glas Rotwein abgestellt. Da das Fernsehprogramm nur die üblichen Wiederholungen bot, entschied sie sich für ein Buch, das sie sich vor einiger Zeit gekauft hatte. Vielleicht half ihr das Schmökern, Abstand von dem merkwürdigen Interview zu bekommen. Sie biss von ihrer Pizza ab und begann zu lesen, doch schon nach wenigen Seiten legte sie das Buch wieder aus der Hand. Doro seufzte, als ihr Blick beim Zuschlagen des Buchdeckels auf den verheißungsvollen Titel fiel: Gute Geister.

Gute Geister hätte sie heute selbst brauchen können. Immer wieder liefen Szenen des Interviews filmgleich in ihrem Kopf ab. Zu Anfang gab sie Maar die Schuld, dass die Sache derartig aus dem Ruder gelaufen war, aber da lag sie falsch. Sie hatte sich schlecht vorbereitet und den Abend vorher volllaufen lassen, deshalb war sie heute Früh mit einem Mordskater aufgewacht, der auch ihre völlig überzogene Reaktion bei dem Gespräch erklärte. Sie hatte es schlicht und ergreifend versaut. Wütend schleuderte Doro den leeren Pizzateller auf den Couchtisch. Der Teller rutschte gegen das Rotweinglas und brachte es zum Kippen. Eine große, dunkelrote Lache floss in Richtung Tischkante und drohte, sich auf den hell beigefarbenen Wollteppich zu ergießen. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig ihren Teller unter die Kante zu halten, um den Wein aufzufangen. Sie brachte das Gefahrgut in die Küche, riss ein paar Küchentücher von der Rolle, schnappte unsanft die Weinflasche am Hals und kehrte zurück ins Wohnzimmer.

Ihre Selbstverärgerung hatte sich etwas gelegt, umso mehr beschäftigten sie nun die möglichen Konsequenzen ihres Versagens. Der Artikel über Alexander Maar sollte in der Samstagsausgabe erscheinen, das bedeutete, sie musste ihren Text spätestens morgen Vormittag abgeben. Einen Rohentwurf gab es zwar, aber der war leider wie alles, was mit diesem Job zusammenhing, ausgesprochen dürftig. Sollte Maar sein Wort brechen, war sie geliefert.

Doro waren in der letzten Zeit einige Schnitzer unterlaufen und ihr Chef hatte sie bereits verwarnt. Falls sie diesen Job vermasselte, konnte sie von Glück sagen, wenn sie in Zukunft noch die Pflanztipps des Obst- und Gartenbauvereins verfassen oder über die Jahresfeier des Männergesangsvereins berichten durfte. Wenn sie Pech hatte, drohte ihr die Kündigung und das war, nach Lage der Dinge, das Wahrscheinlichste. Ihre innere Unruhe trieb sie ans Fenster. Sie trat auf den schmalen Balkon vor ihrem Wohnzimmer und starrte in die Dunkelheit. Obwohl es noch nicht spät am Abend war, lag über dem Städtchen bereits nächtliche Stille. Ihre Augen wanderten über den bewaldeten Hang auf der anderen Seite des Tals und folgten dem Verlauf des Bergrückens bis zu seiner höchsten Erhebung, der Marienklinge. Das schwache Mondlicht reichte aus, dass sie Bäume und Felsvorsprünge auf dem Kamm schemenhaft erkennen konnte. Ein bläulich-weißes Leuchten weckte ihre Neugierde. Sie hatte es in den letzten Tagen schon einmal beobachtet.

In früheren Zeiten wurden Erscheinungen auf der Marienklinge stets als böses Omen gedeutet, aus diesem Grund war vor einhundertfünfzig Jahren auf dem kahlen, steil abfallenden Felsen ein vergoldetes Kreuz errichtet worden, das die Dorfbevölkerung vor Heimsuchungen durch böse Geister, Unwettern und Epidemien schützen sollte. Tatsächlich war seit jenen Tagen das Dorf von Katastrophen verschont geblieben. Das geheimnisvolle Leuchten verschwand wieder. Vermutlich hatten sich ein paar Jugendliche einen Spaß erlaubt und mit Taschenlampen das Marienkreuz angefunzelt.

Doro setzte sich wieder auf die Couch, schenkte Rotwein nach, zündete die Kerze auf dem Tisch an und kuschelte sich unter die warme Filzdecke, die ihr Lille letztes Weihnachten geschenkt hatte. Sie schloss die Augen und erneut kreisten ihre Gedanken um Maar. Der Kerl sah unverschämt gut aus und ihr gefiel sogar sein spröder Charme. Und obwohl sie es nicht wahrhaben wollte, ertappte sie sich bei dem geheimen Wunsch, ihn wieder zu treffen.

 

Pünktlich um 7.30 Uhr war Doro am nächsten Morgen in der Bäckerei. Sie trat an den Verkaufstresen und bestellte ein Frühstück, bevor sie in den hinteren Teil des Geschäftes ging, der als Café genutzt wurde. Lille saß bereits an einem der beiden Tische am Fenster. Von hieraus hatte man einen guten Ausblick auf die Hauptstraße und auf das morgendliche, kleinstädtische Treiben.

Lille empfing ihre Freundin mit einer dicken Umarmung und einem „Morgen, meine Süße, geht´s dir gut?“

„Mhmh“, gab Doro zurück und setzte sich. „Ward ihr gestern noch lange unterwegs?“

„Nee, wir waren noch auf eine schnelle Pasta beim Italiener und das war´s. In dem Kaff ist doch nichts los.“

Die Bedienung brachte zwei voll beladene Tabletts mit Brötchen, Käse, Schinken, Marmelade und einem Kännchen Kaffee und stellte sie auf dem Tisch ab. Die beiden Frauen bedankten sich.

„Und wie war dein Abend?“, wollte Lille wissen.

„Dieser Maar ist mir einfach nicht aus dem Kopf gegangen.“

Lille grinste verschwörerisch, während sie ihren Kaffee umrührte. „Warum wundert mich das nicht?“, sie nippte an ihrer Tasse, „Ich finde ja, er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Johnny Depp?“

„Quatsch, der sieht ganz anders aus.“ Lille war ein ausgesprochener Johnny Depp-Fan und deshalb gab es eigentlich keinen Mann, der in ihren Augen dem Hollywood-Beau nicht ähnlich sah. „Ich finde, die zwei kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen“, versuchte sich Doro, möglichst diplomatisch von diesem Thema zu verabschieden.

Lille schluckte hastig den Bissen hinunter.

„Gut, ich habe es verstanden, aber können wir uns darauf einigen, dass der Kerl ziemlich attraktiv ist?“

„Ja. Schon.“ Doro sah auf die Straße hinaus, um Lilles forschendem Blick auszuweichen.

„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

„Wieso?“

„Weil du ausgesprochen wortkarg bist, was deinen gestrigen Termin angeht. Und das ist nicht die Doro, die ich kenne.“

„Lille, erstens gibt es nichts zu erzählen und zweitens habe ich jetzt einfach keine Lust, über Maar zu reden. Er hat mir ein paar Fragen beantwortet und das war´s.“

„Nehmen wir an, er würde dich zum Essen einladen, was würdest du machen?“ Lilles Hartnäckigkeit bei gewissen Themen brachte Doro immer wieder ins Staunen. Im Moment war sie nicht sicher, ob sie darüber schmunzeln sollte oder ob es sie einfach nur nervte.

„Wahrscheinlich würde ich die Einladung annehmen…“, Doro unterbrach ihre Rede, dann lächelte sie und sagte: „Also schön, er will heute noch einmal in die Redaktion kommen.“

„Jetzt hast du mich echt neugierig gemacht.“

Das war ein völlig falscher Einwurf gewesen, nun würde Lille erst Ruhe geben, wenn sie ihr eine stichhaltige Erklärung lieferte. „Damit du keine falschen Schlüsse ziehst. Unser Treffen ist rein geschäftlich. Er wollte mir lediglich noch ein paar Unterlagen für meinen Artikel vorbeibringen…“, setzte sie an.

„Der ist noch nicht fertig?“, fiel ihr Lille ins Wort; ihre gute Laune war augenblicklich dahin.

„Doch. So gut wie“, versuchte sich Doro herauszuwinden. Die ganze Situation wurde langsam peinlich.

„Aber?“

„Mir fehlen noch ein paar entscheidende Infos, ohne die ich keinen vernünftigen Artikel schreiben kann“, sie hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Schultern, „Herrgott, Lille. Wenn du´s genau wissen willst, ich hab das Interview total in den Sand gesetzt.“

„Wie kommst du darauf?“

Doro seufzte. „Weil das Gespräch völlig aus der Bahn gelaufen ist.“

Lille schüttelte ungläubig den Kopf. „Du hast gut und gern eine Woche Zeit gehabt, um dich auf diesen Termin vorzubereiten. Enttäusch´ mich jetzt bitte nicht.“

Doro strich ihren Pony aus dem Gesicht. „Ich verstehe gar nicht, warum du dich so aufregst?“

Lille schob ihren Teller bei Seite. „Weil ich mich für dich bei Sattmann eingesetzt habe.“

Eugen Sattmann war nicht nur der Zeitungsinhaber, sondern auch ein Cousin Lilles Mutter. Und obendrein hatte er einen Riesennarren an Lille gefressen, weil er keine eigenen Kinder hatte. Doro starrte auf den quadratischen Teller und sortierte verlegen die Brötchenkrümel von einer Ecke in die andere.

„Na, danke. Ich habe mich von Anfang an gefragt, warum Sattmann mit der Geschichte ausgerechnet zu mir gekommen ist und nicht, wie üblich, Kerstin mit den Recherchen beauftragt hat.“

„Weil Kerstin im Moment ganz andere Sorgen hat.“

„Was für Sorgen kann die Frau schon haben? Die hat doch alles. Ein schönes Haus, eine tolle Familie, ihr Mann hat ein gutgehendes Baugeschäft…“

Lille griff über den Tisch und nahm Doros Hand. „He, ich weiß, dass ihr euch nicht sonderlich grün seid. Und es geht im Grunde auch nicht um Kerstin, sondern um Nadine.“

Doro hob den Kopf und blickte Lille direkt in die Augen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, mochte sie die Kleine. Vielleicht deswegen, weil Kerstins Tochter sie ein wenig an sie selbst in jungen Jahren erinnerte. Auch Nadine war eine ausgesprochen talentierte Reiterin und Doro traf sie fast jedes Mal, wenn sie ihren Ziehvater, Eric, in seinem Reitstall besuchte.

„Was ist mit ihr?“, fragte sie.

Lille goss den letzten Rest Kaffee aus dem Kännchen in ihre Tasse. „Das weiß niemand so genau. Der Arzt vermutet, dass sie an Depressionen leidet, hängt wohl mit der Pubertät zusammen. Es hat vor einigen Wochen angefangen. Sie wurde immer stiller und lustloser. Jetzt ist es manchmal so schlimm, dass sie sich in ihrem Zimmer einsperrt. Kerstin weiß einfach nicht, wie sie ihrer Tochter helfen kann und steht selbst die meiste Zeit neben sich. Deshalb hat Sattmann sie beurlaubt.“ Lille reckte plötzlich den Hals und blickte beobachtend in den Verkaufsraum.

„Wenn man vom Teufel spricht“, sie zeigte mit einer Kopfbewegung in Richtung Theke, „Dein Mister Smart ist da und kauft sich was Süßes.“

Doros Kopf schnellte herum. Alexander nahm gerade die Papiertüte mit seinem Einkauf entgegen. Er drehte sein Gesicht in ihre Richtung und sah zu ihr herüber. Sie lächelte, war schon im Begriff die Hand zu heben, um ihn herzuwinken, als sie erkennen musste, dass Alexander keine Anstalten machte, ihren Gruß zu erwidern. Sein stechender Blick schien sie einen qualvoll langen Moment zu durchbohren, bevor er wortlos das Geschäft verließ und wenig später in einem Pulk aus Passanten verschwand. Doro starrte auf ihren leeren Teller und versuchte die Enttäuschung niederzukämpfen, die sich augenblicklich in ihr breitzumachen versuchte.

Lille stand von ihrem Stuhl auf und nahm ihre Freundin tröstend in die Arme. „Ach Liebes, ich kann mit dir mitfühlen, aber manche Männer sind nun mal so. Mal ehrlich, hast du ernsthaft etwas anderes von ihm erwartet?“

Doro schüttelte vage den Kopf. „Du glaubst auch nicht, dass er mir die Unterlagen bringt, oder?“

Lille setzte sich auf den freien Stuhl neben ihr. „Eher nicht.“

„Dann kann ich mir den Artikel abschminken.“

„Sieht ganz so aus.“

Lilles Direktheit konnte mehr als niederschmetternd sein; für Doro kam sie in dieser Sekunde einer Vernichtung gleich. „Am besten, ich schmeiß den ganzen Bettel gleich hin, dann hab ich´s wenigstens hinter mir“, murmelte sie resignierend.

Lille gab ihr einen aufmunternden Schups. „He, Kopf hoch, irgendwie bekommen wir das schon auf die Reihe. Gib mir anderthalb Stunden Zeit, dann komme ich zu dir hoch, okay?“

„Danke, Lille“, flüsterte sie.

 

Wenig später saß Doro in ihrem Büro. Sie klappte ihren Laptop auf und öffnete die Datei mit dem Text, den sie gestern eingetippt hatte. Alles, was da stand war ausgemachter Blödsinn und las sich wie ein missglückter Schulaufsatz. Sie markierte den Text und drückte die Entfernen-Taste. Einen Wimpernschlag später zeigte der Bildschirm vor ihr ein erbarmungslos leeres Dokument. Sie verfluchte Alexander Maar und den Tag ihres Reitunfalls, der sie in diese beschissene Situation gezwungen hatte. Eine Stunde Zeit gab sie sich noch Zeit, sollte der Artikel bis dahin nicht stehen, würde sie zu Sattmann gehen und ihm ihren neuerlichen Fehler beichten.

Das Klingeln des Telefons ließ nichts Gutes ahnen. „Bergmann“, meldete sie sich zögernd.

„Sattmann hier! Frau Bergmann, wären Sie so freundlich und kommen mal kurz zu mir hoch.“

In Doros Hals bildete sich ein dicker Kloß, der kurz davor war, ihre Stimmbänder außer Funktion zu setzen.

„Jetzt, gleich?“, fragte sie heiser.

„Natürlich, jetzt gleich!“, Sattmann klang ungehalten, „Oder passt es Ihnen gerade nicht?“

„Doch, Herr Sattmann. Ist es wegen dem Bericht über den Dämonenforscher?“, versuchte sie Zeit zu schinden.

„Ja, um was soll es denn sonst gehen?“

„Ich komme sofort, ich muss nur noch den Text aus…“, sie brach ab. Es gab nichts zum Ausdrucken, denn sie hatte vor wenigen Minuten ihren gesamten Aufschrieb gelöscht.

„Sie haben mir Ihren Artikel doch bereits mit der Hauspost geschickt.“

Doro stutzte. Sie war sich völlig sicher, ihre Unterlagen hatten dieses Zimmer nicht verlassen. „Entschuldigung, das muss mir wohl entfallen sein“, murmelte sie nachdenklich.

Sattmann atmete hörbar aus. „Frau Bergmann, was ist bloß heute wieder los mit Ihnen?“

Sie wusste, dass ihr Chef keine Antwort auf seine Frage erwartete, denn mit ihr war ständig etwas los.

„Ich bin schon auf dem Weg“, sagte sie und legte den Telefonhörer auf.

 

Doro grübelte fieberhaft darüber nach, wie ihr Entwurf in Sattmanns Reichweite kommen konnte. Noch merkwürdiger war jedoch, wie gelassen er darauf reagiert hatte. Sattmann war für seine aufbrausende Art bekannt, wenn ihm die Texte missfielen. Und die Qualität ihres Geschreibsels hätte ihn eigentlich an den Rand eines Tobsuchtsanfalls treiben müssen. Mit zitternden Fingern klopfte sie an Sattmanns Bürotür.

„Kommen Sie rein, Frau Bergmann.“

Doro trat ein. Sattmann saß hinter seinem Schreibtisch, in einer einladenden Geste bot er ihr den Stuhl ihm gegenüber an.

„Nehmen Sie Platz“, sagte er.

„Danke.“

„Noch einen kleinen Moment, bitte, dann können wir über ihren Artikel sprechen.“ Sattmann widmete sich noch einmal seiner Unterschriftenmappe.

Wenig später legte Sattmann den Füller zur Seite. Er fuhr sich nachdenklich durch die raspelkurzen, grauen Haare, dann zog er ein mehrseitiges Manuskript unter der dicken, schwarzen Mappe hervor.

„Das, was Sie mir hier abgeliefert haben…“, er machte eine Kunstpause, die Doros Puls in schwindelerregende Höhen katapultierte, „ Was soll ich sagen? Dieser Artikel ist wirklich gut.“

Sie traute ihren Ohren nicht. „Wie bitte?“

„Ihr Text gefällt mir sehr gut!“, brüllte Sattmann.

Ich bin nicht taub, sondern irritiert, dachte sie und gab ein ratloses „Danke“ zurück.

„Saubere Arbeit. Bislang waren Ihre Texte immer etwas farblos, aber dieser hier ist gut. Machen Sie genau so weiter.“ Sattmann beschäftigte sich wieder mit dem Inhalt seiner Unterschriftenmappe.

„Ich werde mir Mühe geben“, entgegnete Doro und wandte sich zum Gehen. Sie hatte beinahe die Tür erreicht, als sie noch einmal Sattmanns Stimme hinter ihrem Rücken hörte: „Halt, Frau Bergmann, Ihnen ist auch der Datenstick in den Umschlag gerutscht. Hier, fangen Sie auf.“

Doro hielt den silberfarbenen UBS-Stick fest umschlossen. Am Treppenabgang blieb sie stehen und betrachtete den Datenträger, den sie gedankenverloren zwischen ihren schlanken Fingern drehte. Der Stick gehörte ihr nicht, trotzdem trug er einen kleinen Aufkleber, auf dem ihr Name stand. Für dieses mysteriöse Ereignis gab es nur eine vernünftige Erklärung: Maar hatte sein Wort gehalten. Sie eilte zurück an ihren Schreibtisch und schob den Stick in den Laptop. Wie sie vermutete, stammten die Texte von Maar. Aber wie waren sie in die Hauspost gelangt? Sie musste schmunzeln, denn die Lösung war denkbar einfach. Um 7.30 Uhr wurde die Eingangstür geöffnet und die Hauspostfächer befanden sich für Jeden zugänglich direkt neben dem Empfang, somit stellte es für Maar auch kein Problem dar, den Umschlag in Sattmanns Fach zu deponieren. Doch warum hatte er sie im Café ignoriert? Warum war er nicht an ihren Tisch gekommen, um ihr die Unterlagen zu übergeben? Doros Überlegungen führten zu keinem befriedigenden Ergebnis. Wenn sie eine Antwort wollte, blieb ihr keine andere Wahl, als ihn wiederzusehen.

Kapitel 4 – Späte Besucher

„Nein, das tut mir leid, Frau Bergmann, aber einen Alexander Maar kann ich in unserer Gästeliste nicht finden“, sagte eine jugendlich klingende Frauenstimme am anderen Ende der Telefonleitung.

„Vielleicht ist er schon wieder abgereist? Könnten Sie bitte noch einmal nachsehen?“, entgegnete Doro.

Ein leises Rascheln zeigte an, dass die Frau Papierseiten umblätterte. „Nein“, antwortete sie, „In den letzten Tagen hatten wir keine Buchung unter diesem Namen und, wenn ich ehrlich bin, hatten wir auch keinen Gast, auf den Ihre Beschreibung passt.“

„Verstehe, trotzdem vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Gerne, Frau Bergmann. Auf Wiederhören“, gab die freundliche Stimme zurück. Im nächsten Augenblick hörte sie ein Knacken in der Leitung und ihre Gesprächspartnerin hatte aufgelegt

Müde und enttäuscht strich Doro die letzte Rufnummer auf ihrer Liste. In den vergangenen zwei Stunden hatte sie sämtliche Gästehäuser, Pensionen und Hotels im Umkreis abtelefoniert, ohne Erfolg. Niemand hatte einen Alexander Maar beherbergt und in keinem größeren Hotel hatte ein Historikerkongress oder eine Tagung zum Thema Dämonologie stattgefunden. Allem Anschein nach war Maar aus dem Nichts aufgetaucht und anschließend wieder genauso spurlos verschwunden. Aber Menschen lösten sich nicht einfach in Luft auf. Die überwiegende Mehrheit von ihnen hatte eine feste Adresse. Dieser Grundsatz galt auch für Alexander Maar. Bloß wo und wie sie ihn finden sollte, blieb ein Rätsel.

 

Doro packte ihre Sachen und machte sich auf den Weg zur Stadthalle. Heute Abend fand eines der Kirchbronner Topevents statt. Die Landfrauen prämierten den schönsten Bauerngarten. Vorsitzende des Vereins war Heide Sattmann, die Gattin ihres Chefs, der gleichzeitig auch den Hauptgewinn, in Form eines Warengutscheins im Wert von einhundertfünfzig Euro der Gärtnerei Nellinger, stiftete. Selbstredend, dass Nellinger einer der größten Anzeigenkunden des Kirchbronner Boten war…

Obwohl sich seit Jahren auf den Gewinnerplätzen nichts veränderte, gehörte der Termin ins Kirchbronner Pflichtprogramm und ein Bericht mit Namen und Fotos, der ebenso überraschten wie glücklichen Gewinnerinnen in den Boten. Doro war froh, als sich die Preisverleihung endlich dem Ende neigte. Sie beeilte sich, die Bilder von den strahlenden Gewinnerinnen auf der Bühne zu machen, denn sie wollte schnellstmöglich nach Hause, um ihre Recherchen nach Maar fortzusetzen.

 

Eine Viertelstunde später reihte sie sich in die Schlange vor der Garderobe ein. Während sie wartete, wanderte ihr Blick durch das Foyer. An einem der Stehtische hatte sich die Lokalprominenz versammelt, die aus Bürgermeister Karl Bechtle, dem örtlichen Baulöwen, Jürgen Dörr, und Gärtnermeister Hans Nellinger bestand. Die drei führten ein hitziges Gespräch.

„Du hättest es verhindern müssen“, beharrte Dörr.

„Und wie?“, fragte Bechtle.

„Die Steinach-Mühle hat doch der Stadt gehört, oder?“, zischte Nellinger.

Bechtle zog ein Taschentuch aus seinem Jackett und fuhr sich damit über die schweißnasse Glatze. „Die Stadt ist auf das Geld angewiesen. Hier fällt doch mittlerweile alles auseinander. Das Hallenbad braucht ein neues Dach, die Schule neue Sportgeräte und so weiter und so fort. Was hätte ich eurer Meinung nach tun sollen?“

Dörr straffe seinen schmalen Oberkörper. „Und mein Golfplatzprojekt? Hätte das kein Geld in deine Stadtkasse gespült? Du hättest verdammt noch mal mit mir reden müssen, bevor du das Gelände an diesen komischen Vogel verkaufst.“

„Jürgen, sieh´s doch ein. Du hättest nie im Leben eine Golfanlage genehmigt bekommen. Der ganze Steinachgrund ist Naturschutzgebiet“, verteidigte sich Bechtle.

„Wenn man die richtigen Leute kennt, bekommt man so ziemlich alles genehmigt, Karl. Das solltest du eigentlich am besten wissen.“

Nellinger, der Kleinste und Feisteste der Runde, mischte sich ein. „Mit deinem vorschnellen Verkauf an diesen Maar hast du uns alle und die gesamte Stadt um einen Haufen Geld gebracht, Bürgermeister. Das ist dir hoffentlich klar.“

„Maar hat einen sehr guten Preis für diese Ruine gezahlt. Deutlich mehr, als wir bei der derzeitigen Lage erwarten konnten“, entgegnete Bechtle.

Doro horchte auf. Seit Monaten kursierte das Gerücht, dass die Steinach-Mühle zum Verkauf stand. Sie nahm sich ein Herz und trat zu den Männern an den Stehtisch, auch wenn sie Hans Nellinger und Jürgen Dörr nicht sonderlich mochte. Nellinger war ein geiziger Spießer und Dörr der angeberische Ehemann ihrer Zickenkollegin Kerstin.

„Entschuldigung, habe ich das richtig verstanden?“, wandte sie sich an Bechtle, „Alexander Maar, der Historiker, hat die Steinach-Mühle gekauft? Ich…“

„Haben Sie uns etwa belauscht, Frau Bergmann?“, schnitt ihr Dörr jäh den Satz ab.

„Nein, aber Ihr Gespräch war so laut, dass ich es leider nicht überhören konnte. Und nachdem der Name Maar fiel, dachte ich…“

„Das Denken ist genau Ihr Problem. Gehen Sie und schreiben Sie lieber einen Ihrer nichtssagenden Artikel. Das können Sie doch ausgezeichnet, dann hat meine Frau wenigstens wieder einmal etwas zu Lachen“, entgegnete Dörr.

Der beißende Spott in Dörrs Worten hatte gesessen. Am liebsten hätte sie ihn ein arrogantes Arschloch geheißen, aber leider war Dörr ein wichtiger Anzeigenkunde. Sie biss die Zähne zusammen und suchte statt einer unflätigen Beschimpfung nach den richtigen Worten, um sich elegant aus der Runde zu verabschieden.

„Es reicht, Jürgen“, kam ihr Karl Bechtle unerwartet zu Hilfe, „Frau Bergmann kann nichts dafür, wenn bei dir der Haussegen schiefhängt. Vielleicht solltest du dich besser mal um deine Familie kümmern, als weiterhin aufgeblasenen Golfplatz-Hirngespinsten hinterherzujagen.“

„Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus, Karl. Bislang hat dieses Nest doch an jedem meiner Geschäfte ordentlich mitverdient und ich bin mir sicher, du willst, dass ich auch in Zukunft meine Gewerbesteuer in Kirchbronn bezahle.“

„Tu was du nicht lassen kannst. Ich stehe weiterhin zu meiner Entscheidung“, entgegnete Bechtle mit einem gleichgültigen Unterton in der Stimme, er wandte sich an Doro: „Kommen Sie, Frau Bergmann, lassen Sie uns ein paar Schritte gehen. Frische Luft wird uns bestimmt gut tun.“ Bechtle nahm sie an der Schulter und schob sie sanft in Richtung Garderobe; die Schlange hatte sich zwischenzeitlich aufgelöst. Doro legte ihre Pfandmarke auf die Theke und nahm dankend ihren Mantel entgegen.

„Entschuldigen Sie bitte Dörrs Auftritt“, sagte er, während er Doro galant in den Mantel half. Bechtle war zwar erst Anfang vierzig, aber trotzdem ein Kavalier der alten Schule.

Doro winkte lächelnd ab. „Schon gut. Sie können nichts dafür.“

Er musterte ihr Gepäck. Sie schleppte ihre Handtasche, einen Fotoapparat und den Rucksack mit ihrem Laptop herum.

„Darf ich Ihnen etwas abnehmen?“, fragte er.

„Danke. Gern.“ Sie drückte ihm den Rucksack und die Kameratasche in die Hand. „Ich parke übrigens neben Ihnen“, fügte sie lächelnd hinzu.

Sie schlugen den Weg zum Parkplatz ein. Es war bereits dunkel und die halbhohen, kugeligen Lampen hüllten den von immergrünen Büschen gesäumten Weg in spärliches Dämmerlicht.

„Warum interessiert es Sie, wer die alte Mühle gekauft hat?“, erkundigte sich Bechtle.

„Ich arbeite gerade an einer mehrteiligen Reportage über magische Plätze in Kirchbronn und ich habe Alexander Maar gestern dazu befragt. Er ist Historiker und hat sich auf alte Beschwörungsbücher spezialisiert. Und zufällig ist jetzt auch noch die Steinach-Mühle als der Ort des Grauensim Dorf in der nächsten Ausgabe das Schwerpunktthema.“

„Verstehe“, murmelte Bechtle und verlangsamte nachdenklich seinen Schritt. „Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich dachte immer, Kerstin Dörr schreibt die Berichte für die Sonderausgaben.“

„Sie nimmt gerade eine Auszeit. Ich bin sozusagen ihre Stellvertreterin“, sagte Doro mit hörbarem Stolz.

„Gratuliere“, Bechtles Glückwunsch klang ehrlich, „Ja, um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen. Die Stadt hat die Mühle an Alexander Maar verkauft, aber das ist schon Monate her. Anfangs habe ich mich gewundert, was er dort will. Schließlich zieht es keinen normalen Menschen freiwillig da hin.“ Sie hatten ihre Fahrzeuge erreicht. Bechtle legte Rucksack und Kamera ab und lehnte sie an Doros schwarzen Polo. „Nun, wer sich schon beruflich mit Geistern beschäftigt“, fuhr er fort, „der fühlt sich im Höllengrund bestimmt gut aufgehoben.“

„Sagen Sie bloß, Sie sind abergläubisch.“

„Nein, aber ich gebe es ehrlich zu, auch ich mag den Ort nicht sonderlich“, er deutete ein Frösteln an, „Irgendwie ist es dort immer kälter, feuchter und nebeliger als weiter oben im Tal.“

„Wissen Sie, ob er schon eingezogen ist?“ Doro steckte den Autoschlüssel ins Türschloss. Die Türen entriegelten sich mit einem spröden Klacken.

„Keine Ahnung, das müssen Sie ihn schon selbst fragen“, gab Bechtle zurück und verwandelte seinen Nobel-SUV mit einem Fingerdruck auf das Türschloss in eine aufgeregt blinkende Lichtorgel. „Aber es war nett mit Ihnen zu plaudern, Frau Bergmann. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg mit Ihrem Bericht und einen schönen Abend“, sagte er beim Einsteigen.

„Danke. Gleichfalls“, erwiderte sie.

Bechtle nickte zum Abschied noch einmal in ihre Richtung, zog die Tür zu und war in den nächsten Sekunden aus ihrem Blick verschwunden.

Doro verstaute ihre Sachen auf dem Rücksitz. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie vor Glück platzen würde, wenn sie endlich herausgefunden hatte, wo sich Alexander Maar aufhielt. Doch zu ihrem eigenen Erstaunen stellte sich keine Euphorie ein, sondern ein bohrendes Gefühl der Rastlosigkeit, das ihr kaum den nötigen Raum ließ, um einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Sie schwitzte, ihr Herz raste, ihre zitternden Finger mühten sich ab, den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis der Wagen ansprang. Geräuschvoll legte sie den Rückwärtsgang ein, ließ die Kupplung zu schnell kommen und würgte den Motor ab. Der dritte Startversuch gelang.

 

Doro fuhr gerade vom Parkplatz, als ihr Handy klingelte. Auf dem Display leuchtete die Mitteilung auf: Lille ruft an. Sie überlegte kurz, ob sie abnehmen und Lille von ihrer Entdeckung berichten sollte. Sie beschloss, das Klingeln zu ignorieren. Im Moment kannte sie nur ein Ziel: Die alte Wassermühle. Kurz hinter dem Ortsschild gab sie Gas. Normalerweise fuhr sie auf den tückisch gewundenen Landstraßen selten schnell, doch heute schob sie alle Vorsicht beiseite. Die kahlen, grauen Stämme der Tannen links und rechts der Fahrbahn flogen in halsbrecherischem Tempo an ihr vorbei. Sie passierte die Bushaltestelle am unteren Eingang des Tals, kurz dahinter musste sie links abbiegen. Doro verlangsamte ihre Fahrt, um den unscheinbaren Abzweig nicht zu verfehlen. Der Weg zur Mühle hinunter war holperig, steil und führte durch ein Waldstück mit dichtem Unterholz.

In der Dunkelheit nahm sie einen vagen Schatten wahr. Instinktiv trat sie auf die Bremse. Der Polo schlitterte über den steinigen Untergrund, bevor er endlich stand. Am Rande des Scheinwerferkegels, sah sie eine Eule durch die Nacht flattern.