Dancing through the Cold - Anne Harmon - E-Book

Dancing through the Cold E-Book

Anne Harmon

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Beschreibung

**Wie schnell kannst du lernen zu vertrauen?**  Die temperamentvolle Eiskunstläuferin Sofia hat sich geschworen, niemals etwas mit dem arroganten Lev Robinson zu tun zu haben, der sie letztes Jahr ihren Trainerjob gekostet hat. Als sie jedoch nur wenige Wochen vor dem wichtigsten Paarlauf-Wettkampf der Saison plötzlich ohne Partner dasteht, ist Lev ihre einzige Chance auf den Sieg. Im verschneiten Bergland muss Sofia zwischen intensivem Training und scherzhaften Sticheleien bald feststellen, dass mehr in dem Sportler steckt als Talent und gutes Aussehen. Langsam gewinnt er nicht nur ihr Vertrauen, sondern lässt auch ihr Herz schneller schlagen. Doch Lev hütet ein Geheimnis, das einen Keil in ihre Partnerschaft zu treiben droht … Textauszug:  Auf einmal bricht er aus der Drehung aus und kommt plötzlich zu einem Stopp. Ein Bein zur Seite ausgestreckt haut er die Zacken seiner Kufe ins Eis, um sich Halt zu geben. In genau diesem Moment passiert es. Er hebt den Kopf und unsere Blicke treffen sich. Etwas explodiert zwischen uns. In mir. //»Dancing through the Cold« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

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Anne Harmon

Dancing through the Cold

Wie schnell kannst du lernen zu vertrauen?

Die temperamentvolle Eiskunstläuferin Sofia hat sich geschworen, niemals etwas mit dem arroganten Lev Robinson zu tun zu haben, der sie letztes Jahr ihren Trainerjob gekostet hat. Als sie jedoch nur wenige Wochen vor dem wichtigsten Paarlauf-Wettkampf der Saison plötzlich ohne Partner dasteht, ist Lev ihre einzige Chance auf den Sieg. Im verschneiten Bergland muss Sofia zwischen intensivem Training und scherzhaften Sticheleien bald feststellen, dass mehr in dem Sportler steckt als Talent und gutes Aussehen. Langsam gewinnt er nicht nur ihr Vertrauen, sondern lässt auch ihr Herz schneller schlagen. Doch Lev hütet ein Geheimnis, das einen Keil in ihre Partnerschaft zu treiben droht …

Wohin soll es gehen?

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Vita

Danksagung

© Pascal Nguyen

Anne Harmon wurde als eines der letzten 90er Kinder im wunderschönen Süden Deutschlands geboren. Das Schreiben bietet ihr einen kreativen Ausgleich zu der Welt der Algorithmen, Logik und Software, in der sie sonst versinkt. Sie liebt Bratapfeltee, Friends und die Winterzeit, wenn die Eishallen öffnen. Falls keine eisigen Bühnen zur Verfügung stehen, tritt sie mit ihrer Vocal Group auf.

Für alle, die kurz davor sind aufzugeben.Haltet an eurem Traum fest.

Vorbemerkung

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die Spoiler enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freunde oder suche dir professionelle Hilfe.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Anne und das Impress-Team

1. Kapitel

Ein paar Schneeflocken folgen mir durch die schwere Stahltür, die ich nur durch die Kraft meines gesamten Körpers zum Öffnen bewegen kann. Ich stapfe hinein, doch innen erwartet mich keine Erleichterung von der beißenden Kälte. In der Eishalle ist es nur ein paar Grad wärmer als draußen. Missmutig nehme ich einen Schluck von meinem dampfenden Lebkuchen-Bratapfel-Tee und genieße die Wärme, die sich langsam ihren Weg ins Innere meines Körpers bahnt.

»Wieso beginnt das Training noch mal mitten in der Nacht?«, frage ich meinen besten Freund Sam, der mit mir die Halle betreten hat und sich die Schneeflocken aus seinen aschblonden Haaren schüttelt.

»Es ist morgens, Sofia«, widerspricht er mir deutlich wacher, als ich es von mir behaupten kann.

Ich zeige durch die sich träge hinter uns schließende Tür auf den Himmel.

»Himmel dunkel. Nichts Sonne. Nacht«, schlussfolgere ich kategorisch.

»Komm«, sagt er lachend, legt seinen Arm um meine Schulter und zieht mich zur Umkleidekabine. Aus der Ferne hört man bereits die ersten Kufen über das Eis kratzen. Es soll Leute geben, die sogar noch früher als ich aus dem Bett kommen und tatsächlich mitten in der Nacht ihr Training beginnen.

Auf einer Vielzahl an Bänken in der großen Umkleidekabine, die nicht viel schöner ist, als man es vom Schulsport kennt, hat sich bereits eine Gruppe Eiskunstläufer und Eiskunstläuferinnen ausgebreitet, sodass Sam und ich uns über Schlittschuhe und Taschen stolpernd in die hintere Ecke verziehen.

Die meisten sind trotz der frühen Stunde schon munter und unterhalten sich in kleinen Grüppchen bei einem ersten Aufwärmen oder dem Anziehen der Schlittschuhe. Wie jeden Morgen liegt eine gespannte Atmosphäre in der Luft. Niemand weiß so recht, was einem der heutige Tag auf dem Eis bringen wird.

»Und, heute schon jemanden zum Weinen gebracht, Winter?«, ruft es aus dem Zentrum der lautstärksten Gruppe des Raums zu uns herüber.

Dieser absolute Banger von einem Witz kommt von niemand Geringerem als Lev Robinson persönlich, der wie die Ameisenkönigin inmitten der wuselnden Menge steht. Er ist die unangefochtene Nummer eins in unserer Eislaufgruppe. Die gesellschaftliche Sonne. Jeder will ein wenig von seiner Aufmerksamkeit abbekommen und in seinen Strahlen baden.

Wie es sich gehört, hasse ich ihn, obwohl ich trotzdem zugeben muss, dass ich die anderen verstehen kann. Lev hat diesen Effekt auf Menschen, durch den man sich selbst ein bisschen besonderer fühlt. Er gibt den Leuten um ihn herum das Gefühl, gesehen zu werden.

Warum ich ihn dennoch hasse? Im letzten Jahr bin ich für das Training der Anfänger und Anfängerinnen zuständig gewesen und direkt während der ersten Stunde ist ein Junge dabei schlimm gestürzt. Sein Weinen hat so laut durch die hohe Eishalle gehallt, dass mir von dort an der Ruf als Kinderschreck sicher war. Völlig ungerechtfertigt übrigens, denn nur fünf Minuten später ist der Kleine wieder ohne Probleme über das Eis geflitzt. Dank Levs superwitzigem Running Gag, wie viele arme kleine Kinder ich denn heute zum Weinen bringen werde, wurde ich in diesem Jahr nicht erneut darum gebeten eine Trainingsgruppe zu übernehmen. Meine Sympathie für Lev Robinson hält sich seitdem in Grenzen.

»Willst du der Erste sein?«, gebe ich nach außen hin ungerührt zurück, obwohl in mir die Wut über den Verlust des Trainerjobs brodelt.

Ein Uhhh ertönt aus der Menge und einer von Levs Freunden mit längeren, dunklen Haaren klopft ihm auf den Rücken.

»Es wäre mir eine Ehre, von dir zum Weinen gebracht zu werden«, antwortet Lev und legt sich gespielt gerührt die Hand auf sein Herz.

Ich verdrehe genervt die Augen, als Lev sich grinsend mit der Hand durch die dunklen Haare fährt.

Zum Glück verlässt er eine Sekunde später bereits in seinen Schlittschuhen die Kabine und ich atme erleichtert auf. Auch die anderen, die unser kurzes Wortgefecht gespannt beobachtet haben, wenden sich wieder ab.

»Er ist wirklich unausstehlich«, beschwere ich mich bei Sam, während ich mich widerwillig aus meiner dick gefütterten Winterjacke schäle und den Schal abnehme.

»Entweder das oder er benutzt die Kindergartentaktik«, wendet Sam ein, der bereits auf der Stelle auf und ab springt, um seinen Körper warm zu bekommen.

»Kindergartentaktik?«, frage ich verwirrt nach. Ich binde meine langen, braunen Haare in einen strengen Dutt, wie er auch im Ballett üblich ist.

»Er zieht an deinen Zöpfen, um dir zu sagen, dass er dich mag«, erklärt Sam und beugt sich vor, um leicht an einer Strähne zu ziehen, die sich meinen Bemühungen, sie in meinem Dutt festzustecken, entzogen hat.

»Bitte lass es das nicht sein«, sage ich mit gereizter Stimme und schlage spielerisch nach Sams Hand. Doch der zeigt sich unbeeindruckt. Stattdessen fängt er meine Hand in der Luft ab und zieht mich auf die Füße, die noch für das Aufwärmen außerhalb vom Eis in Turnschuhen stecken.

Trotz eines erneuten Anfalls von Morgenmuffeligkeit bei mir laufen wir zur angrenzenden Halle und beginnen mit unserem Standardprogramm. Einige Lunges, High Knees und kurze Sprints, um uns aufzuwärmen. Ohne es jemals bewusst trainiert zu haben, sind unsere Bewegungen auch beim Aufwärmen völlig synchron. Das kommt wohl davon, wenn man sein halbes Leben gemeinsam über das Eis läuft. Dann beginnen wir mit verschiedenen Dehnübungen und ich genieße das Ziehen in meinen Muskeln. Mit jedem Atemzug versuche ich noch tiefer in die Positionen zu sinken, um meinen Beweglichkeitsradius voll auszuschöpfen.

»Eins, zwei, drei«, zähle ich an und wir versuchen beide möglichst gleichzeitig für einen Axelsprung vorwärts abzuspringen und nach zweieinhalb Umdrehungen in der Luft wieder zu landen.

»Nicht schlecht«, freut sich Sam, als wir nahezu perfekt synchron auf dem Mattenboden, der zum Schutz der Schlittschuhkufen in der gesamten Halle ausliegt, aufkommen. Er gibt mir ein High Five. Das Aufwärmen hat nicht nur meine kalten Glieder geweckt, sondern auch meinen Geist aus seiner müden Trance befreit. Meine Laune ist deutlich gestiegen und meine Zehen kribbeln bereits vor Vorfreude darauf, gleich das Eis zu betreten.

Ich werfe einen Blick zur Uhr. Unser Training beginnt in wenigen Minuten.

Wie auf Kommando steckt Pen, unsere Trainerin, ihren roten Schopf zur Tür der Trainingshalle hinein.

»Gut, ihr seid da. Es geht los.« Sie schenkt uns ein strahlendes Lächeln und ist im nächsten Moment schon wieder verschwunden.

Wir haben lange nach der richtigen Trainerin für uns gesucht und sind unglaublich dankbar, schließlich Pen gefunden zu haben. Ihren Umgang mit uns kann man nur als liebevolle Strenge bezeichnen, im Gegensatz zu dem Drill, der sonst oft in der Eiswelt herrscht. Leider stehen viel zu häufig schnelle Erfolge und das Abfertigen junger Menschen im Vordergrund. Doch Pen ist anders. Sie glaubt an eine gesunde Psyche als Grundlage für alles. Auch für diesen Sport.

Zurück in der Umkleidekabine folgt mein liebster Moment und ich hole meinen wertvollsten Schatz, meine weißen Eiskunstlauf-Schlittschuhe, aus ihrer Tasche. Ich ziehe die rosafarbenen, puscheligen Schoner ab, die die Kufen zwar bei der Aufbewahrung schützen, aber nicht dafür geeignet sind, um damit herumzulaufen. Andächtig fahre ich mit meinen Fingern über die scharf geschliffene, glänzende Kufe bis nach vorne zu den tiefen Zacken, die wir brauchen, um abzuspringen oder andere Tricks zu vollführen. Mit geschickten Handgriffen stülpe ich dann die harten Schoner, mit denen ich auch auf normalen Böden laufen kann, über die Kufen. Ich schlüpfe in die Schuhe und spüre sofort, wie die Härte des Leders meinen Fuß weitestgehend zusammendrückt.

Als ich sehe, dass Sam bereits einen seiner Schlittschuhe trägt, widme mich schnell dem Schnüren, welches eine ganz eigene Wissenschaft ist. Vor allem am Knöchel benötige ich all meine Kraft, um den Schuh eng genug anliegen zu lassen, damit er mich beim Fallen vor Verletzungen schützt.

Die Anstrengung des Schnürens und die Gewissheit, gleich aufs Eis zu dürfen, vertreiben auch die restliche Kälte und Müdigkeit aus meinen Knochen. Das Gefühl, das ich gleich wieder erleben darf, ist unbeschreiblich. Für mich gibt es nichts Befreienderes, als über das Eis zu schweben und dabei den leichten Fahrtwind auf meinem Gesicht zu spüren. Meine Leidenschaft ist so groß, dass ich für dieses Semester sogar das vorletzte Semester meines Psychologie-Studiums pausiert habe, um zusammen mit Sam an der berüchtigten Höllental-Trophäe in zwei Monaten teilzunehmen. Schon seit ich denken kann, stehe ich auf dem Eis, doch das ist der größte Wettbewerb, für den Sam und ich uns bis jetzt qualifiziert haben. Das ist meine Chance und die will ich unter allen Umständen nutzen. Zum Glück hat sich Sam, mein Eislaufpartner, Mitbewohner und der beste Mensch auf Erden, überzeugen lassen und jetzt trainieren wir Tag und Nacht, um bis Anfang des neuen Jahres die Kür unseres Lebens hinzulegen.

Für dieses große Ziel habe ich sogar den Aushilfsjob in meinem Lieblingscafé auf Eis gelegt – Wortwitz beabsichtigt. Derzeit lebe ich also von Ersparnissen. Nicht wirklich zu empfehlen. Sam und ich teilen uns seit Beginn des Studiums eine kleine Wohnung, die genau zwischen Universität und Eishalle liegt. Da auch Sam seine gesamte Zeit in unser Training steckt, haben wir unsere Verhältnisse wie unseren Stromverbrauch ein bisschen heruntergefahren. Aber das ist es uns jeden einzelnen Tag wert.

Ich folge Sam aus der Umkleidekabine zur Eisfläche und nehme kurz den Anblick des noch frischen Eises in mich auf. Kaum Kufenspuren sind zu sehen. Noch ist das Eis fast unberührt und es zieht mich nahezu hypnotisch an. Selbst Lev und seine Freunde stehen noch auf der anderen Seite der Bahn und unterhalten sich mit ihren Coaches.

Ich hebe meinen Fuß auf eine bequeme Höhe und ziehe die Schoner über den Kufen aus. Dieses Ritual vertreibt die kribbelige Vorfreude und löst tiefe Ruhe in meinem Kopf aus. Als ich den ersten Fuß aufs Eis stelle und mich mit dem zweiten abstoße, habe ich immer das Gefühl, von einer besonderen Magie erfasst zu werden. Für einen Moment vergesse ich alle Sorgen um Geld oder die anstehende Höllental-Trophäe. Ich fliege über die gesamte Länge der Bahn und wechsele die Richtung von vorwärts auf rückwärts, um die Kurve mithilfe einiger Rückwärtsübersetzer zu nehmen. Nur ein paar Schübe meines Beines reichen, um meine Geschwindigkeit weiter zu steigern.

Gemeinsam drehen Sam und ich ein paar Runden durch die Halle und genießen das Gefühl, auf dem Eis zu sein. Heute wollen wir uns im Training besonders auf die schweren Sprünge konzentrieren. Also wärmen wir uns mit ein paar einfachen Sprüngen auf, die jeweils aus nur einer oder sogar nur einer halben Rotation in der Luft bestehen.

Als ich nur auf dem linken Bein mit einem sogenannten Dreier zurück auf vorwärts wechsele, holt Sam mich ein und greift nach meiner Taille. Ohne Worte ist mir klar, welches Element er ausprobieren möchte: einen Salchow-Sprung. Wir nehmen mit zwei synchronen Abstößen weiter Schwung. Dann drehen wir uns. Sams Griff an meiner Taille wird fester. Mein Gehirn schaltet sich aus und überlässt meinem Körper die Kontrolle, der diese Abläufe schon in- und auswendig kennt.

Als die Spannung kaum mehr auszuhalten ist, wirft mich Sam mit all seiner Kraft nach oben, während ich gleichzeitig abspringe. Ich ziehe Arme und Beine ganz dicht an meinen Körper und genieße das Gefühl, durch die Luft zu wirbeln. Das hier kommt fliegen schon recht nahe.

Mit voller Wucht treffe ich wieder auf. Eis spritzt und mein Knie ächzt unter meinem Gewicht. Trotzdem stehe ich den Salchow und lande rückwärts auf der rechten Außenkante. Pen, die an der Bande lehnt, klatscht begeistert und Sam lacht auf vor Glück.

Auch ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Schon während des Sprunges kann ich immer in jeder Faser meines Körpers spüren, wie gut der Wurf war. Auf die gleiche Art spürt man, wenn etwas schiefläuft und man es nicht sauber zurück aufs Eis schaffen wird. Meist weiß man schon beim Absprung, ob der Sprung gut werden wird oder eben nicht.

Sam muss es zehn Minuten später also schon in der Luft wissen. Muss wissen, wie schlimm es sein wird, als er beim doppelten Axel etwas zu schräg in der Luft liegt.

Ein hallender Knall ertönt und mein Herz bleibt stehen, als ich sehe, wie Sam nicht mit seinen Kufen, sondern mit seinem Körper auf das harte Eis kracht.

2. Kapitel

Fallen ist nicht außergewöhnlich in unserem Sport. Ich erinnere mich oft an die Anfänge unserer Eislaufkarriere in unserer Kindheit. Da wurde noch nach jedem Sturz gefragt, ob alles in Ordnung ist. Mittlerweile gibt es ein stillschweigendes Abkommen. Du stehst wieder auf und du machst weiter. Schmerzen sind nach so vielen Jahren keine Besonderheit mehr, sondern Alltagsbegleiter. Wer keine geschädigten Füße und blaue Flecken am ganzen Körper hat, macht etwas falsch. Zumindest ist das die Einstellung vieler Trainer und Schüler da draußen.

Aber Sam steht nicht wieder auf. Mein Herz beginnt auf einmal wieder zu arbeiten und mein Puls schießt unkontrolliert in die Höhe, als ich seine reglose Gestalt auf dem Eis liegen sehe. Ich rechne damit, dass er sich jeden Moment wieder aufrappelt und mir ein sorgloses Lächeln schenkt.

Doch das passiert nicht.

Sam liegt weiter mit dem Rücken zu mir und rührt sich nicht. Ich kann von hier aus nicht einmal sein Gesicht sehen und erkennen, ob er noch bei Bewusstsein ist.

Unkontrolliert rase ich über die Eisfläche auf ihn zu. Meine Kufen kratzen laut, als ich vor Sams Körper abrupt zum Stehen komme.

Ich lasse mich so schwungvoll neben ihn fallen, dass ich noch einige Zentimeter über die glatte Eisfläche schlittere, bis ich an seinen Körper rutsche. Kälte erfasst meine Beine. Kälte, die vielleicht gar nichts mit dem Eis zu tun hat, auf dem ich knie.

Sam hat sich in Embryostellung zusammengerollt. Mit der rechten Hand umklammert er seinen Knöchel. Ich sehe ihm ihn die Augen und weiß, dass es diesmal schlimm ist. Richtig schlimm.

»Hilfe!«, schreie ich mit überraschend starker Stimme, dabei fühlt sich mein Innerstes gerade überhaupt nicht stark an. Pen ist bereits über das Eis auf dem Weg zu uns.

»Alles wird gut«, murmele ich und streiche Sam über den blonden Schopf. »Der Knöchel?«

Sams Schmerzen erlauben ihm nicht, mir zu antworten, und er nickt mit verzerrtem Gesicht. Sein Atem kommt nur stoßweise zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Mein ganzer Körper fühlt sich mittlerweile taub an. Wie kann das sein? Eben ist Sam noch wie ein Vogel durch die Luft geflogen. Wie konnte das nur passieren?

»Wir fahren sofort ins Krankenhaus«, entscheidet Pen nach einem Blick auf den sich krümmenden Sam.

»Jungs«, ruft sie zur anderen Seite der Halle, wo Lev und seine Freunde bisher respektvoll Abstand gehalten haben. »Wir brauchen eure Hilfe. Könnt ihr ihm in mein Auto helfen?«

Sofort sind mehrere Menschen um uns herum. Ich versuche ebenfalls zu helfen und Sam zu unterstützen, aber meine Hände zittern so sehr, dass ich keine große Hilfe bin. Sams komplette rechte Seite ist von feinem Eisstaub bedeckt. Wie in Trance versuche ich diesen von ihm abzuklopfen, obwohl ich eigentlich weiß, dass das gerade seine geringste Sorge ist.

»Komm, Sofia«, sagt eine Stimme leise an meinem Ohr. »Sie schaffen das besser allein.«

Eine Hand greift unter meinen Oberarm und stellt mich zurück auf meine Füße. Ich sehe nach oben und blicke in braune Augen, die voller Mitgefühl sind. Lev hält mich noch eine Sekunde weiter fest, bis er sich sicher ist, dass ich ohne seine Unterstützung stehen kann.

Die anderen heben inzwischen den stöhnenden Sam vorsichtig hoch und tragen ihn zum Ausgang der Eisfläche. Pen folgt ihnen in ihren Schuhen mit speziellen Eiskrallen, sodass sie gefahrlos über das Eis gehen kann. Unter ihren Anweisungen setzen sie Sam auf der nächstliegenden Bank ab, während ich immer noch wie gelähmt auf dem Eis stehe.

»Sofia?«, fragt Lev vorsichtig.

Dann zerreißt ein Aufschrei die Luft. Mir dreht sich der Magen um.

»Sam!«, schreie ich und hetze ebenfalls zum Ausgang. Ohne einen Gedanken an Schoner zu verschwenden, eile ich in Schlittschuhen zu ihm.

Einer der Jungs kniet vor Sam und hält seinen rechten Schlittschuh in der Hand. Mit Schock sehe ich auf seinen Fuß, der in einem unnatürlichen Winkel verdreht zu sein scheint.

»Sorry«, sagt der Junge vor ihm mitleidig. Gavin heißt er, glaube ich. »Aber der musste runter.«

»Schon in Ordnung«, stöhnt Sam und erkennt dann mich hinter der Meute um ihn herum. »Es wird alles gut, Sofia.«

Das ist so typisch für Sam. Obwohl er unglaubliche Schmerzen haben muss, sorgt er sich um andere. Er weiß, wie hilflos ich in Situationen werden kann, die ich nicht unter Kontrolle habe und versucht mir die Angst zu nehmen. Das hilft mir wieder aus meiner Trance zu erwachen. Sam braucht mich jetzt. Es sollte nicht andersherum sein.

Ein Teil meines Gehirns erwacht aus seinem Dämmerzustand und ich schnappe mir unsere Schoner sowie Sams Schlittschuhe und renne in die Kabine.

Hektisch reiße ich an den Schnürsenkeln, aber sie wollen einfach nicht locker genug werden, sodass ich nicht aus den Schuhen komme.

Lev kommt durch die Tür und betrachtet kurz meinen Kampf. Dann kniet er sich vor mich auf den Boden und lockert geschickt die Schnürsenkel.

»Danke«, murmele ich, ohne ihm in die Augen zu sehen und stopfe die Schlittschuhe schnell in meine Tasche. Ich schnappe mir meine und Sams Sachen und stürze zurück in die Halle. Doch dort ist niemand mehr. Sind sie etwa schon auf dem Weg ins Krankenhaus?

Ich eile ohne zu zögern nach draußen und sehe, wie Pen gerade den Motor ihres roten, schrottreifen Polos startet. Durch ihre Scheibenwischer, die den Schnee von der Windschutzscheibe schieben, sehe ich, wie Pen mich hastig heranwinkt. Sie wartet noch, bis ich auf dem Beifahrersitz sitze und fährt dann mit über den Schnee rutschenden Reifen vom Parkplatz.

Ich wende mich im Sitz nach hinten. Sam hat seinen Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Seinen Fuß hat er auf der Rückbank ausgestreckt.

»Es wird alles gut«, wiederholt Sam.

»Ich weiß«, bestätige ich hoffentlich optimistisch klingend, aber wende mich nicht wieder nach vorne.

»Weißt du noch, als du dir vor ein paar Jahren den Knöchel verstaucht hast und ein paar Wochen nicht Eislaufen konntest?«, fragt Sam.

Ich nicke, aber merke dann, dass seine Augen immer noch geschlossen sind.

»Ja«, sage ich mit erstickter Stimme. Doch ich weiß es und genauso weiß auch er es: Das hier ist deutlich schlimmer. Dass Sam nichts mehr dazu sagt, bestätigt mir meine Vermutung. Tränen steigen in meine Augen, doch ich blinzele sie weg und drehe mich schnell nach vorne, sodass er sie nicht sehen kann.

Der Weg zum Krankenhaus fühlt sich endlos an, obwohl er nur 15 Minuten dauert. Pen fährt mit völlig überhöhter Geschwindigkeit durch die verschneiten Straßen. Wir passieren sogar die hohen, alten Gebäude unserer Universität. Gerade muss die erste Pause angebrochen sein, denn Studenten eilen über den Campus, um rechtzeitig zu ihrer nächsten Vorlesung zu kommen.

Wäre ich nicht so besessen von der Höllental-Trophäe gewesen, wäre mein bester Freund jetzt auch unter ihnen, statt mit einer schmerzhaften Verletzung in Pens auseinanderfallendem Auto zu sitzen.

Ich greife nach hinten nach Sams Hand. Eiskalt liegt sie in meiner und er drückt einmal kurz fest zu, um mir zu zeigen, dass alles gut wird.

Pen legt eine Vollbremsung direkt vor dem Eingang des Krankenhauses hin. Mit noch laufendem Motor springt sie aus dem Wagen und verschwindet im Inneren.

Kurz darauf kommt sie mit zwei Männern in Kitteln wieder hinaus, die eine Liege zwischen sich nach draußen schieben. Der größere der beiden reißt die hintere Tür des Polos auf.

»Was ist passiert?«, fragt er.

»Er ist beim Eislaufen gestürzt«, erkläre ich, als Sam nicht die Kraft zu finden scheint. »Sein Fuß ist …«

Die Sanitäter greifen unter seine Arme, ziehen ihn behutsam aus dem Wagen und betten ihn auf die Liege.

»Ist er mit dem Kopf aufgekommen?«, fragt mich der andere Sanitäter und ich schüttele wahrheitsgemäß den Kopf. Zum Glück ist er auf der Seite gelandet und konnte so zumindest seinen Kopf vor einem Aufprall schützen.

Pen und ich folgen den Sanitätern ins Krankenhaus, die auf dem Weg noch weitere Fragen zum Unfall stellen, bis sie durch eine Schwingtür gehen, auf der in großen, roten Buchstaben Nur für medizinisches Personal steht und uns in den Wartebereich schicken.

Ich will mich erst weigern, Sam allein zu lassen, doch Pen legt mütterlich den Arm um mich und zieht mich zu den Plastikstühlen auf der anderen Seite des Raumes.

»Komm. Lassen wir die Leute ihre Arbeit machen.«

Nachdem ich einige Minuten zusammengesunken auf dem Stuhl gesessen und stumm die Tür angestarrt habe, durch die Sam auf der Liege verschwunden ist, kommen die Tränen dann doch. Keine Ahnung, wie ich es geschafft habe sie so lange zu unterdrücken.

»Oh, Schatz«, sagt Pen und drückt mich noch enger an sich. Ihr süßes Parfüm dringt durch meine vom Weinen verstopfte Nase.

Verheult löse ich mich von ihr und wühle in meiner Tasche, bis ich mein Handy finde. Mit zittrigen Händen entsperre ich es und rufe den Namen Grace Prick auf.

»Atme vorher noch ein paarmal tief durch«, rät mir Pen und reicht mir ein Taschentuch. Ich folge ihrem Rat, putze meine Nase und nehme einen tiefen Atemzug. Dann drücke ich den grünen Knopf. Als Sams Mutter abhebt, versuche ich ihr möglichst ruhig zu erklären, was passiert ist. Sie reagiert weitaus weniger panisch als ich. Durch das Eislaufen sind Sam und ich unser Leben lang ständig verletzt gewesen. Aber so einen schlimmen Sturz mit eigenen Augen zu sehen …

Ich verspreche Sams Mutter, mich zu melden, sobald es Neuigkeiten gibt, sodass seine Eltern entscheiden können, ob sie die weite Reise auf sich nehmen wollen, um her zu kommen. Die beiden wohnen fast am anderen Ende des Landes in der Stadt, aus der auch Sam und ich kommen.

Stunden vergehen, ohne dass wir Sam sehen oder jemand uns etwas Neues sagen kann. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln, gemischt mit Pens starkem Parfüm, erdrückt meine total verrotzte Nase. Pen trommelt mit ihren Fingern auf ihrem Knie herum und verrät damit ihre Nervosität, die sie vor mir zu verbergen versucht. Wir haben schon ewig kein Wort mehr miteinander gewechselt, sondern warten schweigend auf Neuigkeiten. Ich lausche der Unterhaltung einer Familie vor uns, die auf ihren Vater wartet, ohne verarbeiten zu können, was tatsächlich gesprochen wird.

Das Klingeln meines Handys löst meine Aufmerksamkeit von ihnen.

»Oh, Papa«, nehme ich ab.

Mein Vater ist bei meinem Tonfall sofort alarmiert.

»Alles in Ordnung bei dir? Ist etwas vorgefallen?«, fragt er ganz der Gedankenleser.

»Sam ist gestürzt. Wir sind im Krankenhaus, aber die konnten uns noch nicht sagen, wie es ihm geht und ich … ich habe Angst«, gestehe ich ihm.

»O nein. Das tut mir leid. Was ist passiert? Wie schlimm ist er verletzt?«, fragt mein Vater besorgt.

»Sein Knöchel sah ziemlich übel aus.«

»Soll ich zu dir kommen?«

Augenblicklich reiße ich mich zusammen. Wir sind nie besonders reich gewesen und mein Vater arbeitet viel, um mich bei meinen Eislaufträumen zu unterstützen. Die Stunden, die er auf der Arbeit verpassen würde, wenn er jetzt ins Krankenhaus käme, müsste er dann in Überstunden an einem anderen Tag abrackern. Das will ich nicht von ihm verlangen.

»Nein, es geht schon. Aber danke, Papa«, sage ich und versuche meine Stimme wieder fester klingen zu lassen.

»Mach dir nicht zu viele Sorgen. Wie oft wir schon mit dir in der Notaufnahme saßen. Deine Mutter hat immer gesagt …«, er bricht ab und räuspert sich verlegen. Doch es ist bereits zu spät – seine Worte versetzen mir einen Stich. Einen großen, sehr spitzen Stich.

Kurz herrscht eisige Stille zwischen uns.

»Oh, es tut sich was«, fahre ich erschrocken auf, als sich eine der Türen, hinter denen sich Behandlungszimmer verbergen müssen, öffnet und Sam herausgehumpelt kommt.

»Sag mir dann Bescheid«, sagt mein Dad.

»Mach ich«, verspreche ich ihm und lege auf.

Pen und ich laufen sofort zu Sam. Er sieht schon wieder viel besser aus und ich atme erleichtert auf. Unsere Blicke treffen sich und ein trauriger Ausdruck tritt auf sein Gesicht. Er schüttelt den Kopf. Das kann nur eine Sache bedeuten: Kein Eislaufen mehr.

Ich lasse meinen Blick entlang seiner Krücken nach unten gleiten und schlucke. Sein Fuß ist eingegipst.

»Sprunggelenkbruch«, sagt Sam trostlos. »Falls die Jury mich nicht mit Krücken antreten lässt, wird das dieses Mal nichts. Es tut mir leid, Sofia.«

»Darüber machen wir uns später Gedanken«, winke ich ab. »Aber es wird wieder, oder? Du wirst wieder laufen können? Egal ob mit oder ohne Kufen?«

Sam nickt. »Es wird dauern und ich muss, nachdem der Gips wieder abkommt, Physio machen, aber ja, ich werde sogar wieder Eislaufen können, hat der Arzt gesagt.«

Sowohl Pen als auch ich atmen erleichtert auf. Die Sorgen der letzten Stunden fallen mit einem Mal ab. Auch Sam scheint den Stimmungsaufschwung zu spüren.

Und obwohl sein Gesicht immer noch Anzeichen von Schmerzen zeigt, grinst er schief. »So leicht kriegt mich das Eis nicht klein.«

3. Kapitel

Es ist ein seltsames Gefühl, am nächsten Morgen nicht in die Eishalle zu fahren. Durch die gestrige Aufregung und meine frühe Routine wache ich schon weit vor Sonnenaufgang auf. Trotz meiner Liebe zum Schlaf weiß ich, dass im Bett liegen bleiben sinnlos wäre und stehe stattdessen auf, um Pancakes zu backen und Pumpkin Spice Latte für Sam zu kochen.

Der zugegeben himmlische Geruch treibt kurze Zeit später auch meinen besten Freund aus seinem Zimmer. Noch im Weihnachtspyjama, ein Geschenk meinerseits aus dem letzten Jahr, und abstehenden Haaren humpelt er in die Küche. Das riesige Rentier auf seiner Brust, das zum Sprung ansetzt, scheint ironisch angesichts seines aktuellen Zustands.

»Warum bist du nicht beim Training?«, fragt Sam streng und hebt die Augenbrauen.

Ich bugsiere ihn auf einen der hohen Hocker an unserer Küchentheke und präsentiere ihm einen hohen Stapel Pancakes mit Ahornsirup. Wir haben nicht genug Platz für einen Esstisch, sodass wir unsere Mahlzeiten immer hier einnehmen.

»Ich kann sehen, wie dir das Wasser im Mund zusammenläuft«, stichele ich, anstatt seine Frage zu beantworten und lege Messer und Gabel neben seinen Teller.

»Na gut.« Er seufzt resigniert und lädt sich gierig ein großes Stück Pancake auf seine Gabel. »Aber du solltest trotzdem nicht hier sein, sondern auf dem Eis.«

»Was soll ich dort ohne dich?«, frage ich ihn und wende mich wieder der Pfanne zu, um ihn nicht ansehen zu müssen.

»Du wirst einen neuen Partner für die Höllental-Trophäe finden«, brummt Sam zuversichtlich mit vollem Mund.

»Ich will aber mit niemand anderem laufen«, halte ich dagegen, während ich einen weiteren, noch heißen Pancake auf dem Pfannenwender zu Sams Teller balanciere.

»Wir haben so viel in diese Saison investiert. Die Uni und wie lange wir an der Choreo gefeilt haben. Du musst einfach antreten! Monatelang hast du mir damit in den Ohren gelegen. Das kannst du jetzt nicht alles wegschmeißen.«

»Ich hasse es, wenn du recht hast«, murmele ich und zupfe ein Stück Pancake ab, um es mir in den Mund zu stecken.

Sam rutscht von seinem Hocker runter und kommt um die Kücheninsel herum auf mich zu gehüpft.

»Aber du weißt, dass ich recht habe. Deswegen ziehst du dich jetzt an und fährst direkt zur Halle«, befiehlt er und macht Anstalten, mir den Pfannenwender aus der Hand nehmen.

Es kommt zu einem kurzen Kampf, bei dem ich trotz Sams Verletzung hoffnungslos unterlegen bin.

Ich verziehe missmutig das Gesicht, während Sam mich humpelnd zu meinem Zimmer schiebt.

»Umziehen.« Er zeigt auf meinen Kleiderschrank und hüpft einbeinig wieder aus meinem kleinen Zimmer. Es ist gerade so Platz für ein Bett, einen Schreibtisch und den Kleiderschrank, den ich mürrisch öffne. Unsere Wohnung ist nicht besonders groß, aber ich liebe trotzdem, was Sam und ich uns hier geschaffen haben. Jeder freie Fleck, der von Sonnenlicht erreicht wird, ist mit Pflanzen bedeckt. Die Möbel sehen ein bisschen zusammengewürfelt aus, aber ich finde, genau das lässt unsere Wohnung warm wirken und macht sie zu einem echten Zuhause.

Zähneknirschend schlüpfe ich in eine Sporthose und einen Sport-BH, während ich höre, wie Sam sich wieder den Pancakes widmet. Gerade will ich einen Hoodie darüber ziehen, da fällt mir etwas ein.

Nur einen Arm im Ärmel des Hoodies gehe ich wieder ins offene Wohnzimmer, das bis auf die Kücheninsel, an der Sam sitzt, keine Abgrenzung zur Küche hat.

»Aber ich muss einkaufen gehen. Wir haben fast nichts mehr im Kühlschrank und …«

»Im Gegensatz zu dir«, unterbricht Sam mich und zeigt mit seiner Gabel, auf die er ein großes Stück Pancake aufgespießt hat, auf mich, »habe ich auch noch andere Freunde.«

»Das ist gemein.« Ich ziehe einen Schmollmund.

»Nein, nur ehrlich«, verteidigt sich Sam. Er kann in meiner Miene lesen, dass ich nicht wirklich verletzt bin. Trotzdem muss ich mir eingestehen, dass Sam wahre Worte an den Tag legt.

Das Stück Pancake, das Sam sich gerade in den Mund schieben will, beschließt sich lange genug Mühe gegeben zu haben und segelt zu Boden.

»Ha, Karma«, sage ich und ziehe mir den Hoodie vollständig über den Kopf. Dann suche ich nach meiner Sporttasche. Unter einigen Jacken von Sam finde ich sie schließlich. Während Sam chaotisch veranlagt ist, achte ich stets auf Ordnung und Sauberkeit. Seufzend hänge ich seine Jacken an die von mir dafür vorgesehene Halterung in der Wand. Jedes Teil hat einen angestammten Platz und ich kann spüren, wie das Chaos in meinem Kopf zunimmt, wenn die Dinge um mich herum durcheinander sind. Am Anfang haben Sam und ich uns auch ab und zu deswegen gestritten, aber mittlerweile haben wir einen Kompromiss gefunden: Sam bemüht sich um Ordnung und ich beschwere mich nicht wegen jeder Kleinigkeit. Spätestens als ich einmal fast über das Spinner-Brett geflogen bin, das wir off-ice zum Üben unserer Drehungen benutzen, mussten wir etwas ändern. Danach habe ich eine schöne Holzkiste besorgt, in der sich nun alle Spinner, Therabänder, Black Rolls und auch ein paar Hanteln befinden.

Ich ziehe die Schlittschuhe aus der Sporttasche heraus und betrachte die glänzenden Kufen. Durch Sams Unfall habe ich gestern Abend nicht mehr daran gedacht, unsere Kufen trocken zu reiben. Zum Glück bin ich von der Quittung dafür in Form von Rost verschont geblieben.

»Der nächste Bus kommt in fünf Minuten«, sagt Sam, den Blick auf sein Handy gerichtet. »Also beeil dich lieber.«

Immer noch nicht ganz sicher, ob ich es schaffen werde ohne Sam auf dem Eis zu stehen, schlüpfe ich in meine volle Wintermontur. Kurz vor der Haustür angekommen halte ich jedoch inne und lasse meine Hand über der Türklinke schweben.

»Du musst los«, kommentiert Sam mein Zögern. »Komm, sag mir angemessen Auf Wiedersehen und dann schnapp dir den besten Eislaufpartner, den du finden kannst!«

»Nein«, entgegne ich und beginne mich wieder aus meiner Jacke zu schälen. »Ich schaffe das nicht ohne dich.«

»Natürlich tust du das.« Sam seufzt, nimmt seine Krücken und kommt zu mir herüber.

»Sicher, dass du zurechtkommst?«, frage ich.

»Klar, du kennst mich doch.« Er grinst mich an und öffnet dann um mich herum die Haustür. Mit einem sachten Schubser befördert er mich über die Schwelle. »Ich komme klar, Sofia.«

Für einen Moment kann ich hinter seine Fassade sehen. Für ihn ist das genauso schwer wie für mich. Schon seit wir Kinder sind, laufen wir zusammen. Mich jetzt nach jemand anderem umzusehen, erscheint mir wie der größtmögliche Betrug. Wahrscheinlich geht es ihm, im nichtrationalen Teil seines Herzens, genauso. Es waren immer nur wir beide, Sam und Sofia. Und jetzt? Jetzt wird alles anders.

***

Kaum habe ich die Halle betreten, sehe ich eine Gestalt übers Eis sprinten. Lev legt einen Hockey Stop aus voller Geschwindigkeit ein. Als er dafür seine beiden Kufen quer stellt, fliegen ein paar Spritzer Eis bis zu mir und hinterlassen Flecken auf meiner Hose.

Ich verdrehe die Augen und wende mich den Umkleidekabinen zu. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Lev seine Schoner überstreift und hinter mir her joggt. Was zur Hölle soll das denn jetzt werden? Normalerweise straft er mich nur bei zufälligen Begegnungen mit seinen Sprüchen, aber rennt mir nicht extra nach, um auf mir herumzuhacken.

»Winter, warte«, ruft er mich mit meinem Nachnamen. Und falls ihr euch fragt: ja, es war dadurch quasi seit meiner Geburt vorbestimmt, dass meine Lieblingsjahrzeit der Winter sein wird.

Ich beschließe, die Erwachsene zu sein und ihn zu ignorieren. Glaubt mir, die Alternative wäre kindischer gewesen. Zu meiner Enttäuschung schreckt ihn das nicht ab.

»Wie geht es Sam?«, fragt Lev, als er mich erreicht.

Durch die Schlittschuhe erstreckt sich sein ohnehin schon drahtiger Körper noch ein paar Zentimeter weiter nach oben und ich muss den Kopf nicht nur leicht in den Nacken legen, um in sein Gesicht sehen zu können. Sein leider viel zu gut aussehendes Gesicht.

»Könnte besser sein«, antworte ich. »Entsprechend habe ich auch keinen besonders guten Tag. Also tu mir einen Gefallen, reiß deinen Witz und lass mich dann einfach in Ruhe, okay?«

»Erinnerst du dich daran, was sie über mich gesagt haben, als ich neu hergekommen bin?«, fragt Lev, ohne auf meine Worte einzugehen.

Ich stöhne auf, ziehe meine Tasche wieder auf meiner Schulter gerade und laufe einfach weiter.

»Seit ich hierher gezogen bin, habe ich keine Partnerin mehr. Ich muss zugeben, dass ich als Einzelläufer einfach nicht glücklich werde. Und da es so aussieht, als wärst du in nächster Zeit auch partnerlos …« Lev lässt den Rest des Satzes in der Luft hängen.

Angewidert wirbele ich zu ihm herum.

»Sam ist noch nicht mal seit 24 Stunden verletzt!«, sage ich empört, wohl wissend, dass einen neuen Partner finden genau mein Auftrag ist.

»Und die Trophäe nicht mal mehr zwei Monate entfernt«, gibt Lev ungerührt zu bedenken.

Statt ihm zu antworten, ahme ich ein krächzendes Schnabelgeräusch nach.

»Sofia, was tust du da?«, fragt er.

»Geier«, ätze ich.

»Sofia«, beginnt Lev drohend, aber er kann sich ein Zucken seiner Mundwinkel nicht verkneifen.

Ich klicke ein weiteres Mal mit meinem Schnabel und betrete die Umkleidekabine.

»Überleg es dir wenigstens«, ruft Lev mir nach.

»Sicher«, flöte ich über meine Schulter.

Niemals werde ich mit diesem unausstehlichen, arroganten, nervtötenden Lev Robinson zusammenlaufen. Wie könnte der denn Sam ersetzen? Beim Gedanken an meinen besten Freund zieht sich mein Herz wieder zusammen. Die Situation ist völlig hoffnungslos. Alle Paare in unserem Verein haben sich schon gefunden und es gibt auch keine Einzelläufer, die wechseln wollen. Zumindest soweit ich weiß.

Außer Lev, erinnert mich der verräterische Teil meines Gehirns. Niemals!, ist sich die Runde der Sofias in meinem Kopf einig. Die Stimmen in meinem Kopf bestätigend, nicke ich. Merke dann, was ich da tue und höre auf. Man muss ja nicht direkt von außen sehen, dass ich völlig durchgeknallt bin.

***

Der Tag weigert sich, besser zu werden. Ohne Sam auf dem Eis zu stehen, fühlt sich falsch an. Ein Teil von mir fehlt und ich spüre seine Abwesenheit in jedem Element, das ich übe.

Als ich schließlich bei einem Counter Turn, den ich schon seit Jahrzehnten beherrschte, auf meinen Po lande, bleibe ich resigniert auf dem Eis sitzen. Ich wollte von vorwärts auf rückwärts wechseln, indem ich meinen linken Fuß aus dem Knie heraus drehe. Leider habe ich dabei das Gleichgewicht verloren. Ein absoluter Anfängerfehler.

Ich gönne mir noch einen Moment des Selbstmitleids, dann rappele ich mich auf. Während ich mir den Eisstaub von der Hose klopfe, entdecke ich Pen, die mich beobachtet, die Ellenbogen auf dem Rand der Arena abgestützt. Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände: Ich bin richtig – Achtung, Kraftausdruck – beschissen gelaufen.

»Hast du schon jemanden für mich im Blick?«, frage ich noch in der Bremsung vor der Bande.

Pen schüttelt ihren roten Vokuhila und kurz kommt die Narbe an ihrem Kopf zum Vorschein, die aus ihrer Jugend stammt. Sie hat weniger Glück gehabt als Sam und ist mit dem Kopf hart auf das Eis geknallt. Ein Erlebnis, das sie dazu bewogen hat, die eigenen Schlittschuhe an den Nagel zu hängen und Trainerin zu werden. Am Anfang habe ich großes Mitleid mit ihr gehabt, bis ich realisiert habe, dass sie das Trainieren sowieso viel mehr erfüllt, als selbst zu laufen.

»Lev hat mich angesprochen«, sagt Pen.

»Nein!«, unterbreche ich sie sofort. »Er hat mich meinen Job als Coach gekostet.«

»Es war nicht nur wegen ihm«, widerspricht Pen nachdenklich.

»Ha«, mache ich und zeige mit dem Finger anklagend auf sie. »Also gibst du zu, dass seine Witze Einfluss auf die Entscheidung hatten.«

Pen sieht ein wenig schuldbewusst drein. »Wir dachten, du hättest mit der Höllental-Trophäe sowieso keine Zeit mehr.«

Das stimmt. Würde ich das offen zugeben? Nein.

»Niemals werde ich mit Lev Robinson laufen«, erkläre ich. Entschieden drehe ich mich um und stapfe vom Eis zurück in die Kabine. Bei so einem Tag hilft nur eine Sache und die ist heiß und schokoladig und wird vorzugsweise mit einem riesigen Berg Sahne serviert.

4. Kapitel

Weder heiße Schokolade in meinem Lieblingscafé, dem Read & Drink, noch Google, noch der Weihnachtsfilmabend mit Sam haben mir gestern helfen können einen potenziellen Partner zu finden. Alles, was wir erreicht haben, ist mir einen Ohrwurm von Rudolph – the red nosed reindeer zu bescheren.

You know Dasher and Dancer and Prancer and Vixen singt die eine Hälfte der Stimmen in meinem Kopf fröhlich, während die andere sich in einer Ecke versteckt und sich die Hände auf ihre blutenden Ohren drückt.

Ich habe mich heute Morgen schon weit vor Sonnenaufgang aus meinem warmen, kuscheligen Bett gequält, um die Erste auf dem Eis zu sein. Ein bisschen Me Time wird hoffentlich meinen Kopf klären und mir auf magische Art und Weise einen Weg für die Zukunft aufzeigen. Auch wenn das super verrückt klingt, ist es doch schon vorgekommen. Eislaufen hat diese Wirkung auf mich.

Sogar der erste Bus scheint nicht früh genug gewesen zu sein. Als ich die Halle betrete, höre ich bereits das Kratzen von Kufen. In der sonst menschenleeren Eishalle hallt das Geräusch dreimal so laut wider wie sonst.

Verwundert trete ich an die Eisfläche und sehe eine männliche Gestalt in Jogginghose und Hoodie mit schwarzen Schlittschuhen. Sogar seine Kufen sind nicht silbern und glänzend, sondern matt schwarz.

Als die Gestalt sich mit einer lässigen Bewegung seines Kopfes die Haare aus der Stirn wirft, erkenne ich ihn.

Lev.

Er trägt kabellose Kopfhörer, was auf dem Eis eigentlich verboten ist. Aber seit wann interessiert sich Lev Robinson schon dafür, was verboten und erlaubt ist? Für unser Wundertalent werden die Regeln sowieso neu geschrieben.

Enttäuscht darüber, dass aus meiner Me Time nichts mehr wird, will ich mich abwenden, aber ich schaffe es einfach nicht, meinen Blick von Lev loszureißen. Er tanzt eine wahrscheinlich improvisierte Kür auf Musik, die ich nicht hören kann. Ja, er tanzt tatsächlich. Seine Bewegungen sind voller Emotionen. Das hier ist nicht das Aneinanderreihen von technischen Elementen, wie man es von vielen Eiskunstlaufküren kennt.

Schon vorher habe ich viele von Levs Talent schwärmen hören. Bisher habe ich mir aber nie die Zeit genommen, mir tatsächlich anzusehen, wie er auf dem Eis läuft.

Ich stehe völlig regungslos da und merke, dass meine Augen an jeder seiner Bewegungen, jedem Muskel seines Körpers, jedem Gesichtsausdruck kleben. Er nimmt sich Zeit für jede einzelne Bewegung und genießt sie bis in die Fingerspitzen.

Es sieht aus, als würde er seine Seele auf das Eis bluten. Lev hebt seinen Arm und greift mit seinen Fingern ins Leere. Dabei schwebt er mit unglaublicher Geschwindigkeit über das Eis. Verlangen steht ihm ins Gesicht geschrieben, während er seine Hand wie verbrannt wieder zu sich zieht und an sein Herz drückt.

Da er Kopfhörer trägt, kann ich seine Musik nicht hören und trotzdem spüre ich ihr Anschwellen nur anhand seiner Bewegungen. Federleicht hebt er ab und springt mehrmals hintereinander. Kein einziger Sprung scheint ihn Kraft zu kosten. Es ist, als würden seine Gefühle ihn auffangen und wieder abheben lassen.

Getrieben jagt er über die gesamte Eisfläche. Der Ausdruck in seinem Gesicht verändert sich, wird noch intensiver und ich vergesse ein bisschen, wo ich bin. Selbst die athletischen Elemente, die er dabei ausführt, sind keine. Das hier ist Kunst in ihrer reinsten Form.

Tränen treten in meine Augen, doch ich kann mich nicht lange genug von Lev lösen, um sie wegzublinzeln. Zu groß wäre die Gefahr, etwas zu verpassen.

Rennt er vor etwas weg oder auf etwas zu? Ich bin überrascht davon, wie dringend ich diese Antwort brauche. Wie dringend ich wissen will, an was Lev denkt, um diese Dinge zu fühlen. Welche Musik läuft wohl auf seinen Ohren? Ich wünsche mir, ich könnte sie hören.

Lev fliegt erneut übers Eis, bis er in eine Drehung übergeht. Als er seine Arme über den Kopf zieht, werden seine Rotationen so schnell, dass nichts mehr von ihm zu erkennen ist.

Auf einmal bricht er aus der Drehung aus und kommt plötzlich zum Stopp. Ein Bein zur Seite ausgestreckt haut er die Zacken seiner Kufe ins Eis, um sich Halt zu geben.

In genau diesem Moment passiert es. Er hebt den Kopf und unsere Blicke treffen sich. Etwas explodiert zwischen uns. In mir.

Ich kann nicht fassen, von was ich da Zeuge geworden bin. Das ist Eiskunstlauf, wie ich ihn noch nie in meinem Leben erlebt habe. So etwas gehört auf eine europaweite Bühne und nicht in diese kleine Stadt. Ehrwald ist zwar Veranstaltungsort der größten regionalen Trophäe, aber Levs Talent geht weit darüber hinaus.

Lev sieht mich immer noch unverwandt an, bis ich seinem offenen Blick aus diesen walnussbraunen Augen nicht mehr standhalten kann. Es ist, als würde er sich wünschen, dass ich ihn verstehe. Dass ich all das erkennen kann, was in ihm wühlt. Rennt er davon oder auf etwas zu?

Mein Handy vibriert zweimal schnell.

Mit aller Willenskraft reiße ich mich von Levs Anblick los und stürme durch die Stahltür der Eishalle nach draußen. Dankbar für die Ablenkung zücke ich noch im Laufen mein vibrierendes Handy und entsperre es.

Sam: Bin gerade gefallen. Diese Bewegungseinschränkung ist echt nicht zu unterschätzen. Wie lange dauert es noch mal, bis der Gips wieder abkommt?

Sams Nachricht katapultiert mich zurück in die Wirklichkeit. Ist das alles gerade nur ein Traum gewesen?

Angst durchflutet mich. Nach so kurzer Zeit ein zweiter Sturz. Schnell tippe ich eine Antwort ein:

Sofia: Ich bin auf dem Weg

Sam: Mir geht’s gut. Das ist wirklich nicht nötig, Sofia.