Danelli & Co. - Hier wird mit Magie gestickt - James Nicol - E-Book

Danelli & Co. - Hier wird mit Magie gestickt E-Book

James Nicol

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Willkommen in der magischen Welt der Zauberschneidereien! Die meisten Dinge können geflickt werden – Kleider, Hemden, Freundschaften … ja, sogar Familie. Hen träumt davon, in das Familiengeschäft der Zauberschneiderei einzusteigen und magische, selbstgemachte Kleidung herzustellen. Doch der kleine Laden hat zu kämpfen, denn in der Nähe hat eine billige Kleiderfabrik eröffnet. Als Hen auf einen Stich stößt, der Erinnerungen in die Kleidung nähen kann, glaubt er, die Lösung aller Probleme gefunden zu haben. Umso schockierter ist er, dass seine Familie ihm stattdessen das Nähen komplett verbietet! Was ist hier los? Kann Hen das Geheimnis lösen, bevor es zu spät ist?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 312

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Kate Shaw, die geholfen hat,das Schnittmuster für diese Geschichte zu entwerfen.

Tausend Dank!

Inhalt

1 Zaubersticken

2 Familienbesuch

3 Von wegen alles wie gewohnt!

4 Inventur

5 Ausbesserungen

6 Zauberblagen

7 Schlechte Neuigkeiten

8 Die unzufriedene Kundin

9 Unerwünschte Pflichten

10 Der Dachboden

11 Gespenster?

12 Die Erinnerung

13 Die Ankündigung

14 Das Fest

15 Aldo

16 Der Nie-wieder-nass-Zauber

17 Eine seltsame Krankheit

18 Geheimnisse

19 Die Kleiderfabrik

20 Die Fertigungshalle

21 Gefangene

22 Geteilte Geheimnisse

23 Eine Erinnerung sticken

24 Zaudern

25 Zauberblagenbefall

26 Hilfe

27 Rettung

28 Hinein und wieder heraus

29 Erinnerung flicken

30 Nanas Geheimnis

31 Die Messe

32 Das Preisgericht

33 Tiberius Pepper

34 Danellis ausgezeichnete Erinnerungskleidung

Dank

1

Zaubersticken

Einen Zauber zu sticken ist ziemlich knifflig«, sagte Nana und breitete die Jacke auf dem großen, hölzernen Arbeitstisch aus. Sie war aus mitternachtsgrünem Samt, hatte einen hohen Kragen, weit geschnittene Ärmel und ließ sich mit drei glänzenden Knöpfen oberhalb der Hüfte schließen. »Und zugleich ist es die einfachste Sache der Welt.«

Hen strich den Stoff glatt. Von Samt bekam er immer eine Gänsehaut … oder war er vielleicht nervös? »Wirklich?«

Nana wirkte völlig entspannt. »Aber sicher. Du weißt doch, was du tust, Schatz. Das ist schließlich schon dein viertes Mal, richtig?«

Hen nickte und musste schlucken.

»Aber die Jacke ist nur zum Üben, wie sonst auch immer, oder?«, fragte er und sah das Kleidungsstück genauer an.

»Es ist eine Bestellung von Mrs Place. Ein Geschenk für ihre Tochter, glaube ich.«

Hen blickte erst zu Nana und dann wieder auf die Jacke. »Aber … eine richtige Bestellung für eine echte Kundin …«

»Und?«

»Na ja, was, wenn …«

Er verstummte.

»Was, wenn es nicht klappt?«

Hen nickte. Er wusste, dass es selten etwas nützte, Zauberstiche wieder aufzutrennen und von vorne zu beginnen. Er hatte schon mit angesehen, wie Kleider sich in Luft auflösten, sämtliche Nähte sich aufdröselten, und einmal sogar, wie eins in Flammen aufgegangen war. Hinter ihm sah man noch immer einen kleinen Brandflecken an der Wand.

»Wenn’s schiefgeht, geht es eben schief, mein Junge.« Nana zuckte mit den Schultern. »Aus Fehlern wirst du hoffentlich lernen. Außerdem musst du mehr üben, wenn du bei der Gildenmeisterschaft mitmachen willst.«

»Woher weißt du davon?«

Sie lachte. »Ich hab den Handzettel gesehen, den du in deinem Zimmer an die Wand gehängt hast.«

»Heißt das, ich darf? Bitte!«

»Na ja, deine Mum und dein Dad müssen zustimmen. Du kannst ihnen später schreiben. Aber jetzt sag mir, womit müssen wir anfangen?«

Hen holte tief Luft, legte das Stück Stoff, an dem er geübt hatte, zur Seite und ließ den Blick durch die Schneiderwerkstatt schweifen. Der Boden war mit cremefarbenen Fliesen ausgelegt, die holzvertäfelten Wände waren zartgrün gestrichen. Durch die hohen Fenster zum Garten fiel helles Licht herein. Die tiefen Fensterbretter waren leer, bis auf eins, auf dem eine kleine Tonfigur von Hestia stand, der Göttin und Schutzpatronin der Schneider und Kleidermacher. In der einen Hand hielt sie einen Strang Garn, in der anderen eine Nadel, die hinauf in den Himmel zeigte. Es hieß, Hestia hätte mit Nadel und Faden das Universum erschaffen. Jeden Stern, jedes Blatt, jede Muschel und jeden Kiesel genäht und jede Menschenseele gesponnen. Sie wachte Tag und Nacht über die Schneiderwerkstatt.

Die kleine tönerne Statue begleitete die Familie Danelli schon, seit sie von den Szillischen Inseln weit im Osten nach Ingle gekommen waren und hier in Sparrow Down ihren Laden eröffnet hatten.

»Es bringt immer Glück, eine kleine Fürbitte an Hestia zu richten, bevor man mit einer neuen Zauberstickerei beginnt«, sagte Hen und sah zu Nana, woraufhin die nickte und den Kopf senkte, um ein leises Gebet zu murmeln. Hen tat es ihr nach und betete für ein sicheres Händchen, reißfeste Fäden und korrekte Stiche.

»Und dann?«, fragte Nana. »Mit Beten allein kommst du nicht sehr weit. Die Arbeit erledigt Hestia nicht für dich, mein Schatz.« Das sagte sie immer.

»Ähm, kontrollieren, dass man alles hat, was man braucht?«, fragte Hen.

»Ja … aber eins musst du noch tun, bevor du dein Material zusammensuchst, weißt du noch?« Nana lächelte mit einem kleinen Zwinkern und nickte in Richtung Werkstattecke. Dort ragte ein dicker Balken aus der Wand, und daran hing das Familienschlaf. Natürlich! Wie hatte er das nur vergessen können?

»Marjorie füttern!«, rief Hen und griff nach einem Bund Möhren, der in einem Korb mit Schlaffutter unter dem Arbeitstisch stand.

Marjorie hatte ein dickes, schnell wachsendes, flauschiges Fell, das einer Sommerwolke glich und die Familie Danelli stets mit Nachschub an festem Garn versorgte. Sie war ein bisschen größer als ein Hund und blinzelte Hen mit ihren funkelnden Murmelaugen an, als er auf sie zukam. Ihr breites Maul, das immer zu lächeln schien, lächelte noch ein bisschen breiter. In der freien Natur verbrachten Schlafe die meiste Zeit an Felszungen oder knorrigen alten Bäumen hängend in stürmischen Moorlandschaften. Und obwohl sich Marjorie überall in der Werkstatt und im Haus frei bewegen durfte, fühlte sie sich am wohlsten an ihrem Balken, wo sie ungefähr dreiundzwanzigeinhalb Stunden täglich schlief (und schnarchte!).

Hen hängte die Karotten neben sie und kraulte sie hinter den Hörnern, die sich seitlich ihres Kopfes krümmten. Ihre großen, feuchten Nasenlöcher bebten, während sie an dem Futter schnupperte, und sie gab das leise Huh-huh-huh von sich, das Nana immer als Lachen bezeichnete.

Auf dem Rückweg zum Arbeitstisch sammelte Hen alles zusammen, was er für die anstehende Aufgabe brauchte.

»Gutes, festes Garn«, sagte er und nahm eine Rolle Baumwollgarn aus dem Schrank am Ende der Werkstatt gleich neben der Treppe, die in den Laden führte. Danelli-Stickereien wurden gewöhnlich mit weißem oder schwarzem Faden angefertigt – so war es schon immer gewesen. Für besondere Anlässe wurde selten mal auch goldener benutzt, aber das war in der Regel zu teuer, selbst für die extravagantesten Kunden der Danellis.

»Die Nadeln«, sagte Hen und griff in eine Schublade, in der Nadeln in allen möglichen Formen und Größen aufbewahrt wurden. Sie waren, sorgfältig festgesteckt, in ein weiches Filzetui eingeschlagen. Neben Messing-, Bronze- und Kupfernadeln gab es welche aus Gold, Zinn und Silber und sogar einige aus Blech. Jede von ihnen diente dazu, einen ganz bestimmten Zauberstich auszuführen. Hen öffnete das Etui und legte es neben die Jacke. Er wusste, dass diese Nadeln schon viele Jahre alt waren, ein richtiger Familienschatz.

»Und eine Schere«, sagte er schließlich und griff nach einer kleinen Schere, mit der man überstehende Fäden abtrennen konnte.

Dann holte er tief Luft, setzte sich und blickte auf den Arbeitstisch vor sich.

»Sehr gut«, lobte ihn Nana. »Jetzt fehlt nur noch eins.«

Als sie durch die Werkstatt ging, ertönte ein helles Klimpern wie von Dutzenden kleiner Glöckchen. Es kam von den vielen Schlüsseln – für den Laden, für die Wohnung und für alle möglichen Schränke und Vitrinen –, die, mit einem großen silbernen Anhänger befestigt, stets an ihrer Taille hingen. Dieses Klimpern war Hen ebenso vertraut wie der Klang ihres Lachens oder ihrer Stimme, wenn sie mitsang, sobald das Werkstattradio lief.

Am Ende des Raums nahm sie einen großen Messingschlüssel und schloss damit den Schrank auf, der dort stand. Sie nahm eine Schatulle heraus.

Außen war sie schlicht und wenig bemerkenswert bis auf ein kleines »D« für Danelli auf dem Deckel. Aber im Inneren befand sich der außergewöhnlichste und magischste Gegenstand, den Hen kannte. Nana trug die Schatulle zum Arbeitstisch und stellte sie behutsam neben die anderen Sachen, die Hen bereitgelegt hatte. Dann nahm sie den allerkleinsten Schlüssel, ebenso unscheinbar wie der kleine Kasten selbst, und schloss ihn auf. Hen hörte ein Klick, dann hob Nana den Deckel, griff vorsichtig hinein und holte ein Buch heraus, das ganz aus Stoff bestand.

Dies war ihr kostbarstes Familienerbstück. Noch kostbarer als die Figur von Hestia auf der Fensterbank. Und noch wertvoller als das goldene Nähgarn oder die silbernen Nadeln.

Genau wie die Kleider, die in der Werkstatt aufbewahrt wurden, war es in mehrere Lagen blütenweißes Seidenpapier gehüllt, aus denen Nana es nun mit ihren faltigen Händen auswickelte, bevor sie es ihm reichte. Das weiche Buch war breiter als hoch und dicker als ein Laib Brot und wurde schon seit vielen Generationen in der Familie Danelli weitervererbt.

Die Stiche, von welchen sich Muster darin befanden, waren anders als die gewöhnlichen Stiche, mit denen Kleidungsstücke zusammengehalten wurden. Auch von den schönen Stickereien von Blüten, Blättern, Vögeln, oder was sonst noch gerade modern war und Krägen oder Ärmelaufschläge zierte, unterschieden sie sich.

Bei diesen Stichen, die Spuren alter Zaubersprüche bargen, handelte es sich um magische Zauberstiche.

Damit hergestellte Stickereien verliehen Kleidungsstücken magische Eigenschaften. So konnten ein Sommerkleid oder eine dünne Bluse an einem heißen Tag kühlen oder eine Jacke konnte mithilfe einer Leuchtstickerei im Dunkeln schimmern wie der Mond oder die funkelnden Sterne. Solche und andere Wunder verbargen sich in den Familienstichen der Danellis. Das war das Geheimnis, das seit fast vierhundert Jahren den Erfolg ihres Unternehmens sicherte.

Hen schlug das Buch auf und blätterte vorsichtig durch die Stoffseiten. Die meisten Stiche ähnelten kreisförmigen Wellen im Wasser, ein Kreis im anderen. Weitere Stiche verbanden die Kreise wie die Speichen eines Rades. Wenn man ein klein wenig den Kopf neigte, sahen sie aus wie Spinnennetze.

»Warum sind die so wichtig?«, fragte Nana und deutete mit einer langen Stricknadel auf die Verbindungsstiche.

»Durch den jeweiligen Abstand zwischen ihnen werden die magischen Stiche einzigartig. Sie bestimmen, um welchen Stich es sich handelt und welcher Zauber auf das Kleidungsstück übergeht.«

»Wo auf dem Kleidungsstück sollte deine Zauberstickerei angebracht werden?«

»Ähm, das hängt davon ab, welchen Stich man benutzt und was für ein Kleidungsstück es ist. Eine Zauberstickerei zum Kühlen oder Wärmen wird immer doppelt angebracht, einmal vorne und einmal hinten, eine davon etwas kleiner, aber beide ausreichend groß.«

»Und woran erkennst du, dass der Zauber sitzt?«

»Die Stickerei verschwindet beinahe. Nur wenn man weiß, wo man hinschauen muss, kann man sie noch schimmern sehen«, erklärte Hen stolz.

Nana strahlte. »Heute wirst du einen Schutzzauber auf die grüne Jacke sticken. Er schützt beim Reisen.«

Hen wusste, dass es verschiedene Schutzzauberstiche in dem Buch gab. Manchmal wurden auch neue Stiche erschaffen oder alte abgewandelt, wenn die Magie verblasste oder sich veränderte. Ungefähr in jeder Generation erfand ein Danelli einen neuen Zauberstich. Nana, die gerne experimentierte, hatte bisher aber noch keinen eigenen hinzugefügt. »Das mache ich schon noch, bevor mir irgendwann der Faden ausgeht«, sagte sie immer lachend. Doch sie verriet nie, woran sie gerade arbeitete.

Hen musste nun den richtigen Schutzzauber für eine Reisejacke aussuchen. Er überblätterte den Liebeszauber, der aufs Hochzeitskleid der Königin der Riesen gestickt worden war, und einen Flugzauber, der inzwischen eigentlich nur noch an Schuhen funktionierte – man konnte damit zwar nicht fliegen, aber auf der Tanzfläche wirkte man deutlich eleganter. Es gab Kaminzauber für gemütlich warme Schlafanzüge oder Nachthemden, Erfrischungszauber für Sommerkleider und Aufhellzauber, die Schmutz abwiesen und dafür sorgten, dass ein Kleidungsstück länger sauber blieb.

Schließlich kam er zu den Schutzzaubern. Den ersten benutzte Nana ziemlich sicher immer nur bei Kleidern für Schwangere und Neugeborene. Beim zweiten war ein kleines schwarzes Kreuz in die Ecke gestickt, zum Zeichen, dass er nicht mehr funktionierte. Wie es kam, dass manche Zauberstiche nach Hunderten von Jahren plötzlich ihren Zweck nicht mehr erfüllten, wusste niemand genau.

Hen war sich sicher, dass der dritte Schutzzauberstich der richtige für Reisekleidung war. Er versorgte den Träger, unabhängig vom jeweiligen Klima, stets mit einer angenehmen Temperatur, hielt Schmutz fern und konnte sogar die Funktion einer Rettungsweste übernehmen, falls man auf hoher See oder einem Fluss über Bord ging. Diesen Stich hatten die Vorfahren der Danellis auf den Szillischen Inseln einst einem ganzen Bataillon auf die Jacken gestickt.

Hen hob das Zauberstichbuch hoch, damit Nana seine Wahl prüfen konnte.

»Gut«, sagte sie lächelnd, »dann leg mal los. Ich mache uns derweil einen Tee. Lottie hat heute Scones gekauft, glaube ich.«

Damit wandte sie sich um, verließ, eine Melodie vor sich hin summend, die Schneiderwerkstatt und ließ Hen, auf sich gestellt, zurück.

Er sah auf die grüne Samtjacke und holte tief Luft. Dann nahm er das Kleidungsstück in die eine, Nadel und Faden in die andere Hand und begann, den äußeren Kreis der Zauberstickerei zu sticken.

Hens Tee und Scone blieben unangerührt auf dem Arbeitstisch stehen, während er seine Stickerei fertigstellte. Nana hatte sich an den Kamin gesetzt, die rote Wolle und ihre Stricknadeln hervorgeholt, die nie weit entfernt lagen, und strickte wieder einmal einen ihrer Schals. Davon stellte sie ungefähr alle zwei Wochen einen fertig, den sie dann an Kunden, Freunde oder Familienmitglieder verschenkte. Hen besaß inzwischen sechs davon.

»Wie weit bist du?«, fragte sie, als sie merkte, dass ihr Enkelsohn sie ansah.

»Ich glaube … ich bin fertig«, antwortete er und wurde ein bisschen rot.

»Dann lass uns mal schauen.« Nana kam zu ihm, hauchte ihre silberne Brille an, putzte sie mit ihrem Jackenärmel und setzte sie wieder auf die Nase. Dann beugte sie sich über die Jacke und begutachtete Hens Werk.

Sie verzog die Lippen und runzelte die Stirn. Hen hatte keine Ahnung, was sie dachte.

Er begann, im Stillen zu zählen.

Eins.

Zwei.

Drei.

»Nicht schlecht, mein Junge, ganz und gar nicht schlecht.« Nana strahlte.

»Wirklich?«

Am oberen Ende der Werkstatttreppe schlug plötzlich eine Tür gegen die Wand, und etwas fiel auf den Boden. Dann folgten ein paar Worte, die Nana Hen verboten hatte.

Lottie, Nanas treue, wenn auch schusselige Gehilfin, stürmte mit wehender Schürze die Treppe herunter. Sie war ein paar Jahre älter als Hen, schlank, groß und ziemlich hektisch. Sie half im Laden und beim Nähen aus und ging seiner Großmutter manchmal im Haushalt zur Hand. Bühnenreif verfehlte sie die beiden untersten Stufen und landete mit einer Salve weiterer übler Schimpfworte in der Werkstatt.

»Lottie!«, sagte Nana freundlich, aber mahnend. »Immer mit der Ruhe, sonst brichst du dir noch den Hals.«

»Tut mir leid, Mrs Danelli«, antwortete Lottie ein wenig außer Atem. »Aber sie kommen am besten gleich rauf in den Laden.«

Nana lächelte. »Klemmt etwa die Registrierkasse wieder? Du musst ihr nur einen kurzen Schlag mit dem Hammer verpassen, der unter dem Tresen liegt.«

Lottie schüttelte den Kopf und wurde rot.

»Nein. Es ist … es ist Mr Bertrand.«

»Am Telefon?«

Lottie zog eine Grimasse und zeigte Richtung Decke.

»Oben?«, fragte Nana sichtlich verdutzt.

Ihre Gehilfin nickte wortlos und pustete sich ihren fransigen Pony aus den Augen.

Onkel Bertie kam mittlerweile selten im Laden vorbei, es sei denn, um ihnen einen »Reinpfusch-Besuch«, wie Nana es nannte, abzustatten, und ein solcher stand eigentlich frühestens in einem halben Jahr wieder an.

Was in aller Welt wollte er also heute hier?

2

Familienbesuch

Hen hastete hinter Lottie die Treppe hinauf. Nana folgte ihnen ein wenig langsamer. Ein Nachmittag mit seinem Onkel Bertie hatte ihm gerade noch gefehlt. Sein Onkel führte zwei Zauberschneidereien in Hampston, besuchte sie hier in Sparrow Downs jedoch von Zeit zu Zeit, um »ein Auge auf die Dinge zu haben«, wie er es gerne formulierte. Hen hingegen kam es immer so vor, als würde er auftauchen, um alle einen Nachmittag lang in helle Aufregung zu versetzen, herumzukommandieren und dann wieder nach Hampston zu verschwinden.

»Als der Älteste wird Bertie eines Tages die Firma übernehmen«, hatte Nana erklärt. »Deine Mum und dein Dad haben ja leider kein Interesse daran, das Geschäft weiterzuführen, und Bertie kann gut mit Zahlen, das muss ich ihm zugestehen.«

Obwohl Nana noch immer die Besitzerin der Firma Danelli & Co. war, hatte sie Onkel Bertie in den letzten Jahren immer mehr Verantwortung übertragen, damit sie mehr Zeit zum Nähen hatte. »Das ist meine größte Freude, Hen«, erklärte sie immer. Trotzdem hatte Bertie sie bisher mehr oder weniger sich selbst überlassen. »Dein Onkel konnte es kaum erwarten, hier fortzukommen. Sparrow Down erschien ihm zu klein und unbedeutend für seine Talente. Er hat es schon immer vorgezogen, die elegantere Kundschaft in Hampston zu bedienen.« Eine Tatsache, die Nana stets die Nase in die Luft strecken und lustig umherstolzieren ließ, woraufhin ihr Enkelsohn jedes Mal in schallendes Gelächter ausbrach.

Hen trat von der Werkstatttreppe in den hinteren Flur. Von dort aus führten auf einer Seite zwei Türen in die Ankleideräume und eine weitere die Treppe zu den beiden Stockwerken hinauf, wo sich die Wohnung befand, in der Hen und Nana lebten. Wenn man geradeaus ging, kam man durch einen gewölbten Durchgang in das Schneidergeschäft selbst. Der dicke grüne Vorhang, der es vom Flur trennte, war zurückgezogen, und Hen konnte die Silhouette seines Onkels vor dem großen Schaufenster sehen, wo er auf sie wartete. Er fuhr mit dem Finger über eine der Glasvitrinen. Hen betete zu Hestia, dass Lottie am Morgen abgestaubt hatte.

Draußen zuckelte eine Straßenbahn an der Beacham Terrace entlang, während Hen sich an Lottie vorbei in den Laden drängte. »Hallo, Onkel Bert…«, begann er, blieb dann jedoch wie angewurzelt stehen.

Onkel Bertie war nicht allein.

Tante Lucia und Connie, Hens etwas jüngere Cousine begleiteten ihn … an einem Mittwochnachmittag.

Und um sie herum standen Koffer und Taschen. Wollten sie vielleicht verreisen?

»Ah, Henryton. Da bist du ja endlich. Du meine Güte, was hast du denn heute an?«

Onkel Bertie war der einzige Mensch, der Hen fast immer bei seinem vollständigen Namen nannte. Er starrte auf Hens Weste.

Hen strahlte. »Gefällt sie dir? Ich hab sie aus einer alten Jacke genäht, die weggeworfen werden sollte. Sieh mal.« Er drehte sich um, damit Onkel Bertie die Rückseite betrachten konnte. »Die Patchwork-Flicken bestehen aus drei verschiedenen roten Cordstoffen.«

»Offensichtlich.« Onkel Bertie schien nicht sonderlich beeindruckt.

»Also ich finde sie reizend, Hen«, sagte Tante Lucia schniefend mit einem traurigen Lächeln.

Sie war ziemlich blass heute (was sie nur noch schöner aussehen ließ). Unter den Augen sah man rote Ränder, und sie hielt sich ein Taschentuch an den Mund. Hatte sie etwa geweint? Hen fand es furchtbar, wenn Erwachsene weinten. Er erinnerte sich noch daran, wie er einmal seine Mum in Tränen aufgelöst vorgefunden hatte, nachdem seine andere Großmutter gestorben war. Es war ein seltsames Gefühl gewesen, ein bisschen so, als stünde die Welt auf dem Kopf.

»Danke, Tante Lucia. Hallo, Connie.«

Connie antwortete nicht, aber sie kannten sich auch kaum. Sie hatten bisher vielleicht zwei Stunden ihres Lebens miteinander verbracht.

Hen musste unwillkürlich wieder auf die braunen Koffer schauen, die vor der Theke standen.

»Kommt ihr … zu Besuch?«, fragte er zögerlich. Aber warum sollten sie, wo es bis Hampston doch nur eine Stunde mit dem Auto war und sie ein großes Haus im grünen Vorort Richmond besaßen?

Als Nana den Laden betrat, gab es eine Menge Füßescharren und kleinlaute Antworten. Sie überflog mit ihrem Adlerblick schnell den Raum, während Lottie auf Abstand blieb.

»Hen, mein Schatz, warum bringst du Tante Lucia nicht nach oben und machst uns allen einen frischen Tee?«, sagte Nana freundlich, aber bestimmt. Es war kein Vorschlag.

»Dann setzen wir mal Wasser auf«, antwortete Hen widerwillig und führte Connie und Tante Lucia hinaus zur Treppe.

Die Wände im Treppenhaus waren voll mit Gemälden und Fotos sämtlicher bedeutender Danellis, die es je gab. Nana nannte es »Die Galerie«. Ganz oben hing Domenico Danelli, der erste Zauberschneider überhaupt, Sohn eines Magiers, der die Zaubersprüche seines Vaters in magische Stiche verwandelt hatte. Domenico, ein schlauer Mann, hatte ihr Potenzial sofort erkannt und die erste Zauberschneiderei der Welt eröffnet. Das war vor fast vierhundert Jahren gewesen. Es war eine der ersten Familiengeschichten, die man Hen je erzählte. Die meisten anderen Zauberschneider hatten ihre magischen Stiche gekauft, geschnorrt oder sogar gestohlen. Die Stiche der Danellis aber waren einmalig.

Jeder Danelli strebte danach, in die Galerie aufgenommen zu werden. Dort zu hängen, war das Zeichen, dass man gute Arbeit geleistet oder etwas Besonderes erreicht hatte. Auch Hen wünschte sich nichts mehr, als sein Bild an dieser Wand zu sehen. Als er noch klein war, hatte er oft Selbstporträts mit Buntstiften und Wasserfarbe gemalt und sie zur Belustigung seiner Eltern und seiner Großmutter neben den anderen Bildern aufgehängt.

Er begleitete Tante Lucia und Connie ins Wohnzimmer und lief dann schnell zurück in die Küche auf der anderen Seite des Flurs, um Tee zu kochen. Während das Wasser heiß wurde, beugte er sich übers Geländer und versuchte, etwas von dem zu verstehen, was unten gesagt wurde. Nana und Onkel Bertie sprachen aber unglaublich leise, denn obwohl Hen gewöhnlich das meiste mitbekam, was im Laden vor sich ging, ließ sich jetzt nur ein leises Murmeln ausmachen.

Ein Husten erschreckte ihn, er wirbelte herum.

Connie stand direkt hinter ihm. Sie hielt ihre Mütze in der Hand, und ihr Bubikopf glänzte wie eine Kastanie. »Meine Mum hätte gerne ein Glas Wasser, bitte«, sagte sie so höflich, als würde sie einen Kellner im Café darum bitten, nicht ihren Cousin.

Hen merkte, dass er rot wurde. »Äh, klar«, antwortete er und lief zurück in die Küche, wo der Wasserkessel gerade zu pfeifen anfing.

Fünf Minuten später kamen Nana, Lottie und Onkel Bertie zu ihnen herauf. Hen stellte sich vor, wie das Ladenschild auf »Geschlossen« gedreht war … Danellis Schneideratelier geschlossen, und das mitten am Nachmittag! Was bedeutete, dass etwas Wichtiges anlag, worum immer es auch ging. Im Wohnzimmer war es still bis auf die Geräusche, die von der Beacham Terrace hereindrangen – leise Hintergrunduntermalung von plaudernden Einkäufern, vorbeirollenden Straßenbahnen und dem gelegentlichen Trip-Trap-Rumpel einer passierenden Pferdekutsche.

Jeder hatte seine Tasse Tee in der Hand, aber keiner trank davon … oder sagte irgendetwas. Eigentlich gaben sich alle die größte Mühe, sich nicht einmal anzusehen, bis Nana in möglichst heiterem Tonfall das Schweigen brach. »Ähm, weil die Geschäfte in letzter Zeit nicht so gut laufen, glauben Bertie und ich, dass wir … nun ja, alle gemeinsam daran arbeiten sollten, die Situation zu verbessern.«

War es wirklich so schlimm? Wie immer war es gegen Ende des Winters ein bisschen ruhiger im Laden, aber Nana und Lottie arbeiteten eifrig an der Frühjahrs- und Sommerkollektion, die bereits fast fertig war. Bald schon würde es wieder besser laufen, so war es immer.

»Und überall sprießen diese verfluchten Pepper-Fabriken aus dem Boden, die uns ständig bei den Preisen unterbieten«, fügte Onkel Bertie hinzu.

Hen hatte einige Werbeanzeigen für »Tiberius Pepper – erschwingliche Mode« gesehen. Erschwinglich, von wegen! Zauberkleidung aus Massenproduktion war kaum billiger als handgenähte. Die Danellis bemühten sich stets, Kleidungsstücke für jedes Bedürfnis zu vernünftigen Preisen anzubieten. Zu ihren Kunden gehörten Bauern und Fabrikarbeiter ebenso wie adlige Herren und vornehme Damen. Nana sagte immer, wie stolz sie seien, Mode für jedermann herzustellen.

»Deshalb«, sprach sie nun weiter, »werden wir uns vorübergehend zusammenschließen, um die Firma zu konsolidieren.« Sie lächelte Hen an.

»Heißt das, alle arbeiten jetzt hier?«, fragte er, und ihm wurde ganz anders.

»Genau«, antwortete Onkel Bertie, als wäre das eine großartige Idee.

»Aber was wird aus euren Läden?«

Onkel Bertie wurde ein bisschen rot und zupfte an seinem steifen Kragen. »Die Mietverträge wurden bereits neuen Geschäftsinhabern überschrieben«, antwortete er rasch und sah aus dem Fenster.

»Wir hatten diesen Zauberblagenausbruch …«, erklärte Connie leise, verstummte aber schnell, als Onkel Bertie sie böse ansah.

»Heißt das also … wir werden alle hier arbeiten und hier wohnen … zusammen?« Hen dachte an den Kofferstapel, der unten stand.

»Allerdings, Henryton«, antwortete Onkel Bertie und warf sich in die Brust. »Wie eine große Familie! Wird das nicht lustig? Schließlich sind wir ein Familienunternehmen.« Sein Blick wanderte zur armen Lottie, die auf einem wackeligen Hocker neben der Wohnzimmertür saß und unruhig hin und her zappelte, als hätte sie Zauberblagen unterm Hintern.

Hen wusste nicht recht, was er davon halten sollte, sie alle im Haus zu haben.

Onkel Bertie konnte ziemlich nervig sein, aber im Großen und Ganzen war er in Ordnung. Tante Lucia war immer lieb und backte die besten Kekse, und Connie wirkte ziemlich harmlos. Außerdem besuchte sie eine vornehme Schule in Hampston, sodass er sie wahrscheinlich selten zu Gesicht bekommen würde.

Vielleicht wäre es ganz nett, sie alle eine Weile zu Besuch zu haben? Er vermisste seine Mum und seinen Dad, die schwarzen Schlafe der Familie, die sich weder für Mode noch fürs Nähen interessierten. Beide waren Wissenschaftler und verbrachten die meiste Zeit damit, zu reisen und zu forschen. Nur mit seiner Großmutter allein fühlte er sich manchmal ein bisschen einsam. Und genug Platz für alle gab es in der Wohnung schließlich auch. Nana hatte ihm erzählt, dass all die großen Häuser der Beacham Terrace früher vornehme Villen waren, mit jeder Menge Hausangestellten und schicken Möbeln. Inzwischen befanden sich darin Mietwohnungen, Büros oder Geschäfte mit angegliedertem Wohnraum darüber, genau wie bei den Danellis. Aber die oben gelegenen Räume waren immer noch sehr hübsch, wenn auch nicht mehr so glanzvoll wie damals.

»Ich bin ziemlich müde«, sagte Tante Lucia leise. »Darf ich mich hinlegen?«

»Natürlich, liebe Lucia«, antwortete Nana und erhob sich. »Leg dich ruhig in Betsys und Hectors Zimmer, während ich die Gästebetten beziehe.«

»Henryton«, sagte Onkel Bertie, »warum trägst du nicht schon mal unser Gepäck nach oben? Das schaffst du doch sicher, so groß und stark, wie du bist. Und … ähm, Lucy kann dir helfen.« Er blickte sich suchend im Zimmer um.

»Sie heißt Lottie«, erklärte Hen, während Lottie rot anlief und zusammenzuckte. Onkel Berties Anwesenheit machte sie immer nervös, was Hen ihr nicht verdenken konnte.

Sein Onkel strahlte, während sich alle in Bewegung setzten und den Tee ungetrunken in den Tassen stehen ließen. »Ich seh mal unten … nach dem Rechten, ja? Vergewissere mich, dass alles seine Ordnung hat.« Er wippte auf den Füßen vor und zurück.

Hen nahm Lottie bei der Hand und ging mit ihr hinaus in den Flur.

»Komm mit … Lucy«, sagte er grinsend.

Nachdem Hen und Lottie zwei Ladungen Gepäckstücke nach oben geschleppt hatten, musste Lottie sich, völlig außer Atem, zitternd und ziemlich blass, erst einmal hinsetzen.

»Geh du zurück in den Laden, den Rest schaffe ich alleine«, sagte Hen.

Er brachte die übrigen Koffer und Taschen ins obere Stockwerk, so leise wie möglich, aus Rücksicht darauf, dass Tante Lucia mit einem feuchten Waschlappen über dem Gesicht und zugezogenen Vorhängen im Bett seiner Eltern lag. Auf Zehenspitzen lief er über den Flur zum ersten der beiden Gästezimmer, in dem Connie schlafen sollte. Normalerweise wurden dort nur Kartons aufbewahrt, und seit er sich erinnern konnte, war keins der beiden Betten, in denen die nackten Matratzen lagen, je bezogen gewesen. In dem zweiten freien Zimmer, das vermutlich für Onkel Bertie und Tante Lucia vorgesehen war, standen ein größeres Bett und ein Ungetüm von Schrank, in dem Hen sich an seinem letzten Geburtstag beim Versteckspielen verborgen hatte.

Als er ins Gästezimmer kam, stand zu seiner Überraschung Connie schon dort vor dem staubigen Fenster und blickte auf den hinteren Teil der Beacham Terrace hinaus. Es war eine schöne Aussicht über die kleinen Höfe und die Gärten, die sich hinter den Häusern und Geschäften erstreckten. Am Fußende des Bettes wartete ein Stapel Laken und Bettwäsche.

»Leider nicht so hübsch wie dein Zimmer zu Hause«, sagte Hen.

Bei einem Besuch in Richwood hatte er durch die offene Tür einmal einen kurzen Blick in Connies Zimmer werfen können. Es war voller Spielsachen und Bücher gewesen. Im Vergleich dazu musste ihr das hier wie ein ziemlicher Abstieg vorkommen. Arme Connie.

»Brauchst du noch irgendwas? Eine zusätzliche Decke vielleicht? Noch ein Kissen?«

Connie antwortete nicht, sie starrte einfach nur weiter aus dem Fenster.

»Connie?«

Immer noch keine Antwort.

»Ja gerne, danke, lieber Cousin, das wäre sehr lieb von dir«, sagte Hen zu sich selbst und versuchte, so wie Connie zu klingen, und zwar extra hochnäsig.

Als sie weiterhin schwieg, drehte er sich um und ging zur Tür. Was war nur los?

»Er hat alles verloren.« Connie sprach anfangs so leise, dass Hen sich gar nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte. Er blieb an der Tür stehen.

»Was? Wer?«, fragte er und drehte sich wieder zu ihr.

»Mein Dad«, erklärte sie im Flüsterton. »Die Läden, das Haus in Richwood. Wir können es uns nicht mehr leisten, dort zu wohnen. Es ist alles futsch.«

Hen warf einen Blick zur Tür, weil er befürchtete, Connie würde Geheimnisse teilen, die sie nicht verraten durfte, und ein Erwachsener würde es mitbekommen. Aber er wollte unbedingt mehr wissen. »Wie meinst du das? Doch nicht etwa für immer?« Hens Magen zog sich schmerzhaft zusammen. »Nana hat gesagt, es ginge nur darum, die Firma zu … ähm, konsolidieren?«

»Das ist doch bloß so eins dieser Erwachsenenworte, die eigentlich gar nichts bedeuten«, antwortete Connie verbittert. »Gewöhn dich lieber an den Gedanken. Es läuft schon eine ganze Weile nicht mehr gut. Ende letzten Jahres hat Dad den Laden in der Thornton Arcade schließen müssen und vorige Woche, nachdem die Zauberblagen den größten Teil der Warenbestände ruiniert hatten, den in der Carlyle Road. Und wir hatten schon vorher jede Menge Schulden. Deshalb hat er das Haus verkauft.«

»Das Haus verkauft?« Hen blieb der Mund offen stehen. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Onkel Bertie hatte zwar gesagt, sie würden hier zusammen wohnen und arbeiten … aber er hatte nicht erwähnt, dass es für immer sein sollte!

Schließlich drehte Connie sich zu ihm um. »Ich weiß, dass das alles eine große Unannehmlichkeit für euch ist, Hen, aber glaub mir, ich bin auch nicht wirklich scharf darauf, hier zu wohnen. Also tun wir uns doch am besten gegenseitig einen Gefallen und lassen uns in Ruhe, ja?« Nach diesen Worten wandte sie sich wieder zum Fenster. Und nur das leichte Zittern ihrer Schultern verriet, dass sie weinte.

3

Von wegen alles wie gewohnt!

Ganz so schlimm ist es auch wieder nicht«, erklärte Nana später, als sie Hen Gute Nacht sagte. »Connie hat etwas mitbekommen und sich ein bisschen in die Sache hineingesteigert.«

Sie stand an seiner Zimmertür, und ihre Stricknadeln bewegten sich so schnell, dass sie fast vor seinen Augen verschwammen, während sie mit einem neuen roten Schal anfing. Doch Hen merkte, dass sie ihm etwas verschwieg. Sie wirkte müde, und ihr Gesicht war vor Sorge ganz zerknittert, was absolut untypisch für Nana war.

Hen hatte seiner Mum und seinem Dad geschrieben und alles berichtet. Das machte er immer, wenn er in Sorge oder Aufregung war. Er wusste, dass sie sofort antworten würden, auch wenn die Post etwas brauchte. Zum Glück fühlte er sich schon allein durch das Verfassen des Briefes etwas besser. Trotzdem zog sich ihm vor Kummer der Magen zusammen. Er schüttelte den Kopf.

»Aber Connie hat erzählt, dass Onkel Bertie ihr Haus verkaufen musste. Das klingt ziemlich schlimm, Nana. Werden wir auch verkaufen müssen?« Beacham Terrace war das einzige Zuhause, das Hen kannte.

»Aber nein«, antwortete Nana, als wäre das ein absolut törichter Gedanke. »Für deinen Onkel ist es im letzten Jahr unglücklich gelaufen. Er hatte viel Pech. Jetzt müssen wir uns gegenseitig unterstützen. Eines Tages wird Bertie die Firma ganz übernehmen, Hen, deshalb hielten wir es so für das Beste. Bertie und ich haben alles im Griff, hörst du? Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, ja?« Sie blickte auf ihr Strickzeug und schüttelte den Kopf. »Himmel, Garn und Zwirn. Ich dachte dieses Mal hätte ich es richtig …«

Wenn Nana glaubte, alles wäre in Ordnung, dann musste es doch stimmen, oder? Aber sie hatte ihm verschwiegen, was er von Connie wusste. Also war Hen nicht wirklich beruhigt.

»Gute Nacht, Nana«, sagte er und verkroch sich unter seiner Bettdecke.

»Gute Nacht, kleiner Hen.« Nanas Schlüssel klimperten ihre helle Melodie, während sie zu ihm kam und ihn sanft auf die Stirn küsste. »Schlaf gut. Und pass auf, dass die Zauberblagen dich nicht beißen.«

Am nächsten Tag wurde Hen spät wach und zog sich schnell an, um seine morgendlichen Aufgaben zu erledigen – Ware in der Stadt ausliefern und Besorgungen machen. Er hastete die Treppe hinunter und flitzte kurz in die Küche, um sich einen Apfel zum Frühstück zu schnappen. Dann legte er ihn wieder zurück und nahm sich stattdessen einen Haferkeks.

Im Laden traf er gewöhnlich auf Lottie, die putzte und aufräumte und alles für den bevorstehenden Tag vorbereitete, aber heute war sie nirgends zu sehen. An ihrer Stelle stand dort Onkel Bertie, der in das Terminbuch vertieft war – ein dicker grüner, ledergebundener Band, in dem alle Kunden aufgeführt waren, die zum Maßnehmen kamen, um sich neue Kleider auszusuchen oder fertige abzuholen. Neben ihm stand Nana, sichtlich verärgert, und an der Tür drückten sich nervös Tante Lucia und Connie herum.

»Vielleicht sollten wir diese beiden Termine ein bisschen nach hinten verschieben«, sagte Onkel Bertie und griff nach einem Stift.

»Untersteh dich, Bertie«, knurrte Nana und schlug ihn auf die Hand. Nana war von jeher für das Terminbuch verantwortlich. Es war mit ihrer schönen, sorgsamen Handschrift gefüllt, und normalerweise wagte sich niemand sonst, es anzurühren.

»Aber wenn die Dame hier heute etwas später kommen könnte …«

»Mrs Cutter kann wegen ihres Papageis keine Nachmittagstermine wahrnehmen«, erklärte Nana.

»Na, dann vielleicht …«

»Nein, Bertie. Mr Palooza möchte vor dem Lunch in der Teestube zu seinen Anproben vorbeikommen.«

»Aber, es wäre doch nur …«

»Ich kenne meine Kunden, Bertrand«, erklärte Nana und zog das Terminbuch aus seiner Reichweite. »Lass es sein!«

Als Onkel Bertie Hen bemerkte, zupfte er seufzend das Maßband zurecht, das er um den Hals hängen hatte, und sah ziemlich demonstrativ auf seine Taschenuhr.

»Na schön, nachdem wir nun alle hier sind«, er warf Hen einen eindringlichen Blick zu, »sollten wir uns an die Arbeit machen. Wir haben heute viel zu tun. Bedauerlicherweise wurden noch vor dem Mittagessen drei Anproben vereinbart, um die Mutter und ich uns kümmern werden.« Nana drückte sich das Terminbuch fest an die Brust.

»Lucia, nimm du dich derweil bitte der Werkstatt an, und du, Henryton bist für die Auslieferungen und für diese Liste an Besorgungen zuständig.« Er schob Hen eine ellenlange Liste hin und deutete auf den Stapel Pakete, die Hen selbst am Tag zuvor fertig gemacht hatte.

»Danke, Onkel Bertie«, antwortete Hen, so höflich wie möglich. Wenigstens konnte er eine Weile von der Bildfläche verschwinden.

»Und Constance wird dich begleiten.«

»Was?!«, riefen Hen und Connie wie aus einem Mund.

Hen war davon ausgegangen, dass sie zurück nach Hampston in ihre vornehme Schule fahren würde und er sie auf jeden Fall los wäre. Doch dann wurde ihm klar, wie dumm diese Vorstellung gewesen war, angesichts dessen, was Connie ihm gestern eröffnet hatte. Vornehme Schulen kosteten schließlich Geld.

»Muss ich?«, fragte Connie, ohne Hen überhaupt anzusehen.

Onkel Bertie warf Tante Lucia einen ernsten Blick zu.

»Liebling«, sagte Tante Lucia mit beschwichtigender Stimme, »wir haben doch darüber gesprochen. Wir sind darauf angewiesen, dass du im Laden mithilfst, und als Auszubildende musst du auch Besorgungen machen und Waren ausliefern.«

»Nur so lange, bis du mit allem vertraut bist, natürlich«, fügte Onkel Bertie hinzu.

Connie sah ihren Vater zornig an, der schon wieder angefangen hatte, an seinem Maßband zu nesteln. Tante Lucia gab noch weitere tröstende Laute von sich und versprach Connie alle möglichen Belohnungen, wenn sie gehorchen würde. Als sie begriff, dass es keinen Zweck hatte, sich zu wehren, nahm Connie seufzend die Hälfte der Pakete. »Na, dann los, Hen«, murrte sie.

»Ach wartet, Schätzchen«, sagte Nana und schlang jedem von ihnen rasch einen neuen roten Schal um den Hals. »Es ist frisch heute Morgen«, erklärte sie. Noch einer mehr für meine Sammlung, dachte Hen.

»Du passt doch auf sie auf, mein Junge?«, rief Tante Lucia, als sie auf die Tür zusteuerten. Sie klang ziemlich verängstigt. »Es ist doch nicht gefährlich dadraußen?«, wandte sie sich dann an Nana.

»Wenn man von den ganzen Dieben und Mördern einmal absieht«, antwortete Nana und zwinkerte Hen zu.

»Was?«

»Soll das etwa witzig sein, Mutter?«, fragte Onkel Bertie.

Nana grinste. »Ach, ich meine es todernst«, antwortete sie und erntete dafür einen eisigen Blick von ihrem Sohn.

»Also, dann sollte ich sie vielleicht besser begleiten?« Tante Lucia setzte sich Richtung Tür in Bewegung.

»Oh Mum, uns passiert schon nichts«, sagte Connie schnell, bevor sie Hen am Schal packte und aus dem Laden zog. Tante Lucia folgte ihnen und blickte ihnen von der obersten Treppenstufe aus nach, während sie die Beacham Terrace hinunterliefen. »Lasst euch nicht von Fremden ansprechen!«, rief sie mit zitternder Stimme. »Und seid vorsichtig, wenn ihr über die Straße geht. Passt auf die Straßenbahn auf! Ach, Hestia, beschütze sie!«

»Ist sie immer so?«, fragte Hen, ohne die amüsierten Blicke der Vorbeigehenden zu beachten.

»Normalerweise ist es nicht so schlimm.«

»Ach, Conniiie!«, rief Tante Lucia plötzlich und zog dabei das »i« deutlich mehr in die Länge als nötig.

Beide blieben stehen und drehten sich um.

»Du hast doch daran gedacht, einen sauberen Schlüpfer anzuziehen, oder?«

Hen prustete lauthals los, während Connie schrecklich rot anlief.

»MUUUM!« Sie wandte sich ab und murmelte: »Himmel, Garn und Hestias Nadel! Gleich werf ich mich unter eine Straßenbahn. Wieso lachst du auch noch so?« Dann stürmte sie wütend auf die Kirche am Marktplatz zu. »Komm schon.«

»Eigentlich müssen wir zuerst da entlang«, sagte Hen und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. »Wir haben eine Lieferung für Mrs Ele, und die wohnt im Park.«

»Ist sie etwa … obdachlos?«, fragte Connie und blieb abrupt stehen.

Sie hatte wirklich keine Ahnung. »Nein, Connie, sie ist nicht obdachlos. Sie betreibt das Café dort.«

»Ach«, murmelte Connie leise. »Woher sollte ich das denn wissen?« Dann tat sie so, als würde sie die Namen auf den Paketen lesen, die sie im Arm hatte.

Sie kehrten um und überquerten, als der Verkehr einmal kurz nachließ, die Straße. Connie blieb stehen, um ins Schaufenster von Widgets Spielzeugladen zu schauen, das mit Puppen und Spielsachen aller Art gefüllt war.

»Ich bekomme meistens etwas von Widgets zum Geburtstag«, sagte Hen stolz und winkte Mr und Mrs Widget durch die Scheibe zu. Die Augen hinter dicken Lupenbrillen und mit bunten Farbklecksen im Gesicht winkten sie zurück. »Bei Mr und Mrs Widget ist alles handgemacht«, erklärte Hen.