Darf ich vorstellen ... - Ammar Aldudak - E-Book

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Ammar Aldudak

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Beschreibung

Lehrer, Verwandte, Konventionen - Der sechzehnjährige Arman Migrationshintergrund läuft gegen alles Sturm. Satirisch dokumentiert er die Welt aus seinen Augen: Die Pariser Anschläge, die Kopftuchdebatte, die Erfindung der Menschenrechte, der Generationskonflikt - zwei Welten prallen aufeinander. Und er steckt mittendrin. Ob Herr Integrationsbeauftragter oder Mister Fanatiker, die Realität an deutschen Gymnasien oder der Überlebenskampf der Liebe - Selbstironisch und gleichzeitig ernüchternd macht er deutlich: Irgendetwas läuft hier schief! Der hier geborene Mehmet fühlt sich nicht heimisch, Onkel Hasan schwört auf Erdogan, die NSA meint's nur gut mit uns und alle sind sich einig: Man möge doch bitte realistisch bleiben!

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Der Affe sieht nie seinen eigenen Hintern, nur den der anderen!

- Afrikanische Weisheit

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Mittwochmorgen,

Epilog

Nachwort

Prolog

Ich heiße Arman Migrationshintergrund. Ich bin sechzehn Jahre alt und besuche ein humanistisches Gymnasium für Kritiker und Denker.

Meines Vaters Geburtstag und den seines Vaters kennt man als: Der Tag der Migranten. Seine beiden Brüder sind am Tag der Migranten geboren. Meine Cousins sind am Tag der Migranten geboren, sogar meine Mutter und meine Oma (verzeihen Sie bitte, dass ich den weiblichen Teil anspreche, ich mache es ganz kurz, schnell in einem Rutsch) und mit ihnen meine Schwester und meine andere Schwester, noch zu jung für unseren Kampf, wurden am Tag der Migranten geboren. Meine Cousins sind allesamt am Tag der Migranten geboren, ebenso viele meine Freunde wie Mustafa, Savas, Eddy und sogar Thorsten, gebrandmarkt mit seinem arabischen Vater, sind am Tag der Migranten geboren - und richtig, Sie haben es erfasst: Auch ich wurde am Tag der Migranten geboren. Alles, was mit dunklen Haaren und Namen mit vielen Konsonanten(Ünsal, Ömer) gezeichnet ist, gehört zu der Spezies, deren Geburt mit dem Titel ‘‘Tag der Migranten‘‘ geehrt wird.

Nun zu mir: Ich spiele Saz, also eine türkische Laute und… ähm das tue ich nur nebenbei, mein Hauptinstrument ist das Klavier, ein wohlbekannt europäisches Instrument(siehe Mozart)! Ich schreibe sehr gerne: Gedichte, Kurzgeschichten und Emails (heimlich aber Streitschriften gegen den Westen). Ich habe einen Thriller geschrieben, aber der ist, milde ausgedrückt, in veröffentlichungsunwürdiger Mittelmäßigkeit untergegangen. Außerdem mache ich Thaiboxen - Ich muss mich schließlich auch wehren können, denn, wie der türkische Premierminister(hoch gelobt sei er) schon treffend beschrieb: PEGIDA ist wie der IS. Was wenn einer der braunen Templer mir da draußen auflauert? Ein sehr, sehr weiser Mann, dieser Erdogan!

Ich komme aus einer streng muslimischen Familie. Ja, Sie liegen richtig mit Ihrer Annahme! Mit anderen Worten: Traditionell, Kopftuch und empört über Mohammed Karikaturen – kurz um: Äußerst Gefährlich! Um den Häschern des verruchten BKA zu entgehen, tarnen wir uns so gut es geht: Z.B. kocht mein Vater hin und wieder oder distanziert sich vom IS und der Burka. Eine weitere, sehr effektive Methode ist: Er trägt keinen Bart! Tja, jetzt ist es schwer uns zu enttarnen, was?

Wenn meine Englisch Lehrerin von möglichen Verbrechen der US-Regierung spricht (Gott bewahre dass es sie gibt!) dann schweige ich über Guantanamo und die Golf Kriege. Wobei, wie die NSA bestimmt schon festgestellt hat, stimmt das nicht so ganz. Tatsächlich wage ich es in seltenen Momenten, meine Meinung zu sagen. Aber dann stelle ich sofort klar: Je Suis Charlie!

Als ich klein war, hat mir mein Vater historische Romane in die Hand gedrückt, in denen es um europäische Geschichte ging. Insbesondere um englische Geschichte, am besten hat mir die Eroberung Englands durch William den Bastard gefallen – mhm es war, als hätte ich die Unterjochung Englands hautnah mit erlebt! Warum ich die englische Geschichte kennen lernen sollte? Es ist gut für die Tarnung und außerdem sagt Mister Radikal immer: Du diese Leute kennen lernen, damit du sie mit ihren eigenen Waffen schlagen kannst!

Ich fasse mal zusammen: Migrationshintergrund Senior will mein Gehirn waschen, die NSA will doch nur die Welt retten, wir sollen alle mal realistisch bleiben, die Religionen sind böse, Mehmet braucht Onkel Hans um sich zu integrieren, ich soll am Tag der Migranten sterben und noch in fünfzig Jahren sollen Hasan und Ayse am Tag der Migranten geboren werden – darf ich vorstellen…

Mittwochmorgen,

Ethikstunde…

Der Vortrag verlief gut.

Mehr als gut.

Super.

Nein, ich glaube perfekt trifft es eher. In meinen Augen jedenfalls. Und in den Augen meiner Mitreferenten, Mustafa und Eddy.

So scheint es. Wir haben uns nicht ein einziges Mal getroffen, wie eigentlich von meinem Ethiklehrer, Herrn Integrationsbeauftragter, verlangt.

„Ich merke es, wenn Ihr euch nicht trefft! Und dann werde ich euch dementsprechend schlechter benoten!“, waren seine Worte vor unserer Präsentation.

„Man merkt, ihr habt euch getroffen, die Präsentation zusammen aufgebaut und euch damit befasst. Jeder weiß, worum es in der Präsentation geht – und das ist sehr wichtig. Es geht nicht nur darum, ähm, dass man seinen Teil lernt und schnell hinter sich bringt. Ihr müsst euch auch mit dem Teil der anderen befassen! Deshalb, Leonard, um auf deine Frage zurück zu kommen, müsst ihr den Teil des anderen vortragen, wenn dieser fehlt. Ähm, und an dieser Gruppe merkt man, ähnlich wie bei der Platon-Gruppe, dass sie dazu in der Lage sind“. Seine Worte nach unserer Präsentation.

Schwachsinn. Gut, ich könnte den Teil der anderen, aber meine beiden Partner…

Ich muss mich auf die Fragerunde konzentrieren. So ungern ich jetzt auch die größtenteils verzweifelten Versuche den Vortragenden-ein-Bein-zu-stellen-Fragen beantworte, so muss ich da durch. Ungern vertraue ich hierbei meinen Kollegen. „Ja, Alina“. Sie ist die dritte Meldung. Und die letzte.

„Ich habe das nicht ganz genau verstanden, wie war das…“, ich unterdrücke ein Seufzen und beantworte ihre Frage, sie nickt und tut so, als würde sie wahrhaftig Interesse oder Neugier aufbringen, was ich durchaus bezweifele.

„Es ist so, stell dir das Pyramidenmodell von Aristoteles so vor, dass die einzelnen Stufen jeweils ein Stockwerk sind. Du musst jedes einzelnes erklimmen, um dann das letzte und wichtigste zu erreichen, die philosophia die 6. und höchste für den Menschen zu erreichende Stufe. Der Mensch kann nicht philosophieren, ohne vorher Erfahrung gesammelt und aus diesen Schlussforderungen für sein zukünftiges Handeln gezogen zu haben. Und wenn du nicht in der Lage bist, Wissen und Erkenntnisse anderer zu übernehmen und Zusammenhänge herzustellen, kannst du nicht philosophieren, denn nur wenn du jedes einzelne Stockwerk erreicht und gesehen hast, kannst du die Besonderheit des letzten bzw. höchsten Stockwerks beurteilen. Woher willst du wissen, was ein Blick auf eine wundervolle Landschaft und gleichzeitig das Meer bedeutet, wenn du nicht weißt, was es bedeutet keine freie Sicht auf alles zu haben? Du musst das Beschränkte kennen, um den Wert des Unbeschränkten zu verstehen. Gleichzeitig kannst du nur durch das Erreichen des letzten Stockwerks verstehen, was den unteren fehlt. Hast du das verstanden?“. Sie nickt.

Ich bezweifele es.

Plötzlich höre ich Herrn Integrationsbeauftragter lachen. Ich runzele die Stirn. Alle wenden sich zu ihm um.

„Also ich finde das Klasse, wie du das machst, Arman!“, lobt er.

Ich antworte nicht, denn er fährt fort: „Treppen…wundervolle Landschaft…woher nimmst du diese rhetorischen Mittel? Und auch dieses ‘‘Hast du’s verstanden‘‘…Da keiner verneinen wird, sieht es aus, als hätte jeder es verstanden, auch wenn es womöglich nicht so ist. Ich sehe da wirklich eine Karriere als Politiker. Arman Migrationshintergrund, der türkisch-deutsche Bundeskanzler!“, er merkt, dass der Witz bei den anderen nicht ankommt.

Ich habe mir nichts bei hast du’s verstanden gedacht. Ich wollte nur vermeiden, dass jemand so tut als hätte er es verstanden und dann sich zu seinem Nachbarn wendet und mit einem künstlichen Lächeln klarmacht, dass er es nicht verstanden hat.

Denn sowas entgeht keinem, insbesondere nicht den Lehrern.

Ich sage immer noch nichts. Ich lächele nur leicht.

„Das mein ich ernst“, fügt er hastig und ein wenig ernster hinzu: „Du bist ein ziemlich guter Rhetoriker. Liest du Zuhause etwa sowas nach, oder kommt das spontan, also, ähm, schüttelst du sie quasi aus dem Ärmel?“.

Aus den Augenwinkeln nehme ich die Reaktionen der Schüler wahr: Einige interessiert es nicht, andere schütteln grinsend den Kopf, wieder andere tuscheln hinter vorgehaltener Hand. „Naja, Herr Integrationsbeauftragter, ehrlich gesagt habe ich besseres zu tun, als Zuhause Bücher nach irgendwelchen rhetorischen Floskeln zu durchsuchen!“, erwidere ich mit einem breiten Lächeln. Es gefällt mir schon, was er mir da sagt. Wem würde es nicht gefallen?

„Ja, das hab ich mir gedacht“, erwidert er mit einem Lachen. Mir kommt ein unbequemer Gedanke. Ob ich ihm vielleicht Unrecht getan habe, als ich seine Arbeit als Lehrer in meiner Wertschätzung weit unten gestuft habe?

„Aber ich hätte eine Frage an dich, Arman“.

Ah, jetzt beginnt es.

„Das Zitat, welches ihr am Ende eurer Präsentation vorgelesen habt. Könntet ihr das noch einmal vorlesen, und dann Stellung beziehen?“.

Ich gehe zum Laptop(währenddessen rollt Mustafa mit den Augen) klicke zurück zur Folie und lese vor:

„Also steht die Tugend und ebenso auch das Laster in unserer Gewalt. Denn wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es auch das Lassen, und wo das Nein, da auch das Ja. Wenn also das Tun des Guten in unserer Gewalt steht, dann auch das Unterlassen des Bösen; und wenn das Unterlassen des Guten in unserer Gewalt steht, dann auch das Tun des Bösen. Aristoteles“

„Wie siehst du das?“.

Mustafa ist nicht der einzige, der genervt drein blickt und ich kann das durchaus nachvollziehen. Herr Integrationsbeauftragter scheint es nicht müde zu werden, seinen Unterricht auf ein Gespräch mit einem einzigen Schüler zu beschränken: Mich. Ich brauche keine Sekunde zum Nachdenken. Das tue ich immer, während ich spreche. Erst Denken, dann sprechen ist eine Tugend, die ich leider nicht allzu sehr beherrsche: „Ich stimme ihm zu, und ich finde, dass das auch gut ist. Meiner Meinung nach, haben wir beides in uns – Gutes und Böses. Dazwischen können wir auswählen. Ich denke die Welt braucht keine Maschinen, die nach den Vorstellungen von dem Guten funktionieren. Dann wären wir keine Menschen, oder? Wir bräuchten einfach nur Roboter zu programmieren, und dann hätten wir den Frieden auf Erden. Aber ich will kein Roboter sein. Ich will selbst entscheiden wollen. Ich will auch nicht die Marionette irgendeines Gottes sein, auf dessen Fingerschnipsen hin ich funktioniere!“, den Aspekt mit der Religion nenne ich mit Absicht, um auf seine nächste Frage einzugehen: „Ich will frei sein. Und Freiheit bedeutet für mich in dem Fall, selbst zu entscheiden, was das Gute und was das Schlechte ist. Wenn es nicht so wäre, dann wären wir keine Menschen! Wie gesagt:

Wir sind keine Maschinen, die lediglich auf Knopfdruck funktionieren“.

„Aber meinst du nicht, dass durch das Böse in sich ein Adolf Hitler die Ermordung von Sechs Million Juden rechtfertigen kann?“.

Interessant ist, dass er keine Sekunde gezögert hat, bevor er diese Frage gestellt hat.

„Nein, das glaube ich nicht!“. Mich ärgert es schon seit langem, das die meisten im Zusammenhang mit dem Holocaust es immer so darstellen, als hätte Hitler alleine das Verbrechen am jüdischen Volk begangen. Als hätte er all die Kreuze auf den Stimmzetteln gemacht.

„Ich meine man muss es mal so betrachten, Hitler hat diese Sechs Million Juden nicht alleine umgebracht, sondern eine ganze Nation. Nicht er alleine trägt die Schuld, sondern ein ganzes Volk! Es war nicht das Böse in Hitler, welches als Begründung für dieses Verbrechen angesehen werden kann. Er wurde schließlich demokratisch gewählt, Herr Integrationsbeauftragter! Um das zu verstehen…“.Das Lächeln auf seinem Gesicht ist verschwunden. Ich weiß nicht ob er meinen Blick bemerkt hat, aber plötzlich setzt er ein leichtes Lächeln auf. „…muss man sich zunächst die Umstände ansehen, unter denen das deutsche Volk zu der Zeit gelebt und vor allem gedacht hat. Außerdem glaube ich auch, dass die Unmündigkeit des Menschen, seine Unfähigkeit und Feigheit mal aufzustehen und zu sagen ‘‘Nein‘‘ große Schuld trägt. Aber nicht das Böse in einem Hitler. Ein Mann kann nicht alleine einen Völkermord begehen. Das Jüdische Volk hat in Europa schon immer gelitten. Die Leute haben nach einem Sündenbock gesucht, und den hat Hitler ihnen geliefert. Hitler war nur der Funken, der das Feuer dann letztendlich entfacht hat“.

„…Funken…Feuer…einfach geil! “ , lobt Herr Integrationsbeauftragter: „Gut, dann dürft ihr euch hinsetzten“, erlöst er uns. Während ich meinen Laptop wieder einpacke, kommt er nach vorne und beginnt seine Unterlagen am Lehrerpult zu ordnen. Ich laufe gerade zurück zu meinem Platz, als er sagt: „Leute, ich weiß, nächste Woche bin ich zwar dran mit meiner Rene Descartes Präsentation, aber die werden wir auf die Stunde nach der Arbeit verschieben“. Der Lärmpegel steigt augenblicklich an, Mustafa ruft lachend: „Ja, wir kriegen für jeden Tag den wir uns verspäten einen Punkt Abzug, und Sie halten nicht einmal!“.

Einige lachen. Ich setze ebenfalls ein Grinsen auf und rufe etwas zu seiner Unterstützung.

„Ja dafür kommt er auch nicht in der Arbeit dran, Musti…“

„Ich heiße Mustafa“.

„…also seid doch froh! Ich würde die Zeit lieber nutzen, um euch auf die Arbeit vorzubereiten…“

„Ich heiße trotzdem Mustafa“.

„…uns läuft schließlich die Zeit davon. Nächste Woche entfällt schließlich, und dann müssen noch zwei Gruppen präsentieren, und dann schreiben wir schon unsere Arbeit“.

Ich berühre Mustafa am Arm: „Digga, bleib ma ruhig, Mann!“, flüstere ich ihm zu.

„Das ist so ein Pisser man, der sagt absichtlich meinen Namen falsch und ignoriert mich jetzt!“, zischt er zurück.

„Scheiß drauf, man. Der will dich provozieren, also bleib ruhig. Der hat das jetzt schon verstanden“.

Herr Integrationsbeauftragter sagt noch ein paar Sätze, aber ich höre ihm nicht mehr zu. Stattdessen blicke ich zur Uhr. Sie hängt gleich hinter ihm, auf der rechten Seite der Wand.

Der große Zeiger ist zwischen 12 und 1.

Die Uhr ist weiß. Ich tippe auf eine billige, womöglich aus dem Globus in Dutenhofen. Falls die da natürlich Uhren verkaufen.

„Ja Leute, freut euch doch! Weniger Stoff in der Arbeit…“. Jedenfalls ist sie weiß. Ich denke nicht, dass sie besonders widerstandsfähig ist. Die Ziffern sind schwarz, ebenso die kleinen Striche zwischen ihnen und die Zeiger. Schwarz und weiß, sonst keine Farbe. Bis auf den winzigen Punkt in der Mitte, der ist rot.

Der große Zeiger hat beinahe die Eins erreicht.

„…so, ich würde aber jetzt gerne mit euch etwas anderes machen“, verkündet Herr Integrationsbeauftragter.

Mit einem leisen Seufzen bringe ich mit letzter Kraft ein wenig Konzentration auf. Er gibt einen Stapel Zettel rum: „Wir haben ja schon paarmal über den IS gesprochen…“, ich rolle mit den

Augen: „…und hier ist ein Artikel von Ahmad Mansour, einem ehemaligen Salafisten, der über ihre Psychologie spricht“.

Der Stapel erreicht mich, ich nehme mir eins und gebe es gleich weiter. Ich werfe einen einzigen Blick drauf und weiß, dass ich den Text nicht lesen werde.

„Ich habe euch ja von dem Fall an einer Schule in Frankfurt erzählt, wo ein Freund von mir arbeitet. Und das ist schon ziemlich krass, ich meine da haben zwei Schüler die Schule verlassen, und, ähm, sind plötzlich verschwunden, um für den IS zu kämpfen! Und, ähm, das Unglaubliche daran ist, dass es sich um eine moderne Familie handelt…“, ich muss mich zurückhalten, um bei dem Wort ‘‘modern‘‘ nicht aufzulachen: „…bei der man eigentlich sagen würde, dass sie, ähm, integriert sind. Die Familie kann sich einfach nicht erklären, wie das passieren konnte!“, er macht eine kurze Pause. Es scheint, als würde unter meiner Gesichtshaut ein Feuer gelegt werden. Er steht jetzt auf und deutet auf Mustafa, Eddy und mich: „Wir haben ja drei Muslime in unserem Kurs und mich würde ehrlich gesagt interessieren, ob, ähm, ihr privat mit diesem Thema konfrontiert seid. Also natürlich nur, wenn das, ähm, euch nicht zu persönlich ist“.

Ich melde mich, kaum hat er zu Ende gesprochen.

„Ähm, ich würde sagen, dass wir einfach bei Mustafa anfangen und dann so weitergehen“.

Ich nehme meine Hand wieder runter. Kein Problem, ich kann auch warten.

Mustafa beginnt zu reden: „Also, bei mir und in meinem Umfeld war das ehrlich gesagt nie ein Thema. Sie wissen ja, ich bin von der Ahmadiyya Gemeinde, und wir plädieren ja immer für den Frieden…“.

„Und die anderen Gemeinden nicht oder was?“, falle ich ihm grinsend ins Wort.

Er kann sich ein leichtes Lächeln auch nicht verkneifen, während er unbeirrt fortfährt: „…und sind ganz klar gegen IS und so.“.

Herr Integrationsbeauftragter nickt: „Hm, okay. So Arman, bitte“.

„Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz“, erkläre ich: „Könnten Sie vielleicht etwas präziser sein?“.

„Gerne werde ich ein wenig präziser!“, entgegnet er: „Wie begegnet man dem Thema in euren Familien und Gemeinden? Kennt ihr das auch privat, also, ähm, diese starke Sympathie mit dem IS?“.

„Also ich möchte erst einmal folgendes sagen: Das hat weder was mit dem Islam zu tun, noch mit modern, den verschiedenen Gemeinden, noch sonst was. Der Islam bezieht ganz klar Stellung, was das Ermorden von anderen Menschen anbelangt, nur weil diese nicht dieselbe Weltanschauung teilen. Und das egal ob man Ahmadiyya ist, Sunnit oder Schiit. Ich war in den Ferien in der Türkei, in Diyarbakir. Mein Opa, ist alles andere als das, was Sie als modern“, ich kann nicht anders, als das Wort höhnisch auszuspucken: „bezeichnen würden. Er ist 100 Prozent konservativ, betet fünfmal am Tag und liest jeden Tag im Koran. Sprechen Sie ihn mal auf IS an, der wird Ihnen dann eine Antwort geben, die Sie sprachlos macht“, ich sehe dabei auf meinen Tisch und nur gelegentlich zu Herrn Integrationsbeauftragter.

„Ich verstehe auch nicht, wieso ständig die Rede von Salafisten ist, wenn der Islam angesprochen wird.“.

„Ja ganz einfach“, erklärt er: „Weil die Salifsten-Problematik aktuell ist“.

Ich winke ab: „Ständig nur Salafisten oder Terroristen. Ich wette, keiner von uns weiß, was der Islam überhaupt ist. Das einzige, was alle immer wissen, und worüber alle reden wollen, sind irgendwelche Salafisten, wie Pierre Vogel, die mit ihrem bescheuerten Gerede Geld verdienen. Deshalb werde ich diesen Text auch nicht lesen! Schon früher war das so, in der achten, neunten und zehnten Klasse – einziges Thema waren die Salafisten und der Terrorismus. Und das finde ich wirklich traurig! Wäre es nicht produktiver, wenn wir erst einmal versuchen den Islam zu verstehen?“.

„Hier, Arman, jetzt leg mal eine Pause ein und beruhig dich. Das stimmt nicht so ganz, was du da sagst!“.

So ganz. Also ist da doch ein Fünkchen Wahrheit in meinen Vorwürfen. Doch um weiter darüber nachzudenken bin ich zu wütend. Seit Wochen hören wir Andeutungen, unterschwellige Seitenhiebe.

Und ich habe es satt. Es ist nicht nur er, von meiner Schwester und vielen anderen höre ich ähnliche Probleme mit anderen Lehrern.

„In der 10.Klasse ist im Lehrplan nicht einmal der Islam als solcher eingeplant. Da geht es mehr um Glück bzw. Glückseligkeit, zum Beispiel.“.

Umso bedenklicher, dass seltsamerweise trotzdem über den bösen Islam gesprochen wird, oder? „Und ich würde an dieser Stelle gerne das ganze beenden!“. „Herr Integrationsbeauftragter, ich möchte das aber nicht beenden. Sie haben uns gefragt, und hier haben Sie Ihre Antwort, wieso unterbrechen Sie mich? Wir hatten beim Herrn Wippman Unterricht in der 10.Klasse und, das können einige hier bezeugen, worüber haben wir ständig gesprochen? Richtig, Islam, und zwar über seine angeblichen Menschenrechtsverletzungen, welche Herr Wippman uns präsentiert hat und…“. „Das ist ja gut möglich…“.

„Herr Integrationsbeauftragter, könnten Sie bitte aufhören mich zu unterbrechen?“.

„Nein“. Ich sehe ihn verwundert an.

„Wie bitte? Also lassen Sie mich nicht ausreden?“.

„Nein“, antwortet er. Totenstille herrscht in der Klasse.

Ich glaube, meine Wut ist mir im Gesicht anzusehen, denn solch abruptes Abwürgen eines Schülers würde eigentlich zu vereinzelten Lachern oder mindestens Grinsen führen.

Diesmal nicht.

Dann meldet sich Kirsten. Herr Integrationsbeauftragter nimmt sie dran: „Arman, vielleicht solltest du ihn einmal ausreden lassen, bevor du dasselbe von ihm verlangst!“.

„Also Herr Integrationsbeauftragter…“, ich entscheide mich dafür, sie einfach zu ignorieren: „…ich finde Ihr Verhalten ziemlich respektlos. Ich wünsche mir auf jeden Fall ein Gespräch“.

„Gerne“.

„Sie geben ständig Kommentare ab, was mich langsam nervt! Schon letzte Woche, als Leon in seinem Referat über das Christentum gesagt hat, dass die Frauen früher in dieser Religion einen niederen Stellungswert haben, und ich sagte, dass ich in der trockenen Begründung „Sie haben sich um den Haushalt gekümmert“ das nicht erkenne, haben Sie angefangen von der Seite zu lachen und gesagt: Ja, war ja klar, dass das von dir kommt, ohne mir mal zuzuhören. Er hat nichts von Zwängen gesagt, welche es gegeben hat, und deshalb hat mir als Zuhörer die Begründung gefehlt. Nur weil eine Frau den Haushalt führt, heißt das noch lange nicht, dass sie unterdrückt wird“.

„Ach Arman, als ob du anders denkst.“.

„Wie meinen Sie das?“.

„Deine Mutter arbeitet doch auch nicht, sondern ist Zuhause, während dein Vater arbeitet, oder?“.

Ich starre ihn einen Moment lang an. Meine Hände zittern vor Wut. Ich habe das Gefühl, dass unter meiner Haut ein Feuer lodert. Doch ich reiße mich zusammen.

„1. Geht Sie das nichts an. 2. Wissen Sie ganz genau, dass meine Mutter sich mit Gesundheitswissenschaft befasst hat, und ihr Islamologie Studium abgebrochen hat, weil wir Zuhause ein Kleinkind haben. Keiner in meiner Familie zwingt meine Mutter Zuhause zu bleiben!“.

„Ja aber komm, sei mal ehrlich. Dein Frauenbild ist klar von meinem zu unterscheiden!“.

Ich beiße einmal mit den Zähnen hart aufeinander, dann öffne ich ein letztes Mal den Mund: „Wissen Sie, Sie haben einmal diese Grenze überschritten. Sie haben mir vorgeworfen, ausländische Mädchen zu verachten, sobald sie einen Deutschen als Partner nehmen. Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, dass Sie meinen Vater kennen und wissen müssten, aus was für einer Familie ich komme. Dann haben Sie gesagt, mein Vater hätte doch auch eine ausländische Muslimin geheiratet. Damals habe ich nichts gesagt. Aber jetzt reicht es mir. Wenn Sie es nicht verstehen wollen, dann kann mein Vater es Ihnen besser erklären.“.

„Ja, gut!“, antwortet er. Der Ekel, welchen Sartre so gut beschrieben hat, ist so stark, dass mir fast entgangen hätte, was für eine Wirkung mein letzter Satz hatte.

„Die Zeit ist um, deshalb bitte ich euch den Text Zuhause als Hausaufgabe zu lesen.“.

Interessant, wie schnell die Zeit dann doch vergangen ist.

„Ich werde ihn nicht lesen“, verkünde ich.

„Ich wünsche euch noch eine schöne Woche“, entlässt er uns.

Ich packe meine Tasche und ziehe meine Jacke an – aber alles mit langsamen Bewegungen, denn ich will nicht, dass er glaubt, dass ich ihm aus dem Weg gehen würde. Dann stampfe ich an ihm vorbei.

„Junge…!“, fange ich zu fluchen an, kaum dass wir den Raum verlassen haben, als mich jemand plötzlich am Arm berührt. Ich drehe mich herum, es ist Kirsten.

„Arman, was war denn da drin los?“. Ich sage nichts, denn ich weiß was sie sagen will. Vor Zwei tagen noch hatten wir in Geschichte über Herr Integrationsbeauftragter gesprochen. Da hatte sie mir gesagt, dass sie seinen Unterricht nicht leiden kann, und es ihr gewaltig auf die Nerven geht, dass er ständig mit mir diskutiert.

„Er will dich als provozieren, hab ich das Gefühl“, hatte sie gesagt.

Ob Mustafa oder Kirsten, mir ist es egal, mit wem ich fluche. Hauptsache ich mache meinem Ärger ein wenig Luft.

„Was sollte das eben eigentlich? Du bist so respektlos ihm gegenüber!“.

Ich sehe sie einfach nur an. Ich spüre nicht einmal das Verlangen, irgendetwas zu erwidern.

„Hallo, er ist dein Lehrer! Er ist eine Respektsperson!“. Nur das Bedürfnis, mich zu übergeben. Ja, das ist ziemlich stark, es droht sogar Überhand zu gewinnen.

Wie kann man sich erst darüber beschweren, dass der Lehrer einen selbst unterbricht und immer diskutiert? Und dann, wenn die betreffende Person dabei ist, sich für ein paar Noten verkaufen?

In dem Moment packt mich Mustafa und zieht mich weiter. „Komm Digga, lass schon mal unsere Sachen ablegen“. Ich bin ihm dankbar. Er hat die Situation entschärft, indem er mich mit sich zerrt und damit vermeidet, dass ich ausflippe und Herrn Integrationsbeauftragter einen Beweis für sein beschränktes Menschenbild gebe.

„Verdammt nochmal…“, ich verschaffe meinem Zorn ein wenig Luft.

„Beruhig dich mal, Digga!“, raunt Mustafa mir zu: „Aber du hast Recht! Junge wenn Enissa dumme Sachen sagt oder ihm als widerspricht, sagt er nichts, aber bei dir direkt so ‘ne Scheiße!“. Ich erwidere nichts.

„Junge die sind alle so islamfeindlich!“, schimpft Mustafa.