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Als Joana aufbricht um nach überlieferten Legenden als Stoff für ihr Buch zu suchen, ahnt sie nicht, dass sie bald selbst Teil einer solchen fantastischen Geschichte sein wird. Die Begegnung mit einem leibhaftigen geflügelten Dämon ist für Joana der Beginn einer Reise durch ganz Olasia. Zusammen mit mehreren Verbündeten versucht sie ihre Welt von der Bedrohung durch die Dämonen zu befreien. Einer dieser Verbündeten ist Rob, der zwar ihr Leben rettet, doch gleichzeitig auf rätselhafte Weise mit den Dämonen verbunden zu sein scheint. Dies ist jedoch nicht das einzige Rätsel, das es zu lösen gilt. Wo befinden sich die goldenen Bücher und jene Erben eines uralten Geschlechts, die sie verwenden können? Welche Geheimnisse hüten Joanas Reisegefährten und wer hat das Tor zur Welt der Dämonen geöffnet? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen wird Joana nicht nur mit der Vergangenheit und ihrem Schicksal konfrontiert, sondern auch mit einem Dämonenschließer. Je tiefer sie in seine Geschichte eintaucht, umso hoffnungsloser versinkt sie im Chaos ihrer Gefühle, was ihrer Mission eine weitere Aufgabe hinzufügt: Die Rettung einer verletzten Seele …
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Seitenzahl: 639
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Diana Schwarzentraub
DÄMONENSCHLIEßER
Roman
© 2020 Diana Schwarzentraub
Text: Diana Schwarzentraub
Covergestaltung, Illustration: Diana Schwarzentraub
Lektorat/Korrektorat: Antonia Jost
Verlag: Diana Schwarzentraub, Naunheimer Str. 6, 35585 Wetzlar
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für meine Schwester Heide,
meinen schärfsten Kritiker
und meine größte Inspiration!
Rot.
Das lodernde Feuer fraß alle Farben und ließ nur das rote Licht und die schwarzen Schatten dazwischen zurück. Der Sonnenuntergang tat sein Übriges, erhellte das Rot und vertiefte das Schwarz der beiden Schatten, die sich in Nähe des Waldrandes gegenüberstanden. Schwer atmend. In geduckter Haltung. Zum Angriff bereit.
Die kleinere der beiden schattenhaften Gestalten war ein Mann, der ein langes, schmales Schwert in der Hand hielt. Der andere war kein Mensch. Scharfe Krallen und Reißzähne ersetzten die Waffe. Spitze Ohren und ein Paar lederner Flügel ergänzten die annähernd menschliche Erscheinung.
Etwa dreißig Meter trennten die beiden. Einige Sekunden hielten sie ihre lauernd geduckte Position. Dann stürmten sie, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, wieder aufeinander los.
Der Mann riss das Schwert hoch, über dessen Schneide im Abendlicht und Feuerschein leuchtend rote Funken liefen. Entschlossenheit sprach aus dieser Bewegung.
Das geflügelte Wesen legte mit jedem seiner kraftvollen Sprünge mehrere Meter zurück. Seine Lippen entblösten scharfe Zähne, hinter denen sich ein Knurren löste.
Im Bruchteil von Sekunden trafen die zwei Schatten mit der Wucht der Urgewalt aufeinander. Ein Donnern erfüllte die Luft, als das Schwert des Mannes auf die Klaue des anderen traf. Für die Dauer eines Lidschlages hielten die Kämpfenden in dieser Position inne. Dann breitete der Geflügelte seine schwarzen Schwingen aus und erhob sich mit einem kräftigen Ruck in die Luft. Die beiden so verschiedenen Waffen lösten sich voneinander, und der Schwertträger hatte gerade genug Zeit, sich zur Seite wegzudrehen. Die Krallen seines fliegenden Gegners verfehlten ihn um wenige Zentimeter und gruben sich in den Erdboden.
Und für einen Augenblick schien sich die Kreatur vor dem Menschen zu verneigen.
Der Mann nutzte den Schwung seiner Bewegung, rotierte noch eine Vierteldrehung weiter, fand sein Gleichgewicht wieder und rammte seinem Gegner die Klinge zwischen die halb geöffneten Schwingen in den Rücken.
Rote Funken liefen über die Schneide.
Rot.
Offensives Knacken abgestorbener Äste unter fremden Schuhsohlen riss mich aus dem Schlaf. Von einer Sekunde zur nächsten war ich hellwach und starrte mit klopfendem Herzen zwischen die wenigen Bäume, die mein Lager von der Straße trennten. Am Rand des Ringes aus Licht, den das Feuer um meinen Schlafplatz herum ausbreitete, stand ein Mann. Sein langer Mantel war nass, der Rucksack abgewetzt, die Stiefel dreckig und der Hut tief ins Gesicht gezogen.
„Entschuldigt die Störung. Ich wollte Euch nicht erschrecken!“, sagte er und kam zwei Schritte näher, während ich ihn aus blauen Augen anstarrte.
„Ich habe Euer Feuer vom Weg aus gesehen“, erklärte er weiter. „Und ich habe gehofft, dass ich mich hier etwas aufwärmen kann.“ Er lächelte verlegen, nahm den Hut ab und schlug ihn gegen seinen Mantel. Wassertropfen lösten sich und fielen auf den aufgeweichten Boden.
Langsam ließ ich die Luft entweichen, die ich reflexartig angehalten hatte, und schälte mich aus der feuchten Decke. Er hatte mich erschreckt. Ich war es nicht gewohnt, ganz alleine unter freiem Himmel zu schlafen, und der Wald und die Dunkelheit, in denen es von wilden Tieren vermutlich nur so wimmelte, waren keine sehr beruhigenden Begleiter. Je länger ich darüber nachdachte, umso erleichterter war ich, hier draußen ein menschliches Gesicht zu sehen. Wenn auch ein unbekanntes.
Dem Fremden in die verwitterten bärtigen Züge lächelnd wies ich auf einen Platz am Feuer. Er ließ sein Gepäck zu Boden gleiten und setzte sich neben mich. Gähnend streckte ich meine steifen Gliedmaßen und strich mir die schwarzen Haare aus dem Gesicht, die für gewöhnlich in großen Wellen über meinen Rücken fielen, im Moment allerdings eher nass daran klebten.
„Wann hat es aufgehört zu regnen?“, fragte ich, als mir auffiel, dass sich das stetige Prasseln, das mich schon seit Tagen begleitete, in ein gelegentliches Tropfen aus den Baumkronen verwandelt hatte.
„Vor etwa einer Stunde“, antwortete er und ließ seinen Blick dabei durch mein Lager gleiten.
Viel gab es nicht zu sehen. Das kleine rauchende Feuer, meinen großen Rucksack, den mehrere Lederriemen verschlossen, einen Wasserschlauch, den grünen Umhang, auf dem ich saß, und zwei graue Decken. Alles feucht ebenso wie das, was sich im Rucksack befand: etwas Kleidung, Proviant, ein paar Münzen, leeres Papier, Feder und Tinte, einige Kerzen, ein abgegriffenes Päckchen und ein Brief. Also beinahe mein ganzes Leben.
„Was tut eine Frau ganz alleine hier draußen?“, fragte mein nächtlicher Gast, löste den Blick vom Lager und schaute mir aufmerksam ins Gesicht. In der Dunkelheit hinter uns knackte es. Eisiges Unbehagen stellte die Haare in meinem Nacken auf und ließ mich frösteln. Beunruhigt lauschte ich in die Nacht, hörte nichts weiter und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Besucher.
„Ich bin auf dem Weg nach Mankindra“, antwortete ich schulterzuckend. „Die Dunkelheit kam schneller als, ich dachte. Bis zum nächsten Gasthof habe ich es nicht mehr geschafft.“ Diese Fehleinschätzung ärgerte mich immer noch, vor allem, da Mankindra bereits die nächste Stadt an der Straße war. Die vergangenen Nächte hatte ich in Gasthöfen verbracht und heute auf diesen Luxus besonders angesichts des schlechten Wetters nur ungern verzichtet. Wenigstens schonte diese Übernachtung unter freiem Himmel meine stark begrenzten Ersparnisse.
„Mankindra, so“, murmelte der Bärtige abwesend, während sein Blick nochmals über mein Gepäck glitt und er die Hände in die geräumigen Taschen seines Mantels schob. Er sah aus, als wäre eine Übernachtung in der Wildnis für ihn mehr als alltäglich. Vielleicht konnte ich ihm ja einige spannende Geschichten entlocken.
Ein erneutes Knacken und Rascheln im Wald lenkte mich von meiner Vorfreude auf eine gute Geschichte ab. Nervös fuhren meine Augen am Rand des Lichtkreises entlang. Wieder ein Geräusch in unserem Rücken. Aber diesmal war es ein Bersten. Laut und bedrohlich. Der Mann an meiner Seite sprang auf. Mein Kopf fuhr zu ihm herum. Er hielt ein Messer in der Hand. Woher? Ein Knurren drang aus dem Wald, und dann schoss etwas Großes zwischen den Bäumen hervor. Beinahe zweieinhalb Meter Muskeln, Krallen, Reißzähne und ... Flügel. Alles schwarz. Es bewegte sich schnell.
Während ich noch versuchte, auf die Füße zu kommen, stürzte es sich auf den Mann neben mir. Der chancenlose Dolch wurde ihm aus der Hand gerissen, und das geflügelte Monster grub Krallen und Zähne in seine Brust und seinen Hals. Einer der schwarzen Arme traf mich. Er streifte mich nur, doch das reichte aus, um mich davonzuschleudern.
Mein Kopf schlug schmerzhaft gegen einen Baumstamm. Vor meinen Augen verschwamm das Lager. Ich kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, während ich hilflos dabei zusah, wie der Mann einen schrillen Schrei ausstieß, der zu einem blutigen erstickten Gurgeln wurde, als der geflügelte Angreifer ihn regelrecht zerfetzte.
Schließlich ließ die Kreatur von ihrem Opfer ab und wandte sich mir zu. Sie ging aufrecht auf zwei Beinen. Bewegungsunfähig rang ich noch immer um mein Bewusstsein, doch während ich dalag und das Wesen langsam auf mich zukam, merkte ich, dass ich diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Die Panik in mir war stark, aber nicht stark genug, um gegen den heftigen Schlag, der meinen Schädel erschüttert hatte, anzukommen. Langsam und gegen meinen Willen schlossen sich meine Augen. Das Letzte, was ich sah, war der Umriss des Monsters, das schon viel zu dicht vor mir stand.
Ich erwachte mit schrecklichen Kopfschmerzen, aber ich erwachte. Automatisch zuckte meine Hand zu der schmerzenden Stelle am Hinterkopf. Dort fühlte ich warmes Blut unter den Fingern und versuchte die Augen zu öffnen.
Nur allmählich konnte ich meine Umgebung wieder klarer erkennen. Ich lag noch immer auf der kleinen Lichtung. Wie viel Zeit war vergangen? Das Feuer brannte noch, und drumherum war es Nacht, also vermutlich nicht allzu viel. Andererseits hatte sich die Szenerie verändert. Als wäre ich Zuschauer einer Theateraufführung. Der Vorhang war vor die Bühne gezogen worden und als er sich wieder öffnete, hatte man die Kulissen verändert und die Schauspieler ausgetauscht. In dieser Szene des Stücks fehlten das geflügelte Monster und auch das Opfer. Man hatte mich näher ans Feuer gebracht und eine Decke unter meinen Kopf gelegt – vielleicht war ich eher Requisist als Zuschauer –, und ein neuer Spieler hatte die Bühne betreten.
Neben mir saß ein Mann am Feuer. Er blickte starr in die Flammen. Als ich ihn entdeckte, setzte ich mich ruckartig auf. Das hatte zur Folge, dass mir schlecht und schwindelig und er auf mich aufmerksam wurde.
„Na, da wären wir ja wieder“, sagte er mit einem Augenzwinkern. Seine Gestalt, leicht angewinkelte Knie und darauf abgestützte Arme, hob sich von der Dunkelheit hinter ihm kaum ab. Außer seinem Gesicht, seinen Händen und Unterarmen, die im Kontrast umso heller wirkten, war beinahe alles an ihm schwarz. Hose, Schuhe, das bis zu den Ellbogen hochgewickelte Hemd, seine Haare und auch seine Augen, zumindest beinahe. Eine auffällig große Silberschnalle an seinem Gürtel und ein silbernes Amulett um seinen Hals bildeten die einzige Abwechslung.
Sein Hals ... Die schmale Narbe konnte von seinen chaotisch durcheinanderfallenden und abstehenden Haaren nicht verdeckt werden. Sie begann hinter seinem linken Ohr und lief am Hals hinunter, bis sie vorn unter seinem Hemd verschwand. Ich schätzte, dass er ein paar Jahre älter war als ich, also Mitte bis Ende Zwanzig, auch wenn seine dunklen Augen älter wirkten. Diese sahen mich durchdringend an.
„Alles in Ordnung?“, fragte er ernst. Vorsichtig testete ich meine Knochen und Muskeln, einen nach dem anderen, und kam zu dem Ergebnis: „Ja, schätze schon. Was ist passiert? Wo ist denn dieses geflügelte Monster? Und der Mann? Hast du mich gerettet?“
Noch für eine Sekunde hing sein Blick an mir. Dann richtete er ihn wieder in die Flammen und entgegnete leise: „Ja, schätze schon.“
Über den Kopfschmerz hinweg versuchte ich mich zu konzentrieren. Hatte ich nicht gerade mehrere Fragen gestellt? Ich fügte noch eine weitere hinzu, diesmal leise und eher an mich gerichtet. „Was war das nur für ein Wesen?“ Fröstelnd rutschte ich näher ans Feuer heran und umschlang die Beine mit den Armen. Mein Gehirn zweifelte an meinen Augen und ich an meinem Verstand. „So etwas gibt es doch garnicht!“ Nur in Geschichten und Legenden. Unmöglich! Stärker zitternd schaute ich den Mann neben mir an und wiederholte eine meiner Fragen: „Wo ist der Mann? Mit dem Hut und dem Mantel. Ist er ... tot?“ Die richtige Antwort war offensichtlich, doch die Abwesenheit einer Leiche ließ für einen kurzen Moment die unbegründete Hoffnung zu, dass er den Angriff irgendwie überlebt hatte.
„Ja!“ Es war die tonlose Antwort auf meine Frage, nicht auf meine Hoffnung. Ich atmete tief durch, während der Schwarzhaarige seine Augen kurz vom Feuer zu mir schweifen ließ und wieder zurück. „Ich habe ihn begraben.“ Mit einer knappen Kopfbewegung wies er zwischen die Bäume. Das Grab musste in der Dunkelheit außerhalb des Feuerscheins liegen.
Ich begann leicht vor- und zurückzuwippen. Mein wortkarger Retter griff neben sich und hielt mir eine Decke hin, die ich mir schnell um die Schultern schlang. „Danke!“, sagte ich leise. „Und ich meine nicht nur wegen der Decke.“ Er sah mir kurz in die Augen und nickte dann nur. „Ich bin Joana!“, stellte ich mich vor und fügte hinzu: „Darf ich denn auch den Namen meines Retters erfahren?“ Ich hatte das Gefühl, dass er bei diesen Worten leicht zusammenzuckte. Der Blick seiner fast schwarzen Augen richtete sich wieder auf mich.
„Mein Name ist Robert, Rob für die meisten.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Und, willst du mir jetzt vielleicht verraten, was eine Frau ganz alleine hier draußen tut, Joana?“
Diese Frage wurde mir heute Nacht nicht zum ersten Mal gestellt, und sie brachte die Unterhaltung mit dem Fremden und sein schreckliches Schicksal zurück. Mit geschlossenen Augen versuchte ich die blutigen Bilder fernzuhalten. Für einen Augenblick lauschte ich in die Nacht und wartete. Als nichts geschah, beantwortete ich die Frage ein zweites Mal. „Ich bin auf dem Weg nach Mankindra, um dort jemanden zu treffen. Ich … ich stelle Nachforschungen für mein Buch an.“
Nachforschungen für mein Buch ... Bücher schreiben. Das war schon immer mein Wunsch gewesen. Ich hatte es versucht. Die Überreste des angefangenen Manuskripts zu „Bau und Bewirtschaftung der Winkalner Mühle“ lagen zu Asche verbrannt zu Hause in Winkaln im Ofen. Zu diesem Thema hatte ich einfach nichts mehr zu sagen. Dann war Reanders Name gefallen, und ich hatte mich erinnert, wofür er bis in unser kleines Dorf bekannt war. Für seine Geschichten. Märchen über Monster. Spannend und mitreißend. Und in diesem Moment waren die Geschichten aus meiner Kindheit zu mir zurückgekommen, und ich hatte gewusst, dass es das war, worüber ich schreiben wollte. Worüber ich schreiben musste.
Also schrieb ich einen Brief an diesen Reander und bat ihn, mir alles über Monster, Zähne und Krallen, Opfer, Schicksale, Schrecken und Rettung zu erzählen, denn das war der Stoff für mein Buch. Und Reander hatte geantwortet. Unzählige Male waren meine Augen über das Papier geglitten und hatten Buchstaben zu Worten geformt, Worte zu Sätzen, die schließlich den Grund für meine Reise nach Mankindra ergaben:
Gute Miss Joana,
Legenden wie diese, nach denen Ihr sucht, gibt es bei uns zahlreiche und nicht nur ich kann Euch darüber berichten. Dies alles kann in einem Brief jedoch bestimmt nicht erschöpfend erzählt werden. Ich kann Euch nur anbieten, Euch mit mir in unserem Gasthaus „Zum Wildhund“ zu treffen. Ihr findet mich dort beinahe jeden Abend. Der Wein ist gut, und ich werde Euch dann gerne alle Fragen nach bestem Wissen beantworten. Mankindra ist immer eine Reise wert.
Ergebenst Euer Reander!
Und so war ich aufgebrochen, hatte mein kleines Zimmer und meine Familie zurückgelassen, um mir Reanders Geschichten anzuhören. Im Geiste sah ich noch das Gesicht meiner Mutter Sonja vor mir, als ich ihr von diesem Plan erzählte. Und doch hatte sie dieses eine Mal nichts gesagt, musste gespürt haben, wie wichtig mir diese Reise war. Trotzdem klang mir ihre Stimme von früheren Streitgesprächen noch im Ohr: „Bücher schreiben!“ Nur sie konnte diese beiden Worte so abfällig betonen. „Bücher sind nur etwas für privilegierte Nichtstuer, die ihre Felder von schlecht bezahlten, hart arbeitenden Menschen bestellen lassen, die sich von ihrem bisschen Lohn kaum das Nötigste leisten können.“
Ganz so drastisch war es natürlich schon lange nicht mehr, aber meine Mutter war schon immer schlecht auf die Oberschicht zu sprechen gewesen. Den Grund dafür konnte ich mir nicht erklären, zumal wir weder am Hungertuch nagten noch irgendetwas mit eben jener Schicht zu schaffen hatten.
Doch dieses eine Mal hatte sie sich auf die Zunge gebissen, nichts gesagt und mich zum Abschied in die Arme genommen. Ich hatte ihr, meiner Schwester Lynn, meinem Schwager Ben und meinen zwei kleinen Nichten Mary und Sandra zum Anschied zugewunken und nun war ich hier.
Nun war ich hier und versuchte meinen Verstand davon zu überzeugen, dass ich in eine dieser Geschichten hineingerutscht war, dass ich tatsächlich ein Monster gesehen hatte. Das war unmöglich. Ich brach auf, um rein theoretische, fiktive, spekulative Nachforschungen anzustellen, und dann das. Nachforschungen für mein Buch ...
„Die unglaublicherweise genau das betreffen, was diesen Mann getötet hat.“ Mir wurde erst bewusst, dass ich die letzten Worte laut ausgesprochen hatte, als Rob seinen Kopf zu mir herumwarf. Die Bewegung war eindeutig eine Spur zu schnell, als dass man es als pures Interesse hätte deuten können.
Schnell hatte er sich wieder in der Gewalt und sagte: „So? Hast du denn nun gefunden, was du suchst?“ Ein leichtes Lächeln umspielte dabei kurz seine Lippen. Das war nun wirklich zu viel des Guten. Nahm er diese Situation so gar nicht für voll?
„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, brach es aus mir heraus. „Ich bin von einem geflügelten Monster angegriffen worden, das gar nicht existieren durfte, und habe das Gefühl den Verstand zu verlieren und du sitzt nur da und, und ...“ Hier geriet ich ins Stammeln und musste abbrechen. Ich atmete tief durch. Diese ganze Sache schien ihn tatsächlich zu amüsieren. Seine Augen hielten meinen Blick noch immer fest. „Gut“, sagte ich schließlich. „Willst du mir dann vielleicht wenigstens verraten, was du hier tust?“
„Im Grunde genommen dasselbe wie du, ich ... ich stelle Nachforschungen an.“ Sein Blick entließ den meinen, und er starrte erneut in die Flammen.
Was sollte ich jetzt nun wieder mit dieser Information anfangen? Mir schwirrte der Kopf. Ob von dem heftigen Schlag oder dem kryptischen Gerede, wusste ich nicht.
„Du solltest dich wieder hinlegen und schlafen. Dein Kopf hat ganz schön was abbekommen.“ Automatisch fuhr meine Hand an meinen Hinterkopf. Die Wunde war noch immer feucht. Sie blutete noch. „Ich bleibe, wenn du willst, und bringe dich morgen nach Mankindra. Bis dahin haben wir ohnehin denselben Weg.“ Mit diesen Worten ließ er sich nach hinten sinken und schloss die Augen.
Eigentlich hatte ich mich so über ihn geärgert, dass ich Rob am liebsten in die Wüste Maban geschickt hätte oder zu diesem geflügelten Monster. Doch der Gedanke, dass eben dieses möglicherweise noch immer in der Nähe war, belehrte mich eines Besseren. Vorsichtig ließ ich mich wieder auf meinen Umhang sinken und wickelte mich in die Decke. Mein Kopf tat noch immer weh, und mir war schlecht. Plötzlich fühlte ich mich wieder so ausgelaugt, dass mir trotz der unzähligen Fragen, die noch durch meinen Kopf schwirrten, langsam die Augen zufielen. Das Letzte, was ich sah, war der mysteriöse Mann an meinem Feuer. Er schien bereits zu schlafen. Und während auch ich in den Schlaf hinüberglitt, drehten sich meine Gedanken um ihn ... meinen Retter ... Rob.
Der nächste Morgen brachte einen alten Freund zurück. Die Sonne. Es war warm, und ich war trocken. Ein wunderbares Gefühl. Ich streckte mich lange und genüsslich und befühlte vorsichtig die Wunde an meinem Hinterkopf. Sie hatte aufgehört zu bluten und tat kaum noch weh.
Die Ereignisse der vergangenen Nacht erschienen mir, besonders im hellen Licht des heraufziehenden Tages, noch unwirklicher als in der Dunkelheit, und fast hätte ich die ganze Geschichte als Traum abgetan. Wäre da nicht der Mann, der gerade die letzte Glut des Lagerfeuers mit etwas Erde ablöschte. „Guten Morgen!“, begrüßte er mich und warf mir einen kurzen abschätzenden Blick zu.
„Was genau soll das werden?“, gab ich stirnrunzelnd zurück.
„Wir brechen auf.“ Rob schnallte sich eine Tasche um die Hüfte, hängte sich eine schmucklose Schwertscheide samt Inhalt über den Rücken und schaute mich dann auffordernd an.
Demonstrativ rutschte ich mich auf meinem Schlafplatz zurecht, öffnete in einer aufwendigen Prozedur die Riemen meines Rucksacks und kramte ein Stück Brot hervor. Genüsslich kauend schaute ich zu ihm auf. Rob zog eine Augenbraue hoch, wartete dann aber mit verschränkten Armen, bis ich aufgegessen, alles verstaut und das Gepäck geschultert hatte. Dann stapfte ich ohne ein Wort an ihm vorbei in Richtung des Weges. Er zuckte nur mit den Schultern und folgte mir ebenso wortlos.
Es war noch früh am Tag und der Weg nach Mankindra menschenleer, als wir aus dem Wald heraustraten. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Allerdings nur so lange, wie ich es schaffte, meine Neugierde irgendwie im Zaum zu halten. Nach ziemlich genau zweihunderteinunddreißig Schritten auf der morastigen Straße, die ich zählte um mich von den Fragen abzulenken, die sich in meinem Kopf sammelten, sagte ich schließlich: „Du bist also auf der Suche nach Informationen über dieses geflügelte Wesen? Du willst keine Legenden hören, so wie ich, sondern du suchst nach ...“, es fiel mir schwer das Wort in diesem Zusammenhang zu gebrauchen, „... Fakten?“
Er sah mich mit seinem sprechenden Blick lange an. „Ja“, antwortete er schließlich.
Vor mich hinnickend rieb ich mir die Schläfen. „Du hast also so ein Wesen zuvor schon einmal gesehen.“ Es war keine Frage, sondern schlicht eine Feststellung. Er nickte, und ich dachte nach. Was sollte ich Reander nur fragen, wenn ich ihm endlich gegenüberstand? Vor diesem verflixten Zwischenfall hätte ich einfach nach alten Legenden und Mythen gefragt und auch solche erwartet. Wie aber erkundigte man sich nach etwas so Unglaublichem, dessen Existenz man noch einen Tag zuvor nicht einmal in Erwägung gezogen hätte? Und die nächste Frage, die sich mir aufdrängte, war: Was wusste dieser Reander wirklich? Hatte er vielleicht selbst schon einmal so ein Wesen gesehen und konnte ich ihn einfach nach Fakten fragen? Fakten!? Jetzt suchte ich also auch schon nach Fakten? Nicht mehr nach Legenden?
„Wer ist es, den du in Mankindra treffen willst?“, mischte sich Robs Stimme in meine Gedanken.
„Sein Name ist Reander.“ Eine steile Falte bildete sich zwischen den Augenbrauen meines Begleiters. „Eigentlich kenne ich ihn nicht“, fuhr ich fort. „Aber ich habe von seinen Geschichten gehört. Man sagte mir damals so etwas wie: „Dieser Kerl weiß wirklich alles über Dämonen.““ Bei diesem Wort zuckte Rob ganz leicht zusammen. „Wenn man mit dem darüber spricht, würde es einen nicht wundern, wenn gleich einer von denen um die Ecke käme. So oder so ähnlich.“ Ich holte tief Luft, schöpfte Mut und sagte dann leise: „Ich weiß nicht, ob er damit meinte, dass dieser Reander besonders gut Geschichten erzählen kann oder ...“ Seufzend setzte ich noch einmal an. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich herausfinden soll, was er wirklich über diese Wesen weiß, ohne mich absolut lächerlich zu machen.“ So, nun war es raus.
Rob sah mich an. „Das wirst du nicht. Geschichten dieser Art werden hier schon seit Generationen erzählt. Mich wundert ehrlich gesagt, dass dies da, wo du herkommst, nicht der Fall zu sein scheint. Viele glauben an diese Erzählungen und ...“ Hier machte er eine kurze Pause. „Wie es aussieht, ist zumindest ein Teil von ihnen wahr.“
Langsam stieg Panik in mir auf. Es dauerte eine Weile, bis ich die Vorstellung einer Welt, in der Alptraummonster nach Belieben herumspazierten in den Hintergrund gedrängt hatte. Als sich mein Herzschlag langsam beruhigte, fiel mir Robs Reaktion auf Reanders Namen wieder ein, und ich blieb abrupt stehen. „Du weißt irgendetwas über diesen Reander! Du kennst ihn, oder?“
Rob blieb einige Schritte weiter ebenfalls stehen. Er seufzte, drehte sich aber nicht zu mir um. „Wie es scheint, suchen wir nicht nur dieselben Antworten, sondern wir suchen sie auch an den gleichen Orten.“ Festen Schrittes schloss ich zu ihm auf und sah ihn fragend an. „Ja, Reander ist auch der Name der mir genannt wurde. Dieser Kerl muss ja wirklich eine Koryphäe auf seinem Gebiet sein.“
Er ging weiter, und ich beeilte mich, ihm zu folgen. „Dann werden wir ihn also zusammen aufsuchen?“, fragte ich.
Er seufzte. „Ja, so sieht es aus.“
Während ich noch darüber nachdachte, ob es jetzt wohl an der Zeit war, beleidigt zu sein, denn ganz offensichtlich wollte er mich ja nicht länger als nötig um sich haben, kam vor uns Mankindra in Sicht. Der Anblick der gewaltigen Stadtmauern ließ mich jeden anderen Gedanken vergessen. Nie zuvor hatte ich eine Stadt von derartigen Ausmaßen gesehen.
Als Rob meine weit aufgerissenen Augen bemerkte, schüttelte er ungläubig den Kopf. „Aus welchem Dorf am Rand der Welt kommst du denn?“
Beleidigt rümpfte ich die Nase und beschleunigte meine Schritte, was wieder nur mit einem Kopfschütteln quittiert wurde. Sollte er mich doch für einen Hinterwäldler halten. So oder so, Mankindra war groß. Und es gab eine Stadtmauer. Graue Steinquader, die mit Ausnahme einiger weniger Höfe alles umschlossen, komplettiert durch ein Zugtor aus schwarzem Eisen. Dieses stand offen. Zwei ausgeruhte Wachen flankierten die Öffnung, ließen uns aber ohne Probleme passieren.
Es war nun bereits Mittag und die breiten, zum Teil gepflasterten Straßen voller Menschen. Graue Steinhäuser gerahmt mit Balken aus dunklem Holz und verzierten Giebeln zu beiden Seiten. Kleine Sprossenfenster in zweistöckigen Fassaden blickten auf Kutschen, Fuhrwerke und Menschen hinab. Die hölzernen Räder klapperten über die Steine. In Nähe des Stadttores stand eine kleine Gruppe Frauen in robusten Kleidern und tauschte aufgeregt die Neuigkeiten des Tages aus. In ihrer Nähe blieb Rob stehen. „So, wie finden wir denn jetzt diesen Reander?“
„Ach, sieh an! Du weißt doch bisher auch alles besser, da durfte das für dich ja kein Problem darstellen!“, entgegnete ich schnippisch. Er ließ mich einfach stehen und ging weiter. Irgendwie kam ich gegen diesen Mann nicht an, also schloss ich zu ihm auf. „Schon gut, schon gut! Reander schrieb, ich kann ihn abends im Gasthaus „Zum Wildhund“ antreffen. Guter Wein“, fügte ich noch hinzu.
„Gut, dann treffen wir uns heute Abend im Wilden Hund.“ Sprach’s und verschwand. Mit offenem Mund und völlig perplex stand ich mitten auf der Straße und rang um Fassung. Er hatte mich einfach hier stehen gelassen!
Angestrengt schluckte ich meinen Ärger hinunter und fragte mich zum „Wildhund“ durch. Das Gasthaus lag nahe des Stadtzentrums. Es war Markt, und Massen von Menschen schoben sich über den großen zentralen Platz. Begeistert mischte ich mich in das bunte Treiben, schaute mir die Stände an und ließ mich schließlich dazu hinreißen, eine einheimische Spezialität, genannt Haphap, zu probieren. Aus was der vielschichtige in mehreren verschiedenen Lagen gefüllte Pfannkuchen nun genau bestand, konnte oder wollte mir niemand verraten. Aber er schmeckte unbestreitbar einfach großartig.
Als ich später den „Wildhund“ betrat, schlug mir eine angenehme gemütliche Atmosphäre entgegen. Das Gasthaus wirkte sehr ländlich und eher so, als träfe man sich hier nach der Feldarbeit auf ein Bier. Einzig der Schankraum war deutlich größer, als man es bei einer dieser Dorfschenken erwartet hätte. Die Einrichtung bestand aus dunklem Holz. Ein Teppich in warmen Farben schmückte eine der Steinwände. Ich sprach die Wirtin an, eine kleine flinke Frau mit Schürze, die mich gleich auf eines der Zimmer geleitete und mir noch dazu sehr hilfsbereit den Badezuber anheizte. Nachdem ich einen Blick an mir herunter geworfen hatte, wurde mir auch sogleich klar, warum. Ich sah furchtbar aus. Tagelang nur Regen und Schlamm kombiniert mit einer beigen Wanderhose und einer robusten weißen Leinenbluse. Kurz gesagt, ich hatte ein Bad dringend nötig.
Dankbar nutzte ich die Gelegenheit, mich und meine Habe zu reinigen, und hatte dann noch etwas Zeit, alles notdürftig zu trocknen, bevor ich in den Schankraum des „Wildhundes“ zurückkehrte. Dieser war nun bereits gut gefüllt, und mir wurde schlagartig klar, dass ich keine Ahnung hatte, wie dieser Reander aussah oder ob er überhaut heute Abend hier sein würde.
Rob war noch immer spurlos verschwunden, also beschloss ich, mich an den Tresen zu setzen, um mit der Wirtin ins Gespräch zu kommen. Lächelnd und offenbar mit meiner gereinigten Erscheinung äußerst zufrieden, positionierte sie den bestellten Rotwein vor mir. Ich nutzte die Gelegenheit. „Entschuldigt, aber ich bin auf der Suche nach einem Mann“, setzte ich an.
Enthusiastisch winkte mich die kleine Frau näher zu sich heran und wies lächelnd auf einen Mann neben der Eingangstür, den sie mir als ihren Sohn Günther vorstellte. Irritiert starrte ich Günther an, der mit verschränkten Armen und finsterer Mine an der Wand lehnte. Während mein Blick über die Zahnlücken, den Dreitagebart und die Kleidung glitt, mit der er vermutlich vor fünfunddreißig Jahren auf die Welt gekommen war, wenn man die Anzahl der Löcher und den Grad der Verschmutzung bedachte, erkannte ich das Missverständnis.
„Nein, nein!“, erklärte ich vielleicht etwas zu hastig. „Ich suche jemanden namens Reander. Er soll oft herkommen.“
Die Wirtin rieb ihre Hände an der Schürze ab, warf noch einen enttäuschten Blick zwischen Günther und mir hin und her und erklärte dann kurz angebunden, dass Reander heute noch nicht da sei. „Sitzt oft da hinten“, fügte sie hinzu und wedelte lustlos mit ihrer Hand in eine Richtung, die gut und gerne fünf bis sechs Tische einschloss. Trotzdem bedankte ich mich, drehte Günther unauffällig den Rücken zu und nippte an meinem Wein. Er war tatsächlich gut, schmeckte schwer und süß.
Die Minuten verstrichen. Ich beobachtete die Gäste, die hereinkamen, und brachte sogar den Mut auf, die finster dreinblickende Wirtin ab und an zu fragen, ob sich Reander vielleicht schon unter den Eingetroffenen befand, was diese konstant und kurz angebunden verneinte.
Ein Glas Wein später war ich bereits davon überzeugt, dass weder der Gesuchte noch mein eigenartiger Begleiter je wieder hier auftauchen würden. Das mag etwas übertrieben klingen, aber besonders geduldig war ich in solchen Dingen noch nie.
Resigniert stützte ich den Ellbogen auf den Holztresen, legte den Kopf in meine Hand und lauschte seufzend den Gesprächen, die um mich herum geführt wurden. Da war vom Markt die Rede, von Mankindras Writschaft, von schönen Frauen, dem Wein und natürlich wurde, wie überall, viel über den König gesprochen.
„König Herolds Zustand ist kritisch“, sagte einer.
„Das ist er doch schon seit Jahren“, erwiderte ein anderer. Im ganzen Reich wurde darüber spekuliert, an welcher Krankheit der Herrscher Olasias litt und wer um alles in der Welt die Thronfolge antreten sollte, falls, Gott bewahre, der König seiner Krankheit erlag. Einen Thronerben gab es nicht, und so war unter den hohen Adelsfamilien des Reiches eine Art Wettlauf um den Thron ausgebrochen. Ein handlungsunfähiger Herrscher und wetteifernder Adel - das konnte jedes Reich zugrunde richten. Dementsprechend groß war die Angst in der Bevölkerung. Die ersten Anzeichen des Chaos wurden schon sichtbar.
„Und, ist der Wein wirklich so gut, wie man behauptet?“, erklang eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich herum und platze heraus: „Na, dass du dich tatsächlich auch noch hier blicken lässt. Was hast du denn bloß so lange gemacht?“
„Ich bin bei der Stadtwache gewesen, habe ihnen die Papiere deines toten Freundes übergeben und erklärt, dass er von einem Tier getötet wurde“, entgegnete Rob.
„Einem Tier?“, formte ich tonlos mit den Lippen. Die Fratze des Geflügelten erschien in meinem Geist und fletschte die Zähne. Als wäre sie mir hierher gefolgt. Unsymmetrisch, unnatürlich kantig, gänzlich schwarz und grauenerweckend. Das war kein Tier gewesen!
Als hätte er meine Gedanken gelesen, fügte Rob hinzu: „Das passiert hier oft. Sie stellen keine Fragen. Und die Familie erfährt auf diese Weise, wo er geblieben ist.“
Mein Herz zog sich zusammen beim Gedanken an das grauenhafte Schicksal dieses Fremden. Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, Rob nach seinem Namen zu fragen, war dann aber zu feige. Ein Name hätte das alles so viel realer gemacht, und ich wollte die Nacht im Lager am liebsten einfach vergessen. Sie vergessen oder sie so lange durchleuchten, bis alle Fragen beantwortet waren und sie mir keine Angst mehr machte. Doch dazu fehlten einfach zu viele Informationen.
Automatisch schaute ich in Robs ernstes Gesicht. Irgendetwas war da in seinen Augen, wenn er über den Vorfall in der Nacht sprach. Machte ihm das Schicksal des Mannes doch mehr zu schaffen, als er zugeben wollte? Rob blieb ein Rätsel. Wo war er heute den ganzen Nachmittag gewesen? Konnte das Überbringen der Papiere des Toten so lange gedauert haben und was wusste er über dieses Monster? Verschwieg er etwas? Eigentlich war ich mir sicher, dass er beinahe alles verschwieg und immer nur das Nötigste preisgab.
Kurz nachdem Rob das Gasthaus betreten hatte, kam ein älterer Mann durch die Tür. Er war groß, schlank, und sein graues Haar und der kurze Vollbart waren überdurchschnittlich gepflegt. Sein Gesicht war spitz-kantig und strahlte, wie seine ganze Haltung, eine gewisse Würde aus. Die exakt sitzende graue Hose passte optimal zu seinem grauen Hemd. Was ihn für mich so interessant machte: Er nahm in der mir bezeichneten Ecke des Schankraumes Platz.
Robs Augen folgten den meinen. „Also ist er das nun oder was?“
„Du bist ja wieder unvergleichlich hilfreich!“, giftete ich ihn an und lehnte mich tapfer zur Wirtin hinüber, um ein weiteres Mal die bereits bekannte Frage zu stellen. Sie bejahte und bedachte mich mit einem Blick, der die Fassungslosigkeit darüber zum Ausdruck brachte, dass ich diesen Mann ihrem Sohn vorzog. Schnell stand ich auf und strich mir die Bluse glatt. Dann ging ich festen Schrittes auf den Herren in Grau zu. Rob folgte mir wortlos.
„Reander?“, wandte ich mich an den Mann, dessen Alter fast unmöglich zu schätzen war. Er sah körperlich noch fit aus, sein Rücken war gerade, und nichts an ihm wirkte schwächlich, aber seine Züge verrieten die Würde des Alters. „Mein Name ist Joana, ich hatte einen Brief geschickt und nach den Legenden über Monster und ... so weiter gefragt. Ihr habt geantwortet und nun ja, hier bin ich.“ Der Alte musterte mich kurz und bot mir den Platz gegenüber an. Bevor ich mich setzte, stellte ich ihm Rob vor. „Und das ist Robert, er ... interessiert sich auch für dieses Thema.“
Reander wies auf einen weiteren freien Stuhl. „Ihr habt euch also auf den weiten Weg hierher begeben, nur um meinen Geschichten zu lauschen? Dann will ich mein Bestes tun, euch die Antworten zu liefern, die ihr sucht. Was wollt ihr hören?“
Das war eine gute Frage. Am liebsten hätte ich dem Impuls nachgegeben und „Alles“ gesagt. Aber damit wäre sicher niemandem geholfen. Während ich, plötzlich sprachlos, nach den richtigen Fragen suchte, musterte der alte Mann Robs und mein Gesicht. Sein Blick blieb an dem silbernen Amulett um Robs Hals hängen. Er stutzte, und etwas Neues trat in seine Augen. Der Moment ging jedoch so schnell vorbei, dass ich mir nicht sicher war.
Hier saß ich nun. Ich hatte eine Reise von mehreren Tagen auf mich genommen, hatte meine ganzen Ersparnisse ausgegeben und war einem riesigen Monster begegnet und dann gingen mir zum ersten Mal im Leben die Fragen aus. Keine einzige hatte ich gestellt. Und dann machte Rob den Mund auf und stellte die wohl einfachste Frage der Welt, durch deren wahrheitsgemäße Beantwortung sich alles Weitere ergeben würde.
„Sind die Legenden wahr?“
Reander musterte ihn lange. Endlich sagte er: „Die Dinge liegen anders, als ich erwartet habe. Könntet ihr mich morgen früh bei mir zu Hause treffen?“
Überrascht nickte ich und sah Rob im Augenwinkel dasselbe tun. Der alte Mann gab uns mit gedämpfter Stimme eine Wegbeschreibung, deutete dann eine Verbeugung an und verschwand.
Verdutzt schaute ich ihm nach. Diese ganze Sache entwickelte sich langsam zu einer ausgewachsenen Gruselgeschichte. Wie es aussah, würden die Antworten, die wir hier bekommen sollten, viel eher Fakten als Legenden sein. Oder wie war Reanders seltsames Verhalten zu deuten? Während ich nachdachte, wanderte mein Blick zu Rob. Auch er schien seinen Gedanken nachzuhängen. Sein Gesicht war gleichzeitig leidgeprägt und jungenhaft. Wie ein Kind im Krieg. Was es wohl geprägt hatte? Meine Augen glitten weiter und blieben an dem silbernen Amulett hängen, das Reander gerade so auffallend gemustert hatte. Zum ersten Mal betrachtete ich das Schmuckstück genauer. Ineinander vielfach verschlungene Linien bildeten einen in etwa ovalen Rahmen. Sie umrahmten die Abbildungen eines langen Schwertes und eines altmodischen verschnörkelten Schlüssels. Robs Magen knurrte und riss mich aus meinen Gedanken.
„Also, was hältst du davon, wenn ich meinen Retter zu ein paar belegten Broten einlade?“
In Robs Gesicht zuckte es. Irgendwie schien er den Begriff „Retter“ nicht zu mögen. Ich glaubte schon, er würde ablehnen, aber ein zweites lautes Magenknurren später nickte er schließlich.
Unser Abendessen bestellte ich bei der Wirtin, deren schadenfroher Blick nun so etwas wie: „Geschieht dir recht, dass er dir davongelaufen ist!“, sagte.
Kurze Zeit später kauten wir auf den lieblos belegten Broten. Rob schlang das Essen regelrecht in sich hinein. Hatte er heute überhaupt schon etwas gegessen? Jedenfalls nicht seit er bei mir war. Dieser Gedanke brachte mich wieder zu der Überlegung zurück, was er wohl heute den ganzen Nachmittag getan und was genau er eigentlich mit diesen Monstern zu schaffen hatte. Hastig schluckte ich den letzten Bissen hinunter. „Willst du mir vielleicht jetzt endlich mal verraten, was du mit dieser ganzen Monstergeschichte zu tun hast und wer dir von Reander erzählt hat und ...“ Als unsere Blicke sich trafen, brach ich ab.
Wieder einmal seufzte mein Gegenüber und legte sein Brot aus der Hand. „Die Fragen gehen dir nie aus, oder? Willst du mir nicht vielleicht jetzt endlich mal verraten, wie es heißt, dieses winzige Dorf am Rand der Welt, aus dem du kommst?“
Ich verdrehte die Augen. „Winkaln, ok? Ich komme aus Winkaln. Und ja, Fuchs und Hase sagen sich dort so laut gute Nacht, dass man es vom ersten bis zum letzten Holzhaus hört und unser einziger Gesetzeshüter, der übrigens im Nachbardorf lebt, sie am liebsten wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Idylle in unsere winzige Gefängniszelle sperren würde!“ Beim Sprechen hatte ich vergessen zu atmen und holte dies jetzt geräuschvoll nach.
Fast huschte so etwas wie ein Lächeln über Robs Züge. „Und du schreibst Bücher?“, forschte er weiter.
„Ja! Na ja, genau genommen habe ich noch keines fertiggestellt.“ Das gab ich nicht gerne zu, und der durchdringende Blick dieser fast schwarzen Augen machte mich nervös. Wie war es denn jetzt dazu gekommen, dass ich mein Leben vor diesem Fremden ausbreitete, von ihm aber wieder keine Antworten bekam? Mein Gesichtsausdruck änderte sich in bockige Sturheit.
Die Wirtin kam und räumte griesgrämig, und nicht ohne mir einen verächtlichen Blick zuzuwerfen, den leeren Teller weg.
„Was hast du ihr getan?“, fragte Rob mit einer Kopfbewegung in Richtung der kleinen Frau und schob sich den letzten Bissen des Brotes in den Mund.
„Ich wollte Günther nicht heiraten!“, gestand ich, verdrehte die Augen und zuckte gleichzeitig mit den Schultern.
„Günther?“
„Ihren Sohn.“ Genervt wies ich in Richtung des gelangweilten Mannes, der nun gegen den Tresen lehnte und sich am Unterschenkel kratzte, der nur zur Hälfte von seiner löchrigen Hose bedeckt wurde.
„Warum?“, fragte Rob mit todernstem Gesicht. Dann breitete sich doch noch ein kleines Lächeln darauf aus.
„Weißt du was?“, knurrte ich. „Angeblich gehen mir nie die Fragen aus. Aber du bist es, der eine nach der anderen stellt!“ Das ärgerte mich. Und wenn ich doch mal etwas fragte, bekam ich keine Antwort. Das ärgerte mich noch mehr.
„Dann werde ich dich jetzt damit verschonen“, sagte er und stand auf, bevor ich mir wenigstens ein paar Informationen holen konnte. „Vielen Dank für das Essen! Ich hole dich morgen früh hier ab.“
„Moment mal. Was soll das denn heißen? Übernachtest du denn nicht hier im Gasthof?“
„Nein.“
„Hast du Bekannte in der Stadt?“
„Gute Nacht, Joana!“ Und damit war er auch schon zur Tür hinaus. Sprach’s und verschwand! Genau, dachte ich, das sollte wirklich eines Tages jemand auf seinen Grabstein meißeln!
Verärgert stand ich auf, bezahlte die Rechnung für Essen, Wein und Zimmer und warf mich dort auf das Bett. Es war nicht gerade hochherrschaftlich, aber immer noch um Längen besser als der Waldboden. Eine Weile starrte ich geistesabwesend auf einen Nachtfalter an der Holzdecke über mir. Was würden wir morgen erfahren und was konnte und wollte ich davon glauben nach dem, was mir letzte Nacht passiert war? Der Falter flog davon, und ich glitt in einen wirren Traum hinüber. Rob und das geflügelte Monster kamen darin vor, aber ich behielt nur in Erinnerung, dass ich keine Angst hatte.
Bereits am frühen Morgen wurde ich durch ein unsanftes Klopfen an der Zimmertür geweckt.
„Hey, Siebenschläfer!“, drang Robs Stimme gedämpft zu mir herein.
Verschlafen wühlte ich mich aus dem Bett und öffnete. Rob drehte sich geschickt an mir vorbei ins Zimmer, zwei dampfende Becher in den Händen. Einen davon reichte er mir und ließ sich mit dem anderen auf meinem Bett nieder.
Ich machte die Tür zu, schnupperte vorsichtig und trank dann einen Schluck von dem warmen schwarzen Tee. Es tat gut und ich war schlagartig deutlich wacher. Während ich schluckte, ging ich zum Fenster hinüber und schaute hinaus. Die Sonne warf gerade die ersten Lichtstrahlen des Tages auf die Stadt. „Meine Güte!“, sagte ich und drehte mich zu Rob um. „Du hast es aber wirklich eilig!“ Er trank aus seinem Becher und sah mich über den Rand hinweg an. „Ich bin ja schon fertig“, sagte ich schnell, stellte hastig den Tee ab und fing an, meine Sachen in den Rucksack zu stopfen.
Rob sah mir ruhig dabei zu und hob dann etwas auf, das neben dem Bett auf dem Boden lag. Er hielt es mir hin. „Was ist das?“
„Das geht dich gar nichts an. Du musst auch nicht alles wissen“, erwiderte ich kratzbürstig. Schnell nahm ich ihm das Päckchen mit der verblichenen Schrift aus der Hand und steckte es ein. Darüber würde ich mit ihm ganz bestimmt nicht reden. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn schon vor Lachen am Boden liegen oder kopfschüttelnd die Augen rollen oder irgendeine andere unpassende Reaktion zeigen. Zügig wusch ich Gesicht und Hände, warf dann einen letzten prüfenden Blick durchs Zimmer und wartete in der Tür auf meinen Begleiter. Der erhob sich, stellte den Tonbecher achtlos im Zimmer ab und trat an mir vorbei auf den Gang.
Wir verließen den Gasthof und dann das Zentrum der Stadt in Richtung der Lagerhallen, wie Reander es uns beschrieben hatte. Die Straßen waren in Anbetracht der frühen Morgenstunde noch kaum bevölkert, und ich genoss den Spaziergang durch die erwachende Stadt.
Reanders treffende Beschreibung und mein guter Orientierungssinn führten uns schnell ans Ziel. Das Haus des Geschichtenerzählers lag am Rande der Kernstadt und in unmittelbarer Nachbarschaft zu den großen hölzernen Lagerhallen, die Vorräte und andere Waren für Mankindra beherbergten. Die sandigen Straßen waren hier durchfurcht von den Rillen zahlloser Wagen, deren unaufhörliches Hin- und Herrollen heute Morgen aber noch nicht eingesetzt hatte. Das zweistöckige Haus, vor dem wir anhielten, war eines der größten und wirkte erhaben und großzügig, wenn auch etwas verschlafen so früh am Tage.
Angst lähmte mich, als ich auf das dunkle Holz der Eingangstür starrte. Eine Angst, die ich vor der Nacht im Wald nicht gekannt hatte. Die Angst vor Informationen. Was Rob bewegte, der steif neben mir stand, war an seinem Gesicht nicht abzulesen, aber er löste sich als Erster aus seiner Starre und ging auf das Haus zu. Seine knirschenden Schritte auf dem Sand kratzten an der frühmorgendlichen Stille. Dann plötzlich zerriss sie. Die gestaltlosen Rufe und angsterfüllten Schreie mehrerer Menschen schallten zwischen den Gebäuden umher.
Ich zuckte zusammen und versuchte auszumachen, woher das Getöse kam. Ein Brüllen erscholl, das nicht irdischen Ursprungs war. Tief und ebenso schrill, quietschend wie Fingernägel über eine Tafel, aber irgendwie ... lebendiger. Mir stellten sich die Härchen im Nacken zu Berge, und ich ballte automatisch die Hände zu Fäusten.
Von einer Sekunde auf die andere stürmte Rob los. Mit weit ausgreifenden Schritten rannte er an mir vorbei in Richtung des Lärms. Automatisch setzte auch ich mich in Bewegung, war aber einfach viel zu langsam. Ich sah Rob um eine Ecke biegen und zwischen den Lagerhallen verschwinden.
„Warte!“, rief ich ihm nach, aber er war bereits fort. Dennoch blieb ich nicht stehen. Die menschlichen Schreie verstummten, und ein katzenhaftes Fauchen erklang, gefolgt von einem tiefen Grollen. Danach kehrte die Stille zurück.
Als ich um die Halle bog, blieb mir fast das Herz stehen. Meine Beine hörten ganz von selbst auf, sich zu bewegen und überließen die Arbeit meinen Augen. Diese fuhren hektisch über die grauenhafte Szenerie, die sich ihnen bot. Zu beiden Seiten der Gasse, in der ich stand, befanden sich lange Gebäude, Lagerhallen, wie ich vermutete. Im Licht des frühen Tages warfen sie ihre Schatten, so dass es hier unten kalt war. Deshalb zitterte ich aber nicht. Der sandige Boden war blutgetränkt. Ein beige-braun-rotes Mosaik des Grauens. Die Überreste von mehreren Menschen waren darauf verteilt. Wie viele waren es? Fast unmöglich zu sagen, vielleicht fünf oder sechs. Das, was von ihrer Kleidung übrig war, ließ darauf schließen, dass es sich um Lagerarbeiter handelte. Sie sahen schrecklich aus, und ich musste nicht näher herangehen, um festzustellen, dass für sie jede Hilfe zu spät kam.
Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, und ich focht einen stummen Kampf mit meinen Beinen aus. Sie waren nicht bereit, mein Gewicht noch länger zu tragen. Diesen Kampf gewann ich, verlor aber gegen meinen Magen, der sich weigerte, seinen Inhalt bei sich zu behalten. Ich wankte zur Seite, stützte mich an der hölzernen Bretterwand ab und übergab mich. In meinem schwindelnden Kopf erschien immer wieder das Bild des geflügelten Monsters. Seine tiefschwarze Gestalt. Seine ledernen Schwingen. Seine Fratze.
Konzentriert starrte ich auf ein kleines unberührtes Fleckchen Boden in meiner Nähe, um von den Bildern in meinem Kopf und gleichzeitig von dem Anblick auf dem Weg verschont zu bleiben. Ich wollte nicht aufsehen und vielleicht feststellen, dass Rob unter den Toten war. Als vom anderen Ende der Gasse ein berstendes Geräusch erklang, tat ich es doch. Aufsehen. Ich riss meinen Blick geradezu hoch, und mir stockte der Atem. In einem Hagel von Holzsplittern schlitterte ein schwarzes Wesen um die Ecke. Keine Flügel, aber deshalb nicht weniger angsteinflößend. Es hatte die Statur eines Löwen, war aber um einiges größer. Schneckenförmige Hörner lugten aus der Andeutung einer Mähne hervor. Das raubkatzenartige Wesen grub seine Krallen in den Boden und rannte mit überirdischer Geschwindigkeit zwischen den Hallen entlang. Die Geschmeidigkeit der Bewegungen seines schwarzen Körpers und seine Schnelligkeit waren beeindruckend.
Nur einen angstvollen Atemzug später erschien ein zweites Geschöpf am Ende der Gasse. Diese geflügelte Kreatur erkannte ich sofort. Es war „mein“ Monster, das Wesen, das uns im Lager angegriffen hatte. Seine muskulösen Beine trugen es schnell vorwärts, wenn auch bei Weitem nicht so schnell wie den schwarzen Löwen. Diese Erkenntnis schien ihm auch gerade zu kommen, denn es breitete die Schwingen aus und erhob sich in die Luft. Jetzt holte es schnell auf. Was taten diese Albtraummonster da? War das ein Spiel? Danach sah es nicht aus. Ein Konkurrenzkampf? Eine Jagd? Ein Streit um die Beute? Die Beute. In diese Kategorie fiel ich dann wohl auch, was mir umso deutlicher klar wurde, da die beiden in meine Richtung kamen.
Ein kurzer Schrei löste sich aus meiner Kehle. Der Rest meines Körpers blieb bewegungsunfähig und zwang mich, hilflos dabei zuzusehen, wie der schwarze Löwe zwischen den menschlichen Überresten hindurchfegte. Er beachtete sie nicht, ebenso wenig wie mich, als er Sekunden später an mir vorbeischoss und am Ende der Gasse scharf um die Ecke bog. Auch das zweite Monster glitt an mir vorbei und folgte dem ersten.
Fassungslos starrte ich auf die blutroten Abdrücke, die die Pfoten des schwarzen Löwen auf dem Boden hinterlassen hatten. Ich ergab mich nur einen Herzschlag lang diesem grauenhaften Bild. Dann taumelte ich drei Schritte zur Seite und brachte so die Monster zurück in mein Blickfeld.
Der Löwenähnliche schlug gerade einen Haken und verschwand im offenen Tor einer der Lagerhallen. Beinahe im selben Moment flog der Geflügelte zum Flachdach der Halle hinauf und stürzte sich dann mit den Füßen voran hindurch. Unter dem Splittern und Bersten von Holz verschwand er aus meinem Blick. Ein Brüllen, diesmal tiefer und grollender, erklang. Und wieder war es still.
So still, dass mir mein eigener beschleunigter Atem in den Ohren dröhnte. Was war dort drinnen passiert? Neugier und Angst fochten ein stummes Duell aus. Die Neugier spielte alle Karten aus, kämpfte mit Händen und Füßen und trug schließlich den Sieg davon.
Langsam und zögerlich ging ich auf das lädierte Gebäude zu. Am offenen Tor blieb ich stehen, stützte meine zitternde Hand an der Wand ab und spähte vorsichtig hinein. Mein Körper warnte mich mit jeder seiner Fasern davor, dort hineinzugehen. Jeder Muskel in mir schrie: LAUF. Aber die Neugierde war in diesem Augenblick so unfassbar stark und durchsetzungsfähig. Sie trieb meine Beine einige Schritte weiter in die Stille der Halle hinein.
Für den Lichteinfall sorgten hier drinnen nur eine Reihe kleiner glasloser Fenster in Dachnähe und momentan das übergroße Loch im Dach selber. Das Innere des langen Gebäudes sah aus wie nach einem Erdbeben, auf das ein Tornado gefolgt war. Die Trümmer des Daches lagen überall verteilt, und einige wenige Kisten, die hier gestanden hatten, waren in Bruchstücken über den ganzen Boden verstreut. Angespannt suchte ich in dem halbdunklen Durcheinander nach einer verräterischen Bewegung. Diese nahm ich jedoch aus dem Augenwinkel außerhalb des Tores wahr. Blitzschnell fuhr ich herum und starrte mit aufgerissenen Augen auf das, was da kommen mochte.
Es war Rob. Er humpelte langsam heran und presste sich die Hand auf den linken Arm. Ich atmete einmal tief durch und eilte ihm dann entgegen. Erleichterung überkam mich, ihn lebend und zumindest halbwegs gesund wieder zu sehen.
„Hast du das gesehen? Was ist denn passiert?“, platzte es aus mir heraus.
„Entwischt!“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und verzog das Gesicht.
„Entwischt?“, wiederholte ich schrill. „Was meinst du damit? Du willst doch wohl nicht andeuten, dass du versucht hast, alleine gegen diese beiden Monster zu kämpfen?!“
Rob humpelte weiter, schloss die Augen und schüttelte im Gehen den Kopf. Ob das nun eine Antwort auf meine Frage war oder eine Reaktion auf mein Verhalten, konnte ich nicht entschlüsseln.
Schnell lief ich ihm nach und fügte ungehalten hinzu: „Du hältst dich wohl für unbesiegbar, oder?“ Dann wurde mir bewusst, dass eine ähnliche Anwandlung von Übermut in jener Nacht wohl auch mein Leben gerettet hatte, und ich schwieg.
Wir liefen zurück zu Reanders Haus und klopften diesmal ohne anzuhalten oder zu zögern an die Haustür. Rob lehnte sich schwer gegen die Wand und verzog das Gesicht.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis geöffnet wurde, in der ich mehrfach nervöse Blicke über die Schulter warf. Reanders Gesicht erschien in der Tür. Blass und müde, als habe er die ganze Nacht nicht geschlafen. „Da seid ihr ja bereits. Ihr seid wohl sehr erpicht ...“ Er brach mitten im Satz ab, als er Rob erblickte und den Ausdruck auf unseren beiden Gesichtern sah. „Meine Güte! Was ist euch denn nur geschehen?“ Er hielt uns die Tür auf. „Kommt herein! Kommt herein!“
Gern nahm ich sein Angebot an. Die Vorstellung, dass diese beiden Monster noch hier draußen waren, ließ mich nicht zögern. Ich machte Anstalten, Rob ins Haus zu helfen, aber er wehrte mich ab und humpelte aus eigener Kraft an mir vorbei. Das Geräusch der sich schließenden Haustür klang beruhigend, und wir folgten Reander zu einer Sitzgruppe mit einem Eichenholztisch.
Seufzend ließ sich Rob auf einen der Stühle fallen. Schnell und bestimmt, damit er keine Widerworte geben konnte, griff ich mir seinen Arm und schob den zerrissenen Ärmel vorsichtig hoch. Zwei Striemen zogen sich über den linken Oberarm. Sie waren nicht besonders tief, sahen aber schmerzhaft aus.
Reander eilte wortlos aus dem Zimmer und brachte eine Schale voll Wasser, etwas Alkohol zum Desinfizieren, Binden und saubere Tücher. Dann setzte er sich zu uns an den Tisch, während ich vorsichtig die Wunde reinigte.
„Nun sagt schon, was geschehen ist!“, drängte er. Sein Blick hing an Rob.
Als dieser nicht antwortete, mischte ich mich ein. „Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt den Tumult, die Schreie draußen nicht gehört?“
„Tumult?! Schreie?! Nein! Ich war unten im Keller. Ich bewahre dort einige meiner Unterlagen auf. Nicht unbedingt ideal, die Feuchtigkeit, aber ... Was hat es denn nun damit auf sich?“ Er sah sehr besorgt und alarmiert aus.
„Glaubt es oder glaubt es nicht“, antwortete ich und es war mir egal, wie verrückt sich das anhörte. „Da draußen sind gerade zwei Monster durch die Stadt getobt und haben die Leute angegriffen! Es ist schrecklich. Sie haben ... Es gibt mehrere Tote. Fünf oder sechs Lagerarbeiter.“ Ich schüttelte den Kopf und schloss fest die Augen, in der Hoffnung, diese grauenhaften Bilder nicht mehr zu sehen, aber es half nichts. Sie waren nicht länger hier draußen. Sie entsprangen meinem Kopf und dort würden sie von heute an vermutlich immer bleiben.
Als ich mich zwang, die Augen wieder zu öffnen, blieben sie an Rob hängen. Plötzlich musste ich erleichtert aufatmen. „Zum Glück ist dir nicht noch mehr passiert!“, sagte ich leise und schaute in sein Gesicht. Er sah mich nur kurz an, gab aber keine Antwort.
Reander war in seinem Stuhl zusammengesunken und kreidebleich. Er hatte die Hände wie betend an die Nase gehoben und atmete langsam und konzentriert ein und aus. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte er sich wieder in der Gewalt. „Nun gut!“, sagte er. „Es gibt einiges, über das wir dringend sprechen müssen. Wartet hier bitte einen Moment, ich hole nur noch rasch einige Unterlagen.“ Ruckartig schob er seinen Stuhl zurück und war mit wenigen schnellen Schritten verschwunden.
Mit dem Arm war ich fertig und kniete mich nun vor Rob auf den sauber gefegten Holzboden. „So. Jetzt zeig mir mal dein Bein!“, verlangte ich und schob das rechte Hosenbein hoch. Darunter kam ein langer Kratzer zum Vorschein, der sich seitlich an der Wade vom Knöchel bis zum Knie zog. Während ich auch diese Wunde verarztete, stützte Rob seinen Arm auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand in die Haare. Er sah sehr müde aus.
Irgendwo im Haus fiel eine Tür zu, und kurze Zeit später stand Reander wieder im Zimmer. Er hatte die Arme voller Bücher und anderer Schriftstücke. Vorsichtig balancierte er alles zu uns herüber und ließ die Sachen auf den großen Tisch gleiten.
Robs Bein war fertig verbunden, und ich erhob mich. Er fing meinen Blick ein und sagte leise: „Danke!“ Ich lächelte ihn an und ließ mich dann auf einem der Stühle nieder.
„Sind die Verletzungen schlimm?“, fragte Reander an Rob gewandt.
„Nein!“, entgegnete dieser. „Jetzt lasst hören, was Ihr uns zu dieser Sache sagen könnt.“
„Ja, sicher! Doch wäre es von Vorteil, wenn ihr mir kurz erzählt, was ihr bereits wisst. Dann weiß ich, wo ich ansetzen kann.“ Während er sprach, sah er die ganze Zeit über Rob an. Trotzdem war wieder ich es, die antwortete, nachdem Rob keine Anstalten machte, etwas zu sagen. Ich berichtete kurz von den Ereignissen im Lager an der Straße und den Geschehnissen, die sich gerade draußen abgespielt hatten.
Nachdem ich fertig war, nickte Reander vor sich hin. Dann sagte er an Rob gewandt: „Ist das alles?“
„Das Wesentliche!“, antwortete dieser kurz.
Wieder nickte der Alte. „Nun gut, wo fange ich also an? Zunächst muss ich vielleicht anmerken, dass ich alles, was ich euch jetzt erzähle, im guten Glauben daran zusammengetragen habe, dass es sich um Legenden handelt oder dass alles doch zumindest schon vor sehr, sehr langer Zeit geschah. Ein derart realer Bezug, wie ihr ihn mir heute liefert, lässt viele meiner Überlegungen möglicherwiese etwas unausgereift erscheinen. Auch gibt es vermutlich noch unzählige Fragen, die ich nicht beantworten kann.“ Er machte eine Pause, in der er erst Rob und dann mich kurz aber durchdringend ansah.
„Also dann. Ich habe aus persönlichem Interesse angefangen, mich mit den Dämonen zu beschäftigen. Lange Zeit bereiste ich das ganze große Reich Olasia auf der Suche nach Informationen. Ich lauschte den Erzählungen der Alten und besuchte die großen Bibliotheken des Landes. Hier nun das, was ich auf diesen Reisen zusammentragen konnte. Wie viel Wahrheit darin steckt, das müsst ihr selbst beurteilen.“
Reander rutschte sich auf dem Stuhl zurecht, und seine Stimme klang bedeutungsschwanger, als er zu erzählen begann. „Neben unserer Welt existiert noch eine andere, düster und grauenerregend. Das ist das Reich der Dämonen. Sie sind alt, so alt wie die Zeit, und sie sind unsterblich, doch sie leben in einer sterbenden Welt. Für gewöhnlich sind die Welten strikt voneinander getrennt. Aber vor vielen Jahrhunderten entdeckten die Menschen einen Weg, ein Tor zwischen ihnen zu öffnen. Das Wer und Warum gingen verloren, doch seither existiert diese Möglichkeit. Ist das Tor offen, gelangen die Dämonen hinüber in unsere Welt und säen Tod und Leid.
Beim ersten Öffnen wurden die Menschen beinahe ausgelöscht. Doch schließlich gelang es ihnen, einen Weg zu finden, das Tor wieder zu schließen und die Verbindung der Welten zu durchtrennen. Der Frieden kehrte zurück.
Da die Menschen aber nur allzu oft nicht aus ihren Fehlern lernen, gab es im Laufe der Zeit immer wieder neue Dummköpfe, die auf das Wissen um die Tore stießen und es gedankenlos einsetzten. Wie durch ein Wunder gelang es jedes Mal aufs Neue, die Tore wieder zu schließen, auch wenn die Menschheit diese Fehler mit einer großen Zahl an Opfern bitter bezahlen musste.“
„Wie?“, unterbrach ihn Rob. „Wie schließt man das Tor?“
Der Alte sah ihn an. „Ja, ich hätte nie gedacht, dass dies einmal die vordringlichste Frage sein könnte, wenn ich mein gesammeltes Wissen zum Besten gebe. Doch bitte, gedulde dich noch einen Augenblick. Ich komme gleich dazu. Wie es scheint, ist also das Tor wieder geöffnet worden.“
„Unglaublich!“, flüsterte ich vor mich hin.
„Ja, das ist es, und doch müssen wir es glauben. Und es ist nun an uns, die wir um die vergangenen Ereignisse wissen, diesen Fehler wieder zu beheben. Unser wichtigster Schlüssel dazu ist vermutlich dies hier.“ Reander zog ein dickes Buch über den Tisch zu sich heran, dessen Aussehen auf ein hohes Alter schließen ließ. Ich las den verblichenen Titel: „Die Welt der Dämonen“.
Es war still geworden in unserer kleinen Runde. Eine Welt der Dämonen ... Dämonen. Immer wieder hörte ich das Wort in meinem Kopf. Ich drehte es hin und her, beleuchtete es von allen Seiten und ordnete es schließlich da ein, wo es hingehörte, wo es seinen Platz schon seit Jahrhunderten innehatte. Dämonen. Ich sah sie vor mir, diese schwarzen Geschöpfe, und merkte, wie alle Bezeichnungen wie Monster, Kreatur oder Bestie verschwanden und sich verband, was seit Urzeiten zusammengehörte. Das waren Dämonen.
„Was hat es denn nun mit diesem Buch auf sich?“, durchbrach Robs Stimme die Stille.
„Es beschreibt, wie die Tore zur Welt der Dämonen“ – bei diesem Wort stellten sich die Härchen in meinem Nacken auf – „geöffnet und geschlossen werden können. Doch freut euch nicht zu früh. Das Öffnen eines Tores ist eine erschreckend leichte Angelegenheit. Ein bestimmtes Buch und jemanden mit der besonderen Fähigkeit, die Worte daraus vorzutragen. Mehr wird nicht benötigt. Nun ja, damit meine ich nicht nur die Fähigkeit, lesen zu können, etwas mehr gehört schon dazu. Aber hierzu komme ich gleich.
Das Schließen eines Tores ist schon etwas aufwendiger. Laut der „Welt der Dämonen“ werden dazu ganze fünf Bücher benötigt. Jedes dieser fünf scheint eine gewisse Komponente im Ritual des Schließens zu enthalten. Welche das genau sind, weiß ich noch nicht.“
Wieder herrschte einen Moment Stille. „Um das Tor zu schließen, brauchen wir also diese fünf Bücher?“, fasste ich zusammen.
Der Alte nickte. „Exakt. Aber das ist, wie ich bereits erwähnte, noch nicht alles. Es ist auch unumgänglich, jemanden zu finden, der das Ritual durchführen kann. Was ich aus alten Schriften darüber entnehmen konnte, ist, dass von jeher eine Blutlinie existiert, die dazu im Stande ist. Regneas, so werden sie in den Schriften genannt. Ihre Nachfahren alleine haben die Macht dazu, das Tor zu öffnen oder zu schließen.“
Während Reander erzählte, hatte ich die Beine an den Körper gezogen und hielt sie fest umschlungen. Jetzt legte ich den Kopf auf meine Knie und sah zu Rob hinüber. Er hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und rieb sich mit den Handflächen über Augen und Gesicht. „Gibt es Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, was aus dieser Blutlinie wurde?“, fragte er.
„Nicht direkt. Es ist überliefert, dass bei der letzten Öffnung eines Tores noch genau fünf der Regneas am Leben waren. Das war zur Zeit meines Urururgroßvaters. Aus den Unterlagen geht hervor, dass diese letzten fünf Regneas das Tor gemeinsam schlossen. Danach wurde jedem von ihnen eines der Bücher anvertraut. Ihre Aufgabe war es, diese so zu verwahren oder zu verstecken, dass sie kein Unheil mehr würden anrichten können.
Gleichzeitig hatten sie zwar denjenigen besiegt, der damals das Tor geöffnet hatte, das „Buch des Öffnens“ war jedoch verschwunden. So hatten sie keine Wahl. Sie mussten die Bücher verwahren, konnten sie nicht zerstören, denn sonst hätten sie keine Handhabe gegen ein erneutes Öffnen des Tores besessen. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, bei der Suche nach den Büchern auf die Nachfahren der Regneas zu treffen oder umgekehrt. Was wir aber auch nicht aus den Augen verlieren dürfen, ist, dass einer dieser Nachfahren das Tor geöffnet haben muss.“
„Warum tut jemand nur so etwas?“, entfuhr es mir. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie jemand diese unsterblichen Dämonen auf seine eigene Welt loslassen konnte.
Alle starrten eine Weile vor sich hin. Dann fragte Rob: „Wo also sind jetzt diese Bücher?“
„Ihr müsst verstehen, dass ich mich mit diesem Thema nur aus Interesse und nur auf Ebene der Theorie befasst habe. Die Bücher wirklich einmal benutzen zu müssen, wäre mir nie in den Sinn gekommen.“
„Schon gut!“, seufzte Rob. „Ich werde sie schon finden.“
„Oh, bitte versteht mich nicht falsch!“, warf Reander lächelnd ein. „Ein gewisses Interesse hatte ich schon daran, diese Werke einmal zu sichten. Ich habe die Geschichte eines bestimmten Bandes zurückverfolgt und kann heute mit Stolz verkünden, dass er sich in meinem Besitz befindet.“
Schlagartig saß ich kerzengerade. Er hatte tatsächlich eines dieser ominösen Bücher gefunden? Seine Existenz machte alles so real. Sie zog die Legende über Dämonen und Tore aus dem Reich der Märchen zu uns in die Realität hinüber. „Darf ich es einmal sehen?“, flüsterte ich, ohne mir darüber im Klaren zu sein. Wie mochte so ein Buch wohl aussehen und was würde darin stehen?
„Oh nein, ich bewahre das Buch nicht hier auf“, sagte Reander schnell. Meine Euphorie wollte gerade wieder in Mutlosigkeit umschlagen, als er hinzufügte: „Aber es ist nicht weit von hier. Wir können es holen, bevor wir zur Suche nach den anderen Büchern aufbrechen.“
Rob warf den Kopf ruckartig hoch. „Was soll das heißen: Bevor wir die anderen Bücher suchen? Ihr werdet auf keinen Fall mitkommen. Ich mache das allein!“
Allein? Was meinte er damit ... allein? Reander und ich holten gleichzeitig Luft, um zu protestieren, aber ich war es, die zuerst den Mund aufmachte. „Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass ich dich allein losziehen lasse? Ich hänge in dieser Sache genauso drin wie du!“
Rob warf den Kopf zu mir herum, und seine dunklen Augen funkelten mich böse an. Dann lachte er. Es klang nicht besonders humorvoll.
„Was genau ist so witzig?“, fuhr ich ihn an, aber im nächsten Moment wandte sich Reander wieder an Rob.
„Es ist doch so, Junge: Ich verfüge über die Informationen und das Buch. Und keines von beidem wirst du bekommen, wenn ich dich nicht begleite. So einfach ist das! Morgen bei Sonnenaufgang brechen wir auf. Übrigens könnt ihr ruhig du sagen.“
Rob stand so heftig auf, dass der Stuhl hinter ihm krachend umfiel. Die Hände zu Fäusten geballt rannte er regelrecht aus dem Zimmer. Von seinen Verletzungen merkte man dabei nichts mehr.
Jetzt sah ich alle meine Felle davonschwimmen. Ich hatte kein Druckmittel wie Reander, aber ich würde mich unter keinen Umständen abschütteln lassen. Das hier ging mich genauso etwas an wie die anderen. Schließlich war es auch meine Welt, die hier zur Debatte stand. Blitzschnell sprang ich auf und lief hinter Rob her.
Draußen vor der Haustür holte ich ihn ein. „Rob, warte!“, rief ich und ließ einen mit Kisten beladenen Zweispänner passieren, bevor ich zu ihm aufschloss.
Er drehte sich ruppig zu mir herum. „Oh, Joana, ich bitte dich! Das hier ist nichts für dich! Geh! Geh nach Hause und schreib dein Buch. Genug Material hast du doch nun!“
Das tat weh, und während er ungerührt weiterlief, stiegen mir Tränen in die Augen. Verzweifelt kämpfte ich dagegen an. „Nein!“, rief ich mit schriller Stimme. „Das hier ist auch meine Welt. Ich kann dir helfen!“
Während mein rechtes Auge tapfer durchhielt, verriet mich das linke und ließ eine Träne passieren, die mir langsam das Gesicht hinunterlief. Rob blieb wieder stehen, drehte sich um und kam langsam zwei Schritte zurück. Dabei rieb er sich mit der Hand die Schläfen. Seine Stimme war jetzt weicher und klang erschöpft. „Joana. Versteh das doch! Es ist nur zu deinem Besten.“ Leiser fügte er hinzu: „Es ist für niemanden gut, zu viel Zeit mit mir zu verbringen.“ Rob stand jetzt so dicht vor mir, dass er meine verräterische Träne sehen konnte, und ich verfluchte sie. Zögernd hob er die Hand, wie um den Verräter fortzuwischen, führte die Bewegung dann aber nicht zu Ende.
Ich fuhr mir selbst mit der Hand übers Gesicht und sagte: „Ich werde auf jeden Fall nach den Büchern suchen und dieses verdammte Tor schließen. Ob du nun mitkommst oder nicht!“ Dann drehte ich mich ruckartig um und ging schnellen Schrittes zurück ins Haus, wobei ich fast von einem zweiten voll beladenen Wagen erfasst wurde. Rob folgte mir nicht. Drinnen warf ich die Tür zu und kam mir ziemlich dumm vor, weil ich mich gerade wie ein trotziges Kind benommen hatte. Dennoch stand mein Entschluss fest. Auf keinen Fall würde ich mich abschütteln lassen.
Reander saß noch immer vor seinen Unterlagen. Er sah mir ins Gesicht und sagte ruhig: „Womöglich hat er ja Recht, und du solltest wirklich nach Hause gehen.“
Wut und Verzweiflung kochten erneut in mir hoch. Ich sah ihm in die Augen und schüttelte nur den Kopf.
„Nun gut. Jetzt wollen wir das Thema erst einmal sein lassen. Du bist bestimmt hungrig.“ Er wies auf die Tischgruppe, verließ den Raum und ich hörte ihn eine Weile nebenan herumhantieren. Reander servierte Suppe, und ich aß hungrig zwei Teller leer. Dann fragte er: „Hast du eine Bleibe für heute Nacht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Du kannst hier übernachten, wenn du das möchtest.“
Hastig willigte ich ein. Dieses Haus und Reander waren mein einziger Anhaltspunkt. Wenn Rob es sich überlegte und doch zurückkam, dann hierher. Und ich würde ihn hier erwarten.
Nach dem Essen führte mich Reander in einen unbewohnten Raum, der wohl als Gästezimmer diente. Er legte einige Decken auf einem schmalen Bett ab, wünschte mir eine gute Nacht und blieb dann noch einmal in der Tür stehen, die Hand am Knauf. „Er wird zurückkommen. Aber hast du dir genau überlegt, warum du all das auf dich nehmen möchtest?“