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Helena hatte nie etwas von dem wertvollen Erbe gewusst, das ihr nach dem Tod ihres Vaters zufällt – ein Diamant, der die dunkle Geschichte ihrer Familie widerspiegelt. Doch dieser Stein ist mehr als nur ein Vermächtnis. Er wurde in den 1960ern von ihrem Großvater aus Sierra Leone gestohlen und gehört der mächtigen Familie Jawara, die nun alles daran setzt, ihn zurückzuholen. In den Schatten der griechischen Straßen begibt sich Helena auf ein gefährliches Spiel, als die Phantoms, eine geheime Organisation, beauftragt werden, den Diamanten zu stehlen. Doch sie hat das Spiel durchschaut – sie hat den Diamanten so gut versteckt, dass er für die Phantoms unerreichbar bleibt. Was sie nicht erwartet: Die Phantoms sind nicht nur Gesichter hinter Masken. Helena erkennt sie an ihren einzigartigen Gerüchen, und langsam beginnt sie, sich von ihrer geheimnisvollen Aura verführen zu lassen. Aber je mehr sie sich in diese Welt begibt, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Jäger und Beute. Kann sie den Phantoms wirklich trauen, oder werden ihre dunklen Geheimnisse sie zerstören? Für diese Geschichte brauchst du keinen scharfen Blick, sondern einen feinen Geruchssinn – denn nicht immer sind es die Augen, die die Wahrheit erkennen. Ein fesselnder Roman voller Leidenschaft, Geheimnisse und unvorhersehbarer Wendungen. Bist du bereit, das Geheimnis zu lüften? Tropes: Enemies to Lovers | Slow Burn | Secrets and Lies | Complicated Relationships | Power Dynamics | Love Polygon
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Dark Phantoms
Diamonds don’t lie
Roman
Band 1
Marina Milutinov
Impressum
Marina Milutinov
c/o COCENTER
Koppoldstr. 1
86551 Aichach
1. Auflage, 2025
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzung, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, ist untersagt und kann zivil- oder straf-rechtlich verfolgt werden.
Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
© 2025 Marina Milutinov
Grafikdesign: Marina Milutinov
Bildmaterial: Envato und Kunstvision
Korrektorat: Selina Pierstorf
Instagram Autor: @marina.mi.autor
ISBN: 978-3-7592-8860-8
Dieser Roman enthält möglicherweise sensible Inhalte. Es enthält Themen wie Entführung, Gewalt und Blut, die sensible Leser triggern könnten.
Altersempfehlung: Ab 16 Jahren.
In diesem Buch wird bewusst auf Verhütungsmittel verzichtet. Dies spiegelt jedoch nicht die Empfehlung für das reale Leben wider. Verhütung ist wichtig, um sowohl vor ungewollten Schwangerschaften als auch vor Krankheiten zu schützen.
Dein Funkeln ist so brillant wie das des Diamanten, doch es blendet uns nicht. Wir wissen, dass du ihn besitzt, Aphrodite!
Helena
X. Ein einfaches X, umgeben von seltsamen Symbolen, Pfeilen und Zahlen. Das ist alles, was ich von meinem verstorbenen Vater geerbt habe. Ein Mann, den ich nie kennengelernt habe. Er soll vor Kurzem gestorben sein, hier in Athen. Wenn er wusste, wo seine Tochter lebt, warum hat er mich nie besucht? Warum wollte er mich nie sehen? Sollte sein armseliges Erbe mich trösten?
Mein Herz brennt vor Wut auf diesen Mann, der uns verlassen hat, als ich noch klein war. Der nicht einmal zur Beerdigung meiner Mutter kam. Verdammtes Arschloch! Und jetzt, nach seinem Tod, schickt er mir diesen lächerlichen Brief. Was soll das bedeuten? Kein letzter Gruß, keine Erklärung – nur eine Landkarte mit einem X und wirren Symbolen. Wer soll das verstehen? Wie hat er sich das vorgestellt? Soll ich ihn aus dem Grab holen und fragen?
Je länger ich auf diese Karte starre, desto mehr brodelt die Wut in mir. Ohne eine Erklärung, ohne einen Hinweis. Ich zerknülle das Papier und werfe es in den Müll. Seine Probleme sind nicht meine. Er war nie für mich da und ich brauche ihn jetzt auch nicht. Soll er doch ein zweites Mal verrecken.
Ich gehe zur Küche und bemerke im Vorbeigehen Schuhe an der Eingangstür, die nicht uns gehören. Naia, meine Mitbewohnerin, hat schon wieder Männerbesuch. Ich kann es kaum erwarten, mir ein eigenes Heim leisten zu können und nicht mehr ständig fremde Männer in der Wohnung zu haben. Ich habe längst den Überblick verloren, wie viele ihrer Lover schon hier waren. Vor allem muss ich immer auf mein Aussehen achten, da man ja nie weiß, wem man hier begegnet.
Ich atme ein paar Mal tief durch und nehme einen Schluck Wasser, um mich abzuregen. Danke, Vater, dass du mich nach deinem Tod nur noch mehr verärgerst. Nervös tippe ich mit dem Finger aufs Glas und starre den Boden an. Diese verdammte Landkarte. Ich will sie nicht, doch sie lässt mich nicht in Ruhe.
Mit einem Knall stelle ich das Glas ab und gehe zu Naias Tür. Dahinter höre ich ihr Stöhnen und will mir gar nicht vorstellen, was sie da machen. »Naia, kann ich mir dein Auto ausleihen?«
»Mach nur!«, antwortet sie keuchend, gefolgt von einem lauten Aufschrei.
»Ähm, und hast du noch die eine Schaufel, die du mal nach Hause gebracht hast?« Wozu auch immer sie die gebraucht hat.
Es entweicht ihr ein Stöhnen, bevor sie mir antwortet. »Wozu brauchst du eine Schaufel?«
»Nicht so wichtig. Hast du sie noch?«
»Sieh im Keller nach.«
Ärgert es mich, dass sie fast jeden Tag Sex hat und ich seit zwei Jahren keinen mehr hatte? Ja. Aber seit meiner letzten Beziehung kann ich mich schwer auf einen Mann einlassen. Danke an meinen Ex, Mihalis, der mich psychisch zerstört hat, sodass ich unfähig bin, mich auf jemanden einzulassen.
Ich ziehe die zerknitterte Landkarte aus dem Müll und trete in die kühle Nacht hinaus. Die Neugier hat letztendlich gesiegt. Wenn ich darüber nachdenke, muss es einen Grund geben, warum ich diesen Brief erst nach seinem Tod erhalten habe, oder? Der Gedanke, mitten in der Nacht in die Berge zu fahren und im Wald zu graben, wirkt absurd und beunruhigend. Plötzlich wird mir klar, wie verdächtig das ist – als würde ich eine Leiche vergraben.
Zum Glück ist der Wald nicht weit von der Stadt entfernt und ich komme rasch an. Mit Landkarte, Taschenlampe und Schaufel bewaffnet tauche ich in die dichten Bäume ein. Je weiter ich gehe, desto dunkler wird es. Habe ich Angst? Und wie! Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich werde herausfinden, was das alles zu bedeuten hat, und wehe, es ist ein Reinfall. Ansonsten mache ich meinem Vater die Hölle heiß, wenn er nicht schon dort ist. Aber selbst dann kann ich ihm den Aufenthalt noch schlimmer machen. Oh, ich kann ein richtiges Miststück sein, auch wenn der Preis dafür ist, dass ich ewig mit ihm da unten schmoren muss.
Nach zwanzig Minuten habe ich das Ziel noch immer nicht erreicht. Die Bäume werfen lange, zitternde Schatten, die im Wind zu tanzen scheinen. Das Rascheln der Blätter mischt sich mit dem kühlen Hauch, der zwischen den Ästen hindurchfährt und die Zweige sanft beugt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt in die richtige Richtung gehe. Vielleicht ist das Ziel gar nicht das X, sondern die Symbole führen mich dorthin. Aber ich weiß nicht, was sie bedeuten. Wie soll ich das entziffern? Wenn er mir wenigstens eine Anleitung hinterlassen hätte. Boah, echt. Hat er sich nicht etwas überlegen können, um mir diese Scheiße hier einfacher zu machen?
Nach weiteren zehn Minuten stehe ich zwischen den Bäumen, komplett orientierungslos. Das schwache Licht meiner Taschenlampe reicht nicht einmal bis zu den höchsten Ästen, die sich wie düstere Spitzen in den Himmel strecken. Panik steigt in mir auf und lässt mein Herz schneller schlagen. Ich drehe mich im Kreis und habe keine Ahnung mehr, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Der Gedanke, hier zu verharren, ist unerträglich. Ich werde hier verrecken. Wer soll mich finden? Wie soll ich überleben? Was soll ich essen oder trinken? Ein Schaudern durchläuft mich bei dem Gedanken, dass ich nicht einmal Wasser mitgenommen habe.
Ein plötzlicher Laut reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Körper spannt sich an, jede Faser bereit zur Flucht. Ich zucke zusammen. Woher kam das Geräusch? Rechts? Links? Hinter mir? Die Angst lähmt mich für einen Moment. Ein Wolf? Ein Bär? Mein Atem geht flach, während ich mich hektisch umdrehe und mit der Taschenlampe wild in alle Richtungen leuchte. Die Strahlen brechen an der Rinde der Bäume und tauchen das dichte Unterholz für einen Augenblick in Licht. Habe ich mir das nur eingebildet? Spielt meine Psyche mir einen Streich?
Langsam zwinge ich mich zur Ruhe, als ich erkenne, dass nichts zu sehen ist. Oder war da etwas und ist bereits verschwunden? Meine Knie zittern und ein kalter Schweiß bricht auf meiner Stirn aus. Jetzt muss ich raus hier, egal wie. Scheiß auf die Landkarte und was auch immer hier versteckt sein mag. Ich will nicht sterben. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so hilflos und verängstigt gefühlt. Die Dunkelheit scheint mich zu verschlingen und jede Sekunde, die verstreicht, fühlt sich an wie eine Ewigkeit.
Mit jedem Schritt hoffe ich, das Ende des Waldes zu sehen, die rettende Klarheit. Jeder Schatten erscheint mir wie eine Bedrohung, jede Bewegung lässt mich zusammenzucken. Ich muss raus, bevor meine Angst mich vollständig überwältigt.
Ich nehme mein Handy. Kein Netz. Natürlich. Was habe ich auch im tiefsten Wald erwartet? Am besten folge ich meinem Instinkt und gehe in die Richtung, aus der ich glaube, gekommen zu sein. Nach ein paar Schritten bleibe ich abrupt stehen, als das Licht meiner Taschenlampe kurz auf einen Baum trifft. Da ist etwas. Ich nähere mich vorsichtig dem Baum. Ein Symbol ist in die Rinde geritzt.
Sofort greife ich hektisch zur Landkarte und vergleiche es. Eines dieser Symbole ist genau dasselbe wie auf dem Baum. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich die Karte entziffern könnte. Ich studiere sie genauer und plötzlich wird mir klar: Die Symbole führen mich zum X.
Die Neugier und die wachsende Gewissheit, dem Ziel näher zu kommen, lassen meine Angst in den Hintergrund treten. Ich drehe dem Baum den Rücken zu und folge dem Pfeil neben dem Symbol auf der Karte. So gelange ich zum nächsten Symbol. Ich stelle mich wieder so hin, dass der Baum hinter mir ist, und folge dem nächsten Pfeil. Ich zähle meine Schritte, denn bei jedem Pfeil steht eine andere Zahl. So erreiche ich jedes Mal den Baum mit dem nächsten Symbol. Mir fällt auf, dass die Ritzen frisch sind. Wusste mein Vater, dass er sterben würde, und hat das noch schnell gemacht? Vielleicht war er todkrank. Oder hat er sich sogar das Leben genommen? Ich weiß nichts über seinen Tod oder sein Leben. Ich war nicht einmal auf der Beerdigung, weil ich den Brief heute erst bekommen habe. Die einzigen Informationen, die ich zur Landkarte bekommen habe, waren eine Nachricht, dass er gestorben sei und die Bestattung vor drei Tagen war. Punkt. Mehr hat man mir nicht gesagt. Ich weiß nicht einmal, wer mir den Brief gebracht hat. Er lag einfach in meinem Postfach. Meine Güte, Helena. Vielleicht verarscht dich einfach jemand. Vielleicht war es sogar Naia. Ich kann mir vorstellen, dass sie ungestörten Sex mit ihrem neuen Lover haben wollte. Dieses verstörende Bild hätte ich sowieso nicht sehen wollen. Sie hätte es mir auch einfach sagen können, dass ich gehen soll. Ich hätte es gemacht. Aber sie soll mich doch nicht in den Wald schicken und mich hier sterben lassen. Aber wenn ich darüber nachdenke, wäre Naia nie fähig dazu, so eine durchdachte Karte zu schreiben. Hm … dann war es wohl doch nicht sie.
Verarsche hin oder her. Wenn ich schon hier bin, dann ziehe ich es jetzt durch. Ich gehe weiter. Folge den Symbolen und Pfeilen, bis ich endlich zum Ziel komme. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, an welcher Stelle ich genau graben muss. Ich sehe mich am Boden um, sehe aber nichts. Kein X, kein Symbol, kein Pfeil. Nicht einmal frische Erde. Es sieht nicht so aus, als hätte hier jemand vor Kurzem etwas vergraben. Wenn die Einkerbungen frisch sind, dann sollte es die Erde auch sein, oder?
Es kann doch nicht sein, dass ich ans Ziel komme und nichts finde. Vielleicht sollte ich einfach auf gut Glück losgraben. Das wird ewig dauern, wenn ich nicht sofort die richtige Stelle treffe, aber was soll’s? Dann schaufle ich mir eben mein eigenes Grab, denn ich weiß sowieso nicht, wie ich zurückkomme.
Ich schlage die Schaufel in die Erde, will gerade anfangen, da bekomme ich eine Idee. Es könnte ja sein, dass ich falsch geschaut habe. Die Symbole waren bis jetzt immer auf den Bäumen, also könnte auch das X in einen Baum geritzt sein. Gut möglich, dass ich damit total falsch liege, aber ich könnte wenigstens nachschauen, bevor ich umsonst grabe.
Ich leuchte auf jeden Baum um mich herum, mustere sie von oben bis unten. Und tatsächlich. Ich finde ein X. Eines in Augenhöhe und eines unten. Dort, wo frische Erde liegt, die mir eben erst aufgefallen ist. Jackpot.
Die ersten paar Schaufelstiche sind noch einfach, aber schon bald spüre ich die Anstrengung in meinen Armen und meine Kraft lässt nach. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde. Bei anderen sieht das immer so leicht aus. Hoffen wir mal, dass es nicht zu tief ist.
Zehn Minuten später sitze ich erschöpft am Boden und das Loch ist immer noch winzig. Schweißgebadet und schwer atmend frage ich mich, wie ich nur vergessen konnte, Wasser mitzunehmen. Mein Mund ist so trocken. Ich wünschte mir, dass es regnet, damit ich wenigstens einen Tropfen auf meiner Zunge spüre.
Nach einer kurzen Pause setze ich meine Arbeit fort, immer wieder gezwungen, innezuhalten, um neue Kraft zu schöpfen. Als ich etwa einen Meter tief gegraben habe, stoße ich mit der Schaufel auf etwas Festes. Ich lege die Schaufel zur Seite und grabe mit den Händen weiter. Unter meinen Fingern spüre ich deutlich etwas Hartes. Schließlich ziehe ich eine kleine Box hervor. Sie ist unscheinbar, viereckig und schwarz. Ich kann kaum glauben, dass ich tatsächlich etwas gefunden habe. Erleichterung überkommt mich und Tränen laufen über meine Wangen. Ich wische sie weg, um wieder klar sehen zu können, und ziehe am Deckel der Box. Sie ist verschlossen.
Nein. Das kann jetzt nicht wahr sein. Endlich habe ich es gefunden und dann kann ich nicht einmal sehen, was drinnen ist? Ich drehe die Box um und entdecke ein integriertes Zahlenschloss. Was ist der Code? Ich nehme die Karte. Suche nach versteckten Zahlen.
»Da ist nichts!«, rufe ich verzweifelt.
Vielleicht sein Geburtsdatum? Wann hatte mein Vater Geburtstag? Ich weiß es nicht. Sein Todesdatum vielleicht? Wenn es Selbstmord war, dann wird er es gekannt haben. Aber wann ist er gestorben? Seine Beerdigung war vor drei Tagen. Wie lange nach seinem Tod wurde der Leichnam aufbewahrt? Ich nehme ein wahlloses Datum von letzter Woche. Falsch. Das kann er mir doch nicht antun. So kurz vorm Ziel und ich komme nicht weiter.
In meiner Verzweiflung schleudere ich die Box gegen einen Baum, in der Hoffnung, sie zu beschädigen. Doch nichts passiert. Nicht einmal eine Delle. Diese Box muss von hoher Qualität sein und wenn sie so robust ist, muss ihr Inhalt extrem wertvoll sein. Mir wird klar, dass ich sie mit Gewalt nicht öffnen werde. Sie ist bestimmt auch feuer- und wasserfest. Bis hierher hat er alles so sorgfältig geplant. Es muss irgendwo einen Hinweis auf den Code geben. Vielleicht auf einem der Bäume? Plötzlich trifft mich ein Geistesblitz.
Mit zitternden Händen tippe ich mein Geburtsdatum ein. KLICK! Die Box springt auf. Ich halte den Atem an, bevor ich den Deckel vorsichtig öffne. Die Angst vor dem, was mich erwartet, lähmt mich, und ich weiß nicht einmal, warum.
Drinnen finde ich einen Brief und eine weitere Box. Ich öffne sie und dann sehe ich das Funkeln. Mit der Taschenlampe leuchte ich darauf und tausend Farben tanzen in alle Richtungen. Der Anblick ist atemberaubend. Der Diamant ist so groß und perfekt, dass ich meinen Blick nicht abwenden kann. Seine kristallklare Oberfläche fängt das Licht ein und reflektiert es in einem Spektrum von Regenbogenfarben, die wie Sternenstaub durch die Dunkelheit glitzern. Jede Facette scheint mühsam geschliffen zu sein, um diesen Edelstein in seiner ganzen Pracht erstrahlen zu lassen. Die Reinheit und Brillanz dieses Steins rauben mir den Atem. Ich habe noch nie etwas so Faszinierendes und Kostbares in meinen Händen gehalten.
Jetzt wird mir klar, warum die Box ihren Inhalt so gut schützen muss. Warum sie tief im Wald vergraben ist und warum die Karte voller versteckter Symbole ist. Diesen Schatz darf niemand finden … außer mir.
Ich schließe den Deckel und lege den Diamanten zurück in die große Box. Mein Atem stockt noch immer und mein ganzer Körper zittert. Unfassbarer Reichtum. Dieser Diamant ist Millionen wert. Ich bin Millionärin. Ich, die kleine Angestellte einer Postfiliale mit einer triebgesteuerten Mitbewohnerin. Endlich kann ich mir eine eigene Wohnung leisten und ungestört schlafen. Was sage ich, eine Wohnung? Ich kann mir eine verdammte Villa kaufen. Sogar mehrere. Ein Auto! Endlich kann ich mir ein Auto leisten. Vorausgesetzt, ich komme lebend aus diesem Wald heraus.
Ich nehme den Brief und öffne ihn. Die Erleichterung, eine Nachricht von meinem Vater zu erhalten, ist überwältigend. Nach der Tortur hoffe ich, Antworten zu bekommen.
Liebe Helena, meine geliebte Tochter,
es tut mir unendlich leid, dass ich dich nicht aufwachsen sehen konnte. Es tut mir leid, dass ich euch so früh verlassen musste. Ich bin nicht ohne Grund gegangen. Ich habe deine Mutter über alles geliebt. Und dich auch. Bevor ich dir alles erkläre, sollst du wissen, dass im Umschlag ein Plan ist, der dir den Weg aus dem Wald zeigt. Ja, es ist verdammt schwer, da wieder rauszukommen, aber wie du siehst, musste ich ein sehr gutes Versteck finden. Es war mir nicht möglich, dir den Diamanten persönlich zu überreichen. Das wäre zu gefährlich gewesen. Ich wollte dich nicht auch noch in Gefahr bringen.
Aber kommen wir zur Sache. Der Diamant gehörte deinem Großvater Yuri und nach seinem Tod habe ich ihn bekommen. Auf den folgenden Seiten erzähle ich dir seine Geschichte, damit du alles verstehst.
Helena
Mein Vater hat geschrieben, dass ich den Diamanten nicht sofort verkaufen soll. Er rät mir zu warten, bis etwas Zeit vergangen ist, weil es momentan zu gefährlich sei, ihn loszuwerden. Er möchte nicht, dass ich dadurch in Gefahr komme. Er hat jahrelang anonym gelebt, als hätte er nicht existiert. Er hat uns verlassen, nur um uns zu schützen – alles wegen des verfluchten Diamanten. Die Familie Jawara wusste, dass mein Großvater einen Sohn hatte, und so war mein Vater von Anfang an in Gefahr. Doch da er meine Mutter nie geheiratet hat und ich nicht seinen Nachnamen trage, ahnt niemand, dass ich seine Tochter bin. Ich bin die Erste, die von diesem Reichtum profitieren könnte. Ich bin die Einzige, die den Diamanten verkaufen kann, ohne dass die Familie Jawara etwas ahnt.
Jedoch muss ich klug handeln und auf meinen Vater hören. Ich muss mich gedulden. Ein Jahr oder so. Dann kann ich ihn verkaufen. So etwas Wertvolles ist in meiner Wohnung nicht sicher. Vor allem nicht neben Naia und ihrem wechselnden Männerbesuch. Also habe ich mir etwas einfallen lassen. Es gibt ein Versteck, wo ihn niemand finden wird. Bei Maria. Sie lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Athen. Als mein Vater uns verlassen hat, hat sie meine Mutter und mich aufgenommen. Als dann auch noch meine Mutter gestorben ist, hat Maria mich aufgezogen. Auch wenn ich nicht mit ihr verwandt bin, sehe ich sie wie meine Großmutter. Seitdem ich in die Stadt gezogen bin, besuche ich sie regelmäßig. Sie freut sich jedes Mal, wenn sie mich sieht.
»Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst? Dann hätte ich etwas zu essen vorbereitet«, tadelt Maria mich.
»Ich bin gekommen, um dich zu sehen, Oma. Essen kann ich auch bei mir zu Hause.«
»Und was isst du dort, wenn du so dünn bist? Haben die in der Stadt nichts Vernünftiges?«
Wir sitzen auf ihrer Terrasse und ich blicke gedankenverloren aufs Meer. »Mir geht es gut. Wirklich.« Ich kann ihr nicht sagen, dass ich den Diamanten bei ihr verstecken möchte. Erstens wird es sie aus der Ruhe bringen, wenn sie weiß, dass sie so einen wertvollen Schatz bei sich hat. Zweitens: Sollte mal jemand ahnen, wo er sein könnte, dann soll sie sich nicht selbst verraten. Sie ist eine schlechte Lügnerin. »Oma, ich hatte früher so eine Puppe, eine Meerjungfrau. Ist die noch in meinem Zimmer?«
»Du weißt, dass ich deine Sachen nicht anrühre. Alles steht so, wie du es hinterlassen hast.«
»Ich bin gleich wieder da.« Ich stehe auf.
»Alles okay, Liebes?«
»Ja, klar. Ich muss nur etwas nachschauen.«
In meinem Zimmer ziehe ich die Kiste unter meinem Bett heraus. Drinnen liegen meine alten Spielsachen. Ich muss nicht lange suchen, bis ich die Puppe finde. Ich entferne die Flosse vom Oberkörper und stopfe die Box mit dem Diamanten in ihren Bauch. Es ist eine größere Puppe, somit gibt es genug Platz. Ich weiß, das ist nicht das ideale Versteck, aber etwas Besseres habe ich nicht. Maria rührt meine Sachen nicht an und Diebe würden sich nicht für alte Spielsachen interessieren. Vielleicht liege ich falsch mit meiner Vermutung, aber vielleicht ist es auch einfach nur genial.
Den restlichen Tag verbringe ich bei Maria, bis es dunkel wird. Ich erzähle ihr, dass ich in nächster Zeit nicht mehr so oft kommen kann, weil ich einen Zweitjob angenommen habe. Anrufen kann ich sie auch nicht, da sie kein Telefon besitzt. So stelle ich sicher, dass sie sich keine Sorgen macht, wenn ich sie für längere Zeit nicht besuchen komme. Auf diese Weise kann ich auch mögliche Spuren zu ihr verwischen, denn es gibt keinen direkten Weg zu ihr. In meinen offiziellen Dokumenten steht nichts darüber, dass ich hier gelebt habe. Erst als ich nach Athen gezogen bin, bin ich zum ersten Mal an einem festen Wohnsitz gemeldet.
Ich verabschiede mich von ihr mit einer Umarmung und setze mich in Naias Auto. Die ganze Fahrt denke ich darüber nach, ob das mit der Puppe eine gute Idee war. Hätte ich eine bessere Wahl gehabt? Wohl kaum. Außerdem: Welcher Dieb würde sich schon für Marias Haus interessieren. Es ist klein, alt und hat dringend eine Renovierung nötig. Es ist offensichtlich, dass Maria nicht wohlhabend ist und dass es bei ihr nichts zu finden gibt. Und welcher Dieb sieht schon die Puppen an? Oder? Zweifel melden sich. Was, wenn der Dieb genau so wie ich denkt? Ich schüttle meinen Kopf. Warum denke ich überhaupt darüber nach? Es gibt keinen Dieb und wird es auch nicht geben, denn Marias Haus ist uninteressant. Sie lebt da schon Jahrzehnte und nie ist etwas passiert. Es ist gut, was ich gemacht habe. Es gibt kein besseres Versteck. In meiner Wohnung wäre es zu riskant gewesen.
Ich parke das Auto und steige aus. Der Diamant ist sicher, wiederhole ich innerlich immer wieder. Ich gehe über die Straße und bin so in Gedanken versunken, dass ich das Auto nicht rechtzeitig sehe. Es hupt und ich erstarre. Im nächsten Moment packt mich jemand von hinten und zieht mich von der Straße.
»Danke«, sage ich und will mich zu der Person umdrehen.
So schnell kann ich gar nicht reagieren, da bekomme ich ein Tuch über Mund und Nase gedrückt und alles wird dunkel.
Geräusche. Ich höre Geräusche um mich herum. Sie werden lauter und kommen näher, als würde ich aus einem tiefen Tunnel auftauchen. Ein stechender Schmerz zieht sich durch meinen Nacken. Ich versuche, meinen Kopf zu heben, doch er bleibt schlaff zur Seite geneigt, als ob er zu schwer für den Rest meines Körpers wäre. Die Muskeln an meinem Hals ziehen sich zusammen, als würden sie mir zurufen, dass ich mich endlich bewegen soll. Mein Körper fühlt sich an, als hätte er diese unbequeme Haltung schon eine Ewigkeit lang ertragen. Ich will meine Augen reiben, aber ich kann meine Arme nicht bewegen. Oder doch? Irgendetwas hält sie zurück. Panik steigt in mir auf. Etwas umklammert meine Handgelenke. Handschellen? Seile? Was ist hier los? Blinzelnd öffne ich meine Augen. Das Licht tut meinen Augen weh, obwohl es nicht grell ist. Ich sehe Beine. Von mehreren Personen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Es sind sechs. Langsam hebe ich meinen Kopf. Meine Sicht wird klarer und das Verschwommene verschwindet. Ich bin in einer verlassenen Halle.
Ich zucke zusammen. Sie sehen mich alle an, aber ich kann ihre Gesichter nicht erkennen. Jeder von ihnen trägt eine schwarze Maske. Diese Masken sind glatt und glänzend, bedecken das gesamte Gesicht und lassen nur die Augen frei. Sie sind aus einem festen Material gefertigt, das keine Emotionen preisgibt. Die tiefschwarze Farbe schluckt das Licht, was die Träger noch bedrohlicher wirken lässt. In diesem Moment wirken sie wie gesichtslose Schatten, unergründlich und unheimlich. Ihre Körperhaltung ist straff, mächtig und dominant. Die Hände halten sie hinter dem Rücken. Es ist beängstigend und zugleich bewundernswert und attraktiv. Doch die Tatsache, dass ihre Gesichter verborgen sind, verleiht der Situation eine geheimnisvolle Aura.
»Wer … seid ihr?«, murmle ich.
Stille. Keiner antwortet.
»Wer seid ihr?«, frage ich erneut. Meine Stimme zittert leicht, aber ich versuche, lauter zu sprechen.
Wieder keine Antwort.
Ich weiß, dass sie mich schon beim ersten Mal gehört haben. Langsam kehren meine Kräfte zurück. »Wollt ihr mich verarschen?«
Der dritte von rechts neigt den Kopf. »Wo ist er?«
»Wer?«
»Du weißt, wovon ich spreche.«
»Wenn ich es wissen würde, dann würde ich nicht fragen, du Idiot.« Ich weiß nicht, ob ich zu viel Betäubungsmittel intus habe, um den Mut aufzubringen, frech zu sein.
»Böses Mädchen.«
»Was zur Hölle wollt ihr von mir?«
Der zweite von links macht einen Schritt nach vorn. »Wir diskutieren nicht. Sag uns, wo der Diamant ist!«
Ich schlucke schwer, mein Herz rast. Eine Welle der Panik überrollt mich, als ich realisiere, dass er vom Diamanten weiß. Meine Gedanken wirbeln durcheinander und ich spüre, wie sich kalter Schweiß auf meiner Stirn bildet. Wie kann das sein? Woher hat er diese Information? Angst und Verwirrung mischen sich in mir, während ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Magen zieht sich zusammen und ich fühle mich, als würde ich jeden Moment zusammenbrechen.
»Du sagst, wo er ist, wir holen ihn und lassen dich frei. Sei brav, spiel mit und dir wird nichts passieren.«
»Ein Diamant? Würde ich in meiner lächerlichen Wohnung sitzen, wenn ich einen Diamanten hätte?«
Er dreht seinen Kopf erst nach links, dann nach rechts und lässt dabei seinen Nacken knacken. »Du reizt meine Nerven, Kleines.«
»Klingt eher, als hättest du ein Geduldsproblem.« Ich habe wirklich keine Ahnung, woher dieser Mut plötzlich kommt. Eher Todesmut.
Er ballt seine Hände zu Fäusten und kommt auf mich zu.
Der andere Kerl, der vorhin gesprochen hat, stellt sich neben ihn und streckt seinen Arm aus, sodass er ihn aufhält. »Du hast wirklich ein Geduldsproblem. Das weißt du.«
»Sie soll endlich reden. Wir wissen doch alle, dass sie lügt. Das ist pure Zeitverschwendung.«
»Lass mich das regeln.« Er stellt sich vor mich und beugt sich zu mir hinunter. Mit einer Hand stützt er sich an der Lehne des Stuhls ab. »Glaubst du, wir sind kleine Möchtegerngangster? Die keine Ahnung haben, was sie hier machen?«
Er ist so nah an meinem Gesicht, dass ich mich kaum auf seine Worte konzentrieren kann. Ich beobachte ihn so gut es geht, aber seine Maske lässt nur wenig erkennen – nur seine Augen unter dem Schatten der Maske. Augen, die mich fixieren und mit ihrem Blick völlig einschüchtern. Ich weiß nicht, wie er aussieht, aber ich kann ihn riechen. Nicht nur sein Parfüm, sondern seinen eigenen Duft. Ein berauschender Geruch, der so intensiv ist, dass mein Körper bis in die Fingerspitzen prickelt. Ein warmes, erdiges Aroma, das an Holz oder Wald erinnert.
Mein Geruchssinn war schon immer außergewöhnlich gut, und ich habe immer sensibel auf Gerüche reagiert, aber noch nie hat mich ein Duft so in Ekstase versetzt. Es ist, als würde sein Geruch mich beherrschen.
»Du wärst nicht hier, wenn wir nicht wüssten, dass du ihn hast«, fährt er fort. »Unterschätze unsere Fähigkeiten nicht. Wir sind Profis auf unserem Gebiet und wissen, dass du ihn versteckt hast. Wir wissen nur noch nicht wo, aber auch das werden wir herausfinden. Wir haben unsere Methoden, die uns zur Wahrheit bringen.«
Der Duft umhüllt mich wie ein Schleier und lässt mein Herz vor Angst und Anspannung schneller schlagen. Es ist merkwürdig, wie dieser Geruch eine Art von Erregung in mir auslöst. Der Adrenalinschub und die Intensität des Moments schärfen meine Sinne, während mein Atem flacher wird. Sein Blick fällt auf meine Lippen und ich sehe ein Funkeln in seinen Augen … Verlangen? Überraschung? Dieser Duft, so unwirklich und betörend, bringt mich aus der Fassung. Es ist, als hätte er eine Macht über mich, der ich kaum widerstehen kann. In diesem Moment will ich ihm einfach alles sagen, ihm gehorchen, ihm den Diamanten geben, aber ich weiß, dass ich stark bleiben muss.
»Wolltest …« Meine Stimme verstummt für einen Augenblick. »Wolltest du nicht etwas sagen?«
Er sieht mich wieder an. Für ein paar Sekunden halten wir schweigend Blickkontakt, ehe er sich aufrichtet und sich von mir entfernt. »Du wirst uns nicht los, bis wir ihn gefunden haben. Also erspar uns allen den Scheiß und sag uns einfach gleich, wo er ist.«
Ich zucke mit der Schulter. »Es tut mir leid. Ich habe keinen Diamanten.«
»Vielleicht sollten wir sie foltern«, höre ich eine weibliche Stimme hinter mir.
Ich drehe meinen Kopf nach hinten. Eine Frau, ebenfalls mit einer Maske, sitzt auf einem Stuhl. War sie die ganze Zeit schon da? Hat sie alles mitgehört?
Sie steht auf und kommt zu uns. Jedoch stellt sie sich nicht zu ihnen, sondern neben mich und sieht die Männer an. »Tun wir es einfach, dann bringen wir es schneller hinter uns.«
»Seit wann stehst du auf Folter?«, kontert der ungeduldige Typ. »Du gehst dem immer aus dem Weg und jetzt willst du es gerade bei ihr machen?« Er zeigt auf mich. »Bei so einem zierlichen und schwachen Opfer?«
»Hey, ich bin nicht schwach. Und ein Opfer bin ich auch nicht. Ich bin nur zierlich.«
Trotz Maske kann ich sehen, wie sie ihre Augen verdreht. Es wirkt so, als würden die zwei sich nicht mögen. »Gerade weil sie schwach ist, können wir mit ihr machen, was wir wollen.«
»Noch einmal: Ich bin nicht schwach«, mische ich mich wieder dazwischen.
Sie wendet sich mir zu. »Du bist hier diejenige, die gefesselt auf einem Stuhl sitzt, oder?«
Gerade als ich ihr meine Meinung ins Gesicht spucken möchte, kommt mir der ungeduldige Kerl dazwischen.
»Du verfolgst nur deine Interessen. Hast du Angst, dass sie dir deinen Freund ausspannt?«
»Genug, ihr zwei«, unterbricht sie der holzig duftende Typ. »Haltet euch zurück. Wir haben gerade Wichtigeres zu tun als euren Kindergartenscheiß.«
Also foltern sie auch? Großartig. Wirklich großartig, dass ausgerechnet ich an solche Psychopathen geraten bin. Aber mir ist sofort klar, warum sie es bei mir nicht tun. Jedenfalls noch nicht. Sie denken, ich sei schwach – ein leichtes Opfer, das sie auch ohne Folter zum Reden bringen können. Sie brauchen mich lebend, um an den Diamanten zu gelangen. Tot nütze ich ihnen nichts. Aber was passiert, wenn sie ihn finden? Wäre das mein Ende?
»Wer seid ihr überhaupt?«, frage ich. »Und warum versteckt ihr euch hinter den Masken? Seid ihr so hässlich, oder was?«
Alle Köpfe drehen sich in meine Richtung. Stille.
»Was? Ich frage ja nur.«
»Man sollte ihr das Maul stopfen«, sagt die Frau.
»Dir auch«, kontert der Ungeduldige.
»Jetzt lass sie endlich in Ruhe.« Zum ersten Mal meldet sich einer von den Typen im Hintergrund. »Konzentriere dich jetzt auf Helena.«
Schockiert starre ich sie alle an. »Ihr kennt meinen Namen?«
»Natürlich. Was hast du gedacht?«, antwortet der Gutriechende. Höre ich ein selbstgefälliges Grinsen in seiner Stimme oder bilde ich mir das nur ein?
»Dann wäre es doch fair, wenn ich auch eure Namen kennen würde. Findet ihr nicht?«
»Du willst wissen, wie wir heißen.« Dieses Mal ist sein Lachen deutlich zu hören. »Na gut.«
Er und der Ungeduldige kehren zurück und reihen sich bei den anderen Männern ein. Im nächsten Moment verlieren sie sich im Durcheinander, gehen nach links und rechts. Ich kann nicht mehr sagen, wer wer ist. Ihre Kleidung ist identisch, alle in Schwarz. Und dann beginnt es.
»Kyrill.«
»Costa.«
»Xeno.«
»Eneas.«
»Zenon.«
»Ares.«
Jeder sagt seinen Namen. Aber ich weiß nicht, aus welcher Richtung es kommt, da sie sich bewegen und ich ihre Münder nicht sehen kann. Unter den Masken hören sich die Stimmen fast gleich an. Dumpf und undeutlich. Schlussendlich bleiben sie alle stehen. So wie am Anfang. Mir zugewandt und die Hände hinter dem Rücken. Ich weiß nicht, wer welchen Namen gesagt hat. Nichts. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir alle Namen merken konnte, denn ich habe mich zu sehr darauf konzentriert, zu erraten, wer gerade spricht. Aber es ging alles so schnell, dass mein Hirn dem nicht folgen konnte. Und die Frage ist: Haben sie überhaupt ihre echten Namen gesagt? Sie spielen mit mir mit einer so beeindruckenden Leichtigkeit, bringen mich völlig aus der Fassung. Nur die Frau hat bei dem Verwirrspiel nicht mitgemacht, das wäre zu offensichtlich gewesen.
»So, jetzt kennst du unsere Namen«, sagt einer von den Männern. Vergeblich versuche ich, zu erraten, wer das ist. Er kommt zu mir, beugt sich zu mir hinunter. »Wir beenden das für heute.«
Sein Geruch. Es ist nicht der eine Mann von vorhin, aber er duftet genauso gut. Würzig wie frisch gemahlener Pfeffer, gefolgt von einer warmen, süßen Note, die an Zimt oder Muskatnuss erinnert. Doch bevor mein Körper darauf reagiert, legt er ein Tuch über meinen Mund und meine Nase und alles wird wieder schwarz.
Helena
Mein Wecker klingelt und ich werde wach. Noch bevor ich die Augen öffne, strömen die Erinnerungen zurück: eine verlassene Halle, Masken, sechs Männer, ihre Düfte und eine Frau.
Schlagartig öffne ich meine Augen und richte mich auf. Mein Bett. Mein Zimmer. Ich bin zu Hause? Aber wie? Gerade eben bin ich noch in einer Halle gewesen, gefesselt an einem Stuhl. Wie komme ich hierher? Wo sind die maskierten Männer? War das alles nur ein Traum? Scheiße, war ich auf Drogen? Ich nehme keine Drogen. Hat sie mir jemand untergejubelt? War es einer von Naias Männern? Immerhin sind das alles Fremde und wir kennen keinen von denen wirklich gut.
Während ich all das verarbeite, mache ich mich für die Arbeit fertig und breche auf. Da es nicht weit von zu Hause ist, gehe ich immer zu Fuß – das spart Geld. Doch meine Gedanken kreisen ständig um den merkwürdigen Traum. Ich bin mir sicher, dass es nur ein Traum war. Anders kann ich es mir nicht erklären, immerhin bin ich in meinem Bett aufgewacht. Aber warum fehlt mir ein Teil meiner Erinnerung? Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich nach Hause kam und die Straße überqueren wollte. Jemand hat mich von hinten gepackt und vor einem Auto gerettet, das ich übersehen hatte. Warum kann ich mich nicht mehr an meinen Retter erinnern? Warum fehlt mir der Abschnitt, als ich in meine Wohnung ging? Liegt es am Schock? Ich habe gehört, dass man in solchen Momenten Erinnerungen verlieren kann. Vielleicht ist das bei mir der Fall. Ich habe mich zu sehr erschrocken, als das Auto auf mich zukam. Schade, denn jetzt weiß ich nicht einmal, wer mich vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt hat.
Doch ein seltsames Gefühl bleibt in mir. Sicher, die ganze Sache war nur ein Traum, aber warum fühle ich mich so intensiv beobachtet? Spielt meine Psyche verrückt? Ich schaue über meine Schulter. Niemand folgt mir. Ich blicke umher. Niemand wirkt verdächtig. Autos und Busse fahren vorbei, Menschen schlendern über den Bürgersteig. Jeder geht seinen eigenen Weg, niemand schenkt mir Beachtung. Alle sind in ihrer eigenen Welt. Die meisten sind auf dem Weg zur Arbeit, andere bringen ihre Kinder zur Schule. Eine junge Frau trifft ihre Freundin und umarmt sie herzlich. Ein Barbesitzer steht draußen, zündet sich eine Zigarette an und genießt die Ruhe, bevor der Stress beginnt. Eine Mutter schiebt einen Kinderwagen und hält gleichzeitig die Hand ihres anderen Kindes, das neugierig in den wolkenlosen Himmel schaut. Alles wirkt normal. Es war nur ein blöder Traum. Ich sollte aufhören, mir diese unnötige Panik einzureden. Tief durchatmen, mich beruhigen. Bald bin ich bei der Arbeit, die mich ablenken wird, und dann ist alles vergessen.
Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter, während ich Gänsehaut bekomme. War da gerade jemand mit einer schwarzen Maske? Ich habe doch eben jemanden hinter der Bushaltestelle gesehen, der mich beobachtet hat. Aber wo ist er jetzt? So schnell kann man doch nicht verschwinden! Langsam werde ich wahnsinnig, ich lande noch in der Psychiatrie. Warum sollte jemand mitten am Tag mit einer Maske herumlaufen? Die Männer könnten mich auch ohne Masken beobachten, ich würde sie sowieso nicht erkennen. Ich kenne ihre Gesichter ja nicht! Natürlich nicht, weil es nur ein Traum war. Sie existieren nicht. Punkt.
Während der Arbeit schaffe ich es, mich bestmöglich abzulenken. Ich bin erleichtert, als ich endlich nach Hause gehen kann, denn dann dauert es nicht mehr lange, bis dieser furchtbare Tag vorbei ist. Es ist erstaunlich, wie sehr sich ein einziger Traum so tief in die Psyche einbrennen kann.
Als ich die Wohnung betrete, höre ich Stimmen aus der Küche. Naia hat mal wieder einen Mann mitgebracht. Jedes Mal ist es ein Rätselraten, ob es derselbe wie beim letzten Mal oder schon wieder ein Neuer ist. Ich betrete unsere kleine Küche, wo sie auf seinem Schoß sitzt. Ihr Oberkörper verdeckt sein Gesicht, sodass ich ihn nicht erkennen kann. Ich vermute, es ist der vom letzten Mal. Wie hieß er noch gleich? Kalin? Deion? Ich weiß es nicht mehr. Es sind einfach zu viele Namen, um sie alle im Kopf zu behalten.
»Helena, du bist ja schon da.«
»Ja, wie immer um die Uhrzeit.«
Naia und ihr Besuch stehen auf. »Darf ich vorstellen? Symeon«, sagt sie, zeigt auf ihn und wendet sich ihm dann zu. »Das ist Helena, meine Mitbewohnerin.« Sie hat schon immer die Angewohnheit, ihre Bekanntschaften höflich bei mir vorzustellen – auch wenn ich nicht unbedingt scharf darauf bin, sie alle kennenzulernen.
»Freut mich.« Symeon reicht mir die Hand.
Ich starre ihn an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Wie schön kann ein Mann sein? Naia hat schon vieles hergeschleppt, aber dieser Mann … Wow, der toppt sie alle.
»Helena?«, reißt mich Naia aus meinen Gedanken.
»Ähm, ja.« Ich schüttele seine Hand und der Kontakt jagt förmlich Stromschläge durch meinen Körper. Spürt er das auch? »Ich bin Helena. Freut mich.« Dieses Mal freut es mich wirklich.
Wir halten unsere Hände sogar ein paar Sekunden länger als üblich, bis Naia spricht. »Ich habe Pizza bestellt und für dich gleich mit. Setz dich. Sie sollte jeden Moment ankommen.«
»Danke.« Ich nehme Platz. Symeon sitzt mir gegenüber und Naia links von ihm. Meine Augen wollen immer wieder in seine Richtung blicken, jedoch kämpfe ich dagegen an. Es wäre mir unangenehm, wenn sie mitbekommen würden, wie vernarrt ich in sein Aussehen bin. Nur im Augenwinkel nehme ich sein schwarzes Haar und die bernsteinfarbenen Augen wahr. Wie gern würde ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge vergraben und seinen Duft inhalieren. Ich weiß nicht, wie er riecht, aber bestimmt atemberaubend.
»Wie war dein Tag?«, fragt mich Naia.
»Gut. Und deiner?«
»Stressig. Wie es halt so bei mir in der Arbeit ist.«
Aus meinem Portemonnaie nehme ich Geld heraus und reiche es ihr. »Für die Pizza.«
Sie arbeitet in einem Supermarkt und hat selbst kaum Geld, also teilen wir es immer. Man kann uns nicht als Freundinnen bezeichnen, aber wir kommen gut miteinander aus … meistens.
»Nicht nötig. Symeon hat schon online bezahlt.« Es klingelt und sie springt auf. »Ich geh schon.«
Sie lässt uns allein und eine unangenehme Stille breitet sich aus, während ich das Geld wieder einstecke. Symeon sieht mich an, doch ich kann kaum Blickkontakt halten.
»Ähm, danke für die Pizza«, sage ich, bemüht, die peinliche Situation irgendwie zu retten. Doch er wirkt vollkommen unbeeindruckt, als wäre ihm nichts unangenehm. Wahrscheinlich liegt es nur an mir, weil ich einfach nicht weiß, wie ich mich in seiner Nähe verhalten soll. Als wäre ich ein unerfahrener Teenager. Verflucht, Helena, reiß dich zusammen!
»Nichts zu danken. Mach ich doch gerne.« Seine Stimme. So. Verdammt. Schön.
Wieder Stille.
Ich lächle verlegen. Sehe ihn kurz an und wieder weg.
»Du arbeitest bei der Post.«
Jetzt gelingt es mir endlich, den Blickkontakt zu halten. »Woher weißt du das?«
»Naia hat es mir gesagt.«
»Ihr habt über mich gesprochen?«
Er zuckt mit der Schulter. »Warum nicht?«
Also die Männer kennen eher ihr Stöhnen als ihr Reden. Aber das behalte ich lieber für mich. »Ach, nur so.«
»Findest du nicht, dass du es wert bist, über dich zu sprechen?«
Perplex starre ich ihn an. Was wird das gerade?
»Also ich finde schon«, setzt er fort.
Ich schlucke schwer und kann nicht einordnen, wohin diese Unterhaltung führt. Flirtet er mit mir?
»Pizza ist da.« Naia kommt herein und stellt die Kartons auf den Tisch. Sie setzt sich und bevor sie mit dem Essen anfängt, gibt sie Symeon einen Wangenkuss.
Etwas regt sich in mir. Ist es Eifersucht? Es missfällt mir, eine Frau in seiner Nähe zu sehen, doch ich habe kein Recht, so zu empfinden. Ich kenne ihn erst seit ein paar Minuten und er ist ja eigentlich wegen ihr hier, nicht wegen mir. Dennoch lässt mich die Frage nicht los, was wohl geschehen wäre, wenn wir länger allein geblieben wären.
Während wir essen, herrscht Stille, bis Naia schließlich das Wort ergreift. »Wo warst du letzte Nacht?«
Ich blicke zwischen den beiden hin und her. Sie sehen mich an und warten auf eine Antwort.
»Ich war zu Hause. Wo sonst?«
»In deinem Zimmer warst du nicht. Jedenfalls nicht, als ich nach Hause gekommen bin, und das war spät.«
Ich war doch hier, oder? Ich hatte diesen merkwürdigen Traum und bin in meinem Bett aufgewacht. Natürlich war ich in meinem Zimmer. »Ich bin auch spät nach Hause gekommen. Wir haben uns bestimmt verpasst.«
»Aber dann hätte ich doch gehört, dass du wieder da bist. Ich konnte lange nicht einschlafen.«
»Verheimlichst du etwas, Helena?« Symeon grinst und zwinkert mir zu. Was möchte er damit andeuten?
»Ich stampfe mitten in der Nacht nicht wie ein Elefant herum. Natürlich konnte man mich nicht hören. Außerdem bin ich heute Morgen in meinem Bett aufgewacht.«
»Allein?«, fragt Symeon.
Das kann jetzt nicht sein Ernst sein, oder? Er wird doch nicht vor Naia mit mir flirten. Das geht nicht. Ich meine, ihr wäre es egal, solange sie ihren Spaß bekommt, aber trotzdem. Ich kann das nicht.
»Wer hätte da sein sollen?«
Er zuckt mit der Schulter. »Weiß nicht. Das musst du wissen, wen du in dein Bett lässt.«
»Niemanden. Ich war allein«, fauche ich.
»Ich meine ja nur. Wenn jemand bei dir gewesen wäre, dann könnte die Person sagen, was du letzte Nacht gemacht hast, falls du es nicht mehr weißt.« Er hebt seine Hände. »Das war nur nett gemeint.«
Ich bin so eine Idiotin. Ich sollte aufhören, ständig etwas in seine Sätze hineinzuinterpretieren.
Naia lacht. »Ach, Symeon. Du kennst Helena nicht. Seitdem ich sie kenne, habe ich sie mit nur einem Mann gesehen und das war ihr Ex, der Trottel. Das ist übrigens zwei Jahre her.«
Symeon hebt eine Augenbraue und sieht zu mir. »Wow. So lange?«
»Können wir jetzt das Thema wechseln?«, beschwere ich mich. »Oder noch besser: Esst eure verdammte Pizza und seid still.«
Ich bin froh, dass Naia nie lange ein und denselben Mann behält. Denn mir gefällt es nicht, was sich in meinem Inneren entwickelt. Symeon soll verschwinden.
Ich kenne dich kaum, Helena, und doch habe ich das Gefühl, dass in dir eine wilde Katze ruht. Mit dir wird es bestimmt noch spannend.
Helena
Pech gehabt, würde ich sagen. Eine Woche ist es jetzt her, seit ich Symeon zum ersten Mal bei uns getroffen habe. Seitdem ist er fast jeden Tag da. Ich rechne immer noch damit, dass es nicht mehr lange zwischen ihnen dauert und ich ihn endlich los bin. Es wundert mich, dass es so lange hält. Sehr ungewöhnlich für Naia.
Doch wenn ich darüber nachdenke, wie er sie zum Stöhnen bringt, wundert es mich nicht, dass sie ihn noch nicht losgelassen hat. Und ja, ich höre sie Tag und Nacht. Die Wände sind dünn und sie ist laut. Jedes Mal wird das Ziehen in meiner Brust stärker. Seit einer Woche kämpfe ich damit, meine Emotionen zu unterdrücken, doch scheitere jeden Tag aufs Neue. Ich begehre ihn. Ich wünschte, er würde mich zum Stöhnen bringen. Es schmerzt, eine andere Frau an seiner Seite zu sehen, während ich nicht dort bin. Leider kann ich dem nicht entkommen, da sie ständig in unserer Wohnung abhängen. Aber Naia ist nie gerne zu den Männern gegangen, sie hat sie immer mit nach Hause gebracht. Und heute Morgen, als ich mich für die Arbeit fertig gemacht habe, konnte ich wieder einmal ihren fantastischen Sex hören. Ich hasse es!
»Kannst du die hier durchschauen? Ich muss nach hinten ins Lager.« Meine Kollegin Iona hält eine Kiste mit Briefen in den Händen und ich nehme sie ihr ab.
»Na klar.«
»Danke.«
Sie verschwindet hinter der Tür und ich stelle die Kiste auf einem freien Tisch ab. Während ich mich mit den Briefen beschäftige, muss ich wieder an Symeon denken. Ich bin erleichtert, dass ich nicht länger an diesen Traum denken muss, aber Symeon ist kein besserer Ersatz. Ich will ihn nicht in meinen Gedanken haben. Ich möchte diese Gefühle nicht empfinden, wenn ich ihn sehe. Ich will mich nicht in einen Playboy verlieben, denn genau das ist er. Es ist offensichtlich, dass er nichts Ernstes sucht – schließlich würde man sich nicht Naia nehmen, wenn man auf der Suche nach einer tiefen Verbindung wäre. Doch nicht nur seine Lebenseinstellung ist ein Problem, sondern auch ich selbst. So sehr ich mir seine Nähe wünsche, so sehr würde ich ihn von mir wegstoßen, falls es ernster zwischen uns werden sollte. Nach nichts sehne ich mich mehr als einem Partner an meiner Seite, doch seit meiner Beziehung mit Mihalis fällt es mir schwer, eine Bindung zu einem Mann aufzubauen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem ich mich zu sehr öffnen müsste, und dann ziehe ich immer den Schlussstrich, bevor die Sache richtig begonnen hat.
Fast schon maschinell sortiere ich die Briefe, als mein Blick auf einen bestimmten Umschlag fällt. Keine Adresse, aber jemand hat etwas darauf gekritzelt. Ich ziehe ihn heraus und halte schockiert inne, als ich meinen Namen lese.
Helena Sideri. Das ist alles. Mehr steht nicht darauf.
Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob der Brief wirklich für mich bestimmt ist. Vielleicht gibt es jemand anderen mit demselben Namen? Doch das erscheint mir absurd. Der Brief hat keine Adresse und ist genau in der Postfiliale, in der ich arbeite. Jemand möchte, dass ich ihn erhalte.
Mit zitternden Händen öffne ich den Umschlag und habe Angst vor dem, was mich erwartet. Vielleicht ist es eine Nachricht von meinem Vater? Aber wie könnte er das anstellen, wenn er doch tot ist?
Im Inneren finde ich ein Stück Papier. Ich ziehe es heraus und beginne zu lesen.
Besitze nichts, wofür du nicht bereit wärst zu sterben. Stell dir genau vor, was passiert, wenn du ihn zu einem Blutdiamanten machst, Helena!
Phantoms
Es war kein Traum. Das ist das Erste, was mir in den Sinn kommt. Ich wurde entführt. Ich war in dieser Halle. Sie suchen den Diamanten. Ich bin am Arsch. Sie drohen mir mit dem Tod. Doch solange sie den Diamanten nicht haben, werden sie mir nichts antun. Sie brauchen mich lebend … vorerst. Aber ich bezweifle, dass sie mich am Leben lassen, wenn ich ihn freiwillig hergebe. Wer garantiert mir das? Sie? Sie sind absolut nicht vertrauenswürdig.
»Geht es dir gut?«, fragt mich Iona, als sie zurückkommt.
»Hm?« Den Brief stecke ich schnell in meine Hosentasche.
»Bist du krank? Du bist so blass.«
»Ich … Ich …« Ich werde sterben.
»Geh nach Hause. Ich sage Bescheid, dass du dich nicht gut fühlst.«
Ich nicke dankbar und verschwinde von hier.
Aufgewühlt betrete ich meine Wohnung. Werfe den Schlüssel auf die Kommode und gehe ins Wohnzimmer. Tigere durch den Raum. Mit meinen schwitzigen Händen fasse ich mir ins Haar. Es war kein Traum! Es war kein Traum! Sie werden mich töten. So oder so. Mein Vater wollte mich beschützen, aber er hat es nicht geschafft. »Scheiße!«, fluche ich aus Verzweiflung. Wie soll es jetzt weitergehen?
»Bedrückt dich was?«
Ich schrecke zusammen und drehe mich um. »Symeon? Was machst du hier? Wie bist du hier reingekommen?«
Er lehnt lässig mit der Schulter im Türrahmen der Küche, die direkt ins Wohnzimmer führt, und strahlt eine entspannte Selbstsicherheit aus. Seine Haltung vermittelt eine Mischung aus Gelassenheit und Präsenz, die den Raum um ihn herum sofort erfüllt. »Ich war bei Naia auf der Arbeit und habe den Schlüssel geholt, damit ich hier auf sie warten kann.«
Ich bin mit Symeon allein, schießt es mir immer wieder durch den Kopf. Die bloße Vorstellung löst ein nervöses Prickeln in meinem Bauch aus und meine Atmung beschleunigt sich. Jeder Atemzug wird flacher, während ich versuche, mich nicht von der Anspannung überwältigen zu lassen. Es ist, als würde die Luft um mich herum dichter werden. »Gehst du nicht arbeiten? So wie jeder andere Mensch?«
»Ich habe das Glück, mir meine Arbeit selbst einteilen zu können.« Er tritt näher und positioniert sich direkt vor mir. »Also, kann ich dir irgendwie helfen?«
Mein Herz klopft wie verrückt. Seine Nähe benebelt meine Sinne. Ich darf nicht so fühlen. Ich darf einfach nicht. Um mich selbst zu schützen, gehe ich einen Schritt zurück. Abstand! »Mir geht’s gut.«
»So hat das aber vorhin nicht ausgesehen.«
»Es war ein stressiger Tag bei der Arbeit. Mehr nicht.« Ich weiche seinem Blick aus und spiele nervös mit dem Saum meines Shirts, während ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Die Anspannung in der Luft ist fast greifbar und je länger ich ihn ansehe, desto unwohler fühle ich mich. Stattdessen konzentriere ich mich auf das Gefühl des Stoffes zwischen meinen Fingern und hoffe, dass es mir hilft, meine innere Unruhe zu zähmen.
»Willst du darüber reden?«
Verblüfft blicke ich zu ihm hoch. »Warum?«
»Weil das manchmal hilft.«
»Du bist praktisch ein Fremder für mich. Warum sollte ich mit dir darüber reden?«
»Manchmal ist es einfacher, mit Fremden über seine Probleme zu reden. Und außerdem …« Er macht einen Schritt auf mich zu. »So fremd sind wir uns nun auch wieder nicht.«
Instinktiv gehe ich einen Schritt zurück. »Danke für das Angebot, aber ich komme schon klar.«
Sein Blick fixiert mich und lässt mich nicht los, als könnte er direkt in meine Seele blicken. Ein intensives Gefühl der Verwundbarkeit überkommt mich und ich kann nicht anders, als mich unwohl zu fühlen. »Hast du Angst?«, fragt er mit einer Stimme, die sowohl Neugier als auch Besorgnis ausdrückt.
»Vor was?«
»Vor mir.«
Ich halte für einen Augenblick inne. »Wieso denkst du das? Wieso fragst du mich so etwas überhaupt?«
»Weil du die ganze Zeit von mir weggehst und nervös aussiehst.«
Ich recke mein Kinn und zwinge mich, ihm in die Augen zu schauen. Ich will nicht, dass er meine Unsicherheit erkennt, nicht noch einmal. »Ich habe keine Angst, nein«, sage ich mit fester Stimme, um meine Entschlossenheit zu betonen. »Ich halte nur Menschen, die ich nicht gut kenne, auf Abstand. Das ist alles.« Mit diesen Worten versuche ich, einen Hauch von Selbstbewusstsein auszustrahlen, auch wenn mein Herz schneller schlägt und ich innerlich kämpfe, um nicht wankend zu wirken.
»Verstehe.« Sein Blick fällt auf meine Hand, die ich unbewusst in meiner Hosentasche halte. »Was hast du da?«
Ich weiß nicht, wann ich mein Shirt losgelassen habe und in die Tasche gegriffen habe. Bis jetzt ist mir gar nicht aufgefallen, dass ich darin den Brief zwischen meinen Fingern halte. »Nichts.«
Schnell wandert sein Blick wieder nach oben und ein geheimnisvolles Funkeln blitzt in seinen Augen auf. »Du lügst«, sagt er mit einer festen Stimme, die in der Stille des Moments nachhallt. Es ist kein Vorwurf, sondern eher eine unmissverständliche Feststellung, als hätte er durch meine Fassade hindurchgesehen und meine wahren Gefühle erfasst.
Das Gefühl der Entblößung lässt einen Schauer über meinen Rücken laufen, während ich versuche, meine Gedanken zu sortieren und nicht den Schein zu verlieren. »Und du bist zu neugierig.«
»Ist es ein Brief?«
Mir stockt der Atem, als die Worte wie ein Blitz in der Stille durch den Raum schießen. Ein kurzes, unkontrollierbares Gefühl der Panik überkommt mich und ich spüre, wie mein Herz gegen meine Brust hämmert. Die Luft scheint mir im Hals stecken zu bleiben, während ich versuche, die Schockwelle, die seine Aussage ausgelöst hat, zu verarbeiten. In diesem Augenblick fühle ich mich vollkommen verletzlich und ungeschützt, als wäre ich in eine Falle geraten, aus der es kein Entkommen gibt. Warum tippt er sofort auf einen Brief?
»Ein Liebesbrief deines heimlichen Verehrers?«
Fast. Es ist ein Drohbrief. Aber warum zur Hölle weiß er, was ich verstecke? »Woher …«
»Das war ein Scherz. Du arbeitest bei der Post, deshalb der Brief. Verstehst du?«
Erleichtert atme ich tief aus, doch gleichzeitig wird mir alles zu viel. Die Drohung, Symeons Nähe, das verdammte Chaos in meinem Kopf und das Gefühl der Hilflosigkeit übermannen mich. Ich drehe mich um und flüchte in mein Zimmer, schließe die Tür hinter mir und versperre sie hastig. Ein kurzer Moment der Ruhe, den ich dringend benötige, um all diese überwältigenden Emotionen zu verarbeiten.
»Helena, es tut mir leid. Das war nur ein Scherz. Ich wollte dich nicht wütend machen«, höre ich Symeon auf der anderen Seite der Tür.
»Lass mich in Ruhe«, sage ich und ziehe mich weiter von der Tür zurück, als könnte er durch sie hindurchkommen.
»Warum genau bist du wütend? Ich will es nur verstehen.«
»Ich bin nicht wütend.«
Er schnaubt verächtlich. »Ach, nein? Dann erklär mir bitte deine Reaktion!« Seine Stimme ist herausfordernd und die Spannung zwischen uns steigt. Es ist, als würde er auf eine Antwort warten, die ich nicht bereit bin zu geben, während ich versuche, die Gedanken zu sammeln, die in meinem Kopf chaotisch umherwirbeln.
»Es ist kompliziert«, antworte ich und hoffe, damit das Gespräch zu beenden. Ich lehne mich gegen die Wand. Die kühle Oberfläche gibt mir einen Hauch von Halt in diesem emotionalen Chaos.
»Das ist kein Hindernis für mich.« Seine Stimme ist durchdringend, fast herausfordernd.
»Ich möchte nicht mit dir darüber reden«, erwidere ich hastig, aber ich merke, dass ich versuche, meine eigene Unsicherheit zu verbergen.
»Okay. Das verstehe ich. Was auch immer ich falsch gemacht habe, es war nicht meine Absicht.« Ich kann die aufrichtige Entschuldigung in seiner Stimme hören.
Es tut mir leid, ihn so abzuweisen, aber ich fühle mich wie ein verletztes Rehkitz, das sich in die Ecke gedrängt hat. »Du hast nichts falsch gemacht. Es liegt nicht an dir. Ich bin das Problem.« Meine Stimme zittert leicht.
»Wieso denkst du das?«
»Seit ein paar Tagen läuft bei mir nicht alles rund, weißt du.«
»Seit wann genau?«
»Seit …« Ich zögere. Der Gedanke an den Diamanten schießt mir durch den Kopf. »Ein paar Tagen.«
»Hast du Familie? Freunde? Die dir helfen können?« Seine Frage trifft mich unerwartet. Ein neuer Druck lastet auf mir und ich kann nicht anders, als daran zu denken, wie allein ich mich fühle.
Ich habe niemanden. Nur Maria. »Warum interessiert dich mein Wohlbefinden? Du kennst mich kaum«, frage ich skeptisch und kann das Unbehagen nicht leugnen, das sich in mir breitmacht.
»Muss man jemanden gut kennen, um sich Sorgen zu machen?« Ich spüre, wie sein aufrichtiger Blick durch die Tür zu mir hindurchdringt. Es ist, als würde er direkt in meine Seele schauen und die Abwehrmechanismen, die ich mühsam aufgebaut habe, durchbrechen.
»Ich verstehe dich nicht. Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Du musst dir diesen Scheiß nicht antun.« Ich merke, dass meine Stimme an Intensität verliert.
»Du hast recht. Ich muss es nicht. Doch ich tue es trotzdem.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde es nicht so darstellen, dass Naia einen falschen Eindruck von dir bekommt.«
»Hier geht es nicht um Naia. Es geht um dich.«
»Wirklich?«, frage ich überrascht von der Ernsthaftigkeit in seiner Stimme.
»Ja, wirklich«, versichert er mir.
Ein Hauch von Erleichterung durchströmt mich, während ich langsam die Tür öffne.
»Wenn ich dir nicht helfen kann, dann sag mir, zu wem ich dich bringen soll, damit du Hilfe bekommst«, fügt er hinzu.
Ich schüttle den Kopf. »Es gibt niemanden.« Das Gefühl der Einsamkeit schnürt mir die Kehle zu. Wer soll mir schon helfen? Maria? Ganz sicher nicht.
»Niemand?«
»Ich weiß. Armselig. Aber so ist mein Leben nun mal«, murmle ich, unfähig, die Bitterkeit aus meinem Ton herauszuhalten.
»Hör zu. Wenn es irgendeinen Ort gibt, wo du jetzt gern sein möchtest, dann fahre ich dich dorthin. Ich weiß, dass du kein Auto hast. Du musst auch nicht mit mir reden.«
Meine Mauer bröckelt ein wenig. »Das würdest du für mich tun?«
»Ja.« In seiner Stimme liegt eine solche Überzeugung, dass ich fast die Kontrolle über meine Emotionen verliere.
Warum ist er so nett zu mir? Diese Frage kreist in meinem Kopf und lässt mich unruhig werden. Wie soll ich meine Gefühle kontrollieren können, wenn er so viel Freundlichkeit und Verständnis zeigt? Es macht mich verletzlich und ich wünschte, ich könnte mich ihm öffnen.
Wir blicken uns an und für einen kurzen Augenblick scheint die Welt um uns herum stillzustehen. Keiner von uns spricht ein Wort, doch in der Stille ist so viel gesagt. Die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen wild und unruhig, während ein prickelndes Gefühl durch meinen ganzen Körper strömt. Spürt er das auch? Sein intensiver Blick lässt mich glauben, dass er mir gleich näherkommen und mich küssen könnte. Oder ist das nur ein Produkt meiner Sehnsüchte und Fantasien?
Ein Geräusch ertönt an der Tür und der Moment zerbricht wie Porzellan. War es überhaupt ein Moment oder war das nur mein Wunschdenken? Hat er vielleicht auch etwas gefühlt oder war ich allein mit meiner Empfindung? Die Fragen schwirren in meinem Kopf umher, während ich versuche, die Fassung zu bewahren.
»Hey!« Naia kommt freudestrahlend zu uns und küsst ihn. Auf den Mund. Autsch! Dann sieht sie mich an. »Du bist heute früher da.«
»Ja. Ich habe genug Überstunden, also habe ich heute früher Schluss gemacht.«
»Das kommt genau richtig. Dann hast du jetzt genug Zeit, dich auszuruhen und fertig zu machen.«
»Ausruhen? Fertig machen? Für was?«
»Eine Kollegin von mir hat heute Geburtstag und feiert in einem Club. Sie hat gute Kontakte und die Feier findet in der VIP-Lounge statt. Sie hat gesagt, dass man auch Begleitung mitbringen darf.