The Punch for Love
Sports-Romance
Marina Milutinov
Impressum
Marina Milutinov
c/o COCENTER
Koppoldstr. 1
86551 Aichach
3. Auflage, 2024
Alle Rechte vorbehalten.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Coverdesign: Marina Milutinov / „Hintergrundbild: designed by vecstock – Freepik.com.“. Dieses Cover wurde mit Ressourcen von Freepik.com entworfen
Lektorat: Milana Čergić
Korrektorat: Laura Misellie
Instagram Autor: marina.mi.autor
ISBN: 978-3-7592-9357-2
Dieser Roman enthält möglicherweise sensible Inhalte. Es enthält Themen wie versuchte Vergewaltigung und Gewalt, die sensible Leser triggern könnten.
Altersempfehlung: Ab 16 Jahren.
PROLOG
Vieles im Leben ist nicht immer so, wie es scheint. Unsere Sinne können uns täuschen. Die Wahrnehmung muss nicht jedes Mal der Wahrheit entsprechen. Emotionen können verrücktspielen und das nur, damit wir am Ende feststellen, dass alles eine Illusion war.
Das hier ist die Geschichte von meiner Befreiung aus der Illusion und dem Beginn meines Kampfes. Ein Kampf um meinen Körper, meine Gedanken und um die Liebe.
Mila
1
MILA
Kennt ihr dieses brave Mädchen von nebenan? Genauso eine bin ich. Wohlbehütet aufgewachsen, als Tochter eines Arztes und einer Zahnärztin. Immer die Schule und die Uni vor den Augen gehabt. Nach dem Studium in Princeton bin ich zurück in meine Heimatstadt Miami gezogen, wo ich mit meinen 27 Jahren einen gut bezahlten Job als Key Account Manager in einer Bank gefunden habe.
Wie so oft nach der Arbeit gehe ich Joggen und mache eine Runde auf der Miami Beach Promenade. Mein blondes Haar, welches ich zu einem Pferdeschwanz gebunden habe, kitzelt mich leicht am Nacken. Das Gemisch des Meeresrauschens und der Menschenmenge um mich herum weckt Glückshormone in mir. Die heißen Sonnenstrahlen wärmen die Haut und für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Ich atme einmal tief durch und öffne sie mit einem Lächeln. Aber ich würde sie am liebsten wieder schließen, als ich ihn sehe. Julian. Er und seine Freunde stehen am Strand und unterhalten sich. Der Ball in seiner Hand sagt mir, dass sie wieder Volleyball spielen. Das einzige Kleidungsstück an ihm sind seine sportlichen Shorts, wodurch man seinen muskulösen und mit Tattoos übersäten Körper sieht. Die meisten Frauen sabbern ihm bei diesem Anblick hinterher. Ich hingegen bin da eine Ausnahme. Mit seinem Aussehen finde ich ihn angsteinflößend. Vor allem bei dem Gedanken, dass er MMA trainiert und auch an illegalen Kämpfen teilnimmt. Immer wieder hört man Schlechtes über diese Straßenkämpfe und wie brutal die sind. Die Kämpfer kennen keine Gnade. Oft reicht nur ein falscher Blick, um von ihnen verprügelt zu werden. Mir ist das zwar noch nie passiert, aber ich habe davon gehört und manchmal, habe ich es auch mit meinen eigenen Augen gesehen. Deshalb gehe ich lieber auf Abstand. Man sagt, Julian sei der Beste in dem Sport und sogar unbesiegbar. Die meisten rühmen sich damit. Doch für mich heißt das nur eins: ist man der Beste im Kampfsport, ist man der Gefährlichste. Und diese Kampfmaschine ist auch noch mein Nachbar und lebt in der Wohnung über mir. Es ist der Horror für mich, Julian im Treppenhaus zu begegnen. Ich suche immer unauffällig nach einer Fluchtmöglichkeit oder tue so, als wäre ich mit meinem Briefkasten beschäftigt, bis er im Aufzug verschwindet. Er hat mir zwar nie etwas getan, aber ich weiß ja nicht, wie er tickt. Er ist es gewohnt, Leute bis zur Bewusstlosigkeit zu schlagen und er könnte auch töten, wenn er will. Da halte ich lieber einen großen Abstand zu ihm, denn das ist so gar nicht meine Welt.
Und jetzt befinde ich mich wieder in so einer Situation, wo ich am liebsten unsichtbar wäre. Wenn ich weiterlaufe, muss ich an ihm vorbei. Umdrehen und einen anderen Weg nehmen. Genau das werde ich machen. Genau in dem Moment dreht sich sein Kopf in meine Richtung und er erblickt mich. Verdammt! Umdrehen wäre jetzt zu offensichtlich, wo er mich schon entdeckt hat. Mir bleibt nichts anderes übrig, als meine Angst zu überspielen und weiterzulaufen. Als ich an ihm vorbeilaufe, nickt er mir zur Begrüßung zu und ich nicke zurück. Daraufhin senke ich sofort wieder meinen Kopf und laufe an Julian und seinen Freunden vorbei. Das ist unsere einzige Kommunikation. Na gut, manchmal kommt ein „Hey“, das war es dann auch schon. Wir haben nichts miteinander zu tun, aber grüßen uns trotzdem. Immerhin sind wir Nachbarn. Okay, auch weil ich ihn nicht verärgern möchte.
Nachdem ich den Rest der Route ohne weitere Vorkommnisse gelaufen bin, komme ich ins Treppenhaus und nehme, wie immer, die Post aus dem Briefkasten. Schon wieder ein Haufen Rechnungen. Mit dem Blick auf den Briefen in meinen Händen gehe ich bis zum Aufzug. Ich drücke den Knopf und warte.
Hinter mir höre ich die Eingangstür. Bestimmt ist das Mr. Wilson, der von seinem täglichen Spaziergang zurückkommt. Ein netter älterer Herr, mit dem ich mich gerne immer unterhalte.
Mit einem Lächeln im Gesicht schaue ich nach hinten. »Mr. Wi-« Julian! Meine freundliche Miene verschwindet abrupt und in Lichtgeschwindigkeit drehe ich mich wieder zum Aufzug. So ein Mist. Das ist nicht Mr. Wilson.
Mein Blick ist starr auf den Boden gerichtet. Die Unruhe in mir durchströmt mich. Beginnend vom Bauch, fühle ich es bis in die Fingerspitzen. Dazu kommt auch das Schamgefühl, da Julian meine beschissene Reaktion gesehen hat. Wie bekloppt, kann man nur sein? Konnte ich die Angst nicht beherrschen und mich normal verhalten? Wenigstens trägt er jetzt ein Shirt. So verdeckt er seine angsteinflößenden Tattoos ein wenig.
Er nähert sich mir von hinten und mit jedem Schritt steigt mein Puls. Muss ich jetzt wirklich mit ihm im Fahrstuhl fahren? Wie komme ich aus dieser Situation raus? Meine Post habe ich schon und er sieht mich ja auf den Aufzug warten. Am liebsten würde ich jetzt die Treppe nehmen, aber ich habe Angst vor seiner Reaktion. Ihn zu verärgern ist das Letzte, was ich möchte. Also beiße ich meine Lippen zusammen, drücke die Post an die Brust und schließe die Augen.
»Hi!«, höre ich seine Stimme neben mir.
Sofort öffne ich meine Lider, aber ohne ihn anzusehen. Grüßen wäre jetzt angebracht, doch mehr als ein Quietschen bringe ich nicht heraus. Verdammt! Was stimmt mit mir nicht? Im Augenwinkel schaue ich nach seiner Reaktion. Ob das eine gute Idee ist, weiß ich nicht, aber ich möchte wissen, ob er mir das übel nimmt.
Zu meiner Überraschung ist sein Blick nach vorn gerichtet. Im selben Moment kommt der Aufzug und er geht zur Tür, die sich geöffnet hat. Doch eine Frage lässt mich jetzt nicht in Ruhe. War das gerade ein Grinsen? Das ging alles so schnell, sodass ich mir nicht sicher bin, was ich gesehen habe. Aber kann es sein, dass er mich ausgelacht hat? Ich brauche einen Moment, ehe ich weitergehe, und erst als Julian im Aufzug ist, komme ich zu mir und gehe auch hinein.
Drinnen ist die Situation für mich noch unerträglicher. Habe ich ihn verärgert? Lacht er mich innerlich aus? Meine Gefühle sind durcheinander und ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf geht. Jetzt stehe ich neben ihm in diesem kleinen Raum. Allein. Was, wenn er den Notknopf drückt und mich attackiert, nur weil er meinen Blick oder eine Bewegung falsch interpretiert. Es könnte sein, dass er mich nicht auslacht. Vielleicht ist es ein böses Grinsen vor einer Attacke. Panik steigt in mir hoch. Ich muss hier raus. Gerade als ich einen Schritt nach vorn machen möchte und den Aufzug verlassen will, schließt sich die Tür. Und ich bin gefangen.
Verdammt, ja. Ich bin in einer heilen Welt aufgewachsen und vermied den Kontakt zu gefährlichen Leuten wie Julian. Damit umzugehen, fällt mir schwer. Ich habe mich vor problematischen Personen ferngehalten und habe nie etwas Verbotenes gemacht. Ich war immer die brave Vorzeigetochter. Das ist der Grund, warum ich Julian aus dem Weg gehe. Er wirkt gefährlich und als würde er Probleme anziehen. Man könnte meinen, ich übertreibe, was ihn betrifft, aber ich habe mich schon immer von Leuten ferngehalten, die mir Probleme machen könnten.
Nun ist die Aufzugtür zu. Ich trete nach hinten, bis ich die kühle Stahlwand am Rücken spüre. Wie ein ängstliches Reh verkrieche ich mich ins Eck und warte, dass der Aufzug endlich hochfährt, während Julian sich lässig an die Wand lehnt.
Sekunden vergehen, die sich wie Stunden anfühlen, doch der Aufzug steht noch immer still. Warum quält mich das Schicksal bloß so? Innerlich werde ich unruhiger, aber lasse mir nichts anmerken. Bewege dich blöder Aufzug! Bewege dich! Doch stattdessen bewegt sich Julian. Er dreht sich um und macht einen Schritt auf mich zu. Vor lauter Angst schließe ich meine Augen. Ich hätte einfach die Treppe nehmen sollen. Ich wusste, dass er gefährlich ist. Ich spüre seine Präsenz vor mir und die Wärme, die sein Körper ausstrahlt. Noch nie sind wir uns so nahe gewesen. Ein herrlicher Duft dringt in meine Nase: die würzigen Akkorde seines Parfüms gemischt mit dem Meerwasser und dem Sand des Strands. Für einen kurzen Moment lässt mich dieses Aroma vergessen, in welcher Situation ich mich befinde. Aber als ich seine Bewegung wahrnehme, komme ich ins Hier und Jetzt zurück und öffne schlagartig meine Augen.
Julian betätigt den Knopf zu meinem Stockwerk. »Du musst den Knopf drücken. Sonst fährt der Aufzug nicht hoch.«
Jetzt wird mir alles klar. Ich habe vergessen zu drücken. Ich muss tief schlucken, ehe ich etwas sage. »D-Danke«, antworte ich kaum hörbar. Wenigstens ist es dieses Mal mehr als nur ein Quietschen.
Neuer Rekord. So viel haben wir noch nie miteinander gesprochen.
Er entfernt sich wieder von mir. Besser gesagt von den Knöpfen des Aufzuges. Ich stehe nur zufällig daneben. Erleichtert atme ich aus, da alles gut ausgegangen ist, aber ich bleibe wie angewurzelt auf dem Platz stehen. Auch wenn nichts passiert ist, sitzt der Schock noch tief in mir und ich wage es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
Bis zum Ende der Fahrt starre ich auf den Boden und nehme Julians Bewegungen neben mir wahr. Hinschauen kommt für mich aber nicht infrage. Noch immer beunruhigt mich die Tatsache, ihn hier neben mir zu haben.
Das Ping des Aufzugs ist pure Erleichterung für mich, als wir mein Stockwerk erreichen. Ich stoße mich von der Wand ab und wage einen Blick zu Julian. Er ist mit seinem Handy beschäftigt und schaut mich nicht an. Soll mir recht sein. Es ist sowieso besser, wenn er mich nicht beachtet. Prompt verlasse ich den Aufzug, solange seine Aufmerksamkeit am Handy ist und ich unbemerkt von hier verschwinden kann. Obwohl ich hinter mir höre, wie sich die Tür schließt, beeile ich mich, schnell in meine Wohnung zu kommen. Kaum bin ich drinnen, schließe ich die Tür und sperre zu. Mehrmals atme ich tief durch. Es ist vorbei! Ich bin in Sicherheit. Nachdem sich das Adrenalin wieder gesenkt hat, gehe ich direkt ins Badezimmer. Ich ziehe mich aus und steige unter die Dusche. Das lauwarme Wasser fließt über meinen Kopf und verteilt sich auf meinem Körper. Mit jeder Sekunde entspanne ich mich, als würde ich die Angst und die Unruhe von mir abwaschen.
Erst als ich mich wieder wohlfühle, verlasse ich die Dusche. Ich ziehe mir einen bequemen Jogginganzug an und gehe mit einer Tasse Tee und einem Buch auf den Balkon. Das ist meine Wohlfühloase. Ich will keine Partys, Männer oder Clubs. Ich lebe zurückgezogen und ich liebe mein Schneckenhaus. Vor allem nach der Begegnung mit Julian ist diese Entspannung genau das, was ich jetzt brauche.
Gerade als ich voller Vorfreude das Buch aufschlage, wird meine Ruhe gestört.
»Hihihi«, werde ich von einem Gekicher am Balkon über mir unterbrochen.
Genervt wandert mein Blick hinauf, auch wenn ich von hier aus niemanden sehen kann. Julian hat, wie so oft, Frauenbesuch.
Kann ich nicht mal in meiner Wohnung Ruhe haben?
»O Julian«, höre ich wieder die Frauenstimme und darauf folgt dieses blöde Gekicher.
Angewidert muss ich mich am ganzen Körper schütteln. Immer diese Frauen, die ihre Hormone nicht unter Kontrolle haben, wenn sie bei Julian sind. Und dieses Gekicher … was haben sie davon? Glauben sie, das macht die Männer an? Ich kenne sie nicht und sehen kann ich sie auch nicht, aber es reicht, sie zu hören, damit ich sie mir vorstellen kann. Wie sie mit ihrem Haar spielt, verführerisch lächelt, ihn mit den Augen auszieht und nur darauf wartet, dass er auf diese billige Nummer anspringt.
Julian ist auch nicht besser. Jedes Mal ist es eine andere Frau. Kann er sich nicht einmal für eine entscheiden? Am besten eine, die nicht kichert.
Ich klappe das Buch zu, nehme meinen Tee und gerade als ich den Balkon verlassen will, habe ich eine Idee. Ich habe das Gefühl, als würde Mr. Wilson sich besonders um Julian kümmern wollen. Ich glaube, er hat das Bedürfnis, ihn zu bemuttern, wahrscheinlich denkt er genauso wie ich über ihn und er möchte ihm helfen. Jedes Mal, wenn ich Mr. Wilson Kekse bringe, gibt er Julian einige. Und jetzt wäre es doch perfekt, Julian und seine neue Spielgefährtin damit wieder in die Wohnung zu locken.
Das Buch und den Tee stelle ich auf den Balkontisch und gehe in die Küche. Dort schaue ich mir den Vorrat an Keksen an und siehe da, ich habe sogar noch welche, die meine Mutter gebacken hat. Ich lege sie in eine schöne Keksdose und gehe zu Mr. Wilsons Wohnung.
Nachdem ich geklingelt habe, höre ich seine Stimme hinter der Tür. »Einen Moment. Ich komme.«
Er braucht immer etwas länger, bis er zur Tür kommt und macht schon vorher auf sich aufmerksam, sodass man weiß, dass jemand zu Hause ist.
»Alles gut, Mr. Wilson. Ich bin es nur, Mila.«
Die Tür öffnet sich und er schaut mich mit einem Lächeln an. »Mila! Immer wieder schön, dich zu sehen.«
»Danke, Mr. Wilson.« Ich halte ihm die Keksdose entgegen. »Ich habe hier leckere Kekse von meiner Mutter und wollte Ihnen auch ein paar davon geben.«
»Das ist ja lieb von dir. Danke«, sagt er und nimmt die Keksdose. »Komm rein und setz dich.« Er dreht sich um und erwartet, dass ich ihm folge. Wie immer ist er gesprächig und fängt an, mir etwas von seinem Tag zu erzählen.
»Mr. Wilson«, rufe ich ihn, während ich weiterhin vor der offenen Tür stehe. »Danke, aber ich habe keine Zeit. Ich muss …« Ich muss zurück auf meinen Balkon und zuhören, wie du Julian und seinen Besuch wieder in die Wohnung lockst. »Ich muss noch etwas für die Arbeit erledigen.«
Er bleibt stehen und dreht sich zu mir. »Schade. Dann erzähle ich dir ein anderes Mal von der unhöflichen Kassiererin aus dem Supermarkt. Schon wieder hat sie mir die Milch zweimal berechnet. Ich glaube, das macht sie mit Absicht.«
»Oder sie beeilt sich, damit die Kunden nicht zu lange warten müssen.«
Nachdem ich mich verabschiedet habe, gehe ich wieder in meine Wohnung, setze mich auf den Balkon und warte, dass die Show beginnt. Immer noch höre ich ihr Gekicher und Julians Stimme. Es ist mir klargewesen, dass Mr. Wilson etwas länger braucht, aber bald müsste er kommen. 3 … 2 … 1
»Erwartest du Besuch, Julian?«, höre ich ihre Stimme, nachdem es geklingelt hat.
»Nein, eigentlich nicht. Einen Moment. Ich komme gleich.«
So schnell kommst du nicht wieder, wenn Mr. Wilson mal anfängt.
Minuten vergehen und Julian ist immer noch nicht zurück. Mit welcher Geschichte ihn Mr. Wilson aufgehalten hat, weiß ich nicht, aber der Plan hat funktioniert. Den restlichen Abend habe ich meine Ruhe, bis ich müde werde und ins Bett gehe. Was für ein Glück, dass Mr. Wilson hier wohnt. Meine Geheimwaffe.
Am nächsten Morgen, öffne ich die Eingangstür und lausche, bevor ich meine Wohnung verlasse, um zur Arbeit zu gehen. Ich möchte Julian nicht wieder begegnen, also sehe ich nach, ob die Luft rein ist. Als ich keine verdächtigen Geräusche wahrnehme, schließe ich die Tür, sperre mehrmals zu und gehe schnell zum Aufzug. Erleichtert verlasse ich das Wohngebäude und fahre zur Arbeit.
Bei der Arbeit angekommen, begegne ich meiner Lieblingskollegin.
»Guten Morgen, meine Schöne«, begrüßt sie mich.
»Guten Morgen, Abigail.«
Sie ist ungefähr im Alter meiner Mutter, dennoch verstehen wir uns wahnsinnig gut. Mit ihrem blonden langen Haar und ihrer lockeren Art wirkt sie jedoch jünger. Da sie im Erdgeschoss arbeitet und ich im Obergeschoss, besuchen wir uns gegenseitig in unseren Büros. Mal aus beruflichen Gründen und manchmal nur, um zu plaudern.
»Und was machst du heute Abend?«, will sie von mir wissen.
»Du weißt, was ich vorhabe, Abigail. Und egal, wie oft du mich fragst, meine Antwort wird immer dieselbe sein.«
»Ach, Schätzchen. Es ist Freitag. Geh raus und habe ein wenig Spaß. Du bist jung. Du solltest nicht immer nur zu Hause sitzen.«
»Ich habe gewusst, dass das jetzt kommt. Jeden Freitag kann ich mir das von dir anhören.«
Auch wenn sich dieses Gespräch wöchentlich wiederholt, weiß ich, dass sie es nur gut mit mir meint. Das ist der Grund, warum ich es ihr nicht böse nehmen kann.
»Und ich werde mich jeden weiteren Freitag wiederholen, bis du einmal auf mich hörst. Geh raus und hab deinen Spaß!«
»Wie oft hast du mir das schon gesagt, und ich habe es immer noch nicht getan? Du gibst dir umsonst Mühe, Abigail.«
»Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Irgendwann wird es bestimmt funktionieren und du wirst meinen Rat befolgen.«
»Ich gehe manchmal mit Chloe und Sofia aus.«
»Wann hast du das letzte Mal etwas mit ihnen unternommen?«
»Ähm …«
»Eben. Es ist schon so lange her, dass du es selbst nicht mehr weißt.«
Prompt wechsle ich das Thema. »Ich muss jetzt los. Die Arbeit ruft.«
»Ja, ja. So drückst du dich immer. Ich kenne deine Taktik schon sehr gut.«
»Hab dich lieb, Abigail. Bye.«
»Ich dich auch, mein Mauerblümchen.«
Am Nachmittag klopft es an der Tür und es ist wieder Abigail. »Hey! Wie läuft es?«
»Ich bin bald fertig.«
»Kann ich herein?« Während sie mich das fragt, kommt sie schon zum Schreibtisch und setzt sich mir gegenüber hin. Bevor ich reagieren kann, spricht sie weiter. »Also …«
»Also was?«
»Geh mit mir aus. Heute Abend.«
»Jetzt fängt das schon wieder an.«
»Ich will doch nur mit meiner Kollegin auf ein Getränk gehen.«
»Wir können auch bei uns zu Hause etwas trinken.«
»Natürlich können wir das, aber …«
»Aber was? Was hast du vor?«
»Es gibt da jemanden, den ich dir vorstellen möchte.«
»Vorstellen? O nein … Nein. Nein. Nein. Da mache ich nicht mit.«
»Ach komm schon. Er ist ein ganz lieber Kerl.«
»Ich gehe auf kein Blind Date!«
»Ich zeige dir sein Foto. So ist es dann kein Blind Date mehr.«
»Steck das Handy wieder weg. Ich mache das nicht.«
»Aber wenn du sehen würdest, wie hübsch er ist, dann würdest du dich mit ihm treffen wollen.«
»Auch wenn er der Hübscheste der Welt ist, ich mache das nicht.«
Sie steckt ihr Handy wieder ein. »Du hast gar keine Dates. Nur zur Info.«
»Ich brauche auch keine. So ist es auch gut.«
»In der Arbeit bist du top. Selbstbewusst und stark, aber wenn es um die Welt da draußen und vor allem um Männer geht, dann bist du ein kleines Mäuschen.«
»Na und? Mäuse sind süß.«
»Du brauchst einen Mann an deiner Seite. Oder willst du ewig allein bleiben?«
Natürlich möchte ich einen Partner haben, aber so einfach ist das nicht. Erst recht nicht, wenn man mit 27 keine Erfahrungen hat und noch Jungfrau ist. Das schreckt die Männer nur ab.
»Ich finde schon einen … Irgendwann.«
Sie kneift ihre Augen zusammen und fixiert mich mit ihrem Blick. »Wenn du in nächster Zeit keinen Mann findest, dann gehst du auf ein Blind Date mit meinem Sohn. Keine Widerrede.«
»Auf keinen Fall.« Ich möchte nicht gemein sein, aber wenn er seine Mutter braucht, um ein Treffen mit einer Frau zu bekommen, dann brauche ich ihn wirklich nicht.
»Er ist ein ganz lieber Kerl. Und das sage ich jetzt nicht nur, weil er mein Sohn ist. Er weiß sich zu benehmen. Ein wahrer Gentleman.«
»Mag sein. Ich will aber nicht.«
»Wenn du nicht bald ein Date findest, dann triffst du dich mit meinem Sohn.« Abigail steht auf, ehe sie weiterspricht. »Und da heute Freitag ist, kannst du ja schon mal anfangen. Viel Glück, Süße. Wir sehen uns am Montag, und ich hoffe für dich, dass es dann etwas zu berichten gibt.«
Kommentarlos schaue ich sie an, denn ich weiß jetzt schon, was ich machen werde. Mich mit einem Buch gemütlich auf die Couch legen und lesen. Von wegen Dates.
»Schönes Wochenende, Mila. Man sagt ja „und brav sein“ doch das bist du schon viel zu viel. Dir sage ich, brav sein, aber nicht zu sehr. Bye«
Nach der Arbeit erledige ich meinen Einkauf, gehe eine Runde joggen und mache es mir mit Tee und Buch auf der Couch gemütlich. Abigail würde mich jetzt erwürgen.
Die Ruhe hält nicht lange an, da klingelt schon das Handy. Ich schaue auf das Display und sehe Chloes Namen. Sie und Sofia sind meine einzigen Freundinnen und das seit der Highschool. Die zwei sind das komplette Gegenteil von mir. Partys und Jungs sind schon immer ein Teil ihrer Freizeitbeschäftigung gewesen.
Ich hebe ab. »Hi Süße.«
»Hi Partygirl. Lass mich raten, Tee, Buch, Couch. Stimmt´s?«
»So ist es.«
»Okay. Steh auf, geh in dein Zimmer, zieh dir ein sexy Outfit an. Wir holen dich in einer halben Stunde ab.«
»Ach, ich bleibe lieber zu Hause.«
»Vergiss heute Tee, Buch und Couch. Heute heißt es tanzen, Cocktails und Männer.«
»Ich bleibe bei Tee, Buch und Couch.«
»Du hebst jetzt deinen knackigen Arsch hoch und ziehst dich an. Wir sind in einer halben Stunde bei dir.« Und mit diesem Satz legt sie auf.
Ich weiß, dass sie mich nicht in Ruhe lassen werden, bis ich nachgebe. Widerwillig stehe ich auf und gehe in mein Zimmer. Ich überlege nicht lange und ziehe mir ein zartrosa Blusenkleid an. Kurz nachdem ich mich ein wenig geschminkt habe, warten Sofia und Chloé unten.
Im Auto begrüßt mich Chloe, »Schön, dass du mitkommst, Mila.«
»Wie unschuldig du klingst. Als hättest du mich nicht gezwungen, mitzugehen.«
Sie sieht mich aus dem Rückspiegel an und grinst mich breit an. »Ich habe dich auch lieb.«
Kopfschüttelnd lächle ich sie an. Ich kann den beiden nicht böse sein, dafür sitzen sie zu tief in meinem Herzen. Sie haben immer zu mir gestanden, auch während der Highschool, als ich das schwarze Schaf gewesen bin. Die zwei haben zu den beliebtesten Mädels der Schule gehört und sind sogar Cheerleader gewesen. Nichts hat unserer Freundschaft im Weg gestanden und das hat sich bis heute nicht geändert.
Eine kurze Autofahrt später kommen wir zum Ziel. Die Menschenmenge auf der Straße lässt die aneinandergereihten Bars, Restaurants und Clubs zu einem Ganzen verschmelzen. Alle haben ihre besten Outfits angezogen und lassen sich damit gerne zeigen. So vielfältig, bunt und lebensfroh das Flair hier ist, es ist nicht meine Welt. Ich wäre lieber zu Hause oder zumindest auf der anderen Seite dieser Straße geblieben, um einen schönen Spaziergang am Strand zu genießen.
»Da drüben ist was frei«, ruft Chloe und packt mich am Arm. Sie zieht mich durch die Menschenmenge, um den freien Tisch zu ergattern.
Sofia schubst mich leicht von hinten. »Beeil dich, Mäuschen«, und gibt mir einen Klaps auf den Hintern.
Ich drehe mich zu ihr. »Sofia!«
»Sei nicht so prüde«, kontert sie und zwinkert mir zu.
Als wir fast am Tisch sind, nehmen ihn uns zwei Männer weg.
»Tja, kein Platz mehr frei. Gehen wir nach Hause. Der Abend war ein Flop«, sage ich genüsslich zu meinen Freundinnen.
Doch Sofia hat andere Pläne. Sie nutzt ihren Charme und spricht die Männer an. »Hey, ihr! Ich möchte nicht unhöflich sein, aber dürften wir den Tisch bekommen? Meine Freundin …«, sie zeigt auf mich, »hat heute Geburtstag. Es wäre echt nett von euch, wenn wir uns hier setzen dürften.«
Verdutzt schaue ich sie an und schüttle den Kopf, doch sie ignoriert mich und meine Nervosität.
»Na klar«, sagt einer von ihnen und steht auf.
»Alles Gute zum Geburtstag«, erwidert der andere.
Ich nicke ihm nur verlegen zu und schaffe es nicht, Danke zu sagen. Warum sollte ich auch? Ich habe nicht einmal Geburtstag!
Sofia setzt sich gelassen hin. »Problem gelöst.«
»Wie kannst du so etwas sagen? Ich habe nicht Geburtstag.«
»Das wissen sie ja nicht. Wir haben einen Platz bekommen und das ist alles, was zählt.«
»Setz dich, Mila«, erwidert Chloe, die sich schon längst neben Sofia gesetzt hat.
Seufzend setze ich mich ihnen gegenüber und nehme die Getränkekarte.
Während sich Sofia und Chloe euphorisch die Karte anschauen und sich nicht entscheiden können, welchen Cocktail sie nehmen, habe ich meine Wahl schon getroffen und klappe die Karte zu.
Chloe blickt zu mir. »Was nimmst du? Cosmopolitan, Cuba Libre, Piña Colada oder doch einen Sex on the Beach?«
»Orangensaft.«
»Schon wieder.«
»O Mann, Leute. Der Abend wird immer besser«, sagt Sofia, während ihr Blick auf etwas hinter meinem Rücken gerichtet ist.
»Was meinst du?« Chloe sieht auch in die Richtung. »Nice!«
»Was ist da?«
»Sieh mal, wer da kommt«, antwortet mir Sofia.
Ich drehe mich um und sehe ihn. In einem leicht geöffneten, olivenfarbenen Hemd, durch das man seine trainierte Brust sieht. Die Tattoos an seinen Armen, die durch seine aufgekrempelten Ärmel zum Vorschein kommen. Sein selbstbewusster Gang, der die Leute dazu bringt, ihm Platz zu machen. Alles in allem ein angsteinflößender Anblick für mich namens Julian.
2
MILA
Ich drehe mich wieder zu meinen Freundinnen. »Was macht er hier?«
»Dasselbe wie alle anderen. Spaß haben«, kontert mir Chloe.
»Egal, wo ich mich befinde, er muss immer auftauchen. Ob beim Joggen, im Treppenhaus und jetzt hier. Fehlt nur noch, dass er bei mir auf der Arbeit aufkreuzt.«
»Also ich hätte nichts dagegen, wenn ich ihm so oft begegnen würde«, erwidert Sofia.
»Ich verstehe euch nicht. Was findet ihr an ihm so toll? Er ist gefährlich.«
»Gefährlich heiß.«
Ich verdrehe die Augen und schnalze mit der Zunge. »Na hoffentlich ist er bald wieder weg.«
»Oder auch nicht.« Sofia lehnt sich amüsiert zurück und nickt auf den Tisch hinter mir.
Ich habe kein gutes Gefühl dabei und muss mich umdrehen. Da sehe ich die Männer, die Julian zuwinken. Prompt drehe ich mich wieder zu meinen Freundinnen und spreche leise. »Scheiße! Die hinter mir sind seine Freunde.«
»Ja. Und er wird sich dazusetzen.«
»Haben sie unser Gespräch gehört?«
»Keine Sorge. Sie haben nichts mitbekommen. Aber leise jetzt. Er ist da.« Sofia beendet schnell unser Gespräch und ihr Blick wandert zu hinüber. »Hey, Julian«, begrüßt sie ihn mit einem breiten Grinsen.
Chloe winkt ihm heiter zu.
»Hey!«, höre ich seine tiefe Stimme hinter mir.
»Ähm … Hi!« Grüße ich ihn und meide den Blickkontakt.
Julian zieht den einzig freien Stuhl zurück, der direkt hinter mir ist, und setzt sich hin. Rücken an Rücken sitzen wir beide da und am liebsten würde ich schreiend davonlaufen.
Sofia bedeutet uns, näherzukommen. Wir strecken unsere Köpfe über den Tisch, damit keiner die Unterhaltung hören kann. »Was denkt ihr, habe ich eine Chance bei ihm?«, will sie von uns wissen.
»Ist das jetzt dein Ernst?«
»Ja, Mila. Ich meine das ernst.«
»Lass die Finger von ihm. Das wird nicht gutgehen.«
»Und das ist der Grund, warum du bis jetzt nie einen Freund hattest. Aber wenn du willst, kannst du ihn ja ansprechen. Du kennst ihn besser als ich.«
»Auf keinen Fall werde ich das machen.«
»Na gut. Dann tue ich es. Ich spreche ihn an.«
»Tu was du nicht lassen kannst. Mich als Trauzeugin kannst du da aber vergessen.«
»Meine Güte, Mila. Ich will ihn doch nur ansprechen und nicht gleicht heiraten und Babys mit ihm machen.« Sie schaut noch einmal zu Julian und wieder zu uns, ehe sie weiterspricht. »Okay. Ich mache es jetzt. Ich spreche ihn an.« Sofia schiebt den Stuhl zurück und steht auf. Sie hat kaum einen Schritt gemacht, da kommt der Kellner von vorhin zu uns. In der Hand hält er eine Minitorte mit einer Wunderkerze und singt "Happy Birthday to you“. Schockiert starre ich ihn an, denn er stellt die Torte vor mich hin, während Sofia und Chloe in die Hände klatschen und mitsingen. Ich weiß gar nicht, wann sich Sofia wieder hingesetzt hat. Aber verdammt noch mal, was ziehen sie hier für eine Show ab? Mir bleibt nichts anderes übrig als mitzuspielen und verlegen zu gucken. Tja. Mila. Das hast du davon, wenn du deine Wohnung verlässt. Wäre ich doch nur zu Hause geblieben.
Das Lied ist kurz, aber für mich hat es sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Die Wunderkerze ist schon längst erloschen und es brennt nur noch eine kleine Kerze. Nachdem dieses Spektakel vorbei ist, schauen mich alle erwartungsvoll an. »Komm schon. Wünsch dir was«, sagt Chloe und erinnert mich daran, die Kerze auszublasen. Ich wünsche mir, dass ich im Boden versinken würde! Widerwillig puste ich die sie aus und hoffe, dass der Applaus um mich herum bald ein Ende findet.
»Zwei Typen waren vorhin bei mir und meinten, dass du heute Geburtstag hast«, sagt der Kellner, während er uns je ein Stück Torte reicht.
»Oh, das müssen die zwei gewesen sein, die uns den Tisch überlassen haben. Das ist lieb von ihnen«, antwortet ihm Chloe.
Ich bekomme kein Wort heraus, da ich immer noch viel zu schockiert von dem Theater bin und mir das megapeinlich ist. Außerdem bin ich eine schlechte Schauspielerin. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, da der Geburtstag nur aus einer Lüge entstanden ist, um den Tisch zu bekommen. Nachdem der Kellner gegangen ist, essen meine Freundinnen genüsslich ihr Stück Torte, während ich nur auf meins starre.
»Warum isst du nicht, Mila?«, fragt mich Chloe.
»Wie könnt ihr so tun, als wäre alles ganz normal?«, flüstere ich ihnen zu.
»Ach komm schon, Süße. Dann haben wir eben so getan als hättest du Geburtstag. Sei ein bisschen lockerer.«
Freudlos nehme ich die Gabel und schiebe mir ein Stück Torte in den Mund.
»Alles Gute zum Geburtstag«, höre ich Julians Stimme neben meinem Ohr.
Er hat sich zurückgelehnt, um mir zu gratulieren. Sein Atem kitzelt meine Haut und ich verschlucke mich fast an der verdammten Torte. Seine Nähe bringt mich so sehr aus der Fassung, dass ich ihm nicht einmal antworten kann. Also nicke ich nur und Julian entfernt sich von mir und widmet sich wieder seinen Freunden zu. Ich atme erleichtert aus und bemerke erst jetzt, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe. Was war das bitte? So nah ist er mir nicht einmal im Aufzug gewesen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich sein Verhalten interpretieren soll. War es ernst gemeint?
Sofias Stimme holt mich aus meinem Gedankenkarussell. »Mila?«
Ich schaue zu ihr auf. »Hm?«
Meine Freundinnen lehnen sich beide zu mir, ehe Sofia leise weiterspricht. »Was war das? Was wollte Julian?«
»Er … er hat mir zum Geburtstag gratuliert.«
»Siehst du? Er ist nett.«
»Ich weiß nicht. Ich bin mir sicher, dass da ein drohender Unterton zu hören war.«
»Warum sollte er dir drohen?«
Ich weiß, dass Chloe und Sofia der Meinung sind, dass ich übertreibe. Ich aber denke, dass sie zu unvorsichtig sind.
»Mila, er hat dir nur zum Geburtstag gratuliert.«
»Ein Geburtstag, den ich heute nicht einmal habe.«
»Das kann er ja nicht wissen. Es war trotzdem eine nette Geste von ihm. Warum suchst du immer nur Gründe, ihn als den Bösen darzustellen?«
»Weil er es ist! Er ist gefährlich.«
»Hast du jemals gesehen, dass er gefährlich sein könnte? Oder, dass er jemanden einfach so auf der Straße verprügelt hat?«
»Ähm … nein, habe ich nicht.«
»Dann kannst du auch nicht behaupten, dass er das mit dir machen würde. Also komm von deinem Trip runter und lass den Mann sein Leben leben. Du hast absolut keine Beweise für deine Behauptungen. Und seine Tattoos sagen noch lange nichts über ihn. Ich habe auch ein Tattoo, aber das heißt nicht, dass ich gewalttätig bin.«
»Aber er ist -«
Sofia unterbricht mich. »… Kampfsportler. Ich weiß. Aber das ist doch nur Sport.«
Wenn ich das von der Perspektive sehe, hat mir Julian nie etwas getan, und gesehen habe ich auch nichts. Wie Sofia sagt, ich habe keine Beweise für meine Behauptungen.
Verlegen streiche ich mir eine Strähne hinters Ohr. »Möglich, dass du recht hast.«
»Siehst du? Also entspann dich, lass uns jetzt den Abend genießen. Von mir aus müssen wir nicht mehr über ihn reden. Vergiss einfach, dass er da ist.«
Ich lächle meine beiden Freundinnen an und nicke. »Machen wir das so.«
Chloe hebt ihr Glas. »Auf uns und einen schönen Abend.«
Ein paar Getränke später muss ich auf die Toilette. Ich sage ihnen Bescheid und stehe auf. Als ich zu dem Tisch hinter mir schaue, sehe ich, dass Julian nicht mehr da ist. Ich habe seine Anwesenheit so sehr ausgeblendet, dass ich nicht gesehen habe, wann er gegangen ist. Gut so. Somit kann ich die Zeit mit Chloe und Sofia genießen.
Auf dem Weg zu den Toiletten gehe ich einen Gang entlang. Eine Gruppe junger Frauen kommt mir entgegen und eine davon rammt mich heftig mit ihrer Schulter.
»Pass doch auf, wo du hingehst«, stänkert sie mich an.
Als ich sie ansehe, fallen mir sofort ihre wilden Tattoos auf. Entlang den Armen und sogar auf ihrem Hals. Damit erinnert sie mich an Julian, nur in weiblicher Form.
»Es tut mir leid,« erwidere ich, obwohl sie diejenige ist, die sich entschuldigen sollte. Aber ich möchte keinen Ärger.
Sie macht einen bedrohlichen Schritt auf mich zu, ihr Gesicht nähert sich meinem. »Deine Entschuldigung kannst du dir in den Arsch schieben.« Ich möchte den Abstand zwischen uns vergrößern, aber sie kommt mir zuvor und schubst mich nach hinten. »Verpiss dich, Bitch, bevor du Bekanntschaft mit meiner Faust machst.«
Panik steigt in mir hoch. Das Adrenalin schießt durch meinen Körper und beschleunigt den Puls. Dabei versuche ich meine zittrigen Hände zu verstecken. Ich schaue ihre Freundinnen an, die mich mit demselben bedrohlichen Blick anschauen, wie sie. Man spürt, dass sie auf Ärger aus sind und sich ein Opfer gesucht haben. Nur blöd, dass ich dieses Opfer bin. Alles, was ich möchte, ist heil aus dieser Situation zu kommen. Also tue ich, was sie sagt, und verschwinde von hier. Mit einem Mal drehe ich mich und gehe schleunigst weiter. Noch immer zittere ich von diesem Erlebnis und in meinem Kopf herrscht das reinste Chaos. Die Angst verfolgt mich, als könnte ich jeden Moment angegriffen werden. Ich habe meine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle und so lasse ich den Tränen freien Lauf. Völlig durcheinander versuche ich, die Toiletten zu finden, aber lande stattdessen im Hinterhof. Abrupt bleibe ich bei dem schrecklichen Anblick stehen, der mich hier erwartet. Ein mir unbekannter Typ wird gegen eine Wand gedrückt und ringt nach Luft, während ein Arm auf seine Kehle drückt.
Ich erkenne die Tattoos an diesem Unterarm sofort. »Julian!«, entweicht es mir unkontrolliert. Ich wollte unbemerkt bleiben, doch damit habe ich mich jetzt verraten.
Natürlich hat mich Julian gehört und dreht seinen Kopf in meine Richtung, während er immer noch den Typen gegen Wand drückt und ihm das Atmen erschwert. Sein Blick ist düster und voller Hass. Durch die Wut hebt und senkt sich seine Brust. Noch nie habe ich ihn so wütend gesehen.
»Mila!«, höre ich seine bedrohliche Stimme, die mir eine Gänsehaut bereitet.
Mir gefriert das Blut in den Adern und meine Instinkte schreien danach, von hier schnellstens zu verschwinden. Ohne weiter zu überlegen, drehe ich mich um und renne zurück. »Fuck!«, höre ich Julian, ehe ich seine Schritte hinter mir wahrnehme. Sobald ich wieder im Gang bin, laufe ich ins Lokal und mische mich unter die Menschenmenge, in der Hoffnung, dass Julian mich aus den Augen verliert. Ich drängle mich durch, bis ich Chloe und Sofia erreiche. »Verschwinden wir von hier! Sofort!«
Perplex schauen die zwei mich an, ehe Chloe etwas sagt. »Was ist passiert?«
»Verdammt noch mal! Steht auf und lass uns gehen!«
Ohne weitere Fragen zu stellen, erheben sie sich. Sofia legt das Geld auf den Tisch und wir verlassen die Bar.
Auf dem Weg zum Auto wollen sie endlich Antworten von mir.
»Mila, was ist nur los mit dir?«, will Chloe wissen.
»Julian! Er ist hinter mir her.«
Wir erreichen das Auto und setzen uns. Sofia dreht den Motor auf und fährt los. »Ich dachte, wir haben das geklärt, Mila. Du hast doch selbst gesagt, dass du übertreibst«, erinnert mich Sofia an meine Worte.
»Dieses Mal übertreibe ich nicht. Er ist hinter mir her. Ich habe gesehen, wie er -«, unterbreche ich mich selbst mitten im Satz.
»Wie er was?«
»Wie er gerade dabei war, einen Typen zu verprügeln. Sofia, seine Augen waren voller Hass. Ich kann euch nicht beschreiben, wie unheimlich er in dem Moment gewirkt hat. Als … als wäre er bereit zu töten.«
»Vielleicht hatte er Grund dazu.«
»Hört auf, ihn ständig in Schutz zu nehmen. Er war gerade im Hinterhof und wollte jemanden verprügeln. Versteht endlich, dass er eine tickende Zeitbombe ist.«
Ab da spricht keiner mehr. Stillschweigend fahren sie mich nach Hause und wir verabschieden uns kurz, bevor ich das Auto verlasse und schnell in meiner Wohnung verschwinde. Hastig sperre ich die Tür mehrmals zu und starre sie an. Hoffentlich besucht er mich heute Nacht nicht. Julian weiß, dass ich gesehen habe, was er im Hinterhof getan hat. Das wird seine Laune bestimmt nicht verbessern. Im Gegenteil. Er wird mich vielleicht zum Schweigen bringen wollen. Mit welcher Methode er das macht, weiß ich nicht, aber es wird sicher nicht gut für mich enden.
3
MILA
Die Nacht vergeht zum Glück ruhig. Julian ist nicht zu mir gekommen, was mich überrascht. Ich bin mir sicher gewesen, dass er vor meiner Tür stehen wird. Dennoch bin ich die nächsten Tage noch vorsichtiger als sonst. Die Wohnung verlasse ich nur, wenn ich muss. Mit dem Aufzug fahre ich nicht mehr, da ich Angst habe, ihn zu treffen. Auch wenn ich mehrere Stockwerke die Treppen hinaufgehen muss, nehme ich das in Kauf, nur um ihm nicht zu begegnen. Es ist jetzt über eine Woche her, dass ich ihn im Hinterhof ertappt habe, und komischerweise habe ich ihn seitdem kein einziges Mal gesehen. Als würde er nicht in diesem Wohngebäude leben. Wie wenn er mich bewusst meiden würde. Ist es eine Falle? Vielleicht will er mich glauben lassen, dass ich in Sicherheit bin, und greift an, wenn ich es am wenigsten erwarte. Was auch immer es ist, ich bleibe achtsam.
Heute hat Abigail mir wieder mit dem Blind Date mit ihrem "süßen" Sohn gedroht. Ich habe sie angelogen und gemeint, dass ich jemanden kennengelernt habe, doch sie hat mich sofort durchschaut. Aber man hat mich nicht nur als Lügnerin ertappt, mein Arbeitstag ist auch anstrengend gewesen. Ich muss dringend diesen Druck abbauen und die Last loswerden. Am besten funktioniert das mit Joggen, doch da ich es nicht riskieren möchte, Julian zu begegnen, kommt es mir gelegen, dass mich Sofia und Chloe fragen, ob ich mit ihnen ins Fitnessstudio möchte. Ich bin immer dagegen gewesen, mich im Gym anzumelden, da ich am liebsten draußen Sport treibe. Doch jetzt darf ich nicht wählerisch sein und deswegen mache ich mich auf den Weg ins Fitnessstudio.
Dort angekommen warten sie schon auf mich. Ich bin positiv überrascht, wie schön das Interior hier ist. Die Räumlichkeiten sind groß. Es gibt genug Platz für jeden. Die dunklen Anthrazit-Wände mit den dicken Holzbalken und dem indirekten Licht geben dem Ganzen eine gemütliche Atmosphäre. Die Smoothie-Bar strahlt mit den Palmen daneben Urlaubsflair aus. Von der Bar aus hat man einen guten Überblick über den Trainingsraum. Ich muss zugeben, so schlecht ist es hier nicht.
»Und was sagst du, Mila?«, will Chloe von mir wissen.
»Mir gefällt es hier.«
»Das ist ja großartig. Du kannst zuerst ein Probetraining machen, ehe du dich einschreibst.«
»Ich schreibe mich sofort ein«, platzt es aus mir heraus.
»Wow. Echt? Das ist super.«
Ich überlege nicht lange, denn das ist eine tolle Möglichkeit, um Sport zu machen und Julian nicht zu begegnen. Hier fühle ich mich sicher. Nachdem ich Mitglied geworden bin, gehe ich gleich aufs Laufband und powere mich erst mal aus. Nach einem intensiven Training gönnen wir uns einen Smoothie. Wir setzen uns an einen freien Tisch und schauen den Leuten beim Trainieren zu.
»Das ist mein Lieblingspart. Hier gemütlich sitzen, genüsslich meinen Smoothie trinken und diesen Prachtexemplaren beim Sport zusehen«, sagt Chloe mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht.
»Wie recht du hast«, antwortet ihr Sofia.
Kopfschüttelnd lächle ich die zwei an. »Ihr könnt euch nie sattsehen, was?«
»Du könntest es auch mal probieren. Schau dir die Männer hier an. Vielleicht ist einer dabei, der dir gefällt«, kontert Chloe.
»Bezweifle ich, aber okay. Ich sehe mich mal um.« Ich lasse meinen Blick schweifen und beobachte die Leute. Hier und da ist mal ein süßer Typ, aber das sage ich ihnen natürlich nicht. Sie würden mich nur drängen, einen von diesen Kerlen anzusprechen, und ich mit der schüchternen Art kann so etwas nicht machen. Doch als mein Blick die Bar erreicht, fühlt sich der Anblick wie eine Ohrfeige an. »Scheiße!« Schnell drehe ich mich wieder zu meinen Freundinnen.
»Was ist los, Mila?«, fragt mich Sofia.
»Julian! Er ist hier.«
»Natürlich ist er das. Er arbeitet hier. Er ist Trainer in diesem Fitnessstudio.«
»Wie bitte? Und das sagt mir keiner?«
»Eigentlich haben wir es dir schon mehrmals gesagt. Nur hast du uns anscheinend nicht zugehört.«
»Aber ich … ich kann mich nicht erinnern.«
»Wir haben es dir gesagt. Ich dachte, du weißt es.«
»Ach, ist doch egal. Ich möchte meine Mitgliedschaft kündigen. Ich möchte hier nicht trainieren.«
»Du hast dich heute angemeldet und bist für ein Jahr gebunden. So einfach kannst du nicht kündigen.«
»Ich weiß, aber gibt es da keine Umwege?«
»Nein.«
»So ein Mist.«
»Beruhige dich, Mila. Er tut dir nichts«, versucht Chloe mich zu besänftigen.
»Noch tut er mir nichts. Er weiß, was ich im Hinterhof gesehen habe. Er ist Kampfsportler und er ist gefährlich.«
»Er ist gefährlich … gefährlich sexy«, sagt Sofia und kichert.
Julian bemerkt mich nicht und geht wieder an die Arbeit. Ich schaue ihm dabei zu, wie er seinen Job als Fitnesstrainer macht. Er wirkt so … normal. Dieser Anblick von ihm gefällt mir. So, wie er mit den Kunden umgeht und ihnen alles zeigt, sieht er nicht mehr so angsteinflößend aus. Ich sehe ihn sogar lächeln, was ihn sympathisch macht. Für einen kurzen Moment verfliegt meine Angst und ich sehe in ihm nicht mehr das Biest. Aber nur für einen Augenblick. Denn im nächsten Augenblick erinnere ich mich an seinen zornigen Blick und diesen Hass, als er diesen Kerl verprügeln wollte. Als er mich gesehen hat, hat er meinen Namen gerufen und ist mir sogar hinterhergerannt. Was wollte er von mir? Und warum lässt er mich dann doch in Ruhe? Ich verstehe sein Verhalten nicht und es verunsichert mich. Die Unruhe in mir kommt wieder hoch und ich möchte nur weg von hier. Also verabschiede ich mich von meinen Freundinnen, hole die Sachen aus der Garderobe und fahre nach Hause.
Ein paar Tage später wage ich es wieder, draußen zu joggen. Ich bin zwar noch vorsichtig, was Julian betrifft, aber ich möchte nicht mehr auf den Sport verzichten. Während ich meine übliche Route laufe, sehe ich Julian am Strand. Er spielt Volleyball mit ein paar Leuten. Mein Blick fixiert ihn und ich werde langsamer, bis es fast schon ein Gehen ist. Er bemerkt mich nicht und ist mit dem Spiel beschäftigt. Ich kann nicht anders, als ihn anzuschauen. Wie er sich auf den Ball konzentriert und sich in den Sand wirft, um ihn zurückzuschießen. Mit voller Power trifft er und schießt ihn über das Netz. Der Sand klebt auf seinen Körper und der Schweiß bringt seine Tattoos zum Glänzen. Gaffe ich gerade Julian an? Wieder erinnere ich mich an die Begegnung im Hinterhof und ein ungutes Gefühl durchströmt meinen Körper. Mag sein, dass er gut aussieht, aber ich werde ihn nie anziehend finden. Er ist und bleibt eine gefährliche Kampfmaschine. Eine tickende Zeitbombe.
Ich beschleunige wieder das Tempo, während mein Blick noch auf Julian ist.
BAM!
Verdammte Scheiße! »Autsch!« Ich Idiot bin gegen eine Laterne gerannt. Wie peinlich ist das bitte? Die Leute hier haben das voll gesehen. Ich schaue noch einmal zu Julian rüber, aber er hat mich zum Glück noch immer nicht entdeckt. Und den Knall gegen die Laterne auch nicht.
»Geht es dir gut?«, höre ich eine männliche Stimme neben mir.
Ich drehe mich in seine Richtung und sehe einen Mann in meinem Alter. Sein helles Haar glänzt in der Sonne und die blauen Augen kommen durch seine Bräune noch mehr zum Vorschein. Doch mir fällt sein besorgter Blick auf, der mich mustert.
»Oh … ähm … ja, mir geht es gut. Alles bestens.« Kann die Sache noch peinlicher werden?
»Alles bestens?«. Sein besorgter Blick wird skeptisch. »Das … Scheiße, das sieht schlimm aus.«
»Wie bitte? Was schaut schlimm aus?«
»Deine Stirn … ähm … du hast eine Beule. Die ist so mächtig, dass ich das Gefühl habe, dass die gleich anfängt, mit mir zu reden.«
»Was?« Instinktiv fasse ich mir auf die Stirn. »Ah, verdammt.« Was zur Hölle habe ich da getan? Das schmerzt schrecklich.
»Nicht anfassen. Das tut sonst nur noch mehr weh. Soll ich dir ein Eis oder so holen? Du musst was Kaltes darauflegen.«
»Danke, aber das geht schon. Ich wollte sowieso nach Hause.«
»Dann begleite ich dich. Nur falls es dir schwindelig wird oder du dich nicht gut fühlen solltest.«
»Das ist nett von dir, aber mir geht es wirklich gut.« Plötzlich fühle ich mich beobachtet und automatisch schaue ich zu Julian rüber. Er steht noch immer am Volleyballplatz, aber er spielt nicht mehr. Er sieht mich nur an. Doch sein Gesichtsausdruck … er ist so ernst. Mir gefällt das nicht und schlagartig breitet sich ein ungutes Gefühl in mir aus.
»Darf ich mal schauen?«, höre ich den Kerl neben mir.
Ich drehe mich zu ihm und sehe, dass er mir ein wenig nähergekommen ist.
Wieder fragt er mich dasselbe, da er von mir keine Antwort bekommen hat. »Darf ich mal schauen?« Mit dem Finger zeigt er auf meine Stirn. »Ich will nur sehen, wie schlimm es ist. Du schaust so blass aus.«
Ich bin blass, weil mir Julians Verhalten Angst macht. »Mir geht es gut. Wirklich. Ich muss jetzt los. Aber danke für deine Hilfsbereitschaft.« Im selben Moment drehe ich mich um und gehe.
Zu Hause angekommen beeile ich mich in die Wohnung zu kommen und gehe sofort ins Bad. Vor dem Spiegel erschrecke ich, als ich die Beule auf meiner Stirn sehe. »Du meine Güte. Wie sehe ich denn aus?« Nach dem ersten Schockmoment hole ich aus der Küche etwas Eis und lege es auf die Schwellung. Ich bin so ein Idiot. Und das alles nur wegen Julian.
Am nächsten Tag stehe ich in der Früh auf und schaue mich im Spiegel an. In der Hoffnung, dass die Beule weg ist. »Echt jetzt? Das Ding ist noch immer da.« Jetzt muss ich so in die Arbeit gehen. »Warum? Warum bist du noch da, blödes Ding? Verschwinde endlich.« Neuer Tiefpunkt. Ich rede mit einer Beule. »Du wirst mich wohl noch eine Weile begleiten, was? Wie ein treuer Freund. Mein Freund Henry.« Okay, es geht noch tiefer. Ich habe der Beule einen Namen gegeben und nenne ihn meinen Freund. »Na gut, Henry. Dann machen wir uns mal für die Arbeit fertig. Heute lernst du Abigail kennen. Ob sie dich als meine neue Bekanntschaft akzeptieren würde?«
In der Arbeit schleiche ich mich unauffällig ins Büro, damit mich niemand wegen Henry anspricht. Ehrlich, ich habe keine Lust, jedem zu erklären, was passiert ist. Und noch weniger möchte ich zugeben müssen, dass es wegen Julian war. Als ich mein Büro erreiche, schließe ich rasch die Tür hinter mir. »Geschafft!«
»Was hast du geschafft?«, höre ich plötzlich Abigails Stimme.
Verdammt. » Seit wann sitzt du schon hier?«
»Ich habe auf dich gewartet. Was zur Hölle hast du da auf der Stirn?«
»Das ist Henry. Ignoriere ihn einfach.«
Verblüfft hebt sie eine Augenbraue. »Henry? Das Ding hat einen Namen?«
»Ich versuche, das Beste daraus zu machen.«
»Süß. Du solltest ihn nach einem Date fragen. Vielleicht läuft da was.«
»Er ist eher wie ein Bruder für mich. Wir sind uns so nahe. Siehst du ja … wir sind unzertrennlich.«
»Wie konnte ich das nur übersehen? Aber jetzt im Ernst. Wie ist das passiert?«
»Ich … ähm … war joggen und bin gegen eine Laterne gerannt.«
»Läufst du mit geschlossenen Augen, oder was?«
»Meine blöden Augen waren beschäftigt«, platzt es aus mir heraus. So laut hätte ich das nicht sagen sollen.
»Mit was?«
»Nicht so wichtig. Wie sieht heute dein Tag aus?«, versuche ich das Thema zu wechseln.
Doch sie ignoriert meine Frage, »Nicht so wichtig? Also ist es das. Wie ist das passiert?«
Seufzend setze ich mich auf meinen Stuhl. »Ich … ich habe einen süßen Hund angeschaut und die Laterne nicht gesehen.«
Abigail haut mit der Hand auf den Tisch und steht auf. »Du hast einen Mann angegafft!«
»Das habe ich nicht.«
»Und wie du das hast. Diesen Tag müssen wir feiern.«
»Ich habe ihn nur kurz angeguckt. So toll finde ich ihn nicht.«
»Wer ist es?«
»Ein Nachbar von mir.«
»Ich wollte dich für meinen Sohn, aber wenn du deinen Nachbarn möchtest, dann freue ich mich natürlich auch.«
»Ich will ihn nicht. Ich mag ihn nicht einmal.«
»Na dann ist mein Sohn noch im Rennen.«
Kommentarlos schüttle ich meinen Kopf, da ich weiß, dass es nichts bringt, mit Abigail zu diskutieren.
»Und wie heißt dein süßer Nachbar?«
»Wer sagt, dass er süß ist?«
»Sonst hättest du ihm nicht nachgeschaut. Also wie ist sein Name?«
»Nennen wir ihn einfach Rambo, denn das passt besser zu ihm.«
Am Nachmittag komme ich nach Hause und nehme seit Langem wieder den Aufzug. Mit Henry auf der Stirn ist das Treppensteigen mühsam, denn dabei spüre ich einen pulsierenden Schmerz. Die Tür vom Aufzug schließt sich gerade, da hält sie eine Hand auf. Als sie sich wieder öffnet, steht Julian vor mir.
4
MILA
Schnell versuche ich, Henry mit meinen Haaren zu verstecken und schaue dabei auf den Boden.
Julian steigt in den Aufzug und ich spüre seinen Blick auf mir. Er stellt sich neben mich und im Augenwinkel sehe ich, wie er sich zu mir lehnt. Nervös versuche ich, das Gesicht noch mehr hinter meinem Haar zu verstecken, aber damit bringe ich Julian dazu, dass er sich vor mich stellt. Panik kommt in mir hoch und meine Hände fangen an zu schwitzen. Mein Puls rast, denn ich weiß nicht, was er jetzt vorhat. Ich erinnere mich an seinen düsteren Blick im Hinterhof und sofort steigt die Angst ins Unermessliche.
»Was hast du da?«, fragt er mich in einem ernsten Ton.
»Nichts.«
Im nächsten Moment spüre ich seine Finger unter meinem Kinn und er hebt meinen Kopf. Durch seine Berührung zucke ich zusammen. Als er meine Reaktion sieht, zieht er seine Hand sofort zurück, doch sein Blick fixiert mich weiterhin. Schon allein mit ihm im Aufzug zu sein, ist angsteinflößend, aber seine Berührung ist es noch mehr, obwohl sie so sanft gewesen ist, als wenn ich aus Porzellan wäre.
»Deine Stirn. Die ist blau.«
»Ich … weiß.« Und du bist schuld daran … irgendwie.
Julians Atem beschleunigt sich, seine Brust fängt an, sich heftig zu heben und zu senken. Sein Kiefer spannt sich an und seine Augen verfinstern sich. Dieser Anblick macht mir Angst und ich versuche, den Abstand zwischen uns zu vergrößern. Doch weit komme ich nicht, denn ich klebe schon an der Wand hinter mir.
»Wer hat dir das angetan?«
»N-niemand.«
»War es der Kerl, mit dem du letztens gesprochen hast?«
Welcher Kerl? Doch dann erinnere ich mich an den Unbekannten, der mir helfen wollte. »Nein. Das ist meine Schuld. Ich war beim Joggen abgelenkt und bin gegen eine Laterne gerannt.«
Die nächsten Sekunden schaut er mich nur misstrauisch an, als würde er darüber nachdenken, ob ich die Wahrheit sage. »Was hat dich abgelenkt?«
Du! »Ähm … ich habe auf meine Uhr geschaut und war spät dran.« Der Aufzug bleibt stehen und die Tür öffnet sich. Ich sehe das als meine Rettung und gehe an ihm vorbei. »Ich muss raus.«
Julian stellt keine weiteren Fragen mehr und verschwindet hinter der Aufzugstür, die sich schließt. Verwirrt komme ich in meine Wohnung und schließe die Tür. Scheiße! Was war das gerade eben?
Die nächsten Tage verbringe ich hauptsächlich zu Hause und bin froh, als Henry endlich ganz verschwunden ist. Es ist Freitagabend und ich will es mir, wie immer, mit einem Buch und Tee gemütlich machen, als es an meiner Tür klingelt.
Als ich durch den Spion schaue, höre ich schon Chloes Stimme. »Wir sind es nur, du Angsthase.«
Erleichtert öffne ich die Tür. »Waren wir für heute verabredet?«
»Nein, waren wir nicht«, antwortet mir Sofia. »Aber jetzt sind wir es.«
»Ich bevorzuge es, zu Hause zu bleiben.«
»Und wir bevorzugen es, dich mit uns in einem Club zu sehen. Du bist in der Minderheit, also hast du verloren.«
»In der Sache bin ich immer in der Minderheit. Das ist unfair.«
Sie gehen an mir vorbei und Chloe packt mich am Handgelenk. »Komm. Wir suchen dir jetzt etwas Schönes zum Anziehen.«
Sie durchstöbern meinen Kleiderschrank und Sofia zieht ein rotes Kleid heraus. »Das ist süß. Mit dem Herzausschnitt, den dünnen Trägern und dem kurzen luftigen Rock. Zieh das an, Mila.«
Ich muss zugeben, der Abend mit den Mädels ist voll okay gewesen. Ich habe meinen Spaß gehabt, und jetzt im Nachhinein bin ich sogar froh, dass sie mich dazu überredet haben. Ausnahmsweise hat es mir richtig gut gefallen. Spät in der Nacht bringt mich Chloe mit dem Auto nach Hause. Sie lässt mich vor meinem Wohnhaus aussteigen und fährt davon. Draußen vor dem Wohngebäude wühle ich in der Tasche und suche den Schlüssel. Wo ist das Ding bloß?
»Hallo, Süße«, höre ich plötzlich eine Stimme neben mir.
Ich schaue auf und sehe einen Mann in meinem Alter. Optisch wirkt er nicht gefährlich. Er hat eine lange Jeans und ein graues Shirt an. Auf seiner Haut sind keine Tattoos oder Narben zu sehen. Waffen oder ein Messer scheint er auch nicht bei sich zu haben. Aber trotzdem ist da etwas, was mir so gar nicht an ihm gefällt. Es ist sein Blick. Ich bekomme ein mulmiges Gefühl, wenn ich ihm in die Augen schaue.
»Was macht so eine hübsche Frau allein um diese Uhrzeit draußen?«
»Nichts. Ich wollte gerade nach Hause gehen.«
Er kommt mir einen Schritt näher und ich weiche instinktiv zurück.
»Wohin, Kleines?«
Ich ignoriere ihn und suche weiter nach meinem Schlüssel. Ich möchte nicht auf seine Fragen eingehen und will nur weg. Er packt mich jedoch am Handgelenk.
Ich versuche, mich von ihm loszureißen. »Lass mich los!«
»Je mehr du dich wehrst, desto schlimmer wird es nur für dich, Süße.«
Mit einem Mal schubst er mich nach hinten und ich stoße unsanft gegen die Wand. Mein Hinterkopf knallt heftig dagegen und ich spüre den Schmerz wieder. Mit seinem gesamten Körper drückt er mich gegen die Mauer und ich kann mich kaum bewegen. Mit der einen Hand hält er noch immer mein Handgelenk fest, während die andere Hand unter meinen Rock wandert. Mit ganzer Kraft versuche ich ihn von mir zu stoßen und ihm zu entkommen, aber es gelingt mir nicht.
»Hilf-« Er unterbricht den Hilfeschrei, indem seine Hand sich von meinen Schenkeln entfernt und sie auf meinen Mund drückt.
»Komm ja nicht auf die Idee, das noch einmal zu tun. Hier gibt es niemanden und zur Strafe werde ich nur noch härter zu dir sein.«
Mit seinem Knie spreizt er meine Beine. Seine Hand überdeckt meine Nase, sodass ich kaum Luft bekomme, während er mit der anderen Hand zwischen meine Schenkel greift. Ihn bei den Beinen zu spüren ist grausam. Ich fühle mich schmutzig und schäme mich. Seine Nähe, seine Berührungen, sein Geruch, alles an ihm stört mich und mir wird schlecht. Meine Tränen erreichen seine Hand, die mir immer noch das Atmen erschwert. Eine unbeschreibliche Angst breitet sich in mir aus, so wie ich sie noch nie gespürt habe. Ich will weg von hier. Er soll aufhören. Ich möchte nicht so von ihm angefasst werden, als wäre ich ein Püppchen, welches ihm frei zur Verfügung steht und mit dem er tun und lassen kann, was er will. Das Atmen fällt mir immer schwerer und langsam wird mir schwindelig. Luft. Ich brauche Luft. Wenn ich ohnmächtig werde, dann kann ich mich nicht einmal wehren.
»Du wirst jetzt schön leise sein, ansonsten kann ich nicht versprechen, dass es schmerzfrei für dich wird. Hast du verstanden?«
Ich nicke, weil ich einfach nur noch atmen möchte, und zum Glück entfernt er seine Hand. Ich huste und ringe nach Luft. Die Farben kommen wieder zurück und das Schwindelgefühl lässt nach. Erst als ich wieder tiefe Atemzüge nehmen kann, sehe ich, dass er seine Hose geöffnet hat.
»Bitte … tu das nicht!«
»Shh! Alles wird gut, Süße.«
»Bitte. Ich flehe dich an. Lass mich gehen.«
»Wenn wir fertig sind, kannst du gehen.«
Mit seiner Hand schiebt er mein Höschen zur Seite und ich spüre seine dreckigen Finger an mir. Ich möchte die Beine zusammenpressen, aber er drückt mit seinem Knie noch fester dagegen, sodass ich es nicht schaffe. Mein Weinen und Schluchzen wird immer heftiger. Doch ihm ist das völlig egal. Als er versucht mich zu küssen, drehe ich den Kopf zur Seite, aber das lässt ihn kalt und er küsst meine Wange runter bis zum Hals. Noch nie habe ich mich ekelhafter und so machtlos gefühlt. Noch nie hat mich ein Mann unten angefasst und jetzt reibt er mich da, als würde es mir gefallen. Diese widerlichen Hände fassen meine intimste Stelle an. Aber es gefällt mir nicht. Ich hasse es. Ich hasse es so sehr, dass mich dieses Gefühl innerlich zerfrisst. Ich spüre nur einen Schmerz. Ein Schmerz, der sich in jede Faser meines Körpers verbreitet und geht so tief, dass sogar meine Seele schmerzt.
»Bitte hör auf«, flehe ich ihn weiter an. »Du tust mir weh.«
»Wenn du aufhören würdest, dich zu wehren, dann würde es auch nicht mehr wehtun.«
Hass, Schmerz, Angst und Abscheu vermischen sich und benebeln meine Wahrnehmung. Meine Sinne geben nach. Die Umgebung wird leiser und vor meinen Augen wird es immer dunkler. Das Schwindelgefühl ist wieder da.
»Ich bin noch Jungfrau«, schaffe ich noch mit letzter Kraft, von mir zu geben.
»Das wird ja immer besser.«
Nur vage bekomme ich mit, wie er seine Erektion aus der Unterhose nimmt und zwischen meine Beine schiebt. Das gibt mir den Rest und ich werde noch benommener.
Schlagartig ist dieses abartige Gefühl weg. Ich spüre seine Berührungen nicht mehr, ich rieche ihn nicht mehr und ich spüre den Druck seines Körpers nicht mehr. Plötzlich fühle ich mich frei. Bin ich ohnmächtig? Oder sogar tot?
»Mila?«
Woher kennt der Kerl meinen Namen? Warte. Das war nicht seine Stimme. Das ist … »Julian?« Zuerst denke ich, dass ich halluziniere, aber als ich den ekelhaften Typen bewusstlos am Boden liegen sehe, wird mir klar, was hier passiert ist. »Julian, du hast mir geholfen.«
»Bist du verletzt?«
Ich schüttle den Kopf.
Julian spürt meine Hilflosigkeit und nähert sich mir ein wenig. Er hebt seine Hand und will mich berühren. Doch kurz davor zieht er sie schnell wieder zurück. Als würde ich seine Berührung nicht ertragen, nachdem man mich fast vergewaltigt hat. Doch gerade sehne ich mich nach nichts anderem als seiner Nähe, die mir das Gefühl der Sicherheit gibt. Ich hatte immer so eine Angst vor ihm und jetzt bin ich nur froh, dass er da ist.
»Dir kann nichts mehr passieren. Ich bin jetzt hier. Es ist vorbei, Mila.«
Nach diesem Satz klingt meine Schockstarre ab und die Beine geben nach. Ich drohe hinzufallen, doch Julian fängt mich auf und hält mich fest. Ich klammere mich an sein Shirt und fange an zu weinen. Meine Wangen sind schon so feucht, dass meine Tränen Spuren auf Julians Shirt hinterlassen. Aber ich kann nicht aufhören. Mein Schluchzen und Wimmern findet einfach kein Ende. Unkontrolliert zittere ich am ganzen Körper.