Dark Syrup –⁠ Das Aroma von Rauch und Honig - Kathrin Gottlieb - E-Book

Dark Syrup –⁠ Das Aroma von Rauch und Honig E-Book

Kathrin Gottlieb

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Beschreibung

Honig, Sirup und eine Prise Magie – für Fans von Laura Labas und Marah Woolf »Bea war nicht mehr da, verschwunden, und alles, was sie uns hinterlassen hatte, waren Rauchkringel zwischen leeren Mauern ...«  Mitten im geschäftigen Hamburg liegt das »Honigmond«, ein uriges Café, in dem Hexen ihren Gästen zur Wish Hour kleine Wünsche erfüllen. Hier kann die junge Studentin Rosa ihr Geheimnis am besten verbergen: Seit einem Unfall vor zwei Jahren kann sie nicht mehr zaubern. Stattdessen lässt sie Flaschengeister, die sie im Kaffeesirup versteckt hält, ihre Aufgaben für sie übernehmen. Doch ihre sorgfältig aufgebaute Welt gerät ins Wanken, als ihr Vater sie drängt, eine Ausbildung zur Heilerin zu beginnen – etwas, wobei Rosa ihre Geister unmöglich verstecken kann. Zu allem Überfluss verschwindet die Besitzerin des Honigmonds spurlos und eine mysteriöse Magie bricht über der Stadt aus. Schon bald steckt Rosa mitten in einer lebensgefährlichen Jagd nach Antworten, bei der sie sich nicht nur ihren Selbstzweifeln stellen muss, sondern auch unerwarteten Gefühlen …  »Die Autorin besitzt einen unfassbar geschmeidig, agilen und bildlichen Schreibstil, der vollkommen im Fluss ist und bei dem es Spaß macht jedes einzelne Wort zu lesen. Die Atmosphäre in der Handlung ist spürbar und mitreißend unterhaltsamen. Die Handlung ausgereift, stimmig und rund ohne jegliche Längen.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Zusammengefasst war das Buch ein gutes Urban Fantasy Buch, das mit Food-Magie einen neuen Ansatz verfolgte und mit sympathischen Characteren daherkommt. (...) Die Autorin sollte man für die Zukunft auf dem Schirm haben.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Wer das Buch liest, taucht ein in eine originelle Geschichte, die sich auf 422 Seiten entfaltet.« ((Neue Osnabrücker Zeitung online))

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Fam Schaper

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Shutterstock (Ivan Kovbasniuk, SOBOLEV NIK, ekosuwandono); Freepik (rawpixel.com, freepik)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Triggerwarnung:

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Triggerwarnung:

Posttraumatische Belasungsstörung, bleibende Verletzungen nach einem Brand

Kapitel 1

Ich liebte Kaffeesirup.

Das war nicht meine beste Angewohnheit, denn das Zeug war viel zu süß und furchtbar ungesund, und das wusste ich. Aber trotzdem ging nichts über einen Latte Macchiato mit einem Schuss Haselnuss, Karamell oder Schokolade.

In diesem Fall war mir beim Verzieren des Kakaos für Tisch fünf ein wenig dunkle Schokolade neben das Tablett getropft. Ich wischte sie rasch mit dem Finger auf und kostete davon. Es war schwer zu widerstehen, wenn dunkle Schokolade doch mein Lieblingsgeschmack war.

»Tisch fünf ist immer noch ohne Getränke«, sagte Juli, die gerade mit einem klirrenden Tablett voll leerer Gläser und Teller in die Küche kam. Ihr hinterher wehte das Stimmengewirr von alten und jungen Leuten, Touristen und Einheimischen, allen, die heute im Café Honigmond eingekehrt waren, um Hamburgs bestes Honiggebäck zu genießen.

»Ich bin unterwegs!«, rief ich, bevor ich mir einen tadelnden Blick von Bea – unserer Chefin – einfangen konnte. Dann malte ich schwungvoll eine Sirup-Spirale auf das Sahnehäubchen und stellte die Kakaotasse zusammen mit dem Rest der Bestellung auf ein Tablett.

»Prüft bitte gleich einmal die Auslage«, hörte ich Bea noch sagen, dann schwang die Tür zur Küche zu und der unverwechselbare Duft des Cafés empfing mich, ein Aroma aus Holz, Kaffee und den schweren Blüten des Blauregens, der von der Decke hing. Jetzt, im Mai, erstrahlten die Blüten in Weiß, hellem Lila und Babyblau und ihr Honig schmeckte ein wenig cremiger und nicht so vollmundig wie der dunkle Sommerhonig.

Ich schlängelte mich vorbei an vollbesetzten Stühlen und gedeckten Tischen aus schnörkeligem, weißem Holz hinüber zu Tisch fünf.

»Ein Kakao mit dunkler Schokolade – und ein Latte Macchiato mit Hafermilch.«

Ich stellte die Getränke ab und trat einen Schritt zurück. »Darf es sonst noch etwas sein?«

Das Mädchen mit den dunklen Haaren und großen Rehaugen hatte noch nichts bestellt und vorhin gesagt, sie würde sich später entscheiden. Jetzt sah sie zu mir auf, öffnete den Mund, kam allerdings nicht zu Wort.

»Sind die Blumen echt?« Das Mädchen zu ihrer Rechten – Kakao mit dunkler Schokolade – deutete an die Decke. »Ich hab gehört, das ist nur so ein 3D-Effekt.«

»Das sieht doch viel zu echt aus für 3D«, gab das Mädchen zurück, das ihr gegenüber saß und den Macchiato bestellt hatte.

»Ihr könnt die Blumen gern berühren, wenn ihr möchtet.«

Die beiden blickten mich unsicher an. Dann stand das Kakao-Mädchen auf und streckte die Hand aus. Um diese Jahreszeit hingen die Blüten besonders tief – Juli musste sich teilweise darunter hindurchbücken. Ich dagegen hatte die Statur meiner japanischen Mutter geerbt, war damit gerade mal so groß wie eine Parkuhr und hatte mit tiefhängenden Blumen absolut kein Problem.

Das Kakao-Mädchen war nicht so groß wie Juli, erreichte den Blauregen aber mühelos und schnappte nach Luft, als ihre Finger die Blüten berührten. »Das fühlt sich total echt an!«

»Sicher? Ist das nicht Plastik?«

Während die beiden diskutierten, beugte ich mich ein wenig vor, damit das Mädchen mit den Rehaugen endlich zu ihrer Bestellung kam.

»Ich würde gern was von der Wish-Hour-Karte nehmen«, sagte sie und schob mir ein Kärtchen hin. »Den Cappuccino und das Honig-Joghurt-Dessert im Glas?«

Ich legte meine Finger auf das Kärtchen und lächelte. »Gerne. Kommt sofort.«

***

Ich eilte zurück in die Küche und stellte mich an den Tisch in der Ecke, der uns zumeist als Ablagefläche diente.

Dort drehte ich das Kärtchen um. Zur Wish Hour lagen diese kleinen, mit Goldschrift bedruckten Karten an jedem Tisch zum Ausfüllen aus.

Was wünschst Du Dir?

»Eine Medaille beim Leichtathletik-Wettbewerb am Samstag«, las ich leise den Text, der in runden, dicken Buchstaben darunter geschrieben worden war, und runzelte die Stirn. »Sie hat das Kleingedruckte wohl nicht gelesen.«

Oder vielleicht hatte sie gehofft, es würde trotzdem funktionieren. Das passierte schon mal – es fiel Menschen schwer, ihre Wünsche richtig zu formulieren.

Ich zog ein frisches Kärtchen aus meiner Schürze und schrieb:

Erfolg beim Leichtathletik-Wettbewerb am kommenden Samstag.

Damit sollte es gehen.

»War da wieder jemand zu gierig?«, fragte Bea, die gerade aus der Speisekammer kam und einen Hauch getrockneter Kräuter mitbrachte.

Ich stand auf. »Eher ein wenig zu konkret.«

Wir hatten nun einmal unsere Regeln. Wir waren keine Wunschgeister.

Wir waren Hexen.

Ich holte eine Schale, legte das Kärtchen hinein und entschied mich nach einigem Überlegen für den Haselnusssirup.

»Erfolg beim Sport, so so«, erklang Beas Stimme direkt hinter mir und beinahe hätte ich die Flasche losgelassen. Meine Chefin schaute mir über die Schulter und ihre wachen Augen schienen das Kärtchen nahezu zu durchleuchten. »Sehr ehrgeizig.«

»Sie wirkte eher, als müsste sie sich etwas beweisen.« Ich träufelte Haselnuss-Sirup auf das Papier und gab nach kurzer Überlegung getrocknete Brennnessel hinzu. Dann legte ich Zeige-, Mittel- und Ringfinger beider Hände aneinander und schauderte ein wenig, weil die Finger meiner linken Hand eiskalt waren. »Also. Erfolg beim Leichtathletik-Wettbewerb am kommenden Samstag. Wir müssen ihre eigenen Kräfte aus ihr herausholen.«

»Du wirst bis an dein Lebensende mit deinen Zaubern reden, oder, Rosalie?«

»So kann ich mich besser konzentrieren«, log ich und widmete mich wieder der Mischung in der Schale.

Normale Hexen wirkten Magie, indem sie die Finger aufeinanderlegten und ihre Energie in den Zauber fließen ließen. Mehr Finger, mehr Magie. Das hier war ein Sechs-Finger-Zauber, komplexe Veränderungen und leichte Heilung. Genug für einen wachen Körper und belastbare Muskeln. Genug für Erfolg bei einem Leichtathletik-Wettbewerb.

Aber ja. Normale Hexen wirkten ihre Zauber stumm und schickten ihre Gedanken der Energie voraus. Anders als ich.

Ich atmete tief aus.

Magie rauschte einem Windhauch gleich an mir vorbei. Es fühlte sich an wie eine sanfte, vertraute Berührung. Die Buchstaben auf dem Kärtchen lösten sich auf, verschwanden im dunklen Sirup. Es roch so unglaublich stark nach Nuss, dass ich den Kopf abwenden musste. Also, wenn das Mädchen jetzt nicht mindestens auf Platz drei landen würde, dann hatte sie entweder nicht die Veranlagung dafür oder sollte dringend mehr trainieren gehen.

Ich mischte den fertigen Zauber mit ein wenig mehr Sirup und gab ihn schließlich in den Cappuccino. Dazu stellte ich ein Dessertglas mit Biskuitteig, Joghurt, Honig und Nüssen und schon konnte ich mich wieder auf den Weg nach draußen machen.

Wenn ich ehrlich war, hätte ich mir diesen Wettbewerb gern angeschaut, einfach um zu sehen, wie der Zauber wirkte. Aber das ging nicht.

Ich rümpfte die Nase für einen so kurzen Moment, dass hoffentlich kein Gast es gesehen hatte.

Nein, Samstag hatte ich leider etwas anderes vor.

***

»Und dann war sie beleidigt und hat den Kuchen wieder zurückgehen lassen.« Juli zog das Zopfband aus ihrem Haar und ein Schwall honigblonder Haare ergoss sich über ihre Schultern. »Als könnte ich was dafür, dass sie nicht weiß, dass Heidelbeeren Blaubeeren sind.«

»Kannst du nicht«, sagte ich und versuchte, meine Schürze noch langsamer zusammenzufalten. Aber wenn ich das Tempo noch mehr drosselte, faltete ich gleich rückwärts.

Juli merkte das zum Glück nicht. Sie hatte sich ihre Jacke übergestreift und ein breites Grinsen aufgesetzt. »Aber ihre Begleitung war so peinlich berührt, dass sie mir später extra Trinkgeld zugesteckt hat. Liegt jetzt in der Box, du-weißt-schon-wo.«

Die letzten Worte flüsterte sie und ich musste schmunzeln. »Dann hat es sich doch gelohnt.«

»Immerhin.« Juli nickte. »Tut mir leid, Rosa, aber ich muss zur Bahn. Wir sehen uns morgen?«

»Natürlich.«

»Ich freu mich!« Sie hob die Hand zum Gruß und verschwand dann durch die Tür an der linken Seite des Raumes nach draußen.

Ich atmete auf und knüllte meine Schürze und die gelbe Bluse der Café-Uniform zwischen meinen Fingern zusammen. Jetzt, wo Juli weg war, konnte ich meinen Spind endlich weiter als ein paar Zentimeter aufmachen. Die kleinen geöffneten Flakons, die auf der obersten Ablage aufgereiht waren, sollte Juli nämlich nicht sehen. Die sollte niemand sehen.

Ich griff gerade nach meiner Jacke, da verriet ihn ein Kribbeln in meinem Nacken – nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sein Karamellduft meine Nase erreichte. Ich wandte mich um zu der Gestalt mit den zerzausten dunklen Haaren und den geistergrauen Augen, und hob die Augenbrauen. »Bist du lebensmüde?«

Javid grinste und nahm mir die Bluse aus der Hand. »Im Gegenteil: Ich bin mal wieder dein Retter. Die hier wolltest du mitnehmen und waschen.«

»Das wusste ich. Ich wollte sie gerade in die Tasche packen.«

»Natürlich. Wie an den letzten drei Tagen, an denen du sie vergessen hast.«

Ich kräuselte die Nase und nahm ihm die Bluse wieder ab. Ja, Javid hatte recht – vor drei Tagen hatte ich mir vorgenommen, die Bluse zu waschen, und jedes Mal hatte ich wieder routiniert meine gesamte Arbeitskleidung in den Spind geworfen und war nach Hause gegangen. Zu meinem Lebensretter machte das Javid damit zwar nicht gerade, aber wahrscheinlich zu meinem Schweißflecken- und Geruchsretter.

»Ich pack sie ein, siehst du? Und jetzt verschwinde wieder, bevor Bea dich bemerkt. Die anderen sind ja auch …« Aber ich war einen Schritt zur Seite getreten und konnte nun an ihm vorbeischauen. Javid war nicht allein, auch Elyar und Nika hatten ihre Gestalt angenommen und saßen auf der Bank gegenüber der Spinde.

Wären wir woanders gewesen – zu Hause oder auf einer Parkbank oder in einem Café weit weg von hier – dann hätte ich mich neben Nika gesetzt, meinen Kopf auf ihre Schulter gelegt und ihr von meinem Tag erzählt. Aber hier im Umkleideraum konnte ich nicht mehr tun, als die drei mit meinen Blicken zu erdolchen.

Natürlich ignorierten sie das gekonnt.

»Bea ist drinnen und macht die Abrechnung«, sagte Nika.

»Und freut sich über die zusätzlichen Einnahmen heute am Tresen«, fügte Elyar hinzu.

Ich gab die erdolchenden Blicke auf. »Sie hat Trinkgeld bekommen?«

»Einiges. Irgendein zufriedener Kunde vom letzten Mal hat ihr ordentlich was in die Hand gedrückt für die kleine Tüte Honigbonbons, die er da gekauft hat. Hat wohl seine Erkältung auf ein paar Tage verkürzt.«

Nachdenklich stopfte ich Bluse und Schürze in meine Tasche. Aus dem Augenwinkel konnte ich beobachten, wie Javids Lippen sich zu einem amüsierten Lächeln hoben. Was war denn jetzt schon … Ah.

Während ich die Schürze betont lässig wieder aus meiner Tasche zog und in den Spind warf, sagte ich: »Dann gibt es demnächst wenigstens mal neue Räucherstäbchen. Nelke wurde mir langsam zu langweilig.«

»Das liegt daran, dass du sie allesamt nicht magst«, erwiderte Nika amüsiert.

»Wenn sie nach Schokolade riechen würden, würde ich sie vielleicht mögen.«

Räucherstäbchen waren ein zweischneidiges Schwert für unsereins. Rauch war tot, etwas vom Feuer Verzehrtes, und blockierte deshalb die magischen Ströme in der Luft und auch die Wirksamkeit von Zaubern. Wir konnten damit ungebetene Geister fernhalten und Zauber mildern, schwächten aber auch uns selbst.

Wenn ich in meiner Zeit im Honigmond allerdings eines gelernt hatte, dann dass Bea zwei Dinge besonders liebte: ihre Bienen und hochwertige Räucherstäbchen.

Letztere kaufte sie regelmäßig, immer dann, wenn das Trinkgeld dafür reichte. Irgendwann hatten wir Angestellten uns Horrorszenarien ausgemalt, in denen Bea die Miete für das Café nicht mehr zahlen konnte, weil sie sich mit einer Bestellung hochwertigem Kyara Fugaku (roch angenehm süßlich und ließ sich einiges kosten) übernommen hatte. Seither bewahrten wir unser Trinkgeld in einer Notfallbox auf – für den Moment, in dem Bea eines Tages unsere Hilfe brauchte. Ein Leben ohne das Café konnte – und wollte – ich mir nämlich nicht vorstellen.

Ich warf noch mal einen Blick in meine Tasche, um sicherzugehen, dass ich jetzt wirklich nur die Bluse eingepackt hatte.

Ja, sie war da. Und die schwarze Schürze mit dem Logo des Cafés und die schwarze Hose, die ich meist bei der Arbeit trug, lagen beide im Spind. Ich strich mein T-Shirt glatt. »Wartet ihr hier? Ich gehe mich eben verabschieden.«

»Verquatsch dich nicht wieder. Sonst haben wir keine Zeit mehr, dir die Haare zu färben«, sagte Elyar, der für meine ständig wechselnden farbigen Haarsträhnen verantwortlich war.

»Ich beeil mich, versprochen.«

Ihre Gestalten lösten sich in Luft auf und ein Hauch von Magie gefolgt vom Duft nach Schokolade und Haselnuss fegte an mir vorbei. Javid verblasste erst einen Moment später – wahrscheinlich, damit ich mich noch mal ausgiebig über sein amüsiertes Lächeln ärgern konnte. Manchmal machte diese wissende Miene mich wahnsinnig. Aber Javid gab stets auf mich Acht und war zur Stelle, wenn ich ihn brauchte. Da durfte er zwischendurch mal überheblich auf mich hinunter lächeln.

Ich schraubte die Flakons zu, an die sich meine Flaschengeister gebunden hatten, und räumte sie in meine Tasche, bevor ich mich zurück in den Hauptraum traute.

Nach Feierabend war das immer goldene Licht des Cafés erloschen und von irgendwo hinter dem Blauregen ließ ein bläuliches Nachtlicht die hölzernen Bodendielen gespenstisch blass erscheinen. Der Geruch nach Kaffee, Blumen und Holz hing immer noch in der Luft, wie ein Echo des bunten Treibens zwischen den Menschen und ihren Wünschen.

Bea saß bei Kerzenschein und einem angezündeten Räucherstäbchen mit einem Stapel Unterlagen an Tisch neun. Der Rauch von Myrrhe und Sandelholz sollte die Bienen fernhalten, die tagsüber versteckt zwischen den Blüten herumschwirrten und ihre Nistplätze im Innenhof hatten. Sie krabbelten nämlich gerne mal über Beas Finger, wenn die ihren Papierkram erledigte.

Eine Blumenwiese mitten in der Stadt – so hatte Bea das Café mal betitelt. Der letzte grüne Fleck auf Erden und eine Zuflucht für Wild- und Honigbienen, egal welche Katastrophe kommen würde. Und eine Zuflucht für mich, weshalb sie nicht nur die Bienenkönigin war, sondern auch irgendwie meine. Meine Queen-Bea.

»Ah, Rosalie.«

Ich hieß nicht einmal Rosalie, aber sie nannte mich so, weil sie den Klang dieses Namens lieber mochte als Rosa. Und manchmal nannte ich sie dafür Queen-Bea und an dem ganz leichten Lächeln um ihre Mundwinkel herum erkannte ich immer, dass ihr dieser Titel besser gefiel, als sie zugab. »Ich bin jetzt weg, bis morgen.«

Sie saß gar nicht mehr an den Abrechnungen, das sah ich von hier.

»Ich sitze gerade an den Schichtplänen«, sagte Bea da auch schon. »Du hast Freitag und Samstag Mittelschicht und am Sonntag Frühschicht eingetragen.«

Bea machte das gern. Sie sagte etwas, das nach einer Feststellung klang und in Wirklichkeit eine Frage war. Langsam nickte ich. »Ja … Ich hab da ein … Familiending am Samstag und deshalb passt mir die Spätschicht nicht.«

Bea begutachtete mich mit undurchschaubarem Gesicht. Im zuckenden Kerzenlicht schimmerte ihre Haut samten und auf dem bunten Tuch, das ihr die Haare aus dem Gesicht hielt, tanzten die Schatten. »Ein Familiending.«

Das war wieder eine Frage. Eine, die ich eigentlich nicht näher beantworten wollte – aber wenn Bea fragte, konnte ich nicht ausweichen. »Ja, eine Feier. Abends.«

Bea nickte langsam und runzelte dann die Stirn. »Isa hatte gefragt, ob sie die Schicht tauschen kann. Aber dann muss ich es anders machen. Soll ich dir am Sonntag frei geben? Dann würde ich deinen freien Tag von Montag auf Sonntag legen.«

Rasch steckte ich meine Hände in die Jackentaschen, damit ich gar nicht erst nervös an meinem T-Shirt herumzupfen konnte. Bea hatte mich schon mehrfach dafür gescholten. »Nein, nicht … Ich meine, ich brauche den freien Montag für die Uni.«

Bea hob eine Augenbraue. »Familie sollte über der Uni stehen, Rosa.«

»Ihr seid doch meine Familie, Queen-Bea.«

»Sei nicht albern.« Bea schmunzelte. »Das hier ist ein Arbeitsplatz und keine Familie.«

Ich sagte nichts darauf und lächelte einfach weiter in der Hoffnung, dass sie es dabei belassen würde. Je weniger ich darüber redete, desto weniger musste ich selbst darüber nachdenken. Und ich hatte es mir in den letzten Jahren abgewöhnt, viel über meine Familie nachzudenken.

Eine Weile hörte man nur das leise Summen der letzten Bienen irgendwo im Blauregen. Dann sagte Bea: »Gut, ich verstehe. Dann frage ich Juli morgen. Gute Nacht, Rosa.«

»Gute Nacht, Bea.«

Ich wandte mich um und sah zu, dass ich den Raum verließ, bevor die ungestellten Fragen mich einholen konnten.

Kapitel 2

»Hier, sie haben Hortensien. Wären die nicht was?«

Ich spürte nur Widerwillen beim Anblick der pompösen blauen Blüten. Viel zu groß, viel zu wuchtig. »Ich hatte eher an etwas Schlichtes gedacht …«

Elyar bedachte mich mit einem spielerisch tadelnden Blick. Nur seine vollen, geschwungenen Lippen verrieten die Ungeduld dahinter – immerhin jagte ich ihn nun schon durch den zweiten Blumenladen und lehnte jeden seiner Vorschläge ab. Aber er beschwerte sich nicht. »Rosa. Wir können keinen Strauß aus Veilchen und Gänseblümchen mitbringen. Für irgendetwas wirst du dich entscheiden müssen«, sagte er stattdessen.

Ja, das wusste ich doch. Ich wollte ja auch einen Blumenstrauß mitbringen … Aber es sollte nicht so wirken, als hätte ich mir viel Mühe gegeben – und auch nicht so, als hätte ich mir gar keine Mühe gegeben und einen Fertig-Strauß gekauft. Die Blumen sollten nicht zu bedeutsam sein, aber auch nicht wild zusammengewürfelt …

Ich nagte an der Innenseite meiner Wange herum und deutete schließlich auf ein paar weiße Schnittrosen. »Was ist damit?«

»Das sind … Rosen.«

»Die sind nicht zu groß. Aber auch keine Gänseblümchen.«

»Das schon, aber sind Rosen nicht …«

»Rosen haben nicht so die Bedeutung für uns.« Ich wollte seinen Einwand gar nicht hören. »Ja, ich glaube, wir sollten etwas mit Rosen machen. Mit weißen. Oder den blassgelben da drüben. Und nicht zu bunt!«

»Das wäre mir im Traum nicht eingefallen.«

Binnen weniger Minuten hatte Elyar mir aus blassgelben Rosen und orangefarbenen und roten Gerbera einen Strauß zusammengestellt, wie ich ihn mir in etwa vorgestellt hatte. Ich ließ die Blumen an der Kasse mit ein wenig grünem Farn und Eukalyptusblättern binden und in Papier einwickeln, zahlte und verließ den Laden schließlich mit einem Strauß im Arm.

»Es ist einfacher, dir die Haare zu färben, als Blumen für dich auszusuchen«, sagte Elyar draußen vor der Tür.

»Die Haare kann ich ja auch jederzeit umfärben.«

Es tat mir ja leid. Seine Vorschläge im ersten Laden waren wirklich toll gewesen – ein Hexenladen mit magisch gezüchteten zartblauen Tulpen und weißen und orangefarbenen Mini-Sonnenblumen, prächtig und perfekt für einen besonderen Strauß, aber eben nicht das Richtige für heute Abend.

»Du kannst die Blumen auch jederzeit ändern. Ein Fingerschnippen, und aus der Rose wird doch noch eine Hortensie.«

»Wag es und ich mach den Deckel von deinem Flakon nie wieder auf.«

Wenn die Flakons geschlossen waren, konnten die Geister sie nicht verlassen und ebenso wenig hören oder sehen, was außerhalb vor sich ging. Das war wie Hausarrest.

Ich drehte mich so, dass Elyar den Blumenstrauß nicht mehr erreichen konnte, und er hob die Finger. »Nur wenn du es wünschst, natürlich. Aber ich wäre bereit.«

»Nimm die Finger runter.«

Wir lieferten uns ein Blickduell, das Elyar ganz sicher verloren hätte, wenn nicht in diesem Moment Nikas warme Stimme erklungen wäre. »Sie haben tatsächlich was gefunden.«

»Daran hat ja auch nie jemand gezweifelt«, gab Elyar zurück und ich löste mich aus meiner verdrehten Haltung.

Javid und Nika hatten im ersten Laden aufgegeben und sich verzogen. Offenbar waren sie aber nicht – wie ich erst gedacht hatte – zurück in ihre Flakons verschwunden, die sicher verstaut in meiner Umhängetasche lagerten, sondern in das Treiben rund um den Gänsemarkt eingetaucht. Zumindest hatten die beiden Kaffeebecher mit dem Logo der Stadtbäckerei gegenüber in ihren Händen, von denen Javid nun mir und Elyar einen reichte. »Wir haben auch was gefunden.«

»Aber Vorsicht: Er hat sich vorhin noch daran zu schaffen gemacht«, ergänzte Nika, ihr Blick aus dicht bewimperten geistergrauen Augen lag auf mir. Ich runzelte die Stirn und warf Javid einen Blick zu, der wiederum mit der Zunge schnalzte.

»Probier. Sie hatten den Geschmack, den ich wollte, nicht. Also hab ich es selbst aromatisiert.«

Javid hatte zu Recht darauf verzichtet, auf meinen Becher einen Deckel zu setzen. Ich schnupperte immer zuerst an meinem Latte Macchiato, gerade wenn jemand anders ihn mir kaufte. Jetzt roch ich die süßliche Milch und den herben Kaffee und darunter … Ich nahm einen Schluck. »Kokos?«

Seine zufriedene Miene sagte alles. Erst nach meinem zweiten Schluck sagte er: »Ich dachte, du könntest etwas Leichtes gebrauchen.«

Damit hatte er recht. Ich wusste nicht, wie ein Blumenkauf zu so einem Stressfaktor werden konnte, aber der helle Geschmack von Kokos durchflutete meinen Kopf wie eine sanfte Welle kühlen Wassers und der Stress fiel von mir ab. Ich hatte die Blumen und einen Plan. Alles war gut.

Die Erleichterung musste sich auf meinem Gesicht abzeichnen, denn Nika warf Javid einen frustrierten Blick zu. »Schön. Du darfst morgen Abend den Film aussuchen.«

»Du hast nicht wirklich mit ihm gewettet«, sagte Elyar.

Nika zuckte mit den Schultern. »Ich hätte zu hundert Prozent auf Schokolade getippt.«

Ich grinste in meinen Becher hinein.

Meine Geister erfüllten schon seit Jahrzehnten die Wünsche jener Menschen, die ihre Gefäße fanden und sie daraus befreiten. Sie alle hatten ein Gespür für Wünsche und Nöte – aber Javid übertrumpfte die anderen um Längen. Wenn es darum ging zu wissen, was mir gerade guttat, hatte er bisher nicht ein einziges Mal verloren. Er wusste es einfach – schon bevor ich es wusste. Einen Latte Macchiato mit Kokosaroma hätte ich mir in diesem Moment zum Beispiel nie bestellt, aber mit dem ersten Schluck war mir klar geworden, dass ich genau das gebraucht hatte.

Die beiden anderen verließen sich auf ihn wie auf einen älteren Bruder, und ich mochte diese Vorstellung. Wir waren eine Familie, obwohl wir eigentlich keine waren. Aber irgendwie doch. Weil wir aufeinander Acht gaben und weil sie sich ebenso sehr nach Zuhause anfühlten wie das Honigmond.

Während die anderen drei über den Film für morgen Abend diskutierten, schlenderte ich in Richtung U-Bahn und schlürfte weiter an meinem Macchiato.

Jetzt lag erst einmal eine Viertelstunde Bahnfahrt bis Harvestehude vor mir – das war genug Zeit, um ein paar Ideen für die Gruppen-Exkursion vorzubereiten, die im Sommer anstand. Seit anderthalb Jahren studierte ich nun Biologie an der Universität Hamburg und Gruppenarbeiten waren mir immer noch ein Gräuel. Viel lieber arbeitete ich zu Hause in meiner kleinen Wohnung. Allein – mit einem süßen Kaffee auf dem Tisch und Flaschengeistern, die um mich herumschwirrten. Die Geister redeten mir wenigstens nicht rein. Und wenn doch, dann konnte ich sie ignorieren, weil sie nicht an meinen Hausarbeiten beteiligt waren.

Ich war gerne gut vorbereitet und die grobe Struktur für unsere Versuche hatte ich bereits im Kopf. Ich wollte es gerne genau so machen. Nicht anders. Nicht mal ein bisschen anders. Aber Gruppenmitglieder neigten eben dazu, doch noch mal etwas ein bisschen anders machen zu wollen.

Ich warf einen Blick auf mein Handy, um zu schauen, ob wir uns schon auf eine Uhrzeit geeinigt hatten, aber mein Vorschlag stand immer noch von allen gelesen und unbeantwortet im Raum.

Im Chat darunter war die überraschende Nachricht, die ich heute Morgen erhalten hatte.

Hab das Geschenk, bringst du Blumen mit?

Typisch, wie immer auf die letzte Sekunde.

»Du musst da übrigens nicht hin. Ich könnte dich nach Italien schicken. Oder nach Paris. Oder wäre dir Hawaii lieber?«

Ich hatte gar nicht gemerkt, wie Javid neben mich getreten war. Wir tauchten ein in das Innere der U-Bahn-Station, die Sonne wich kühlem Schatten und der typische Geruch nach billigem Putzmittel und menschlichen Ausdünstungen nahm zu.

»Ich muss … Ich will dahin«, korrigierte ich mich. »Und du kannst mich nicht einfach nach Italien versetzen, ich muss morgen arbeiten.«

Javid verschränkte die Arme vor der Brust und sah wie so oft auf mich hinunter. Er war heute mal wieder eine besonders eindrucksvolle Erscheinung, enges T-Shirt und Sonnenbrille im zerzausten Haar. Auf dem Marktplatz hatte man ihm nachgestarrt, das hatte ich genau gesehen. Ich dagegen fand diese Aufmachung irgendwie unnötig. Mein liebster Javid war der, der morgens in schlabberigen Klamotten durch die Wohnung taperte und die Pflanzen goss. Aber er gab nun mal gern an, etwa genauso gern, wie er aus den Augenwinkeln auf mich hinuntersah. »Du könntest die Arbeit aussetzen. Einfach mal Urlaub machen.«

»Ich lasse Bea aber nicht sitzen.« Ich boxte ihm sanft in die Seite. »Außerdem haben wir einen Deal und der Deal besagt, dass ihr mir in meinem Alltag helfen müsst. Nicht in meinem Urlaub. Ich will mich nicht nach Italien absetzen.«

»Aber es wäre definitiv Italien und nicht Hawaii?«

»Javid …«

Er grinste. »Ich mein ja nur. Du hattest gerade diese Sorgenfalte auf der Stirn.«

Wir schlängelten uns an einer Gruppe Mädchen vorbei, die direkt am Fuß der Treppe stand, und ich hatte Zeit, meine Sorgenfalte zu glätten. Zu Javid sagte ich: »Das war keine Sorgenfalte. Ich hab über die Ökologie-Exkursion nachgedacht.«

»Natürlich«, sagte er sarkastisch.

»Ich hab wirklich nur über die Uni nachgedacht. Hier.« Ich hob den eingepackten Blumenstrauß in die Höhe. »Damit bin ich zufrieden. Was jetzt kommt, wird ganz entspannt.«

Es wirkte nicht so, als würde er mir glauben.

Die gehobenen Augenbrauen sprachen zum Beispiel nicht dafür.

»Was ist?«, fragte ich.

»Nichts.« Endlich wandte er den Blick ab. »Ich dachte, du wärst besorgt. Aber ich hab mich wohl geirrt.«

»Hast du.« Ich warf einen weiteren Blick auf mein Handy, dann sah ich mich nach Nika und Elyar um, die uns in einigem Abstand folgten. Mit einem Winken machte ich sie auf mich aufmerksam und bedeutete ihnen, sich zu beeilen. »Und jetzt los, die Bahn kommt gleich und ich will nicht noch später kommen.«

***

Die Wahrheit war, dass ich gern noch später kommen wollte.

Und dass ich sehr wohl besorgt war.

Als ich kleiner gewesen war, wäre beides nicht vorgekommen. Damals hatten wir aber auch noch im Haus in Ohlsdorf gewohnt, wo in jedem Raum Kübel voller Blumen standen und alles nach Lilien roch. Wo ich auf der Terrasse jedes Mal halb auf dem Tisch gesessen hatte, um meiner Mutter beim Herstellen von Zaubern zuzusehen. Wo ich beschlossen hatte, Heilerin zu werden.

Diese Erinnerungen waren wie ein Traum aus Rosa und Gelb und Weiß und dem schweren Duft tausender Blüten und poliertem Parkett. Der Traum war schon vor Jahren zerplatzt, als Pa nach Mas Tod das Haus verkauft hatte und nach Winterhude gezogen war.

Das neue Haus hatte einen gepflegten grünen Rasen und eine ebenso gepflegte Hecke und lustige weiße Fensterläden. Es lag in der Scheffelstraße, nur wenige Minuten Gehweg von der Alster entfernt. Der frische Wind fegte an mir vorbei und puderte die parkenden Autos mit gelben Pollen. Das Vogelzwitschern, der Duft nach Blüten und Bäumen, das satte Grün über mir – all das schrie nach Frühling und Wärme und meine Hände waren eiskalt und mein Herz klopfte wie ein verzweifelter Gefangener in seinem Käfig.

Ich hasste es, so viel Panik vor diesem Abend zu haben. Aber seit zwei Jahren war jeder Besuch eine Zerreißprobe und jeder Abschied von hier machte mich um mehrere Zentner leichter.

Die kleinen Flakons in meiner Tasche wogen schwer, aber obwohl sie geschlossen waren und meine Geister nichts mitbekommen würden, wollte ich nicht zögern, nicht mal eine Sekunde lang. Energisch streckte ich die Hand nach dem Klingelknopf aus.

Mein Finger war noch ein paar Zentimeter von der Klingel entfernt, da öffnete sich die Tür und Indigos breitschultrige Gestalt kam zum Vorschein. »Da bist du ja. Ich hatte gesehen, dass jemand vor der Tür stand.«

Er trainierte zu viel. Bald waren seine Oberarme so groß wie sein Kopf. Wenn ich ihn jetzt ansah, fiel es mir schwer, mir den Spargeljungen vorzustellen, mit dem ich mich im Kindergarten zusammen unter der Holzburg auf dem Spielplatz versteckt und Unkraut zerpflückt hatte.

Ich schmunzelte. »Ich wollte gerade klingeln.«

»Soll ich die Tür wieder zu machen?«

»Quatschkopf. Lass mich rein.« Ich trat an ihm vorbei in das Haus, in dem es nach Lack und Papier roch – und nach irgendetwas Gebratenem. Mein Magen rumorte, obwohl mein Appetit auf dem Weg hierher verloren gegangen war. »Sind schon alle da?«

»Ja. Du bist die Letzte.«

Ich streifte meine Schuhe ab und folgte Indigo den cremefarbenen Flur hinunter. Wenn ich an dieses Haus dachte, dachte ich zuerst an Cremeweiß. Die Tapeten waren creme, die Möbel weiß, die Blumenvasen auf den Möbeln weiß, die Papierblumen in den Vasen staubig cremefarben … Es war, als hätte mein Vater keinen Platz mehr für Farben in seinem Leben gehabt.

Deshalb überkam mich bei diesen Besuchen auch jedes Mal der Drang, ebenso farblos zu sein. Heute hatte ich mich nach Feierabend auf die Mitarbeitertoilette verzogen, damit Elyar mir die blauen Strähnen aus den Haaren entfernen konnte. Normalerweise kam ich ohne ein paar bunte Strähnen nicht aus – jetzt aber trug ich nur meinen langweiligen schwarzen Bob, dazu eine schwarze Stoffhose und eine weiße Bluse mit Spitze am Saum und einem kleinen Silberknopf oben am Kragen.

Indigo war heute auch komplett in Schwarz, elegant und traurig zugleich – und weil Indigo es trug, sah es ziemlich gut aus. Alles, was Indigo trug, sah gut aus. In meiner Teenager-Zeit hatte ich heftig für ihn geschwärmt und mir romantische Szenen ausgemalt, in denen er endlich merken würde, dass wir mehr als Kindergarten-Freunde waren. Irgendwann waren wir dann mehr geworden.

Und jetzt waren wir nicht einmal mehr wirklich Freunde.

»Deine Haare sind länger geworden, oder?«, fragte er. »An Weihnachten waren sie richtig kurz.«

»Ich hatte dich ganz schön schockiert damit.«

»Unsinn.«

»Ich erinnere mich gut an deinen Blick. Versuch erst gar nicht, es abzustreiten.«

Indigos Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Schön. In meinem Kopf hattest du eben noch lange Haare. Du hättest uns ja auch vorwarnen können. Oder ein Foto schicken.«

»Dann hätte ich mir dein Gesicht ja entgehen lassen.«

Er gab mir einen freundschaftlichen Schubs, der meinem Arm weniger wehtat als meinen Eingeweiden. Ich mochte sein Lächeln immer noch. Und seine Art. Und wenn ich es zugelassen hätte, dann hätte ich mich in seiner Gegenwart unheimlich wohlfühlen können.

Nein, ich hatte ihnen meine kurzen Haare nicht verschwiegen, um sein entsetztes Gesicht live sehen zu können – und das wusste er auch. Er wusste nur nicht, warum ich stattdessen kaum noch mit ihnen sprach.

Wir betraten das Wohnzimmer, in dessen cremefarbener Einrichtung der große schwarze Fernseher fast bunt aussah. Der Glastisch in der rechten Hälfte des Raumes war für fünf Leute gedeckt und die Tür zur Küche geschlossen. Der Geruch nach Gebratenem wurde mit jedem Schritt intensiver.

In der linken Hälfte des Raumes, dort wo der Fernseher stand, hing Amber auf einem der Sofas, halb sitzend, halb liegend. Mit dem weißen Kleid und der hellen Haut war sie beinahe unsichtbar auf dem weißen Bezug. Sie hatte das käsekuchenblonde Haar brav geglättet und mit einem Haarreif zurückgeschoben und ließ mich an Beas berüchtigte Honig-Baiser-Torte denken, die es immer nur im Sommer und an ganz besonderen Tagen gab.

Amber war damals das Kind gewesen, das sich am meisten geprügelt hatte und stets mit mindestens einem aufgeschürften Knie nach Hause gekommen war. Für Unkraut unter Spielplatz-Burgen hatte sie keine Zeit gehabt – dafür aber, um mit mir zu Hause Zauber auszuprobieren, mit denen wir am Ende dann Teppiche oder Kissen in Säure auflösten oder unsere T-Shirts zu Zeltgröße wachsen ließen.

»Rosie!« Kaum hatte sie uns bemerkt, klappte Amber das Buch in ihren Händen zu, sprang auf und drückte mich. »Ich dachte schon, du sagst ab. Dann hätte ich mich hier mal wieder zu Tode gelangweilt. Komm!« Sie zog mich auf das zweite Sofa. »Bring mich auf den neusten Stand. Was macht das Studium? Du hast viel Zeit. Leo und Jan diskutieren noch in der Küche.«

Das fand ich gut, aber mein Magen leider nicht. Ich zog die Knie an, damit man ihn nicht so sehr grummeln hören konnte. »Worüber diskutieren die beiden denn?«

Amber schnaubte. »Frag mich nicht. Aber Leo hat sich unheimlich aufgeregt. Sprechen wir sie lieber nicht drauf an.«

Ähnlich wie Indigo, Amber und ich, kannten auch Leo und mein Vater sich schon seit Ewigkeiten. Sie hatten alles gemeinsam durchgemacht, Schule, Uni, Liebeskummer, Hochzeiten – und sich damals geschworen, ihre Kinder nach Farben zu benennen, sollten sie mal welche haben. Und deshalb klangen wir alle wie Charaktere aus einem Kinderbuch. Vor allem Indigo hatte das in der Pubertät nicht lustig gefunden.

»Hauptsache, sie zerfetzen da drinnen nicht das Chop Suey.« Indigo ließ sich in den Sessel fallen. »Ich hab nämlich aufs Mittagessen verzichtet für dieses Abendessen.«

Er wedelte mit dem Zeigefinger, das Buch in Ambers Hand entriss sich schwungvoll ihrem Griff und landete ebenso schwungvoll auf meiner Nase. Ich packte es mit vorwurfsvollem Blick.

»Hör auf mit dem Quatsch. Bist du nicht medizinischer Assistent? Was soll die Telekinese?«, schimpfte Amber.

»Hab ich mir selbst beigebracht, in meiner Freizeit.«

»Ach? Letztens sagtest du noch, ihr hättet so viel zu tun, dass ihr keine Freizeit habt?«

»Ist auch so. Aber davor halt.«

Amber warf mir einen entnervten Blick zu. »Entschuldige meinen Bruder. Seit er seinen Job hat, trägt er die Nase ganz schön weit oben.«

»Hat er doch schon immer.«

»Ich meine noch weiter oben.«

»Ich kann euch übrigens hören«, sagte Indigo und zog mit einem Fingerschnippen zwei weitere Bücher aus dem Regal hinter dem Sofa, auf dem Amber saß. Mit diesen dreien jonglierte er betont lässig.

Amber lehnte sich in meine Richtung und sagte: »Du darfst mir jetzt gerne erzählen, wie es bei dir läuft, und den aufgeblasenen Gockel da vorne ignorieren. Wie waren deine Prüfungen?«

Das Schlimmste war, dass diese beiden sich wirklich nie veränderten. Indigo machte Unsinn. Amber schimpfte mit ihm. Nur versetzte sie ihm mittlerweile keine Tritte mehr.

Ich blendete Indigo aus – er war noch schlimmer im Angeben als Javid – und versuchte, mich an meine Prüfungen zurückzuerinnern. Die waren ein paar Monate her. »Gut. Sie waren weniger schwer, als ich gedacht hatte.«

Amber nickte und lehnte sich wieder ein Stück zurück, ihr Haar hüllte mich für einen Moment in eine Wolke aus Pfirsichgeruch. »Bei mir auch. Obwohl das natürlich etwas komplett anderes ist.«

»Ist es gar nicht so sehr …«, hob ich an, aber Amber ließ mich nicht weiter reden.

»Doch, schon. Meine praktischen Prüfungen hättest du locker geschafft, ehrlich. Einfach weil du ein Talent für so etwas hattest.«

Hattest.

Ich sprach es nicht aus und sagte stattdessen: »Unsinn.«

»Doch, wirklich.«

»Sag das nicht so.«

Sie lachte. »Ich kann es dir eh nicht beweisen, außer du schreibst dich endlich für Heilmagie ein. Machst du das, wenn du fertig mit deinem Bachelor bist?«

Sie meinte es nicht böse, aber trotzdem versetzte mir dieser Kommentar einen Stich. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich mich nicht aus Trotz für Biologie und gegen ein magisches Studienfach entschieden hatte.

Nach der vierten Klasse hatten wir uns geschworen, gemeinsam an die WUH zu gehen, die Universität für Hexen in Norddeutschland – und ich war es gewesen, die schließlich einen Rückzieher gemacht und sie damit verletzt hatte.

Aber ich konnte unmöglich Heilmagie oder magische Erziehung studieren, wenn ich für alles ab einem Vier-Finger-Zauber einen Flaschengeist brauchte. Im Café war das in Ordnung, da half ich mit kleinen Tricks nicht-magischen Menschen. Aber ein Studium schaffte ich entweder selbst oder gar nicht. Ich würde keinen Abschluss erwerben, weil ich eine miese Hochstaplerin war.

Und genau das war ich.

Eine Hochstaplerin und Lügnerin.

Und deshalb sagte ich auch nicht Nein, sondern nur: »Mal sehen. Erst einmal muss ich den Bachelor abschließen.«

»Kannst du mit deinem Bachelor denn was anfangen?«, fragte Indigo und das nicht zum ersten Mal in diesen anderthalb Jahren. So wie ich ihn kannte, tat er das in diesem Fall aber nur, damit wir ihm wieder beim Jonglieren zusahen.

Amber blickte ihn an, als wollte sie ihn vielleicht doch wieder treten. Oder mit einem Kissen bewerfen.

»Kann ich. In den meisten Punkten stimmen Magie und Naturwissenschaft überein, egal was der Irrglaube sagt«, sagte ich. Indigos fließende Bewegungen gerieten leicht ins Straucheln und ich fuhr fort: »Biologie ist nur ein anderer Blickwinkel und es ist gar nicht so falsch, den auch mal kennenzulernen – gerade für magische Pädagogik oder Heilung.«

»Guter Punkt«, sagte Amber. »Medizinisch könnten die magischen und nicht-magischen Felder sehr voneinander profitieren.«

Ich grinste und fühlte mich für einen Moment wieder wie damals, als wir ein unzertrennliches Trio gewesen waren. Aber nur für einen Moment. Dann umklammerte ich im Schoß meine linke Hand und das Wie-früher-Gefühl zog sich zurück in seine Schublade meiner Erinnerungen.

»Das Gesetz sagt aber, dass magische und nicht-magische Medizin zwei unterschiedliche Praktiken sind, die man zum Schutz beider Berufszweige nicht vermischen darf«, dozierte Indigo.

Diesmal warf Amber wirklich etwas. Allerdings kein Kissen, sondern ein Buch. »Mach bitte deine Tricks und nerv nicht.«

Das Buch stoppte auf halbem Weg und fügte sich dem ewigen Jonglier-Kreislauf, den Indigo jetzt mit einer Hand meisterte.

Ich verdrehte die Augen. Vielleicht war er in den letzten Jahren noch ein bisschen mehr zum Angeber geworden. Ich konnte es ihm allerdings nicht so wirklich verübeln.

Er war unheimlich magisch begabt – so sehr, dass er die Ausbildung zur medizinischen Assistenz in Rekordzeit absolviert und direkt eine Stelle bei einer Hexe in der Stadt gefunden hatte. Aber da lag seine Grenze. Denn nur Hexen konnten Zauber herstellen und sie auf lebendige und nicht lebendige Dinge wirken. Indigo oder auch mein Vater dagegen waren, wie fast jeder Mann in der magischen Gesellschaft, sogenannte Trickster, Menschen ohne schöpferische Energie. Sie konnten Gegenstände zum Schweben bringen, nicht lebendige Dinge erwärmen oder erkalten lassen und in seltenen Fällen vergrößern oder verkleinern. Während Amber und ich also früher Teppiche mit Zaubern aufgelöst hatten, hatte Indigo mit einem Erste-Hilfe-Kasten daneben gesessen und zugeschaut.

»Machst du es deshalb?«, fragte Amber da und ich war so versunken in den Gedanken an verätzte Teppiche, dass ich nicht wusste, was sie meinte. »Was?«

»Das Studium. Für einen Perspektivenwechsel. Sonst hättest du doch auch an der WUH studiert.«

Ich starrte sie an und wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. »Na ja …«

Aber in diesem Moment ging die Tür zur Küche auf, heiße Luft trug den Duft von Gemüse, Sesamöl und Sojasoße herein, und ihr folgten Leo und mein Vater, beide mit roten Wangen und einem leichten Schweißfilm auf der Nase.

»Essen!« Indigo ließ die Bücher fallen.

Der Blick seines Vaters huschte einen Moment über die Szenerie, aber er kommentierte sie nicht. Seelenruhig stellte er die Schüssel mit Gemüse und Tofu auf den Tisch und wandte sich mir mit einem Lächeln zu. »Und Rosa ist auch da. Schön, dich mal wieder zu sehen.«

»Freut mich auch, Leo. Ich kann nur nicht lange bleiben, ich hab morgen Frühschicht.«

»Wie so oft, du Arbeitstier.«

Ich lächelte und ließ mich von ihm umarmen. Dann wandte ich mich an Pa.

Mein Vater war eine eindrucksvolle Gestalt von fast zwei Metern Größe mit einer ziemlich markanten Nase und stechend blauen Augen. Ich sah ihm kaum ähnlich und kam viel mehr nach meiner Mutter – das hatte mir die markante Nase erspart und dafür hellbraune Augen und ziemlich viele Leberflecke beschert. Leider reichte ich meinem Vater deshalb aber auch nur knapp über den Bauchnabel.

Das war jedoch nicht der Grund, weshalb ich mich kaum bewegen konnte und meine Hände schon wieder eiskalt wurden.

Ich versuchte ein Lächeln und dann hatten sich Pas Arme auch schon um mich geschlungen. »Hallo, Rosa.«

»Hey, Pa.« Deo und eine leichte Note von Lavendel. Zuhause. Pa, wie er die Tapete reinigte, die ich aus Versehen gefärbt hatte. Pa, der stolz lächelte, als ich ihm mein Zeugnis präsentierte. Pa am Flughafen, wie er mir zuwinkte. Mein Herz wurde schwer, weil all das nicht mehr war. Ich löste mich von ihm und strahlte ihn trotzdem an, die gute Lügnerin, die ich nun einmal war. »Alles Gute zum Geburtstag.«

***

Wenig später hatte Pa das Buch über die Hexenverbrennungen von Salem ausgepackt, das Indigo von einem Freund aus den USA hatte verschicken lassen, weil es nicht bis nach Europa verkauft wurde.

Pa war an der WUH angestellt, zur Hälfte als Professor für die Geschichte der Hexen und Trickster und zur anderen Hälfte als Chronist. Seine Sammlung an Büchern über die Geschichte magisch Begabter war riesig und früher hatte ich die besonders alten Wälzer gern aus dem Regal gezogen und einfach die schnörkelige Schrift und die Bilder aus dicken Tuschestrichen betrachtet. Manchmal hatte ich mit Amber einen Lesewettbewerb veranstaltet – wer im Buch zuerst das Wort hingerichtet oder verhext fand. Manchmal durfte Indigo mitmachen, dann suchten wir nach dem Wort Trickster. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich wieder den alten Staub und die vergilbten Seiten riechen, war wieder sieben Jahre alt und saß in Pas Arbeitszimmer.

Jetzt wusste ich nicht einmal mehr, wie viele Bücher in der Zwischenzeit hinzugekommen waren. Amber hatte das Salem-Buch als Geschenk vorgeschlagen, sie hatte durch Leo davon gehört. Nach Pas leuchtenden Augen zu urteilen, war das Buch bisher nicht in seinem Besitz gewesen und er würde es aufklappen, sobald wir aus dem Haus waren. Aber vorerst legte er es neben die Vase, in die er den Strauß aus Rosen und Gerbera gesteckt hatte, auf den kleinen Couchtisch.

»Du bist die Einzige, die ihm keine Lilien geschenkt hat, glaube ich«, sagte Amber leise, als wir uns an den blitzblank geputzten Glastisch setzten. Und als ich mich umsah, fügte sie hinzu: »Er hat sie vorhin alle nach oben gebracht. Sträuße von der Uni und so.«

Ich nickte vor mich hin und eine leise Stimme sagte mir, dass es andersherum hätte sein müssen. Dass ich als Pas Tochter ihr das erzählte.

»Hätte er Lilien haben wollen?«, fragte ich ebenso leise zurück und bemerkte nur am Rande, wie Indigo mir Reis auf den Teller schaufelte.

Amber zuckte mit den Schultern. »Er hat gesagt, es mache ihm nichts aus.«

Vielleicht hatte Pa die Lilien meinetwegen aus dem Wohnzimmer geräumt. Solange Ma gelebt hatte, waren sie seine Lieblingsblumen gewesen – auch, weil Ma auf Lilienbasis gezaubert hatte. Wir alle hatten unsere eigene Basis, wir fanden sie irgendwann ganz von selbst. Sie war ein Teil unserer Persönlichkeit. Beas Zauber basierten auf Honig, Mas auf Lilien und Ambers auf Salz.

Meine Basis war Zucker – am liebsten brauner Rohzucker, aber seit ich die Geister hatte, nutzte ich die für mich weniger energetische Version in Form von Kaffeesirup. Es war die beste Lösung gewesen, meine Geister zu verstecken. Sie brauchten ein Gefäß und ich brauchte eine Möglichkeit, mit ihnen auch während der Arbeitszeit in Kontakt zu treten. Und niemand wunderte sich über Kaffeesirupflaschen in einem Café. Solange meine »Zauber« funktionierten, stellte auch niemand in Frage, ob Sirup nun eine gute Basis war oder nicht.

Ich merkte, wie ich unverwandt meinen Reis anstarrte, und setzte rasch ein Lächeln auf. Neben mir nahm Indigo sich gerade von dem Chop Suey und ich wartete, bereit, ihm die Schale abzunehmen.

»Wir machen das viel zu selten«, sagte Leo da. Als ich mich ihm zuwandte, lächelte er. Er war kleiner als Pa und weniger eindrucksvoll, hatte dunkelblondes Haar und eine Hakennase und unheimlich viele Lachfalten unter den Augen, weil seine Augen meist lächelten, bevor es seine Mundwinkel taten. »So zusammensitzen. Seit ihr alle studieren gegangen seid, sieht man euch kaum noch.«

»Wir treffen uns mindestens einmal im Monat«, widersprach Indigo und reichte mir das Chop Suey.

Ich wich seinem Blick über die Schüssel hinweg aus und erwiderte: »Ich hab eben viel zu tun. Das Studium und der Nebenjob – und ohne den Job wird es mit der Miete eng.«

»Du weißt, dass ich dir immer aushelfen werde, wenn es nur darum geht«, sagte Pa. Ich öffnete den Mund, aber er war schneller und fügte sanft hinzu: »Aber ich weiß ja, dass es dir wichtig ist, das allein hinzubekommen.«

»Genau.«

Ich schöpfte so schwungvoll Chop Suey aus der Schüssel, dass ein paar Spritzer davon auf meiner Bluse landeten. Großartig.

Als hätte ich einen Alarmknopf gedrückt, starrten alle den Fleck an.

»Kastanienschale müsste im Badezimmerschrank liegen«, sagte Pa.

Amber schob ihren Stuhl ein Stück zurück. »Ich mach das. Das Salz steht ja schon hier. Oder soll ich dir den Zucker aus der Küche holen?«

»Nein, ich …« Ich brach ab. Flecken zu entfernen erforderte die Veränderung von Molekülen. Das war ein Vier-Finger-Zauber, den konnte ich nicht so einfach ausführen. Nicht ohne die Hilfe der Geister.

Für einen Moment haderte ich mit mir, aber es ging nicht. Ich konnte nicht einfach vor den Augen meines Vaters so tun, als würde ich zaubern. Also schüttelte ich den Kopf. »Ich glaub, es geht schneller, wenn du es machst. Danke.«

Und wieder einmal wünschte ich mir, ich wäre doch zu Hause geblieben.

Amber rutschte von ihrem Stuhl und eilte los, wovon sie nicht einmal der mahnende Ruf ihres Vaters abhalten konnte.

»Bei so einem Vier-Finger-Zauber ist das doch nur eine Frage von Sekunden«, sagte Pa. »Zumal es beim Zaubern nicht um Schnelligkeit gehen sollte.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Es war stressig heute, mir fehlt gerade die Konzentration.«

Und es war, als würden die Flakons in meiner Tasche im Flur mich rufen, als würden sie an mir ziehen und mich dazu verführen wollen, diese Lüge auffliegen zu lassen.

Aber ich blieb sitzen und wartete, bis Amber sich mit ihrer Mixtur aus Kastanienschale, Salz und Wasser neben mich stellte, Daumen und Zeigefinger der rechten und linken Hand aneinanderlegte und ihre Magie in die Mixtur einwebte. Danach war die Flüssigkeit weiß und dickflüssig, ohne einen einzigen Klumpen, perfekt ausgeführt. Ich tupfte etwas davon auf die Soßenflecke und sie verschwanden binnen einer Minute.

Amber war unheimlich gut geworden.

Aber als die Perfektionistin, die sie nun einmal war, schob sie das Käsekuchenhaar über die Schulter und runzelte die Stirn. »Das ging nicht so flüssig, wie es hätte sein sollen.«

»Es war großartig«, erwiderte ich und deutete auf ihren Stuhl, damit sie sich wieder hinsetzte. »Man merkt, dass du deine Topnoten beibehältst.«

»Du wärst besser.«

Gewesen.

Ich bemerkte Pas stolze Miene in Richtung Amber und schon verknotete sich mein Magen. Ich konnte hier unmöglich etwas essen. Egal, wie gut Pa kochte.

Ma hatte nie gekocht, sie war zu beschäftigt mit ihren Zaubern gewesen. Sie hatte einen sehr guten Ruf genossen und Pa hatte immer gesagt, ich hätte ihr Talent geerbt. Seine Hoffnungen in mich waren riesig. Viel zu riesig. Er wartete darauf, dass ich Karriere machte, mit Bestnoten die Uni abschloss und dass mein Name irgendwann in den Büchern zu finden sein würde, die er sammelte und las.

Was würde er sagen, wenn er wüsste, dass seine einzige Tochter keine Magie mehr wirken konnte?

Ich hatte mal versucht, es mir auszumalen, und ich würde um jeden Preis verhindern, dass ich je in diese Situation kam. Und wenn das hieß, dass er jetzt Amber stolz ansah und nicht mich.

»Dein Zauber war sehr gut, Liebes«, mischte Leo sich nun ein. »Lass doch das Vergleichen – selbst wenn Rosa irgendwann die Heilmagie wieder aufnimmt, werdet ihr da beide euren ganz eigenen Weg finden.«

»Vor allem wirst du fertig sein, bevor ich damit anfange«, fügte ich hinzu.

Zu meiner Überraschung sah Pa daraufhin gar nicht so kritisch drein, wie er sonst bei dem Thema dreinschaute. Stattdessen legte er den Löffel nieder. »Wenn wir schon dabei sind – ich habe mir selbst auch etwas zum Geburtstag geschenkt.«

Dabei? Wo dabei?

Und warum sah Leo Pa plötzlich kritisch an, inklusive der drei tiefen Finde-ich-nicht-gut-Falten auf seiner Stirn? »Wollten wir nicht erst essen? Das ist kein guter Zeitpunkt.«

»Ja. Das Essen wird kalt«, kam es von Indigo, der seinen Löffel immer noch in der Hand hielt.

Pa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Rosa.« Er richtete sich so plötzlich an mich, dass ich meinen Löffel beinahe in Ambers Reinigungszauber gesteckt hätte.

»Pa?«

Sein feierlicher Blick behagte mir gar nicht. Hinter meinem Lächeln wurde ich zu Stein und Eis und mein Herz wollte panisch aus meinem Brustkorb springen.

Bei meinem Auszug hatte Pa mich zu überreden versucht, bei ihm wohnen zu bleiben, weil wir uns nach Mas Tod doch brauchten.

Aber da hatte er recht schnell eingesehen, dass er mich nicht zwingen konnte. Heute würde es ebenso sein, egal worum es ging.

Ja.

Ganz sicher.

»Leo hat recht damit, dass wir uns viel zu selten sehen«, sagte Pa und in Leos Gesicht zuckte es. Er blieb aber still sitzen und starrte Pa an, ein Mahnmal am Esstisch. »Ich sehe, wie Amber in ihrem Studium unheimliche Fortschritte macht, aber dich, Rosa, sehe ich so gut wie gar nicht.«

Ich legte den Löffel hin – nicht in den Reinigungszauber – bereit meine Litanei an Ausreden aufzusagen. »Ich weiß, aber ich …«

»Das ist schon in Ordnung«, unterbrach Pa mich jedoch. »Ich merke ja auch, wie die Kluft zwischen euch größer wird und dir ist es nicht leicht gefallen, deinen Traum vom magischen Studium aufzugeben. Du konntest verletzungsbedingt nach deinem Busunfall in Thailand nun einmal nicht an der Aufnahmeprüfung teilnehmen.«

Ja, auch wenn sie nie erfahren hatten, wie schwer ich verletzt gewesen war. Von meinem wochenlangen Krankenhausaufenthalt hatten sie nichts erfahren, damit sie sich keine Sorgen machten. Und auch, damit ich mir einreden konnte, dass ich die Magie in meinem linken Arm noch zurückgewinnen konnte.

Aber warum musste Pa das jetzt erwähnen? Hatte er nicht gesagt, er wollte sich selbst etwas zum Geburtstag schenken? Warum ging es dann plötzlich um mich und mein nie begonnenes Studium?

Ich merkte, wie das Lächeln von meinem Gesicht verschwand. Indigo neben mir tippte mit seinem Löffel unablässig auf den Reis und das kaum hörbare Geräusch kam mir unheimlich laut vor, wie das Ticken einer Bombe.

»Was ich sagen will, ist: Ich möchte nicht, dass wir uns weiter entfremden«, fuhr Pa fort. »Ich möchte nicht, dass du dich schlecht fühlst oder etwas aufgeben musstest, und uns deshalb meidest. Ich möchte, dass du zufrieden bist.«

Ich war zufrieden.

So zufrieden, wie man eben in dieser Situation sein konnte.

»Deshalb habe ich Kontakt zu Martha Waris aufgenommen. Sie war eine Kollegin deiner Mutter und gilt mittlerweile als Beste auf dem Gebiet der Heilung. Sie sucht momentan nach Auszubildenden und ich habe deinen Namen in den Ring geworfen.« Pa strahlte. »Was sagst du dazu, Rosa?«

In meinem Schoß ruhte meine linke Hand auf meinem Oberschenkel, fünf Leberflecke in Form eines Ws auf dem Handgelenk, zwei eingerissene Nagelbetten, ein kleiner Kratzer von einer Rose aus dem Blumenladen. Und kein Tropfen Magie in meinen Fingerkuppen.

In einem anderen Leben wäre dieses Angebot die Erfüllung all meiner Träume gewesen, als hätte man mir den Mond vom Himmel geholt und mit Schleife drumherum überreicht. Aber das hier war dieses eine Leben, in dem ich nur noch halbseitig magisch war und nicht ausgebildet werden konnte. Wir mussten die Fingerkuppen aufeinander legen, um die magische Energie fließen zu lassen, als wären wir ein magischer Stromkreis. Das funktionierte nicht länger.

Ich konnte dazu nichts sagen, mein Kopf war wie leergefegt. Ich konnte ihn nicht einmal anlügen. Wenn ich jetzt ablehnte, würde er sich fragen, wieso.

Als ich mit Biologie begonnen hatte, hatte ich ihm gesagt, ich wolle erst andere Perspektiven kennenlernen, bevor ich mich weiter der Magie widmete. Ich hatte die Aufnahmeprüfung für die magische Heilung wegen meiner Verletzungen ohnehin nicht antreten können. Das hatte er – wenn auch nur widerwillig – verstanden und ich hatte gehofft, dass sein Ehrgeiz mir gegenüber sich mit der Zeit legen würde. Dass er mich aufgeben würde.

Aber das tat er nicht.

»Du sagst nichts dazu?«, fragte Pa und ich rief mich zur Ordnung.

»Das ist ein … unglaubliches Angebot. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Und das ist verständlich.« Leo klang ruhig, aber so bestimmt, dass ich ahnte, was sie vorhin in der Küche diskutiert hatten. »Immerhin würde das eine große Veränderung bedeuten. Du müsstest überlegen, was du mit deinem jetzigen Studium machst.«

Ich nickte. »Ja. Ich muss erst darüber nachdenken.«

Wieso ließ Pa mich nicht einfach studieren? Warum kam er jetzt mit so einem Angebot?

Aber ich erinnerte mich daran, was er gesagt hatte. Er tat das, weil ich mich zurückzog. Er tat das unseretwegen, für diese Menschen, die unsere Familie waren.

Das konnte ich ihm nicht kaputtmachen. Zumindest nicht heute. Nicht hier. Nicht an seinem Geburtstag. Ich musste so tun, als würde ich ernsthaft darüber nachdenken – und Zeit schinden, bis mir etwas einfiel.

Also stand ich auf und schlang die Arme um Pa, drückte meine Wange gegen seinen Bauch. »Danke. Wirklich. Ich bin nur einfach perplex.«

Lüge.

Ich spürte seine Hände auf meinem Rücken. »Das kann ich verstehen. Natürlich.«

Seine Hoffnungen in mich waren riesig. Viel zu riesig.

Ich hörte es in seinem verständnisvollen Ton, die unterschwellige Enttäuschung in jeder Silbe. Unser kleiner Rest Familie hing an meiner Lüge und ich musste mir jetzt gut überlegen, wie ich dieses fragile Werk vor der Zerstörung bewahrte.

Kapitel 3

Ich kehrte zurück in eine stille, dunkle Wohnung, in der noch ein Hauch von Knoblauch aus meinem Mittagessen lag. Mein kleines Reich bestand aus zwei Zimmern – eine Wohnküche mit Dachschräge und ein Schlafzimmer, in das nur mein Bett und eine Kleiderstange passten. Dazu standen überall Pflanzen. Es ging einfach nicht ohne. Im alten Haus in Ohlsdorf war alles voll damit gewesen und lange Zeit war das sanfte Kribbeln der Energie in den Blüten und Blättern mein steter Begleiter gewesen. Jetzt spürte ich diese Energie kaum noch. Aber ich konnte dieses Leben trotzdem nicht aus meiner Wohnung verbannen.

Ebenso wenig konnte ich die Stille ertragen. Stille war schwierig – sie zwang mich dazu, an Dinge zu denken, an die ich nicht denken wollte.

Ich schaltete das Licht ein, reihte die Flakons aus meiner Tasche auf der Anrichte auf, die meine Küche vom Rest des Raumes trennte, und schraubte die Deckel ab.

Nur Sekunden danach vertrieb der süße Geruch nach Karamell und Schokolade die Knoblauchnote und als ich mich zum Sofa drehte, waren sie bereits alle da: Elyar mit den geschwungenen Schmolllippen auf der Sofalehne, Nika mit dem geheimnisvollen Sphinx-Lächeln, die Beine übereinandergeschlagen auf dem Sofa. Ein cappuccinotassengroßer Widder, der nach Pumpkin Spice duftete, und ein ebenso großes Kokos-Kaninchen, meine zwei weniger starken Geister, die nur einfache Wünsche erfüllen und keine menschliche Gestalt annehmen konnten. Und natürlich Javid, der in seinen coolen Klamotten vom Vormittag auf dem Boden vor dem Sofatisch saß und mich mit den Augen durchleuchten wollte.

Ich war froh, dass er das nicht konnte. Nicht einmal meine Geister kannten das Häufchen Elend hinter der Fassade der perfekten Rosa, und genau so sollte es bleiben. Ich war eine selbsterfüllende Prophezeiung. Solange alle glaubten, dass ich mich und mein Umfeld im Griff hatte, solange hatte ich das auch.

Gleichzeitig war es Javid, mein Javid, der morgens in Jogginghosen meine Pflanzen goss und mir jeden Sirupgeschmack von den Augen ablas. Jedes Mal, wenn er so vor mir auftauchte und mich ansah, musste ich lächeln.

Das tat gut.

Meine Mundwinkel hoben sich und die Stille war egal und ich konnte wieder das Ich sein, das ich gern gewesen wäre.

»Wie war das Essen?«, fragte Nika und stieß nebenbei Elyar von der Lehne, der sie die ganze Zeit mit dem Fuß angestupst hatte. Elyar war geistesgegenwärtig genug, sich ein Kissen zu zaubern, das seinen Sturz abfing. Sowohl Nika als auch ich ignorierten seinen empörten Blick.

»Das Essen? Lecker. Leo und Pa kochen ausgezeichnet.« Ich umrundete den Sofatisch und setzte mich neben Nika, lehnte den Kopf an ihre Schulter und genoss den Duft dunkler Schokolade – und wich damit ihrem Blick aus, der garantiert tadelnd war.

»Ich meine, wie es war, deine Familie wiederzusehen. Du hast sie seit Weihnachten nicht besucht.«

Schmerzhaft war es. Ich war nicht wirklich da und nicht wirklich weg – und das hatte ich mir selbst so ausgesucht. Aber ich hatte keine Wahl gehabt.

Ich war alles, was Pa noch hatte, nachdem Ma gestorben war. Damals hatte ich einen Plan gehabt. Ich hatte versucht, Ma zu ersetzen so gut ich konnte und ich war mehr als bereit gewesen, so großartig zu werden wie sie. All seine Hoffnung lag auf mir.

»Du kannst so berühmt werden wie deine Ma«, hatte er mal gesagt.

Ich hoffte, dass man mir mein schweres Herz nicht ansah. Ich lächelte auf jeden Fall weiter, damit keiner von ihnen merkte, dass ich gerade um zehn Kilo schwerer geworden war. Mindestens. »Wir haben viel gequatscht. Amber hat ihre Prüfung mit Bestnoten bestanden, natürlich. Und Indigo hat sich selbst Telekinese beigebracht. Und mich mit einem Buch abgeworfen.«

»Ist das eine Art Liebesbeweis?«, kam es von Elyar, der sich mittlerweile neben dem Sofa niedergelassen hatte.

»So drückt er gerne seine Sympathie aus.« Jetzt wurde mein Lächeln echt. »Hat er schon immer so gemacht.«

Und irgendwie hatte ich das an ihm gemocht. Er war ein Quatschkopf, aber er hatte mich immer zum Lachen gebracht. Er war einfach er selbst, ganz unverstellt. Das war schön.

Gewesen.

»Und das ist alles?«, fragte Javid da und weckte mich wieder aus meinen Gedanken. Nika hatte begonnen, mir den Nacken zu kraulen und zusammen mit ihrem bittersüßen Geruch und dem Essen in meinem Magen machte mich das ziemlich schläfrig.

Ich wollte nicht denken. Vor allem nicht an Pas Angebot und was das für mich bedeutete. Ich konnte es nicht annehmen, weil ich die Praktiken nicht anwenden konnte. Ich konnte es nicht ablehnen, weil Pa sich fragen würde, warum ich das tat. Ich brauchte eine gute Ausrede. Die nächste Lüge.

Aber solange man mir nicht ansah, dass mir das zusetzte, setzte es mir auch nicht zu. Die Geister wussten nichts, ihre Flakons waren verschlossen gewesen. Und so sollte es auch bleiben. »Pa mochte die Blumen. Er hat sonst nur Lilien bekommen, hat Amber gesagt.«

»Dann hat sich das Shoppen doch gelohnt«, sagte Nika, vielleicht an mich gewandt, vielleicht an Elyar. Ich wusste es nicht.

Ich schloss die Augen und genoss die Finger in meinem Nacken und machte nur: »Hmm.«

Vor allem musste ich so niemanden anschauen und noch mehr Fragen beantworten. In meinem Kopf kreisten die Gedanken schon genug.

Ich konnte sagen, dass ich erst die Uni abschließen wollte. Leo hatte mir eine gute Vorlage gegeben und im Grunde war es nicht falsch. Ich hatte nicht schon drei Semester wie verrückt für meine guten Noten gelernt und mich durch Chemie geboxt, um jetzt einfach alles hinzuschmeißen.

Pa würde das sicher verstehen, er war schließlich ähnlich ehrgeizig wie ich. Das wiederum hatte ich leider von ihm – Ma war da entspannter gewesen.

Leider wusste er deshalb wohl auch, dass ich zu ehrgeizig war, um eine solche Chance nicht anzunehmen. Eine Lehrstelle bei Martha Waris, einer der bestbesuchten Heilerinnen der Stadt? Sogar jetzt spürte ich den Drang, einfach zuzusagen. Die Chance war einmalig.

Wenn ich also mit der Uni argumentieren wollte, musste ich mir mehr einfallen lassen.

Vielleicht konnte ich es einfach vergessen und die Deadline verschlafen und dann betroffen tun – aber nein. Pa würde mich hundertmal erinnern, er hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Nicht umsonst war er Historiker und Chronist, die ganze Menschheitsgeschichte war da irgendwo in seinem Kopf verankert.

Das hier war wie ein schwieriges Rätsel – etwas, das ich früher gern gelöst hatte. Aber nicht, wenn es um meinen Vater ging.

Ich möchte nicht, dass wir uns weiter entfremden.

Ach Pa. Ich tat das doch für dich.

Warum nur hatte er es nicht einfach dabei belassen können?

***

In dieser Nacht kehrte der Traum zurück. Und wie immer zeigte er mir nicht die Realität, sondern war viel grausamer und löste alles ins Gute auf. Heute zum Beispiel war es Nika, die im Traum plötzlich neben mir kniete und sagte: »Zum Glück kann ich Wünsche erfüllen. Sonst wärst du nicht mehr zu retten gewesen.«