Dämonentochter - Verbotener Kuss - Jennifer L. Armentrout - E-Book
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Dämonentochter - Verbotener Kuss E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Zwischen Göttern und Sterblichen gibt es die Eine, die kämpfen wird

Alex‘ Mutter wurde von Dämonen verwandelt und macht nun Jagd auf Menschen. Einzig Alex kann sie aufhalten. Doch sie ist noch keine voll ausgebildete Dämonenjägerin. Als Alex‘ Mutter einen Freund ihrer Tochter entführt, bleibt Alex keine Wahl. Sie zieht in einen Kampf auf Leben und Tod, und stellt sich allein ihrer größten Angst ...

Jennifer Armentrouts »Dämonentochter«-Reihe ist intensiv, dramatisch und voller Leidenschaft. Mörderische und mystische Romantasy für alle Fans von überzeugenden und fesselden Charakteren, einer faszinierenden Welt und Nervenkitzel pur!

Alle Bände der »Dämonentochter«-Reihe:
Verbotener Kuss (Band 1)
Verlockende Angst (Band 2)
Verführerische Nähe (Band 3)
Verwunschene Liebe (Band 4)
Verzaubertes Schicksal (Band 5)

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Seitenzahl: 476

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Autorenfoto: © Vania

DIEAUTORIN

Jennifer L. Armentrout hat es mit ihren Büchern bereits auf die Bestsellerliste von USA Today geschafft. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.

Jennifer L. Armentrout

Dämonentochter

Verbotener Kuss

Aus dem Amerikanischenvon Dr. Barbara Röhl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2011 by Jennifer L. Armentrout

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Half Blood«

bei Spencer Hill Press, Contoocook, USA

© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Dr. Barbara Röhl

Lektorat: Friedel Wahren

Covergestaltung: Caroline Liepins

MG · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-10740-6V004

www.cbt-jugendbuch.de

Für Kathy

Viele vermissen und lieben dich

1. Kapitel

Ich riss die Augen auf, als mein verrückter sechster Sinn meinen Körper mit Adrenalin überschwemmte. In der feuchten Luft von Georgia und auf dem staubigen Boden bekam ich kaum Luft. Seit meiner Flucht aus Miami war ich nirgends mehr sicher gewesen. Auch in dieser verlassenen Fabrik fand ich keinen Schutz.

Die Daimonen waren hier.

Ich hörte sie auf der unteren Ebene. Systematisch durchsuchten sie jeden Raum, rissen Türen auf und knallten sie wieder zu. Bei diesem Geräusch fühlte ich mich um einige Tage zurückversetzt. Da hatte ich die Tür zu Moms Zimmer aufgestoßen und sie hatte in den Armen eines dieser Monster gelegen. Neben ihr ein zerbrochener Blumentopf mit Hibiskus. Purpurrote Blütenblätter lagen auf dem Boden verstreut und mischten sich mit dem Blut. Die Erinnerung durchfuhr mich wie ein scharfer Schmerz, aber im Augenblick wollte ich nicht daran denken.

Ich sprang auf, blieb in dem schmalen Gang stehen und lauschte angespannt. Wie viele Daimonen waren es? Drei? Mehr? Meine Finger krampften sich um den dünnen Stiel des Spatens. Ich hob ihn hoch und fuhr mit den Fingern über die mit Titan gehärtete scharfe Kante. Das erinnerte mich an mein Vorhaben. Daimonen verabscheuten Titan. Es gab zwei Möglichkeiten, ihnen den Garaus zu machen: sie zu köpfen– viel zu krass– oder mit Titan umzubringen. Das nach den Titanen benannte Edelmetall erwies sich als giftig für alle, die süchtig nach Äther waren.

Irgendwo in dem Gebäude gab eine Bodendiele knarrend nach. Ein tiefes Heulen durchbrach die Stille. Es begann als leises Jaulen und stieg zu einem durchdringend schrillen Ton an. Der Schrei hörte sich unmenschlich, krank und grauenerregend an. Nichts auf dieser Welt klang wie ein Daimon– wie ein hungriger Daimon.

Und er war in der Nähe.

Ich stürmte den Gang entlang, und meine zerschlissenen Turnschuhe polterten über die abgetretenen Bodenbretter. Geschwindigkeit lag mir im Blut. Mein schmutziges langes Haar flatterte hinter mir her. Ich bog um die Ecke und wusste, dass ich nur wenige Sekunden Zeit hatte…

Der Daimon packte mein Shirt und knallte mich gegen die Wand. Schale Luft umwirbelte mich. Staub und Gips schwebten durch die Luft. Während ich mich wieder aufrappelte, tanzten schwarze Sterne in meinem Blickfeld. Diese seelenlosen, pechschwarzen Löcher in Höhe der Augen schienen mich anzustarren, als sollte ich die nächste Mahlzeit werden.

Der Daimon ergriff mich an der Schulter und ich ließ meinem Instinkt freien Lauf. Ich warf mich herum, und bevor ich zutrat, beobachtete ich den Bruchteil einer Sekunde lang die Verblüffung, die über sein bleiches Gesicht huschte. Mein Fuß traf ihn an der Schläfe. Er taumelte an die gegenüberliegende Wand. Ich fuhr herum und stieß zu. Sein Erstaunen verwandelte sich in Entsetzen, als er den Spaten entdeckte, der tief in seinem Leib steckte. Titan brachte einen Daimon immer um, ganz gleich, wo er getroffen wurde.

Ein kehliges Stöhnen drang aus seinem aufgerissenen Mund, dann explodierte er zu schimmerndem blauem Staub.

Den Spaten noch in der Hand, wandte ich mich um und rannte immer zwei Stufen auf einmal die Treppe hinunter. Auf den Schmerz in den Hüften achtete ich nicht. Ich würde es schaffen– ich musste es schaffen. Im nächsten Leben würde es mich furchtbar anöden, in diesem Rattenloch als Jungfrau gestorben zu sein.

»Wohin läufst du, kleines Halbblut?«

Ich stolperte zur Seite und fiel gegen eine große Stahlpresse. Mit heftig pochendem Herzen sah ich mich um. Der Daimon tauchte etwa zwei Meter hinter mir auf. Er sah aus wie ein Freak, genau wie der von oben. Sein Mund stand offen und ich entdeckte die scharf gezackten Zähne. Beim Anblick dieser tiefschwarzen Augenlöcher lief es mir kalt über den Rücken. Sie spiegelten weder Licht noch Leben, sie bedeuteten nur den Tod. Seine Wangen waren eingefallen, die Haut wirkte unirdisch blass. Die Venen wölbten sich und krochen über das Gesicht wie tintenschwarze Schlangen. Er sah wirklich aus wie eine Erscheinung aus meinem schlimmsten Albtraum– wie etwas Dämonisches. Nur ein Halbblut war in der Lage, den Glanz, den sie verbreiteten, kurz zu durchschauen. Dann gewann die Elementarmagie die Oberhand und zeigte sie so, wie sie früher ausgesehen hatten. Dieser Daimon erinnerte mich an Adonis– einen umwerfend schönen blonden Mann.

»Was tust du denn hier so allein?«, fragte er mit tiefer, lockender Stimme.

Ich wich einen Schritt zurück und suchte nach einem Ausgang. Der Möchtegern-Adonis versperrte mir den Weg nach draußen, und ich wusste, dass ich nicht lange still stehen konnte. Daimonen herrschten immerhin über die Elemente. Wenn er mich mit Luft oder Feuer angriff, war ich erledigt.

Er lachte–, ein humorloser, lebloser Laut. »Wenn du mich anflehst– und ich meine, richtig anflehst–, bereite ich dir vielleicht einen raschen Tod. Ehrlich gesagt bringen Halbblütige mir nicht wirklich etwas. Reinblüter dagegen«– er stieß ein verzücktes Seufzen aus– »sind wie ein Dreisternemenü. Aber Halbblüter? Ihr seid praktisch Fast Food.«

»Ein Schritt näher, und du endest wie dein Kumpel dort oben.« Hoffentlich klang ich bedrohlich genug! Eher unwahrscheinlich. »Probier’s aus!«

Er hob die Brauen. »Allmählich machst du mich wütend. Du hast schon zwei von uns getötet.«

»Führst du Buch darüber, oder was?« Der Boden hinter mir knarrte und mir blieb fast das Herz stehen. Als ich herumfuhr, entdeckte ich einen weiblichen Daimon. Sie rückte näher an mich heran und trieb mich auf den anderen zu.

Sie kesselten mich ein und ließen mir keinen Fluchtweg. Irgendwo in diesem Müllhaufen kreischte noch einer. Angst und Panik schnürten mir die Luft ab. Mein Magen krampfte sich heftig zusammen, und meine Finger zitterten, während sie den Spaten umklammerten. Bei den Göttern, am liebsten hätte ich gekotzt.

Der Anführer näherte sich mir. »Weißt du, was ich mit dir mache?«

Ich schluckte und setzte ein selbstgefälliges Lächeln auf. »Blabla. Du wirst mich töten, bla. Ich weiß.«

Das gierige Kreischen der Frau schnitt ihm die Antwort ab. Offenbar war sie sehr hungrig. Wie ein Geier umkreiste sie mich, um mich auf der Stelle zu zerreißen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich sie. Die Hungrigen waren immer die Dümmsten– die Schwächsten des Rudels. Die Legenden wussten zu berichten, dass die erste Kostprobe des Äthers– der Lebenskraft, die in unserem Blut fließt– einen Reinblütigen zum Besessenen machte. Ein einziger Schluck davon verwandelte ihn in einen Daimon und machte ihn lebenslang süchtig. Ich rechnete mir gute Chancen aus, an der Frau vorbeizukommen. Der andere allerdings… das würde schwieriger werden.

Ich täuschte einen Angriff auf die Frau vor. Wie eine Drogensüchtige auf der Suche nach ihrem Schuss steuerte sie geradewegs auf mich zu. Der Mann befahl ihr schreiend, sie solle stehen bleiben, doch es war zu spät. Wie ein Sprinter bei der Olympiade schoss ich in die entgegengesetzte Richtung davon und stürzte zu der Tür, die ich am Abend eingetreten hatte. Draußen hatte ich bessere Chancen. Ein winziger Hoffnungsfunke blitzte auf und trieb mich vorwärts.

Dann passierte das Schlimmste, das ich mir überhaupt vorstellen konnte. Eine Feuerwand stieg vor mir auf, brannte sich durch Werkbänke und schoss mindestens zweieinhalb Meter hoch in die Luft, und sie war keine Illusion. Die Hitze schwappte auf mich zu, das Feuer knisterte und fraß sich durch die Wände.

Vor mir kam er direkt durch die Flammen geschritten und sah genauso aus, wie ein Daimonenjäger aussehen sollte. Das Feuer versengte weder seine Hose, noch verschmutzte es sein Hemd. Die Flammen berührten kein einziges seiner dunklen Haare. Diese coolen Augen von der Farbe einer Sturmwolke richteten sich auf mich.

Er war es– Aiden St. Delphi.

Seinen Namen oder sein Gesicht werde ich nie vergessen. Als ich zum ersten Mal einen Blick auf ihn erhaschte, wie er vorn in der Trainingsarena stand, war eine alberne Schwärmerei in mir erwacht. Damals war ich vierzehn gewesen und er siebzehn. Bei keiner unserer Begegnungen auf dem Campus hatte es eine Rolle gespielt, dass er ein Reinblütiger war.

Aidens Anwesenheit konnte nur eines bedeuten: Die Wächter waren gekommen.

Unsere Blicke trafen sich und dann sah er mir über die Schulter. »Runter!«

Das musste er mir nicht zweimal sagen. Ich warf mich zu Boden wie ein Profi. Die pulsierende Hitze schoss über mich hinweg und traf ihr Ziel. Der Boden erbebte vom wilden Umsichschlagen des weiblichen Daimons und ihre Schmerzensschreie erfüllten die Luft. Umzubringen war ein Daimon nur mit Titan, und es war bestimmt kein angenehmes Gefühl, bei lebendigem Leib zu brennen.

Ich stützte mich auf die Ellbogen hoch und spähte durch mein schmutziges Haar, während Aiden den Kopf senkte. Auf die Bewegung folgte ein leises Knallen, und die Flammen verschwanden so rasch, wie sie aufgelodert waren. Sekunden später gab es nur noch Rauch und den Geruch nach verbranntem Holz und Fleisch.

Zwei weitere Wächter eilten in den Raum. Einen von ihnen erkannte ich: Kain Poros, ein Halbblut und ungefähr ein Jahr älter als ich. Früher einmal hatten wir zusammen trainiert. Kain bewegte sich mit einer Grazie, die er früher nicht besessen hatte. Er ging auf die Frau zu und stieß ihr mit einer kurzen Bewegung einen langen, schmalen Dolch in die verbrannte Haut über der Brust. Auch sie löste sich in Staub auf.

Der andere Wächter wirkte wie ein Reinblütiger, aber ich hatte ihn noch nie gesehen. Er war stämmig– mit Muskeln, wie man sie durch Steroide kriegt– und nahm sich den Daimon vor, der sich meines Wissens irgendwo in der Fabrik herumtrieb, den ich aber noch nicht entdeckt hatte. Als ich beobachtete, wie elegant er seinen großen Körper bewegte, fühlte ich mich grässlich unzulänglich, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass ich immer noch der Länge nach auf dem Boden lag. Mühsam kam ich auf die Füße und spürte, wie der durch das Entsetzen ausgelöste Adrenalinrausch verebbte.

Dann prallte meine Wange ohne Vorwarnung hart auf den Boden und mein Kopf explodierte vor Schmerz. In meiner Benommenheit und Verwirrung dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass der Möchtegern-Adonis mir die Beine weggezogen hatte. Ich zappelte, aber der widerliche Kerl packte mich am Haar und zerrte meinen Kopf nach hinten. Ich krallte ihm die Finger in die Haut, aber das linderte den Druck auf meinen Hals nicht. Erst glaubte ich voller Schrecken, er wolle mir den Kopf abreißen. Stattdessen schlug er mir seine rasiermesserscharfen Zähne in die Schulter, trieb sie durch Stoff und Haut ins Fleisch. Ich schrie, kreischte laut auf.

Ich stand in Flammen, anders konnte es gar nicht sein. Sein Saugen brannte mir durch die Haut, scharfe Stiche fuhren in jede Zelle meines Körpers. Auch wenn ich nur ein Halbblut war und nicht so randvoll mit Äther wie ein Reinblütiger, trank der Daimon doch von meiner Lebenskraft, als wäre ich einer von jenen. Er war nicht hinter meinem Blut her. Das würde er literweise schlucken, nur um an den Äther zu gelangen. Sogar mein Geist kippte weg, als er ihn einsog. Ich spürte nur noch Schmerz.

Plötzlich hörte der Daimon auf. »Was bist du?«, nuschelte er im Flüsterton.

Ich hatte nicht einmal Zeit, über die Frage nachzudenken. Er wurde von mir heruntergerissen und ich sank nach vorn. Ich rollte mich zu einer schmutzigen, blutenden Kugel zusammen und stöhnte eher wie ein verwundetes Tier als wie ein entfernt menschliches Wesen. Noch nie zuvor war ich gebissen worden– ausgesaugt von einem Daimon.

Durch mein leises Wimmern hindurch hörte ich ein ekelerregendes Knirschen und dann ein wildes Kreischen, aber der Schmerz hatte meine Sinne vollkommen übernommen. Allmählich zog er sich aus meinen Fingern zurück und verdichtete sich in meinem Rumpf, wo er weiterhin tobte. Ich versuchte darüber wegzuatmen, aber verdammt…

Sanfte Hände drehten mich auf den Rücken und lösten meine Finger von der Schulter. Ich blickte zu Aiden auf.

»Geht es dir gut? Alexandria? Bitte, sag etwas!«

»Alex«, stieß ich erstickt hervor. »Alle nennen mich Alex.«

Er lachte kurz und erleichtert auf. »Okay. Gut. Kannst du aufstehen, Alex?«

Vermutlich nickte ich. Alle paar Minuten durchlief mich eine stechende Hitzewelle, aber der scharfe Schmerz hatte sich in ein dumpfes Pochen verwandelt. »Das war… richtig, richtig mies.«

Aiden gelang es, einen Arm um mich zu legen und mich hochzuziehen. Ich schwankte, während er mein Haar zurückstrich, um sich den Schaden anzusehen. »Lass dir ein bisschen Zeit! Der Schmerz vergeht.«

Ich hob den Kopf und sah mich um. Kain und der andere Wächter betrachteten stirnrunzelnd zwei fast gleich aussehende Häufchen aus blauem Staub. Der Reinblütige der beiden wandte sich an uns. »Das sollten alle gewesen sein.«

Aiden nickte. »Wir müssen aufbrechen, Alex. Sofort. Zurück zum Covenant.«

Zum Covenant?Als ich mich Aiden zuwandte, hatte ich meine Gefühle nicht ganz im Griff. Er war ganz in Schwarz gekleidet, in die Uniform der Wächter. Eine aufregende Sekunde lang stieg die mädchenhafte Schwärmerei von vor drei Jahren in mir auf. Aiden sah toll aus, aber meine Wut stampfte diesen lächerlichen Anflug in Grund und Boden.

Der Covenant hatte etwas mit der Sache hier zu tun– und kam mir zu Hilfe? Wo zur Hölle war er gewesen, als einer der Daimonen sich in unsere Wohnung geschlichen hatte?

Aiden näherte sich mir, aber ich sah nicht ihn– ich sah wieder den leblosen Körper meiner Mutter vor mir. Als Letztes auf dieser Welt hatte sie in das Gesicht eines gottverdammten Daimons geblickt. Und als Letztes in ihrem Leben hatte sie gefühlt… Ich erschauerte und dachte an den scharfen Schmerz, der den ganzen Körper zerriss, als mich der Daimon gebissen hatte.

Aiden kam einen weiteren Schritt auf mich zu, und meine Reaktion war eine Mischung aus Wut und Schmerz. Ich stürzte mich auf ihn und wendete Techniken an, die ich seit Jahren nicht mehr trainiert hatte. Einfache Tritte und Schläge waren schön und gut, aber richtige Angriffsmanöver hatte ich kaum gelernt.

Er packte meine Hand und schwang mich herum, bis ich in die andere Richtung sah. Innerhalb von Sekunden hielt er meine Arme fest umklammert. Aber der ganze Schmerz und der Kummer stiegen in mir auf und schalteten jede Vernunft aus. Ich beugte mich vor und wollte so viel Abstand zwischen uns schaffen, dass ich einen heftigen Tritt nach hinten anbringen konnte.

»Nicht«, warnte mich Aiden mit täuschend sanfter Stimme. »Ich möchte dir nicht wehtun.«

Mein Atem ging in scharfen Stößen. Ich spürte, wie mir das warme Blut am Hals hinablief und sich mit Schweiß vermischte. Obwohl sich in meinem Kopf alles drehte, wehrte ich mich weiter, und dass Aiden mich so leicht in Schach hielt, führte nur dazu, dass ich buchstäblich rot sah.

»Hey, stopp!«, schrie Kain, der abseits stand. »Du kennst uns doch, Alex! Erinnerst du dich nicht an mich? Wir wollen dir nichts tun.«

»Halt den Mund!« Ich befreite mich aus Aidens Griff und wich Kain und dem Muskelprotz aus. Keiner von ihnen rechnete damit, dass ich ihnen davonlief, aber genau das tat ich.

Ich schaffte es bis zur Tür, die aus der Fabrik hinausführte, schlängelte mich um das zerbrochene Holz herum und stürzte nach draußen. Meine Füße trugen mich zu dem freien Feld auf der anderen Straßenseite. Meine Gedanken waren ein einziges Chaos. Warum lief ich davon? Hatte ich seit dem Daimonenangriff in Miami nicht versucht, zum Covenant zurückzukehren?

Mein Körper wollte nicht, aber ich rannte weiter durch die hohen Gräser und an den stacheligen Büschen vorbei. Hinter mir hörte ich schwere Schritte. Mein Blickfeld verschwamm ein wenig und mein Herz polterte in der Brust. Ich fühlte mich so verwirrt, so…

Etwas Hartes knallte gegen mich und trieb mir die Luft aus den Lungen. Wild um mich schlagend ging ich zu Boden. Irgendwie drehte sich Aiden und bekam die größte Wucht des Aufpralls ab. Ich landete auf ihm und blieb kurz liegen, doch dann wälzte ich mich herum und hielt mich an dem kratzigen Gras fest.

Ich barst schier vor Panik und Wut. »Jetzt kommt ihr? Wo wart ihr vor einer Woche? Wo war der Covenant, als meine Mutter umgebracht wurde? Wo warst du?«

Mit weit aufgerissenen Augen fuhr Aiden zurück. »Es tut mir leid. Wir…«

Seine Entschuldigung brachte mich nur noch weiter in Rage. Ich wollte ihm wehtun. Ihn zwingen, mich loszulassen. Ich wollte… ich wollte… Keine Ahnung, was zur Hölle ich wollte, aber ich konnte nicht aufhören zu schreien, zu kratzen und zu treten. Ich gab erst auf, als Aiden seinen langen, schlanken Körper gegen mich presste. Sein Gewicht, seine Nähe hielten mich unbezwingbar fest.

Zwischen uns blieb kein Zentimeter Abstand. Ich fühlte, wie sich sein harter Waschbrettbauch gegen meinen Magen drückte, spürte, dass seine Lippen nur Zentimeter von meinem Mund entfernt waren. Mit einem Mal kam mir ein abgefahrener Gedanke. Ich fragte mich, ob seine Lippen sich wohl genauso gut anfühlten, wie sie aussahen… und sie sahen fantastisch aus.

Dieser Gedanke war falsch. Ich musste verrückt sein– das war die einzig mögliche Erklärung für mein Verhalten. Die Art, wie ich seine Lippen anstarrte, oder der Umstand, dass ich unbedingt geküsst werden wollte– all das war aus verschiedensten Gründen verkehrt. Abgesehen von der Tatsache, dass ich ihm gerade den Kopf hatte abreißen wollen, sah ich auch noch furchtbar aus. Mein Gesicht war so schmutzverkrustet, dass es sicher nicht mehr zu erkennen war. Ich hatte seit einer Woche nicht geduscht und stank vermutlich. Ekelhaft.

Aber so, wie er den Kopf senkte, schien er mich tatsächlich küssen zu wollen. Mein ganzer Körper spannte sich an, so als wartete ich auf meinen ersten Kuss. Natürlich war das nicht mein erster Kuss. Ich hatte schon eine Menge Jungs geküsst, nur ihn nicht.

Keinen Reinblütigen.

Aiden rückte herum und kam tiefer. Ich holte Luft, und meine Gedanken drehten sich in wahnwitziger Geschwindigkeit, förderten aber nichts Hilfreiches zutage. Er legte mir die rechte Hand auf die Stirn und in mir schrillten Alarmglocken.

Schnell, leise und so rasch, dass ich die Worte nicht verstand, murmelte er einen Spruch.

Der verdammte…

2. Kapitel

Worauf auch immer mein Kopf lag, es fühlte sich fest, aber merkwürdig bequem an. Ich schmiegte mich hinein und fühlte mich sicher und warm– eine Empfindung, die ich nicht mehr gehabt hatte, seit Mom mich vor drei Jahren vom Covenant weggeholt hatte. Wenn man von Ort zu Ort zog, kannte man ein solches Wohlgefühl kaum. Irgendetwas stimmte nicht.

Ich riss die Augen auf.

Verdammt.

Ich fuhr so jäh von Aidens Schulter hoch, dass ich mit dem Kopf gegen das Fenster knallte. »Mist!«

Die dunklen Brauen hochgezogen, wandte er sich zu mir um. »Geht’s dir gut?«

Ich überhörte seinen besorgten Tonfall und starrte ihn aufgebracht an. Keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos gewesen war. Stunden, vermutete ich angesichts des tiefblauen Himmels hinter den getönten Autoscheiben. Reinblütige durften keine Sprüche gegen Halbblüter einsetzen, sofern diese keine Sklaven waren. Das wurde als höchst unethisch betrachtet, da dieser geistige Zwang den freien Willen, die Entscheidungsfähigkeit und alles andere unterdrückte.

Verfluchte Hematoi! Als ob sie sich jemals um Moral gekümmert hätten.

Bevor die ursprünglichen Halbgötter zusammen mit Herakles und Perseus gestorben waren, hatten sie sich alle miteinander durch die Betten gewälzt, wie es nur die Griechen fertigbrachten. Aus diesen Verbindungen waren die Reinblütigen hervorgegangen, die Hematoi, ein sehr, sehr mächtiges Volk. Die Hematoi beherrschten die vier Elemente– Luft, Wasser, Feuer und Erde– und lenkten diese rohe Macht in Zaubersprüche und Zwänge. Reinblütige durften ihre Gaben nicht gegen andere Reinblütige einsetzen. Das bedeutete Gefängnis– und in manchen Fällen sogar den Tod.

Als Halbblut, also als Abkömmling eines Reinblütigen und eines gewöhnlichen Menschen– nach den Begriffen der Reinblütigen als Bastard–, hatte ich keine Macht über die Elemente. Meine Art besaß dieselbe Kraft und Schnelligkeit wie die Reinblüter, aber wir hatten eine spezielle Gabe, die uns zu etwas Besonderem machte. Wir waren in der Lage, die Elementarmagie zu durchschauen, die die Daimonen gebrauchten. Reinblüter konnten das nicht.

Von uns Halbblütern liefen viele herum, wahrscheinlich mehr als solche von reinem Blut. In Anbetracht der Tatsache, dass Reinblüter nicht aus Liebe heirateten, sondern um ihre Stellung in unserer Gesellschaft zu verbessern, neigten sie dazu, auf Abwege zu geraten– und zwar oft genug. Sie waren nicht anfällig für die Krankheiten der Sterblichen und hielten es daher vermutlich für überflüssig, sich zu schützen. Außerdem spielten ihre halbblütigen Nachkommen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft der Reinblüter.

»Alex.« Stirnrunzelnd musterte mich Aiden. »Bist du in Ordnung?«

»Klar, mir geht’s prima.« Mit finsterem Blick nahm ich meine Umgebung in Augenschein. Wir befanden uns in einem großen Fahrzeug, wahrscheinlich in einem jener riesigen Geländewagen des Covenant, mit denen man ein ganzes Dorf in Grund und Boden pflügen konnte. Reinblüter machten sich keine Gedanken über Kleinigkeiten wie Geld oder Benzinverbrauch. Je größer, desto besser, war ihr inoffizielles Motto.

Der andere Reinblüter– der Riesenkerl– saß hinter dem Steuer. Auf dem Beifahrersitz starrte Kain schweigend aus dem Fenster. »Wo sind wir?«

»An der Küste, kurz vor Bald Head Island. Wir haben die Götterinsel fast erreicht«, antwortete Aiden.

Mein Herz tat einen Satz. »Was?«

»Wir fahren zurück zum Covenant, Alex.«

Der Covenant– der Ort, an dem ich ausgebildet worden war und den ich bis vor drei Jahren mein Zuhause genannt hatte. Seufzend rieb ich mir den Hinterkopf. »Hat der Covenant euch geschickt? Oder… mein Stiefvater?«

»Der Covenant.«

Ich atmete auf. Mein reinblütiger Stiefvater würde nicht gerade jubeln, wenn er mich sah. »Dann arbeitest du für den Covenant?«

»Nein. Ich bin nur Wächter und derzeit so etwas wie eine Leihgabe. Dein Onkel hat uns geschickt, um nach dir zu suchen.« Aiden hielt inne und spähte aus dem Fenster. »Seit du fortgegangen bist, hat sich viel verändert.«

Am liebsten hätte ich gefragt, was ein Wächter auf der gut geschützten Götterinsel ausrichten sollte, andererseits ging mich das nichts an. »Was denn?«

»Dein Onkel ist jetzt Dekan des Covenant.«

»Marcus? Moment mal! Wie? Und was ist aus Dekan Nasso geworden?«

»Er ist vor etwa zwei Jahren gestorben.«

»Oh.« Keine große Überraschung. Er war steinalt gewesen. Ich sagte nichts weiter und dachte darüber nach, dass mein Onkel jetzt Dekan Andros war. Bah. Ich verzog das Gesicht. Ich kannte den Mann kaum und erinnerte mich nur noch daran, dass er sich zuletzt in der Politik der Reinblüter nach oben gearbeitet hatte. Es wunderte mich demnach nicht, dass er eine so begehrte Stellung errungen hatte.

»Tut mir leid, dass ich vorhin Zwang angewendet habe, Alex«, brach Aiden das Schweigen, das sich zwischen uns ausgebreitet hatte. »Ich wollte nicht, dass du dir wehtust.«

Ich gab keine Antwort.

»Und… es tut mir leid wegen deiner Mutter. Wir haben überall nach euch gesucht, aber ihr seid nie lange genug an einem Ort geblieben. Wir sind zu spät gekommen.«

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Ja, ihr wart zu spät.«

Wieder herrschte Schweigen in dem Geländewagen und dauerte einige Minuten lang an. »Warum ist deine Mutter vor drei Jahren weggezogen?«

Ich blinzelte durch meinen Haarvorhang. Aiden beobachtete mich und wartete darauf, dass ich seine verfängliche Frage beantwortete. »Ich weiß es nicht.«

Seit meinem siebten Lebensjahr war ich ein Halbblut in der Ausbildung gewesen– hatte zu den sogenannten privilegierten Halbblütern gehört. Uns standen im Leben zwei Möglichkeiten zur Wahl: entweder das Training beim Covenant oder der Abstieg in die arbeitende Klasse. Halbblüter, für die sich ein Reinblütiger einsetzte und die Ausbildungskosten übernahm, wurden in den Covenant aufgenommen und zu Wächtern oder Gardisten ausgebildet. Die anderen Halbblüter hatten nicht so viel Glück.

Sie wurden von den Meistern zusammengetrieben, einer Gruppe von Reinblütern, die die Kunst des geistigen Zwangs perfekt beherrschten. Man hatte ein Elixier entwickelt, eine spezielle Mischung aus Mohnblumen und Tee. Bei einem Halbblut wirkte das Gebräu anders als bei anderen. Statt Lethargie und Schläfrigkeit hervorzurufen, machte der verarbeitete Mohn sie fügsam und leer– verpasste ihnen ein High, von dem sie nie wieder herunterkamen. Die Meister flößten den rekrutierten Halbblütern das Elixier mit sieben Jahren ein– in einem Alter, in dem sich die Vernunft ausbildet. Von da an erhielten sie täglich ihre Dosis. Keine Bildung. Keine Freiheit.

Die Meister waren letztlich für die Ausgabe des Elixiers und die Überwachung des Verhaltens der versklavten Halbblüter zuständig. Außerdem markierten sie die Halbblüter mit einem Zeichen auf der Stirn, mit einem Kreis, der von einer Linie durchschnitten wurde– dem schmerzhaft sichtbaren Zeichen der Sklaverei.

Alle Halbblütigen fürchteten sich vor dieser Zukunft. Selbst wenn wir beim Covenant ausgebildet wurden, genügte eine einzige falsche Bewegung, und man verpasste uns den Trank, der uns auf Dauer unterjochte. Nachdem meine Mutter mich ohne jede Erklärung aus dem Covenant geholt hatte, standen meine Chancen von vornherein schlecht.

Außerdem käme mir der Umstand, dass sie das halbe Vermögen ihres Mannes– meines Stiefvaters– mitgenommen hatte, ebenfalls wenig zugute.

Dann noch die vielen Gelegenheiten, bei denen ich Kontakt zum Covenant hätte aufnehmen sollen, um meine Mutter auszuliefern und die an mich gerichteten Erwartungen zu erfüllen. Ein Anruf– ein einziger dämlicher Anruf– hätte ihr das Leben gerettet.

Auch das würde der Covenant mir anlasten.

Die Erinnerung daran, wie ich aufgewacht und in meinen schlimmsten Albtraum hineingestolpert war, kehrte zurück. Am Tag davor hatte sie mich gebeten, den Balkongarten sauber zu machen, den ich unbedingt hatte haben wollen, aber ich hatte verschlafen. Bis ich aufgestanden und mir den kleinen Beutel mit dem Gartenwerkzeug geschnappt hatte, war es schon Mittag gewesen.

Ich dachte, Mom arbeite bereits am Garten, und war auf den Balkon getreten, aber der war leer gewesen. Eine Weile hatte ich dagestanden, auf die Gasse auf der anderen Seite der Straße hinuntergeblickt und mit dem Spaten herumgespielt. Dann war ein Mann aus den Schatten getreten– ein Daimon.

Am helllichten Tag hatte er dagestanden und zu mir heraufgesehen. Er war mir so nahe gewesen, dass ich den Spaten hätte werfen und ihn treffen können. Doch ich war mit wild pochendem Herzen vom Geländer zurückgefahren. Ich war wieder ins Haus gerannt und hatte nach ihr geschrien. Keine Antwort. Die Räume waren um mich verschwommen, als ich durch die winzige Diele zu ihrem Zimmer gerannt war und die Tür aufgestoßen hatte. Was ich dann gesehen hatte, würde mich für immer verfolgen– Blut, so viel Blut, und Moms offene, leere Augen, die ins Nichts starrten.

»Wir sind da.« Eifrig beugte sich Kain nach vorn.

Alle meine Gedanken lösten sich auf, und mein Magen verkrampfte sich seltsam. Ich wandte mich um und sah aus dem Fenster. Die Götterinsel besteht eigentlich aus zwei Inseln. Auf der ersten leben die Reinblüter in ihren schicken Häusern. Für die Außenwelt sieht es dort aus wie in jedem gewöhnlichen Inseldorf. Kleine Läden und Restaurants säumen die Straße. Es gibt sogar Geschäfte, die von Sterblichen geführt werden und auf sterbliche Kundschaft eingerichtet sind. Die makellosen Strände sind herrlich.

Daimonen scheuten das Überqueren von Wasser. Wenn ein Reinblut sich vollkommen der dunklen Seite zuwandte, änderte auch seine Elementarmagie die Richtung und konnte nur eingesetzt werden, wenn er Erde berührte. Fehlender Bodenkontakt schwächte die Daimonen. Damit war die Insel das ideale Schlupfloch für unsere Art.

Es war noch früh, und niemand war auf den Straßen, sodass wir innerhalb von Sekunden über die zweite Brücke fuhren. Auf diesem Teil der Götterinsel lag der Covenant, umgeben von Sumpfland, Stränden und Wäldern, die praktisch noch nie ein Mensch betreten hatte.

Der weitläufige Sandsteinkomplex, der sich zwischen dem endlosen Meer und kilometerlangen weißen Stränden erhob, war die Schule, in der Reinblüter und Halbblüter ausgebildet wurden. Mit ihren dicken Marmorsäulen und strategisch aufgestellten Götterstatuen wirkte er einschüchternd und irgendwie nicht von dieser Welt. Die Sterblichen hielten den Covenant für eine elitäre Privatschule und wussten, dass ihre Kinder nie das Privileg genießen würden, am Unterricht teilzunehmen. Sie hatten recht. Man musste schon etwas sehr Spezielles im Blut haben, um es so weit zu schaffen.

Hinter dem Hauptgebäude lagen die Wohnheime und auch sie waren mit Säulen und Statuen ausgestattet. Kleinere Gebäude und Bungalows lagen in der Landschaft verstreut, und die riesigen Sporthallen und Trainingsgelände schlossen sich an den Hof an. Sie erinnerten mich immer an antike Arenen, nur dass unsere Einrichtungen nicht unter freiem Himmel lagen. Hurrikane konnten in dieser Gegend verdammt ätzend werden.

Es war alles wunderschön, ein Ort, den ich zugleich hasste und liebte. Als ich ihn erblickte, wurde mir klar, wie sehr ich ihn vermisst hatte… und Mom. Sie hatte auf der Hauptinsel gewohnt, während ich zur Schule ging, aber sie hatte auf dem Campus zum Inventar gehört. War aufgetaucht, um mich nach dem Unterricht zum Mittagessen abzuholen, oder hatte den alten Dekan bearbeitet, damit ich an den Wochenenden bei ihr wohnen konnte. Bei den Göttern, ich wünschte mir nur noch eine Chance, eine einzige Sekunde, um ihr zu sagen…

Ich riss mich zusammen.

Beherrschung– gerade jetzt musste ich die Beherrschung behalten, und es würde mir nichts nutzen, mich meinem schwelenden Kummer hinzugeben. Ich wappnete mich, kletterte aus dem Geländewagen und folgte Aiden zum Wohnheim der Mädchen. Wir waren die Einzigen, die sich durch die stillen Gänge bewegten. Nun, da es Sommer wurde, waren hier vermutlich nur wenige Studenten anzutreffen.

»Mach dich frisch! Ich hole dich gleich ab.« Er wollte sich abwenden, hielt aber inne. »Ich besorge dir etwas zum Anziehen und lege es auf den Tisch.«

Ich nickte, weil mir die Worte fehlten. Obwohl ich die Gefühle wegzuschieben versuchte, sickerten doch einige von ihnen in mein Bewusstsein. Vor drei Jahren war meine ganze Zukunft noch vollkommen durchgeplant gewesen. Alle Trainer am Covenant hatten meine Fähigkeiten während der Trainingsstunden gelobt. Sie gingen sogar noch weiter und meinten, ich könne Wächterin werden. Wächter waren die Besten– und ich war eine der Besten gewesen.

Aber nach drei Jahren ohne jedes Training war ich hinter jedes beliebige Halbblut zurückgefallen. Höchstwahrscheinlich erwartete mich ein ganzes Leben in Knechtschaft– eine Aussicht, der ich mich einfach nicht stellen konnte. Dem Willen der Reinblüter unterworfen zu sein, keine Kontrolle und keine Mitsprache bei irgendetwas zu haben– diese Möglichkeit flößte mir höllische Angst ein.

Eine Aussicht, die durch mein alles verzehrendes Bedürfnis, Jagd auf Daimonen zu machen, noch verschlimmert wurde.

Der Kampf gegen die Daimonen steckte mir im Blut, aber nachdem ich gesehen hatte, was Mom zugestoßen war, hatte sich dieser Wunsch noch vervielfacht. Nur mithilfe des Covenants konnte ich meine Ziele erreichen, und meine Zukunft lag in den Händen meines reinblütigen Onkels, der bisher keine Rolle in meinem Leben gespielt hatte.

Meine Schritte fühlten sich schwer an, als ich in den vertrauten Räumen umherging. Sie waren vollständig möbliert und kamen mir größer vor als in meiner Erinnerung. Das Apartment besaß einen abgetrennten Wohnbereich und ein Schlafzimmer von annehmbarer Größe. Und es hatte ein eigenes Bad. Der Covenant bot seinen Studenten nur das Beste.

Ich duschte länger als nötig und schwelgte in dem Gefühl, wieder sauber zu sein. Duschen gilt als etwas Selbstverständliches. Ich weiß, dass ich das immer geglaubt hatte. Aber nach dem Angriff der Daimonen hatte ich mit wenig Geld auf der Straße gelebt. Wie sich herausgestellt hatte, war es wichtiger, am Leben zu bleiben, als zu duschen.

Sobald ich mir sicher war, dass ich den ganzen Schmutz abgewaschen hatte, holte ich mir die Kleidung, die ordentlich auf dem kleinen Couchtisch gestapelt lag. Als ich sie in die Hand nahm, erkannte ich sofort, dass es die vom Covenant ausgegebene Trainingskleidung war. Die Hose war mindestens zwei Nummern zu groß, aber ich hatte nicht vor, deswegen herumzumeckern. Ich hob sie an mein Gesicht und sog den Duft ein. Sie roch so wunderbar sauber.

Zurück im Bad, reckte ich den Hals. Der Daimon hatte mich an der Stelle markiert, wo der Hals ins Schlüsselbein überging. Das Bissmal würde noch ungefähr einen Tag lang hochrot bleiben und dann zu einer hell schimmernden Narbe verblassen. Ein Daimonenbiss ließ die Haut nie unbeschädigt zurück. Die fast identischen Reihen winziger Eindrücke bereiteten mir ein mulmiges Gefühl und erinnerten mich außerdem an eine meiner alten Trainerinnen. Sie war eine gut aussehende ältere Frau gewesen, die nach einer unangenehmen Auseinandersetzung mit einem Daimon den Dienst quittiert hatte, um Grundlagen der Verteidigungstechnik zu unterrichten. Ihre Arme waren mit halbkreisförmigen blassen Malen übersät gewesen, die eine oder zwei Nuancen heller gewesen waren als ihre Hautfarbe.

Ein Biss war schlimm genug gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das für sie gewesen sein musste. Die Daimonen hatten versucht, sie umzudrehen, indem sie ihren ganzen Äther ausgesaugt hatten. Beim Umdrehen eines Reinblütigen kam es zu keinem Blutaustausch.

Der Vorgang war furchterregend einfach.

Ein Daimon legte die Lippen auf den Mund des ausgesaugten Reinblütigen und blies etwas von seinem Äther hinein, und zack– ein nigelnagelneuer Daimon war entstanden. Der verunreinigte Äther, den sie ihm verabreichten, verwandelte einen Reinblütigen wie infiziertes Blut und diese Veränderung ließ sich durch nichts rückgängig machen. Das Reinblut war für immer verloren. Soweit wir wussten, konnte ein Daimon nur auf diese Art erzeugt werden– andererseits hingen wir allerdings auch nicht mit ihnen herum und unterhielten uns mit ihnen. Sie wurden getötet, sobald sie sich zeigten.

Ich hatte diese Politik schon immer für blödsinnig gehalten. Niemand– nicht einmal der Rat– wusste, was die Daimonen erreichen wollten, indem sie töteten. Wenn wir einen von ihnen gefangen und tatsächlich befragt hätten, hätten wir gewiss eine Menge über sie erfahren. Was waren ihre Pläne, ihre Ziele? Oder wurden sie nur von ihrem Bedürfnis nach Äther angetrieben? Wir wussten es nicht. Den Hematoi kam es nur darauf an, sie aufzuhalten und zu verhindern, dass sie Reinblütige verwandelten.

Jedenfalls gab es Gerüchte, dass unsere Trainerin bis zum allerletzten Augenblick gewartet und dann zugeschlagen hatte, womit die Pläne des Daimons vereitelt worden waren. Ich wusste noch, wie ich ihre Bissmale angestarrt und es schrecklich gefunden hatte, dass ihr sonst so makelloser Körper verunstaltet worden war.

Mein Bild in dem beschlagenen Spiegel erwiderte meinen durchdringenden Blick. Dieses Mal war schwer zu verstecken, aber es hätte schlimmer kommen können. Der Daimon hätte mir ein Stück aus dem Gesicht herausbeißen können– Daimonen konnten grausam sein.

Halbblütige ließen sich nicht umdrehen– deshalb gaben wir so ausgezeichnete Kämpfer gegen die Daimonen ab. Das Schlimmste, was uns passieren konnte, war der Tod. Und wem machte es schon etwas aus, wenn ein Halbblut im Kampf starb? Für die Reinblütigen waren wir nichts als Kanonenfutter.

Seufzend warf ich mein Haar über die Schulter und löste mich vom Spiegel, als es leise klopfte. Eine Sekunde später öffnete Aiden meine Zimmertür. In dem Moment, als er mich sah, hielt er mit seiner Länge von einsachtundneunzig unvermittelt inne. Ein verblüffter Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er die frische Version meiner Person zu Gesicht bekam.

Was soll ich sagen? Nachdem ich geduscht hatte, sah ich wieder anständig aus.

Nachdem der ganze Dreck und Schmuddel verschwunden war, sah ich genau aus wie meine Mom. Langes dunkles Haar fiel mir über den Rücken und ich besaß die hohen Wangen und vollen Lippen der meisten Reinblütigen. Ich hatte etwas mehr Rundungen als Mom mit ihrer gertenschlanken Gestalt, und mir fehlten ihre faszinierenden Augen. Meine waren braun– ein unscheinbares, gewöhnliches Braun.

Ich legte den Kopf zurück und sah Aiden zum ersten Mal unverwandt in die Augen. »Was ist?«

Er riss sich in Rekordzeit zusammen. »Nichts. Bist du fertig?«

»Sieht so aus.« Als er vor mir mein Zimmer verließ, erhaschte ich noch einen Blick auf ihn.

Sein welliges dunkelbraunes Haar fiel ihm in die Stirn und streifte die ebenso dunklen Augenbrauen. Seine Züge waren nahezu vollkommen und er hatte einen kräftigen Kiefer und die ausdrucksvollsten Lippen, die ich je gesehen hatte. Aber was ich wunderschön fand, waren diese Augen wie Gewitterwolken. Keiner hatte solche Augen.

Nach der kurzen Zeit, die er mich im Einsatz niedergehalten hatte, war ich mir vollkommen sicher gewesen, dass sein Körper genauso umwerfend aussah. Zu schade, dass er ein Reinblut war! Das hieß, dass er für mich und jedes Halbblut da draußen tabu war. Angeblich hatten die Götter vor Äonen Begegnungen der angenehmen Art zwischen Halb- und Reinblütigen verboten. Es hatte etwas damit zu tun, dass das Blut eines Reinblüters nicht besudelt werden sollte– und mit der Angst, das Kind aus einer solchen Verbindung könnte… Hinter Aidens Rücken runzelte ich die Stirn.

…was werden? Ein Zyklop?

Ich hatte keine Ahnung, was möglicherweise passieren konnte, aber ich wusste, dass man eine solche Verbindung als sehr, sehr übel betrachtete. Die Götter hätten sich beleidigt gefühlt und das wäre nicht gut gewesen. Daher lernten wir Halbblüter– sobald wir alt genug waren und begriffen, woher die Babys kamen–, einem Reinblütigen nie anders als mit Respekt und Bewunderung zu begegnen. Den Reinblütigen brachte man bei, niemals ihre Abstammung zu besudeln, indem sie sich mit einem Halbblut vermischten, aber es passierte durchaus, dass Halb- und Reinblütige zusammenkamen. Das ging nie gut aus, und für gewöhnlich kriegte das Halbblut den größten Teil der Strafe ab.

Das war ungerecht, aber so war diese Welt schon immer gewesen. Die Reinblüter standen an der Spitze der Hierarchie. Sie stellten die Regeln auf, kontrollierten den Rat und hatten sogar im Covenant das Sagen.

Aiden warf mir einen Blick über die Schulter zu. »Wie viele Daimonen hast du getötet?«

»Bloß zwei.« Ich ging schneller, um mit seinen langen Beinen Schritt zu halten.

»Bloß zwei?« Er klang beeindruckt. »Findest du es nicht erstaunlich, dass ein unvollkommen ausgebildetes Halbblut einen Daimon tötet, ganz zu schweigen von zweien?«

»Kann schon sein…« Ich unterbrach mich und spürte, wie mein Zorn überzukochen drohte. Als der Daimon mich im Türrahmen von Moms Zimmer hatte stehen sehen, da hatte er sich auf mich gestürzt… und direkt auf den Spaten, den ich in der Hand hielt. So ein Blödmann! Der andere Daimon war nicht so unvorsichtig gewesen. »Den anderen in Miami hätte ich getötet… aber es war nur… Keine Ahnung. Ich habe nicht nachgedacht. Ich weiß, ich hätte ihn verfolgen sollen, aber ich bin in Panik geraten.«

Aiden blieb stehen und sah mich an. »Alex, der Umstand, dass du ohne Ausbildung einen Daimon ausgeschaltet hast, ist bemerkenswert. Das war tapfer, aber auch töricht.«

»Na, schönen Dank.«

»Du bist nicht ausgebildet. Der Daimon hätte dich mit Leichtigkeit töten können. Und der, den du in der Fabrik erledigt hast? Eine weitere furchtlose, aber dumme Tat.«

Ich runzelte die Stirn. »Hast du nicht gesagt, es sei erstaunlich und bemerkenswert gewesen?«

»War es auch, aber du hättest dabei sterben können.« Er marschierte los, vor mir her.

Ich musste mir Mühe geben, um mit ihm Schritt zu halten. »Was kümmert es dich schon, ob ich sterbe? Was kümmert es Marcus? Ich kenne den Mann nicht einmal, und wenn er mich nicht wieder zum Training zulässt, bin ich sowieso so gut wie tot.«

»Das wäre ein Jammer.« Ausdruckslos sah er mich an. »Du hast alles Potenzial der Welt.«

Hinter seinem Rücken kniff ich die Augen zusammen. Dem plötzlichen Drang, ihn zu stoßen, konnte ich nur mit Mühe widerstehen. Danach redeten wir nicht mehr. Als wir nach draußen kamen, spielte die Brise mit meinem Haar, und ich sog den Geschmack von Meersalz ein, während die Sonne meine kalte Haut wärmte.

Aiden führte mich zum Hauptgebäude der Schule und die lächerlich hohe Treppe hinauf, die zum Büro des Dekans führte. Vor mir ragten die Respekt einflößenden Doppeltüren auf und ich schluckte heftig. Als Dekan Nasso den Covenant noch geleitet hatte, hatte ich viel Zeit in diesem Büro verbracht.

Als die Wachposten uns die Tür öffneten, fiel mir wieder ein, wann ich zum letzten Mal in diesem Büro gewesen war und mir eine Strafpredigt abgeholt hatte. Da war ich vierzehn gewesen und hatte aus lauter Langeweile einen der Reinblüter überredet, das Wasserelement einzusetzen, um den Naturwissenschafts-Flügel zu überfluten. Natürlich hatte das Reinblut mich verpfiffen.

Nasso war nicht erfreut gewesen.

Auf den ersten Blick sah das Büro genauso aus wie in meiner Erinnerung– makellos und durchgestylt. Vor einem großen Schreibtisch aus Kirscheiche standen mehrere lederbezogene Stühle. In dem Aquarium an der Wand dahinter schossen knallbunte Fische hin und her.

Mein Onkel trat in mein Blickfeld und ich stockte. Unsere letzte Begegnung war so lange her– Jahre waren seitdem vergangen–, dass ich ganz vergessen hatte, wie sehr er Mom ähnelte. Sie hatten die gleichen Augen von einem Smaragdgrün, das je nach Laune den Ton veränderte. Nur meine Mutter und mein Onkel hatten solche Augen.

Mit dem Unterschied, dass ihre Augen nicht geleuchtet hatten, als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Das miese Gefühl stieg in mir auf und drückte mir die Brust zusammen. Ich trat vor und schob das Gefühl ganz nach unten.

»Alexandria.« Marcus’ tiefe, kultivierte Stimme holte mich jäh in den Raum zurück. »Nach all den Jahren sehe ich dich wieder. Ich finde keine Worte.«

Mein Onkel– wenn ich ihn denn so nennen wollte– klang keineswegs wie ein enges Familienmitglied. Seine Stimme kam mir kalt und unecht vor. Als ich seinen Blick auffing, war mir gleich klar, dass ich erledigt war. Dieser starre Blick stellte keinerlei Verbindung mit mir her– er zeigte weder Freude noch Erleichterung darüber, seine einzige Nichte lebend und heil wiederzusehen. Wenn überhaupt, wirkte er reichlich gelangweilt.

Jemand räusperte sich, und meine Aufmerksamkeit wurde in die Ecke des Büros gelenkt. Wir waren nicht allein. Dort stand der Anabolika-Mann– und neben ihm eine reinblütige Frau. Sie war groß und schlank und hatte tiefschwarzes Haar, das ihr wie ein Wasserfall über die Schultern fiel. Ich hielt sie für eine Trainerin.

Nur die Reinblütigen, die nicht an den politischen Spielchen ihrer Welt teilnehmen wollten, unterrichteten am Covenant oder wurden Wächter– oder Reinblüter wie Aiden, die ausgesprochen persönliche Gründe dafür hatten, deren Eltern zum Beispiel vor ihren Augen von Daimonen ermordet worden waren, als sie noch Kinder gewesen waren. Das war Aiden nämlich widerfahren. Angeblich hatte er sich deshalb entschlossen, Wächter zu werden. Wahrscheinlich war das seine Form der Rache.

Also hatten wir etwas gemeinsam.

»Setz dich!« Marcus wies auf einen Stuhl. »Wir haben viel zu besprechen.«

Ich riss meinen Blick von den Reinblütern los und trat vor. Ihre Anwesenheit machte mir Hoffnung. Warum sonst sollten Reinblütige anwesend sein, wenn es nicht um mein mangelndes Training und Möglichkeiten ging, etwas dagegen zu unternehmen?

Marcus trat hinter seinen Schreibtisch und nahm Platz. Von dort aus sah er mich mit gefalteten Händen an. Unsicher setzte ich mich gerade hin, sodass meine Füße über dem Boden baumelten.

»Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll bei diesem… diesem Chaos, das Rachelle angerichtet hat.«

Ich schwieg, war ich mir doch nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.

»Erstens hat sie Lucian fast ruiniert. Zweimal.« Er redete, als hätte ich etwas damit zu tun. »Der Skandal, den sie verursachte, als sie deinen Vater kennenlernte, war schon schlimm genug. Und als sie Lucians Bankkonto abräumte und mit dir durchbrannte? Ich bin mir sicher, dass sogar du die langfristigen Auswirkungen einer solch unklugen Entscheidung verstehst.«

Aha, Lucian. Moms idealer, reinblütiger Ehemann, mein Stiefvater. Seine Reaktion konnte ich mir vorstellen. Wahrscheinlich hatte sie darin bestanden, dass er mit Gegenständen um sich warf und seine schlechte Menschenkenntnis beklagte. Ich ahnte nicht einmal, ob Mom ihn je geliebt hatte– ob sie meinen sterblichen Vater geliebt hatte, mit dem sie eine Affäre gehabt hatte. Aber ich wusste, dass Lucian ein totales Ekel war.

Marcus beschäftigte sich weiter damit, mir aufzulisten, in welcher Hinsicht ihre Entscheidungen Lucian geschadet hatten. Ich blendete seine Stimme größtenteils aus. Als Letztes erinnerte ich mich daran, dass Lucian daran arbeitete, sich einen Sitz im Rat der Reinblüter zu sichern. Dem Rat, der an den altgriechischen Hof von Olympia erinnerte, standen zwölf Personen vor, die die Herrschaft ausübten, und von diesen zwölf waren zwei Minister.

Die Minister verfügten über die größte Macht. Sie herrschten über das Leben sowohl der Rein- als auch der Halbblüter, so wie einst Hera und Zeus Olympia regiert hatten. Unnötig zu erwähnen, dass diese Minister furchtbar von sich eingenommen waren.

An jedem Ort, in dem ein Covenant existierte, gab es auch einen Rat: in North Carolina, Tennessee, New York und an der Universität der Reinblütigen in South Dakota. Die insgesamt acht Minister kontrollierten den Rat.

»Hörst du mir überhaupt zu, Alexandria?« Stirnrunzelnd musterte mich Marcus.

Mein Kopf ruckte hoch. »Ja… du redest davon, wie schlimm das alles für Lucian war. Tut mir leid für ihn, wirklich. Aber sicher nicht so schlimm, als käme man gewaltsam ums Leben.«

Ein merkwürdiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Sprichst du vom Schicksal deiner Mutter?«

»Du meinst, dem deiner Schwester?« Ich kniff die Augen zusammen und hielt seinem Blick stand.

Marcus starrte mich an und sein Gesicht wurde ausdruckslos. »Als Rachelle die Sicherheit unserer Gemeinschaft verließ, besiegelte sie ihr Schicksal selbst. Was ihr zustieß, ist wirklich tragisch, aber ich kann nicht allzu tief erschüttert darüber sein. Als sie dich aus dem Covenant nahm, hat sie bewiesen, dass sie keinen Gedanken an Lucians Ruf oder deine Sicherheit verschwendet hat. Sie war egoistisch, unverantwortlich…«

»Für mich hat sie alles bedeutet!« Ich sprang auf. »Sie hat immer nur an mich gedacht! Was ihr passiert ist, ist grauenvoll.Tragisch passt wohl eher auf Leute, die bei Autounfällen sterben.«

Seine Miene veränderte sich nicht. »Sie hat nur an dich gedacht? Das finde ich seltsam. Sie hat die Sicherheit des Covenant verlassen und euch beide in Gefahr gebracht.«

Ich biss mir von innen in die Wange.

»Genau.« Sein Blick wurde eisig. »Setz dich hin, Alexandria!«

Wütend zwang ich mich, Platz zu nehmen und den Mund zu halten.

»Hat sie dir erzählt, warum du den Covenant verlassen musstest? Dir einen Grund dafür genannt, warum sie etwas so Leichtfertiges getan hat?«

Ich warf einen Blick zu den Reinblütigen hinüber. Aiden hatte sich zurückgezogen und stand neben den beiden. Zu dritt verfolgten sie mit Pokermiene diese Seifenoper. Sie waren echt eine große Hilfe.

»Ich habe dich etwas gefragt, Alexandria.«

Ich umklammerte die Stuhllehnen so fest, dass sich das harte Holz in meine Handflächen grub. »Ich habe dich verstanden. Nein. Sie hat es mir nicht gesagt.«

Ein Muskel an Marcus’ Kiefer zuckte, während er mich schweigend anstarrte. »Das ist schade.«

Da ich mir nicht sicher war, wie ich darauf reagieren sollte, sah ich zu, wie er eine Akte auf seinem Schreibtisch aufschlug und die linierten Seiten vor sich ausbreitete. Ich beugte mich vor und versuchte zu erkennen, worum es sich handelte.

Er räusperte sich und nahm eins der Papiere in die Hand. »Wie es aussieht, kann ich dich nicht für Rachelles Handlungen verantwortlich machen. Die Götter wissen, dass sie die Folgen trägt.«

»Ich glaube, Alexandria ist sich bewusst, was ihre Mutter erlitten hat«, unterbrach ihn die reinblütige Frau. »Nicht nötig, das weiter auszuführen.«

Marcus’ Blick wurde eisig. »Ja, wahrscheinlich hast du recht, Laadan.« Er wandte sich wieder dem Papier zu, das er zwischen seinen aristokratischen Fingern hielt. »Als man mir mitteilte, du seist endlich gefunden, habe ich mir deine Zeugnisse kommen lassen.«

Ich zuckte zusammen und rutschte auf dem Stuhl nach vorn. Es lief überhaupt nicht gut.

»Über dein Kampftraining hatten alle deine Trainer nur glühende Lobshymnen zu vermelden.«

Ein leises Lächeln bildete sich auf meinen Lippen. »Ich war auch verdammt gut.«

»Allerdings«, sagte er, blickte auf und sah mir kurz in die Augen, »was die Berichte über dein Betragen angeht, bin ich… entgeistert.«

Mein Lächeln schrumpfte und erstarb.

»Mehrere Meldungen wegen mangelnden Respekts gegenüber deinen Lehrern und anderen Studenten«, fuhr er fort. »Hier stellt eine Notiz von Trainer Banks persönlich fest, dass es dir ernsthaft an Respekt Höherstehenden gegenüber mangelt und dies ein ständiges Problem ist.«

»Trainer Banks hat eben keinen Sinn für Humor.«

Marcus zog die Augenbrauen hoch. »Und Trainer Richards und Trainer Octavian wohl auch nicht? Sie haben ebenfalls immer wieder schriftlich festgehalten, dass du unkontrollierbar und undiszipliniert bist.«

Der Widerspruch erstarb mir auf den Lippen. Ich hatte nichts zu sagen.

»Deine Schwierigkeit, Respekt zu zeigen, schien auch nicht dein einziges Problem zu sein.« Er nahm ein weiteres Papier zur Hand und seine Brauen schossen in die Höhe. »Du wurdest häufig bestraft, weil du heimlich den Covenant verlassen hast. Wegen Prügeleien, Störungen des Unterrichts, wegen Verstoßens gegen zahlreiche Regeln und… ach ja, willst du wissen, was mein persönlicher Lieblingsverstoß ist?« Er blickte auf und lächelte verkrampft. »Du hattest wiederholt Eintragungen wegen Verstoßes gegen die Ausgangssperre und des Fraternisierens im Wohnheim der männlichen Studenten.«

Ich rutschte unbehaglich auf dem Sitz herum.

»Und alles schon, bevor du vierzehn geworden bist.« Seine Lippen wurden schmal. »Du kannst stolz darauf sein.«

Meine Augen weiteten sich, als ich seinen Schreibtisch ansah. »Stolz würde ich nicht sagen.«

»Kommt es darauf an?«

Ich blickte auf. »Nicht?«

Sein verkniffenes Lächeln kehrte zurück. »In Anbetracht deines bisherigen Verhaltens kann ich dir bedauerlicherweise auf keinen Fall gestatten, die Ausbildung wieder aufzunehmen…«

»Wie bitte?« Meine Stimme wurde schrill. »Wieso bin ich dann hier?«

Marcus legte die Papiere wieder in die Akte und schlug sie zu. »Unsere Gemeinschaften brauchen immer Dienstboten. Ich habe heute Morgen mit Lucian gesprochen und er hat dir einen Platz auf seinem Anwesen angeboten. Du solltest dich geehrt fühlen.«

3. Kapitel

D iese Worte schockierten mich so, dass ich verstummte. Alle meine Racheträume lösten sich in Luft auf. Ich starrte meinen Onkel an und hasste ihn fast so sehr wie die Daimonen.

Der Anabolika-Mann räusperte sich. »Wenn ich etwas sagen dürfte…«

Marcus und ich wandten uns gleichzeitig in seine Richtung. Es erstaunte mich, dass er überhaupt sprechen konnte, aber Marcus bedeutete ihm mit einer Handbewegung, er solle fortfahren.

»Sie hat zwei Daimonen getötet.«

»Das ist mir bewusst, Leon.« Der Mann, der meine ganze Welt zu zerstören drohte, wirkte ausgesprochen desinteressiert.

» Als wir sie in Georgia gefunden haben, hat sie sich gegen zwei weitere Daimonen verteidigt « , sprach Leon weiter. » Mit der richtigen Ausbildung wäre ihr Potenzial astronomisch. «

Langsam setzte ich mich wieder. Ich konnte es nicht fassen, dass dieses Reinblut für mich eintrat. Marcus wirkte immer noch unbeeindruckt und seine leuchtend grünen Augen blickten hart wie Eis.

»Das verstehe ich, aber ihr Verhalten vor dem Vorfall mit ihrer Mutter ist nicht auszulöschen. Dies ist eine Schule und kein Kindergarten. Ich habe weder Zeit noch Kraft, sie ständig unter Beobachtung zu halten. Und ich kann nicht zulassen, dass sie sich unkontrolliert in diesen Hallen bewegt und andere Studenten beeinflusst.«

Ich verdrehte die Augen. So wie er klang, war ich eine gerissene Kriminelle, die im Begriff stand, den gesamten Covenant zu stürzen.

»Dann weisen Sie ihr jemanden zu«, sagte Leon. »Auch während des Sommers sind Trainer hier, die sie im Auge behalten könnten.«

»Ich brauche keinen Babysitter«, warf ich ein. »Schließlich habe ich nicht vor, ein Gebäude abzufackeln.«

Keiner beachtete mich.

Marcus seufzte. »Selbst wenn wir ihr jemanden an die Seite stellen, hinkt sie mit dem Training hinterher. Unmöglich, dass sie sich mit ihren Klassenkameraden messen kann. Im Herbst wird sie beträchtlich im Rückstand sein.«

Diesmal meldete sich Aiden zu Wort. »Wir hätten den ganzen Sommer über Zeit, sie darauf vorzubereiten. Bis dahin wäre sie so weit und könnte am Unterricht teilnehmen.«

»Wer hätte denn Zeit für solch ein Unterfangen?«, verlangte Marcus stirnrunzelnd zu wissen. »Aiden, du bist Wächter und kein Trainer. Leon ebenfalls nicht. Und Laadan wird in Kürze nach New York zurückkehren. Die anderen Trainer haben auch ein Leben– man kann nicht erwarten, dass sie nur wegen eines Halbbluts alles stehen und liegen lassen.«

Aidens Miene war undeutbar, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn zu den Worten veranlasste, die als nächste aus seinem Mund kamen. »Ich kann mit ihr arbeiten. Das würde sich nicht auf meine Pflichten auswirken.«

»Du bist einer der besten Wächter.« Marcus schüttelte den Kopf. »Du würdest nur dein Talent vergeuden…«

Sie zankten sich weiter darüber, was sie mit mir anfangen sollten. Einmal versuchte ich, etwas einzuwerfen, aber nachdem mir sowohl Leon als auch Aiden einen warnenden Blick zugeworfen hatten, verstummte ich. Marcus stellte immer wieder fest, welch hoffnungsloser Fall ich sei, während Aiden und Leon einwandten, man könne mir helfen. Die Bereitwilligkeit, mit der mein Onkel mich an Lucian übergeben wollte, schmerzte mich. Knechtschaft war keine rosige Zukunftsaussicht. Jeder wusste das. Ich hatte Gerüchte, abscheuliche Geschichten darüber gehört, wie die Reinblütigen Halbblüter behandelten– besonders die weiblichen.

Irgendwann, als Aiden und Marcus sich in ihrem Streit über mich festgefahren hatten, trat Laadan vor. Gemächlich warf sie ihr langes Haar über die Schulter. »Wie wäre es mit einer Abmachung, Dekan Andros? Wenn Aiden sagt, er kann sie ausbilden und trotzdem noch seinen Pflichten nachkommen, haben Sie nichts zu verlieren. Wenn sie bis zum Ende des Sommers nicht bereit ist, bleibt sie nicht hier.«

Voller Hoffnung wandte ich mich wieder Marcus zu.

Eine Zeit lang, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, starrte er mich an. »Nun gut.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Aber die Verantwortung liegt bei dir, Aiden. Hast du verstanden? Alles– und ich meine alles–, was sie anstellt, wird auf dich zurückfallen. Und glaub mir, sie wird etwas anstellen. Sie ist genau wie ihre Mutter.«

Der Blick, den Aiden mir zuwarf, war plötzlich voller Argwohn. »Ja. Ich verstehe.«

Ich konnte ein strahlendes Lächeln nicht unterdrücken und seine Miene wurde noch misstrauischer. Doch als ich in Marcus’ kalte Augen sah, schwand meine Zuversicht.

»Ich werde nicht so nachsichtig sein wie dein alter Dekan, Alexandria. Sorg dafür, dass ich diese Entscheidung nicht bereue.«

Ich nickte, weil ich mich nicht traute, etwas zu sagen. Gut möglich, dass ich alles vermasseln würde, wenn ich den Mund öffnete. Danach entließ mich Marcus mit einer Handbewegung. Ich stand auf und verließ sein Büro. Laadan und Leon blieben noch, aber Aiden folgte mir.

Ich wandte mich zu ihm um. »Danke.«

Aiden starrte mich an. »Wart’s ab!«

Ich unterdrückte ein Gähnen und hob die Schultern. »Doch, ich bin dir echt dankbar. Ohne dich hätte Marcus mich zu Lucian abgeschoben.«

»Das hätte er ganz sicher getan. Dein Stiefvater ist vor dem Gesetz dein Vormund.«

Ein Schauer überlief mich. »Wie beruhigend.«

Er bemerkte meine Reaktion. »Was hat dich und deine Mutter zum Gehen bewogen? War es Lucian?«

»Nein, aber Lucian… konnte mich nicht besonders gut leiden. Ich bin Moms Liebeskind, verstehst du? Und er ist einfach Lucian. Was treibt dieser Mistkerl eigentlich inzwischen?«

Aiden zog die Augenbrauen hoch. »Dieser Mistkerl ist Minister im Rat.«

Mir fiel die Kinnlade herunter. »Was? Du machst Witze, oder?«

»Warum sollte ich über so etwas scherzen? Vielleicht verzichtest du also darauf, ihn in aller Öffentlichkeit einen Mistkerl zu nennen. Das könnte sich eher ungünstig für dich auswirken.«

Bei der Neuigkeit, dass Lucian mittlerweile Minister war, zog sich mein Magen zusammen, besonders bei der Aussicht, dass er in seinem Haushalt einen Platz für mich hatte. Ich schüttelte den Kopf und schob diese Schlussfolgerung weit von mir. Ich hatte genug andere Probleme, um mich mit ihm zu befassen.

»Du solltest dich ausruhen. Morgen beginnen wir mit dem Training… falls du dich schon fit genug fühlst.«

»Ich fühle mich topfit.«

Aidens Blick glitt über mein mit blauen Flecken übersätes Gesicht und dann weiter nach unten, als könne er die vielen Schnittwunden und Prellungen sehen, die ich seit meiner Flucht aus Miami erlitten hatte. »Bist du dir sicher?«

Ich nickte und bemerkte die Locke, die er sich immer wieder aus der Stirn schob. »Womit fangen wir an? Ich habe noch keine der Offensivtaktiken gehabt– oder Silattraining.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich will dich nicht enttäuschen, aber du erhältst keine Silatausbildung.«

Und ob das eine Enttäuschung war. Ich liebte Dolche und alles, womit man zustechen konnte, und ich hätte wirklich mit Begeisterung gelernt, sie wirkungsvoll einzusetzen. Ich machte mich auf den Weg zu meinem Wohnheim, aber Aidens Stimme hielt mich zurück.

»Alex. Ma… mach mir keine Schande! Alles, was du tust, fällt auf mich zurück. Hast du das verstanden?«

»Ja. Keine Sorge. Ich bin nicht so schlecht, wie Marcus mich darstellt.«

Er musterte mich zweifelnd. »Fraternisieren im Männerwohnheim?«

Ich errötete. »Ich habe Freundebesucht. Es war nicht so, als hätte ich mit einem von denen rumgemacht. Da war ich erst vierzehn. Ich bin doch keine Schlampe.«

»Das ist gut zu wissen.« Er ging davon.

Seufzend kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ich war müde, aber die ganze Aufregung über diese zweite Chance hatte mich aufgeputscht. Nachdem ich eine absurd lange Zeit das Bett angestarrt hatte, verließ ich mein Zimmer und schlenderte durch die leeren Gänge des Mädchenwohnheims. Nur im Covenant wohnten Rein- und Halbblüter im selben Quartier. Sonst lebten wir überall voneinander getrennt.