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Hör auf das Flüstern: Sie sind hier …
Alyssa Gardner ist durch den Kaninchenbau gegangen, wurde zur roten Königin gekrönt und hat mit dem Bändersnätch gekämpft. Alyssa ist die Nachfahrin von Alice Liddell – besser bekannt als Alice im Wunderland. Jetzt muss sie bloß noch den Schulabschluss machen und ein ganz normales Leben mit ihrer großen Liebe Jeb anfangen. Wäre da nur nicht der finstere, verführerische Morpheus, der sie zu einem neuen gefährlichen Abenteuer überreden will. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Rettung von Wunderland. Alyssa weigert sich, ins Reich hinter dem Spiegel zurückzukehren. Doch hat sie wirklich eine Wahl? Plötzlich wimmelt es in ihrer eigenen Welt vor wunderlichen Gestalten ...
Alle Bände der "Dark Wonderland"-Trilogie:
1. Herzkönigin
2. Herzbube
3. Herzkönig
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Seitenzahl: 583
Veröffentlichungsjahr: 2015
A. G. Howard
DARKWONDERLAND
HERZBUBE
Aus dem Englischenvon Michaela Link
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem
Titel »Unhinged« bei
Amulet Books, an imprint of ABRAMS, New York
© 2014 by A.G. Howard
Published by Arrangement with A.G. Howard
© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück, 30287 Garbsen.
Aus dem Englischen von Michaela Link
Lektorat: Catherine Beck
Covergestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Bilder von © Shutterstock (TSV Creative; ivangal)
MG · Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-15322-9V002
www.cbj-verlag.de
1
Meinem Kunstlehrer zufolge steckt in den Werken einer wahren Künstlerin Herzblut, aber er hat uns niemals gesagt, dass Blut selbst zum Medium werden kann – dass es ein Eigenleben annehmen und die Form deiner Kunstwerke auf abscheuliche und grausame Art prägen kann.
Ich streiche mir das Haar über die Schulter und steche mir mit einer sterilisierten Sicherheitsnadel, die ich in der Tasche hatte, in den Finger. Dann setze ich das letzte Glassteinchen auf mein Mosaik und warte ab.
Ich drücke eine durchsichtige Perle in den nassen weißen Gips, und ein Schauder überläuft mich, als das Blut hineintropft. Es ist, als sauge dort, wo ich das Glas berühre, ein Blutegel an meiner Fingerspitze. Der Egel leitet das Blut unter die Glassteinchen weiter, wo es eine tiefe, samtrote Lache bildet. Aber das ist noch nicht alles.
Das Blut tanzt … bewegt sich von Mosaikstein zu Mosaikstein und hinterlässt auf jedem Stein einen dunkelroten Strich, sodass ein Bild entsteht. Mir stockt der Atem, und ich warte darauf, dass die Striche sich verbinden … frage mich, was diesmal dabei herauskommen wird. Hoffe, dass es nicht wieder sie sein wird.
Es läutet, die Unterrichtsstunde ist zu Ende, und ich decke rasch ein Tuch über mein Mosaik, weil ich Angst habe, dass sonst jemand Zeuge seiner Verwandlung werden könnte.
Die Sache mit dem Blut gehört zu den vielen ständigen Erinnerungen daran, dass das Wunderlandmärchen real ist. Meine Abstammung von Alice Liddel bedeutet, dass ich anders bin als alle anderen. Wie sehr ich mich auch distanzieren mag, ich bin auf ewig verbunden mit einer seltsamen und unheimlichen Sekte magischer Kreaturen, den Netherlingen.
Meine Mitschüler schnappen sich ihre Rucksäcke und Bücher und verlassen den Kunstraum, stoßen die Fäuste gegeneinander und klatschen sich ab, sprechen über ihre Pläne für das Gedenktagswochenende. Ich sauge an meinem Finger, obwohl kein Blut mehr fließt. Mit der Hüfte an den Tisch gelehnt, schaue ich nach draußen. Es ist bewölkt und vor dem Fenster steigt Nebel auf.
Mein 1975er Gremlin, genannt Gizmo, hatte heute Morgen einen Platten. Da meine Mom nicht Auto fährt, hat Dad mich auf dem Weg zur Arbeit vor der Schule abgesetzt. Ich habe ihm versichert, dass ich eine Mitfahrgelegenheit nach Hause finden würde.
In meinem Rucksack rührt sich mein Handy. Ich fische es heraus und lese eine SMS von meinem Freund: Skatergirl… ich bin auf dem Ostparkplatz. Kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Grüß Mason von mir.
Jeb und ich sind seit fast einem Jahr zusammen. Davor waren wir sechs Jahre beste Freunde, aber im vergangenen Monat hatten wir nur über SMS und unregelmäßige Telefongespräche miteinander Kontakt. Ich sehne mich danach, ihn wiederzusehen, aber ich bin auch seltsam nervös. Ich habe Angst, dass jetzt alles anders sein wird, weil er ein Leben lebt, an dem ich keinen Anteil habe.
Während ich zu Mr Mason, der im Flur mit einem Schüler über Kunstutensilien redet, hinüberschaue, tippe ich meine Antwort. K. Kann es auch nicht erwarten, dich zu sehen. Gib mir 5 Minuten… Muss noch was erledigen.
Ich werfe das Telefon in den Rucksack zurück und lüfte das Tuch, um mein Projekt zu betrachten. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Nicht mal die vertrauten Düfte von Farbe, Kreidestaub und Gips können mich über das hinwegtrösten, was jetzt vor meinen Augen Gestalt annimmt: eine mörderische zornige Königin Rot mit einem mörderischen Wutanfall in einem trostlosen und zerfallenden Wunderland.
Genau wie in meinen jüngsten Träumen …
Ich lasse das Tuch wieder sinken, weil ich nicht bereit bin, mir einzugestehen, was das Bild bedeuten könnte. Es ist einfacher, den Kopf in den Sand zu stecken.
»Alyssa.« Mr Mason tritt an meinen Tisch. Seine gebatikten Stoffschuhe wirken auf dem weißen Linoleumboden wie ein zerlaufener Regenbogen. »Was ich noch fragen wollte … hast du vor, das Stipendium für das Middleton-College anzunehmen?«
Trotz meiner Nervosität nicke ich. Wenn Dad mir erlaubt, mit Jeb nach London zu ziehen.
»Gut.« Mr Masons breites Lächeln präsentiert eine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen. »Jemand mit deinem Talent sollte jede Gelegenheit nutzen. Jetzt zeig mir mal dein letztes Werk.«
Bevor ich ihn daran hindern kann, zieht er das Abdecktuch hoch und blinzelt. Die Tränensäcke unter seinen Augen erscheinen durch seine rosa gefärbten Brillengläser vergrößert. Ich seufze und bin erleichtert, dass die Verwandlung abgeschlossen ist. »Stürmische Farbe und viel Bewegung, wie immer.« Er beugt sich über das Mosaik und reibt sich sein Ziegenbärtchen. »Ebenso verstörend wie die anderen.«
Seine letzte Bemerkung lässt meinen Magen Purzelbäume schlagen.
Als ich vor einem Jahr Käferleichen und getrocknete Blumen für meine Mosaike verwendet habe, strahlten meine Werke ungeachtet der Morbidität der Materialien eine Aura von Optimismus und Schönheit aus. Jetzt und mit meinen veränderten Mitteln ist alles, was ich erschaffe, düster und gewalttätig. Es gelingt mir offenbar nicht mehr, Leichtigkeit oder Hoffnung darzustellen. Tatsächlich habe ich es aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Ich lasse dem Blut einfach seinen Lauf.
Ich wünschte, ich könnte ganz aufhören, Mosaike zu machen. Aber es ist ein Zwang; ich muss es mir eingestehen … Und irgendetwas sagt mir, dass es einen Grund dafür gibt. Etwas, das mich daran hindert, sie alle zu vernichten und die Gipsvorlagen in tausend Stücke zu schlagen.
»Muss ich mehr rote Glassteine kaufen?«, fragt Mr Mason. »Ich habe allerdings keine Ahnung, wo ich sie herbekommen soll. Neulich habe ich im Internet danach gesucht, aber ich konnte keinen Lieferanten finden.«
Er hat keine Ahnung, dass die Mosaiksteinchen am Anfang durchsichtig waren, dass ich während der letzten paar Wochen nur durchsichtige Steinchen benutzt habe und dass sich die Motive, die ich seiner Meinung nach akribisch auf das Glas zeichne, tatsächlich von selbst formen.
»Es ist okay«, antwortete ich. »Sie kommen aus meinem persönlichen Vorrat.« Buchstäblich.
Mr Mason mustert mich für eine Sekunde. »In Ordnung. Aber mir geht der Platz in meinem Schrank aus. Vielleicht könntest du dieses mit nach Hause nehmen.«
Ich schaudere bei dem Gedanken. Wenn ich eins davon bei mir zu Hause hätte, würde mir das nur weitere Albträume bescheren. Ganz zu schweigen von der Frage, wie es sich vielleicht auf Mom auswirkte. Sie hat bereits genügend Lebenszeit als Gefangene ihrer Wunderlandphobien verschwendet.
Ich werde mir vor dem Ende der Schulzeit etwas anderes einfallen lassen. Mr Mason wird nicht bereit sein, meine Mosaike den ganzen Sommer aufzubewahren, vor allem, da ich in der Oberstufe bin. Aber heute habe ich andere Dinge im Kopf.
»Können Sie dieses eine vielleicht noch unterbringen?«, frage ich. »Jeb holt mich mit seinem Motorrad ab. Nächste Woche werde ich alles mit nach Hause nehmen.«
Mr Mason nickt und trägt das Mosaik zu seinem Schreibtisch hinüber.
Ich hocke mich hin, um die Sachen in meinem Rucksack zu ordnen, und wische mir die verschwitzten Hände an meinen gestreiften Leggins ab. Der Saum, der meine Knie streift, fühlt sich fremdartig an. Mein Rock ist ungewohnt lang, ohne Unterröcke darunter, die ihn aufbauschen. Seit Moms Rückkehr aus dem Irrenhaus haben wir häufig über meine Kleider und meine Schminke gestritten. Sie findet meine Röcke zu kurz und wünschte, ich würde Jeans tragen und mich »anziehen wie normale Mädchen«. Ihrer Meinung nach sehe ich zu wild aus. Ich habe ihr gesagt, ich trüge Strumpfhosen und Leggings, weil es anständig aussieht. Aber sie hört mir nie zu. Es ist, als versuche sie, die elf Jahre wettzumachen, die sie weg war, indem sie ein übertriebenes Interesse an allem zeigt, was mich betrifft.
Heute Morgen hat sie gewonnen, aber nur, weil ich spät aufgewacht bin und es eilig hatte. Es ist nicht einfach, für die Schule aufzustehen, wenn man die ganze Nacht gegen den Schlaf gekämpft hat, damit keine Träume kommen.
Ich schwinge mir den Rucksack über die Schultern und nicke Mr Mason zum Abschied zu. Dann stapfe ich mit meinen Marie-Jane-Plateauschuhen über den verlassenen Flur. Vereinzelte Arbeitsblätter und Heftseiten auf dem Boden wie Trittsteine in einem Teich. Mehrere Schließfächer stehen offen, als hätten die Schüler keine Sekunde Zeit gehabt, sie zu schließen, bevor sie ins Wochenende verschwinden.
Hundert verschiedene Rasierwasser, Parfums und Körpergerüche hängen noch in der Luft, vermischt mit dem schwachen, hefigen Duft der Brötchen vom Mittagessen in der Caféteria. Riecht wie das Deo Teen Spirit. Ich schüttele den Kopf und grinse.
Apropos Spirit, der Schülerrat der Pleasance High hat rund um die Uhr gearbeitet, um in jedem Winkel der Schule Hinweise auf den Schulball aufzuhängen. In diesem Jahr findet der Tanz einen Tag vor unserer Abschlusszeremonie am Samstag statt – heute in einer Woche.
ALLEPRINZENUNDPRINZESSINNENSINDAM 25. MAIHERZLICHZUMSCHULBALLDERPLEASANCEHIGHEINGELADEN. DASMOTTOIST »MÄRCHEN«. FRÖSCHESINDNICHTERWÜNSCHT.
Die letzte Zeile entlockt mir ein Grinsen. Jenara, meine beste Freundin, hatsie mit fettem grünen Textmarker auf jedes Plakat geschrieben. Sie hat am Dienstag die komplette sechste Stunde damit verbracht, was ihr drei Tage Nachsitzen eingetragen hat. Aber allein der Ausdruck auf Taelor Tremonts Gesicht war es wert. Taelor ist die Ex meines Freunds, der Tennisstar der Schule und die Vorsitzende der Schülervertretung. Sie ist auch diejenige, die in der fünften Klasse mein Liddelsches Familiengeheimnis ausgeplaudert hat. Unsere Beziehung ist, gelinde gesagt, angespannt.
Ich streiche über eins der Werbebanner, das nur noch halb von Klebeband festgehalten wird und wie eine lange weiße Zunge von der Wand hängt. Es erinnert mich an meine Begegnung mit den schlangenartigen Zungen des Bänderschnätz’ im letzten Sommer. Ich winde mich und reibe den leuchtend roten Streifen in meinem blonden Haar zwischen Daumen und Zeigefinger. Es ist eins meiner ständigen Erinnerungen, genau wie die Knötchen hinter meinen Schulterblättern, unter denen Flügel ruhen. Wie sehr ich auch versuche, mich von meinen Erinnerungen an das Wunderland zu distanzieren, sie sind immer gegenwärtig und weigern sich, fortzugehen.
Genauso, wie sich ein gewisser Jemand weigert, fortzugehen.
Bei dem Gedanken an schwarze Flügel, unergründliche tätowierte Augen und einen Cockneyakzent schnürt sich meine Kehle zusammen. Er beherrscht bereits meine Nächte. Ich werde ihm nicht auch noch meine Tage überlassen.
Ich drücke die Türen auf und trete auf den Parkplatz hinaus. Kühle feuchte Luft schlägt mir entgegen. Ein feiner Nebel legt sich auf mein Gesicht. Es sind nur noch wenige Autos da, und Schüler stehen in kleinen Gruppen zusammen, um zu reden – einige in Kapuzensweatshirts gemummelt, andere offenbar unempfindlich gegen das für die Jahreszeit zu kühle Wetter. Es hat diesen Monat viel geregnet. Die Meteorologen haben die Menge zwischen hundertundzwanzig und hundertundsechzig Liter pro Quadratmeter angegeben. Damit wurde für Pleasance, Texas, ein jahrhundertealter Rekord übertroffen.
Meine Ohren stellen sich automatisch auf die ein paar Meter entfernten Käfer und Pflanzen am Rand des durchweichten Footballfelds ein. Ihr Gewisper geht oft in ein Knistern und Rauschen über, wie man es aus einem schlecht abgestimmten Radio hören kann. Aber wenn ich mir Mühe gebe, kann ich deutliche Mitteilungen ausmachen, die nur für mich bestimmt sind:
Hallo Alyssa.
Schöner Tag für einen Spaziergang im Regen…
Genau die richtige Brise fürs Fliegen.
Es gab eine Zeit, da habe ich es gehasst, ihre undeutlichen, wild durcheinandergezirpten Grüße zu hören, so sehr, dass ich sie fing und zerdrückte. Jetzt ist das weiße Rauschen tröstlich. Die Käfer und Blumen sind meine Kumpel geworden … liebenswerte Erinnerungen an einen geheimen Teil von mir.
Einen Teil von mir, von dem nicht mal mein Freund etwas weiß.
Ich sehe ihn am Ende des Parkplatzes stehen. Er lehnt an seiner frisierten alten Honda Dax und plaudert mit Corbin, dem Stamm-Quarterback und Jenaras neuem Typen. Jebs Schwester und Corbin geben ein seltsames Paar ab. Jenara hat pinkfarbenes Haar und den Modegeschmack einer Prinzessin, die zum Punkrocker mutiert ist – das genaue Gegenteil der typischen Freundin einer Sportskanone aus Texas. Aber Corbins Mutter ist Innenarchitektin und bekannt für ihren exzentrischen Stil, also ist er an schräge, künstlerische Persönlichkeiten gewöhnt.
Zu Beginn des Jahres waren die beiden Laborpartner in Biologie. Es hat Klick gemacht und jetzt sind sie unzertrennlich.
Jeb schaut in meine Richtung. Er strafft sich, als er mich sieht, seine Körpersprache so deutlich wahrnehmbar wie ein Ruf. Selbst auf diese Entfernung wärmt das Feuer seiner moosgrünen Augen die Haut unter meiner Spitzenbluse und dem karierten Korsett.
Er verabschiedet sich von Corbin, der sich eine rötlich blonde Haarsträhne aus den Augen streicht und mir zuwinkt, bevor er sich einer Gruppe von Footballspielern und Cheerleadern anschließt.
Jeb schlüpft auf dem Weg zu mir aus seiner Jacke. Darunter kommen muskulöse Arme zum Vorschein. Er stapft mit seinen schwarzen Kampfstiefeln über den schimmernden Asphalt und seine olivfarbene Haut glänzt im Nebel. Zu seinen abgewetzten Jeans trägt er ein dunkelblaues T-Shirt. Darauf ist in Weiß ein Bild der Band My Chemical Romance gesprüht, mit einem roten Strich diagonal über die Gesichter. Es erinnert mich an meine Blutkunst, und ich schaudere.
»Ist dir kalt?«, fragt er und wickelt mich in seine Jacke.
Das Leder ist noch warm von seinem Körper. Eine flüchtige Sekunde lang kann ich sein Rasierwasser beinahe schmecken: eine Mischung aus Schokolade und Moschus.
»Ich bin einfach glücklich, dass du zu Hause bist«, antwortete ich, die Hände flach auf seine Brust gedrückt, und freue mich über seine Kraft und Solidität.
»Ich auch.« Er schaut auf mich herab, liebkost mich mit seinem Blick, hält sich jedoch zurück. Seine Haare sind kürzer als bei unserem letzten Treffen. Der Wind wirbelt die dunklen, kragenlangen Strähnen durcheinander. Das Deckhaar ist immer noch so lang, dass es sich wellt, und es ist vollkommen zerzaust, weil er einen Helm getragen hat. Die Haare sind ungekämmt und wild, genau so, wie ich es mag.
Ich will in seine Arme springen oder noch viel lieber seine weichen Lippen küssen. Das Verlangen, verlorene Zeit wettzumachen, überwältigt mich, bis ich mich wie ein Kreisel fühle, der darauf wartet, sich zu drehen. Aber noch behält meine Schüchternheit die Oberhand. Ich schaue über seine Schulter, dorthin, wo sich vier Unterstufenschülerinnen um einen silbernen PT-Cruiser scharen und jede unserer Bewegungen verfolgen. Ich kenne sie aus dem Kunstkurs.
Jeb folgt meinem Blick und nimmt meine Hand, um jeden Knöchel zu küssen. Das Kratzen seines Lippenpiercings löst ein Kribbeln aus, das sich bis in meine Zehenspitzen fortsetzt. »Lass uns von hier verschwinden.«
»Du liest meine Gedanken.«
Er grinst. Beim Anblick seiner Grübchen fangen die Schmetterlinge in meinem Bauch an zu flattern.
Hand in Hand gehen wir zu seinem Motorrad, während sich der Parkplatz langsam leert. »Also … sieht so aus, als hätte deine Mom heute Morgen gewonnen.« Er deutet auf meinen Rock und ich verdrehe die Augen.
Grinsend hilft er mir, meinen Helm aufzusetzen, streicht mir das Haar glatt und trennt die rote Strähne von den blonden. Dann wickelt er sie sich um den Finger und fragt: »Hast du gerade an einem Mosaik gearbeitet, als ich dir geschrieben habe?«
Ich nicke und schnalle den Helmriemen unter dem Kinn fest. Ich will nicht, dass das Gespräch in diese Richtung geht, denn ich bin mir nicht sicher, wie ich ihm sagen soll, was in meinen Kunststunden passiert ist, während er fort war.
Als ich auf den Rücksitz klettere, umfasst er meinen Ellbogen. »Wann bekomme ich deine neuen Sachen zu sehen, hm?«
»Wenn sie fertig sind«, murmele ich. Tatsächlich will ich sie ihm erst dann zeigen, wenn ich bereit bin, ihn zuschauen zu lassen, wie ich eins mache.
Er hat keine Erinnerung an unsere Reise ins Wunderland, aber er hat die Veränderungen an mir wahrgenommen, auch den Schlüssel, den ich um den Hals trage und niemals abnehme, und die Knötchen an meinen Schulterblättern, die ich auf eine Eigenheit der Familie Liddell schiebe.
Eine Untertreibung.
Ein Jahr lang habe ich versucht herauszufinden, wie ich ihm am besten die Wahrheit sage, ohne dass er mich für verrückt hält. Wenn ihn irgendetwas überzeugen kann, dass wir eine wilde Tour durch Lewis Carrolls Fantasiewelt gemacht haben und dann in der Zeit rückwärts gereist sind, um nach Hause zurückzukehren, als seien wir nie fort gewesen, dann ist es meine Blut- und Magiekunst. Ich muss den Mut aufbringen, sie ihm zu zeigen.
»Wenn sie fertig sind«, wiederholt er meine kryptische Antwort. »Na gut.« Er schüttelt den Kopf, bevor er seinen Helm aufsetzt. »Künstler. So pflegeleicht.«
»Das sagt der Richtige. Wo wir gerade beim Thema sind, hast du etwas von deiner neuesten Verehrerin gehört?«
Jebs gotische Märchenkunst hat eine Menge Aufmerksamkeit erregt, seit er sie auf Ausstellungen gezeigt hat. Er hat mehrere Werke verkauft, das teuerste für dreitausend Dollar. Vor Kurzem hat eine Sammlerin aus der Toskana Kontakt mit ihm aufgenommen, die seine Kunstwerke im Internet gesehen hatte.
Jeb wühlt in seiner Tasche und reicht mir einen Zettel. »Das ist ihre Telefonnummer. Ich soll ein Treffen planen, damit sie sich meine Werke ansehen kann.«
Ivy Raven. Stumm lese ich den Namen. »Klingt falsch, oder?«, frage ich und ziehe meine Rucksackriemen stramm. Ich wünschte beinahe, sie wäre nur erfunden. Aber ich weiß es besser. Meine Internetrecherche hat ergeben, dass Ivy eine vollkommen echte, schöne sechsundzwanzigjährige Erbin ist. Eine anspruchsvolle, reiche Göttin … Wie alle Frauen, die Jeb in letzter Zeit umschwirren. Ich gebe den Zettel zurück und versuche, die Unsicherheit zu verscheuchen, die mir ein Loch ins Herz zu brennen droht.
»Spielt keine Rolle, wie falsch sie klingt«, sagt Jeb, »solange das Geld echt ist. Ich habe mir eine nette Wohnung in London angesehen. Wenn ich ihr etwas verkaufen kann, habe ich genug Geld zusammen, um die Wohnung zu bezahlen.«
Wir müssen Dad immer noch davon überzeugen, mich gehen zu lassen. Ich verkneife es mir, meine Sorge laut auszusprechen. Jeb hat bereits ein schlechtes Gewissen wegen der Spannungen zwischen ihm und Dad. Sicher, es war ein Fehler von Jeb, es mir zu ermöglichen, mir hinter dem Rücken meiner Eltern eine Tätowierung machen zu lassen. Aber er hat es nicht getan, um sie zu ärgern. Er hat es wider besseres Wissen getan, weil ich ihn unter Druck gesetzt habe. Weil ich versucht habe, so rebellisch und weltgewandt zu sein wie die Leute, mit denen er jetzt rumhängt.
Jeb hat sich gleichzeitig ein Tattoo stechen lassen, an der Innenseite seines rechten Handgelenks. Es sind die lateinischen Worte Vivat Musa, was sinngemäß»Lang lebe die Muse«bedeutet. Meine Tätowierung sind zwei Miniflügel auf meinem linken Knöchel, die mein Nethergeburtsmal verbergen. Ich habe den Künstler die Worte Alis Volat Propriis zeichnen lassen, Latein für »Sie fliegt mit ihren eigenen Flügeln.« Es ist eine Erinnerung daran, dass ich meine dunklere Seite kontrolliere und nicht umgekehrt.
Jeb steckt die Nummer der Erbin in seine Jeanstasche und scheint dabei tausend Meilen entfernt zu sein.
»Ich wette, sie hofft, dass du im Team Puma spielst«, sage ich halb im Scherz, um ihn in die Gegenwart zurückzuholen.
Jeb schaut mich an und schlüpft dabei in sein Flanellhemd, das er über die Griffe seiner Honda geworfen hatte. »Sie ist noch keine dreißig. Zu jung für einen ausgewachsenen Puma.«
»Oh, danke. Das ist ein Trost.«
Sein vertrautes, neckendes Lächeln beruhigt mich. »Du kannst gern mitkommen, wenn ich mich mit ihr treffe.«
»Abgemacht«, sage ich.
Er schwingt sich in den Sattel, und es schert mich nicht länger, ob uns jemand sieht. Ich drücke mich so eng wie möglich an ihn, schlinge Arme und Knie fest um ihn und schmiege ihm das Gesicht direkt unter dem Rand seines Helms in den Nacken. Sein weiches Haar kitzelt mich an der Nase.
Ich habe dieses Kitzeln vermisst.
Er schiebt sein Visier hoch und neigt den Kopf, damit ich ihn hören kann, als er den Motor startet. »Lass uns irgendwohin verschwinden, wo wir für eine Weile allein sein können. Danach bringe ich dich dann nach Hause, damit du dich für unser Date fertigmachen kannst.«
In mir kribbelt es vor Erwartung. »Was schwebt dir denn so vor?«
»Ein Ausflug in die Vergangenheit«, antwortet er.
Und bevor ich auch nur fragen kann, was das bedeutet, sind wir schon unterwegs.
3
Die Lichterkette um meine Knöchel und Handgelenke zerrt mich gegen die Strömung tiefer in den Tunnel hinein, wo das Wasser schwarz ist. Es ist, als würde ich in kalte Tinte getaucht. Ich kämpfe darum, den Kopf über Wasser zu halten, aber es gelingt mir nicht. Die Kälte macht meine Glieder taub und ich kann kaum atmen.
Jeb findet mich. Er packt mich an den Unterarmen und zieht mich weit genug heraus, damit ich Luft schnappen kann, aber die nächste Welle schleudert ihn zur Tunnelöffnung zurück, und die Schnur zerrt mich in die entgegengesetzte Richtung. An seinen Rufen in der Ferne erkenne ich, dass er mir nicht folgen kann. Ich bin froh, dass die Strömung ihn festhält. Wenn eine Welle ihn nach draußen spült, ist er in Sicherheit.
Dinge, die ich vor einem Jahr im Wunderland gelernt habe … Fertigkeiten, die ich allein in meinem Zimmer übe, damit Mom mich nicht erwischt und ausflippt … kommen zurück, so machtvoll wie die Schnur, die mich unter die brandenden Wellen zerrt.
Ich lockere meine Muskeln und konzentriere mich auf die Lichterkette, stelle mir vor, dass sie lebendig ist. In meiner Fantasie wird die Elektrizität, die in der Leitung pulsiert, zu Plasma und Nährstoffen. Die Lichter reagieren wie lebendige Kreaturen. Sie werden hell genug, dass ich unter Wasser sehen kann. Das Problem ist, ich habe meine magischen Übungen nicht konsequent durchgeführt, daher habe ich keine Kontrolle über die Lichterkette, wenn ich sie animiere. Es ist, als hätten die Lichter ihren eigenen Willen.
Oder vielleicht stehen sie unter dem Einfluss einer anderen Person.
Ich vermeide es krampfhaft einzuatmen und zwinge mich, die Augen unter Wasser offen zu halten. Sie tun weh von der Kälte. Ich pendele im kalten Wasser des Tunnels, als würde ich auf einem Wasserwagen fahren, vor den Zitteraale gespannt sind. Die Schnur zerrt mich zu einer kleinen, uralten Tür, die in die Betonmauer eingelassen ist. Sie ist mit Moos bedeckt und wirkt hier in der Menschenwelt deplatziert, aber ich habe sie schon einmal gesehen. Den dazu passenden Schlüssel trage ich um den Hals.
Es ist mir unerklärlich, dass hier ein Zugang sein könnte, so weit von dem Kaninchenloch in London entfernt, dem einzigen Eingang von dieser Welt ins Wunderland.
Ich zerre an meinen Fesseln. Ich schlafe nicht, also ist dies kein Traum. Ich will nicht in wachem Zustand durch diese Tür gehen. Ich versuche immer noch, über das letzte Mal hinwegzukommen.
Meine Lungen ziehen sich zusammen, bis ich keine Wahl mehr habe. Ein Schritt durch die Tür ist meine einzige Chance, nach draußen zu gelangen, um zu atmen und zu überleben. Ich zerre an den Fesseln um meine Handgelenke und beuge die Ellbogen, damit ich an meine Halskette komme. Mit beiden Händen ergreife ich den Schlüssel und schiebe Jebs Herzmedaillon beiseite. Die Strömung schlägt mich mit dem Kopf gegen die Betonmauer. Der Schmerz fährt mir von der Schläfe ins Rückgrat hinunter.
Ich schwinge meine gefesselten Beine wie einen Meerjungfrauenschwanz, um wieder vor die Tür zu kommen. Dann schiebe ich den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehe ihn um. Der Riegel gibt nach und Wasser strömt heraus. Zuerst bin ich zu groß, um durch die Öffnung zu passen, aber dann wächst entweder die Tür oder ich schrumpfe, denn irgendwie gleite ich perfekt hindurch.
Die Wellen tragen mich weiter. Ich hebe den Kopf, um Luft zu schnappen. Ein Hügelchen bremst mich abrupt genug, um mir den Atem zu rauben. Keuchend bleibe ich im Schlamm liegen, mit wunder Kehle und schmerzenden Lungen, die Handgelenke und Knöchel aufgeschürft von der Lichterkette.
Ich drehe mich auf den Rücken und strample, um meine Fesseln zu lockern. Der Schatten großer, schwarzer Flügel breitet sich über mir aus. Sie beschirmen mich vor dem Unwetter, das sich über mir zusammenbraut.
Neonfarbene Blitze entladen sich am Himmel, tauchen die Landschaft in grelles Licht und hinterlassen einen beißenden, verschmorten Geruch. Morpheus’ Porzellanteint – von seinem glatten Gesicht bis zu seiner gewölbten Brust, die aus einem halb zugeknöpften Hemd lugt – leuchtet unter den elektrischen Blitzen wie Mondschein.
Er ragt über mir auf. Die beeindruckende Größe ist das Einzige, was er und Jeb gemeinsam haben. Der Saum seines schwarzen Staubmantels peitscht um seine Stiefel. Er öffnet eine Hand, und eine Spitzenmanschette rutscht aus dem Ärmel.
»Wie ich dir gesagt habe, Schätzchen«, – sein Cockney-Akzent rauscht in meinen Ohren – »wenn du dich entspannst, wird deine Magie reagieren. Oder willst du lieber gefesselt bleiben? Ich könnte dich für mein nächstes Festessen auf ein Tablett legen. Du weißt, dass meine Gäste ihre Vorspeisen um sich schlagend und roh bevorzugen.«
Ich bedecke meine brennenden Augen und stöhne. Wenn ich aufgeregt oder nervös bin, vergesse ich manchmal, dass es einen Trick bei meinen Netherlingskräften gibt. Während ich durch die Nase einatme, denke ich an die Sonne, die auf den plätschernden Wellen des Ozeans glitzert. Ich denke an sie, um meinen Herzschlag zu beruhigen. Dann atme ich durch den Mund aus. Binnen Sekunden entspannt sich die Lichterkette und fällt von mir ab.
Als Morpheus mich auf die Füße zwingt, zucke ich zusammen. Erschöpft von der Anstrengung im Wasser geben meine Beine nach, aber er bietet mir keine Hilfe an. Typisch für ihn, zu erwarten, dass ich aus eigener Kraft stehen kann.
»Manchmal hasse ich dich wirklich«, sage ich und lehne mich haltsuchend an einen riesigen belaubten Stängel. Das Gänseblümchen gibt ohne ein Wort meinem Gewicht nach und löst ein seltsames Ziehen in meinen Eingeweiden aus. Ich kann mir nicht vorstellen, warum es mich nicht wegstößt oder sich beklagt.
»Manchmal.« Morpheus stülpt einen schwarzsamtenen Cowboyhut über sein blaues Haar. »Vor einigen Wochen war es definitiv ein Immer. In einigen Tagen wirst du deine unvergängliche Affin–«
»Du meinst Aversion?«, unterbreche ich ihn.
Mit einem provokanten Lächeln rückt er großspurig seinen Hut zurecht und der Kranz aus toten Motten an der Krempe zittert. »So oder so gehe ich dir unter die Haut. So oder so gewinne ich.« Er klopft mit langen, eleganten Fingern auf seine roten Wildlederhosen.
Ich kämpfe gegen den ärgerlichen Impuls, sein Lächeln zu erwidern; mir ist nur allzu bewusst, was seine Körpersprache mit meiner dunkleren Seite macht: wie sie sich behutsam räkelt und streckt, einer Katze gleich, die sich auf einem Felsen sonnt, von der Wärme angezogen, aber auf der Hut, nicht herunterzurutschen.
»Du sollst mich tagsüber nicht hierherbringen.« Ich wringe meinen durchweichten Rocksaum aus, bevor ich mit dem Gewirr auf meinem Kopf weitermache. Der Wind fährt mir ins Haar und peitscht mir schlammige Strähnen ins Gesicht und um den Hals. Ich bekomme eine Gänsehaut. Zitternd verschränke ich die Arme vor der Brust. »Und wie hast du das überhaupt geschafft? Es gibt nur einen Eingang nach Wunderland … Du kannst das Kaninchenloch nicht einfach hinverlegen, wo immer du es gern hättest. Was geht hier vor sich?«
Morpheus schlingt einen Flügel halb um mich und hält den Wind von mir fern. Seine Miene schwankt zwischen Feindseligkeit und Erheiterung. »Ein Magier verrät niemals seine Geheimnisse.«
Ich knurre.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, irgendeine spezielle Tageszeit für unsere Treffen vereinbart zu haben«, fährt er fort, ungerührt von meinem Ärger. »Du solltest jederzeit zu Besuch kommen können. Schließlich hast du auch hier ein Zuhause.«
»Das betonst du immer wieder.« Ich wende den Blick ab, bevor Morpheus mich in den hypnotischen Bann seiner Augen ziehen kann. Stattdessen betrachte ich das Chaos um uns herum. So schlimm hat Wunderland noch nie ausgesehen.
Dunkellila Wolken huschen über den Himmel wie fette, durchsichtige Spinnen. Sie hinterlassen schwarze Spuren in der Luft, als würden sie dort Netze weben. Der Schlamm unter meinen Schuhen schmatzt und spuckt. Braune Bläschen steigen auf und platzen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass darin etwas atmet.
Selbst der Wind hat eine Stimme gefunden, laut und melancholisch pfeift er durch den Wald von Zombieblumen, die einst so stolz wie Ulmen standen. Die Blumen haben mich früher mit hochnäsiger Haltung und Hohn begrüßt. Jetzt duckt sich jede mit gebeugten Stängeln, und die verwelkten Arme verbergen die Blütenblätter, die mit Hunderten geschlossener Augen übersät sind.
Die vieläugigen Netherlinge haben ihren Kampf verloren … ihre Seele verloren.
Morpheus schiebt die Hände in ein Paar glatte rote Handschuhe. »Wenn du das schon für tragisch hältst, solltest du mal sehen, was im Zentrum von Wunderland vor sich geht.«
Mir wird schwerer ums Herz. Wunderland war früher so schön und lebendig, obwohl es auch grell und unheimlich war. Der Verfall des Landes sollte eigentlich nicht so eine starke Wirkung auf mich haben. Ich habe im Laufe der letzten Wochen von dem allmählichen Verfall geträumt.
Ich hatte gehofft, dass es nur Einbildung war. Vielleicht ist dies hier nur ein Traum. Aber sollte es tatsächlich real sein und Morpheus die Wahrheit sagen, bin ich gefordert. Es ist mein Zuhause.
Das Problem ist, Morpheus sagt selten die Wahrheit. Und er hat immer Hintergedanken. Bis auf das eine Mal, als er tatsächlich eine selbstlose und ungeplante Tat für mich begangen hat …
Ich beobachte ihn wieder und sehe, wie sein Kiefermuskel zuckt. Ein Zeichen dafür, dass er in Gedanken versunken ist. Es sollte mich nicht stören, dass ich so viel über seine Angewohnheiten weiß. Was mich jedoch stört, ist, dass ich es gern weiß.
Die Vertrautheit ist nachvollziehbar. Bis zu meinem fünften Lebensjahr ist er jede Nacht als unschuldiges Kind in meinen Träumen aufgetaucht. Wenn ein Netherling auf solche Weise eine Kindergestalt annimmt, wird sein Geist ebenfalls kindlich. So sind wir praktisch zusammen aufgewachsen. Nachdem ich ihn im letzten Sommer wiedergesehen habe, haben sich unsere Wege für eine Weile getrennt. Er hat mir den Raum gegeben, um den ich gebeten hatte. Aber jetzt hat er wieder Einzug in meine Träume gehalten. Jedes Mal, wenn Jeb fort ist, leistet er mir ungebeten Gesellschaft.
Wenn man so viel von seinem Unterbewusstsein mit jemandem teilt, erfährt man einiges über ihn. Manchmal entwickelt man sogar Gefühle für ihn, ganz gleich, wie sehr man versucht, dagegen anzukämpfen.
Ich beobachte, wie er die Zähne zusammenbeißt. Unter seinen Augen trägt er die gleichen Flecken, die ich im Wunderland hatte. Die Markierungen sind bildschön und dunkel, wie lange, geschwungene Wimpern, wobei seine mit funkelnden Juwelen besetzt sind. Sie blinken in regelmäßigen Abständen – silber, blau, weinrot –, ein melancholischer Strudel aus Gefühlen, die über sein Gesicht tanzen. Ich habe gelernt, die Farben für bestimmte Stimmungen zu entziffern.
»Findest du nicht, dass es an der Zeit ist, die Zerstörung zu stoppen, Alyssa?«
Ich zeichne die beiden Halsketten nach, die unter meinem Schlüsselbein ruhen. Ich hebe Jebs Medaillon an und drücke die Lippen darauf, um das Metall zu schmecken, während ich mich an seine Liebeserklärung im Tunnel erinnere. Ich habe ihn im Wasser zurückgelassen, und er weiß nicht, wo ich bin. Ich muss zu ihm zurück, muss mich davon überzeugen, dass es ihm gut geht.
»Wenn du dir Sorgen um deinen Freund machst – mit ihm ist alles in Ordnung. Das kann ich garantieren.« Es überrascht mich nicht, dass Morpheus mich so klar durchschaut. Er kennt mich ebenso gut wie ich ihn. »Du musst dich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.«
Ich funkele ihn an. »Warum bist du so entschlossen, mich da hineinzuziehen?«
»Ich versuche, den Krieg zu kontrollieren. Sie kommt, um dich zu zerstören, so oder so. Sie war ein Teil von dir. Selbst wenn es nur wenige Stunden waren, hat sie einen Eindruck hinterlassen, so wie du einen Eindruck bei ihr hinterlassen hast. Du bist die Einzige, die sie jemals besiegt hat.«
Ich kneife die Augen zusammen. »Abgesehen von dir, meinst du.«
Er zieht einen Mundwinkel hoch. »Ah, aber das war das Glück des Dummen und ein todeskisses Schwert. Dein Schlag war persönlich und ihrer Meinung nach verräterisch wegen des Bands, das ihr geteilt habt.«
»Du hast immer noch nicht bewiesen, dass sie dafür verantwortlich ist. Nach meinen letzten Informationen befand sich ihr Geist in einem Haufen sterbenden Unkrauts.«
»Es scheint, als hätte sie einen gesunden Netherlingskörper gefunden, den sie bewohnen kann.«
Die Vorstellung geht mir durch Mark und Bein. »Woher weiß ich, dass du diese Drohung nicht einfach erfindest? Du hast dir schon einmal einen ausgefeilten Plan ausgedacht, um mich dazu zu bringen, in das Kaninchenloch zu springen. Ich werde nicht wieder deine Schachfigur sein. Wo ist der Beweis, dass du mich nicht einfach zurücklocken willst, damit ich bleibe?«
»Beweis …« Stirnrunzelnd schwingt er die Flügel in die Höhe und setzt mich wieder dem Wind aus. »Hör auf, dich wie ein argwöhnischer, unbedeutender Mensch zu benehmen. Du bist zu Höherem bestimmt.«
Ich funkle ihn durch meine hin- und herwehenden Haarsträhnen an. »Du irrst dich. Ich bin ausschließlich zum Menschsein bestimmt. Ich habe mich dafür entschieden, dort oben zu leben.« Ich zeige auf die Tür. »Um alles zu erfahren, was Alice nicht erleben durfte.«
Morpheus schaut gen Himmel. »Ich fürchte, du bist diejenige, die sich irrt, wenn du denkst, ich würde Wunderland verrotten lassen, damit du mit deinem sterblichen Spielzeug ›Klammeräffchen‹ spielen kannst.«
Meine Wangen kribbeln vor Hitze. »Du hast uns beobachtet? Warte. Du hast die Überschwemmung in dem Abflussrohr ausgelöst. Du wolltest unser Date vermasseln.«
Morpheus kommt mir unangemessen nah und schließt die Flügel um uns beide. Das Manöver schirmt den Wind wirksam ab, dämpft das Licht und macht mich blind gegen alles außer ihm.
»Ich bin nicht derjenige, der diesem stümperhaften Verführungsversuch ein Ende gemacht hat. Das hat Jebediah ganz allein geschafft.« Morpheus reißt mir beide Halsketten aus den Fingern und zieht die feinen Glieder so stramm, dass ich mich nicht wehren kann, ohne sie zu zerreißen. »Würde er mehr auf dich achten statt auf seine kostbare Karriere …« – er wickelt die Kette mit den Anhängern um eine Hand und hebt den winzigen Schlüssel mit Daumen und Zeigefinger über das Schlüsselloch des Herzmedaillons – »… würde er vielleicht besser auf deine Bedürfnisse und Wünsche eingehen.« Er fixiert mich mit den Augen und zeigt demonstrativ, dass die Zähne des Schlüssels nicht in die Öffnung des Herzens passen. »Wie es aussieht, ist es einfach nicht der richtige.«
Ein stetiges tiefes Surren ist in meinem Kopf – wie Insektenflügel, die mir von innen gegen den Schädel schlagen. Es ist die Rückkehr meiner Netherlingsseite. Niemand versteht sich so wie Morpheus darauf, sie an die Oberfläche zu bringen. »Lass los«, verlange ich.
Trotzig fasst Morpheus fester zu. »Hat er sich jemals die Zeit genommen, die Veränderungen in dir zur Kenntnis zu nehmen? Zu fragen, warum du nicht länger Insekten und Blumen in deinen Mosaiken verwendest? Oder dass eine Abneigung gegen spiegelnde Oberflächen deine Höhenangst abgelöst hat?«
Ich beiße die Zähne zusammen. »Er hat gefragt. Ich weiß bloß nicht, wie ich erklären soll, dass ich meinen Spiegel mit einer Decke verhüllt habe, weil ich Angst habe, von einem Verrückten mit Flügeln ausspioniert zu werden.«
Morpheus grinst. »Sagt das Mädchen, dessen Flügel immer darauf brennen durchzubrechen.«
Ich sehe ihn mürrisch an, weil ich sauer bin, dass er recht hat.
»Du brauchst einen Mann, der dich kennt und dich versteht, Alyssa. Beide Seiten von dir. Einen echten Partner.« Er zieht meine Halsketten – und mich – näher heran. »Einen, der dir in jeder Hinsicht ebenbürtig ist.« Der Duft von Lakritze steigt mir in die Nase; offenbar hat Morpheus vor unserer Begegnung seine Wasserpfeife geraucht. Mein Körper lässt mich im Stich, erinnert sich daran, wie diese Küsse mit Tabakaroma schmecken.
Er lässt die Ketten los, um mein Kinn zu umfassen. Seine Handschuhe sind kalt, aber der Zauber seiner dunklen, geheimnisvollen Augen wärmt mich von Kopf bis Fuß. Beinahe verfalle ich ihnen, beinahe vergesse ich mich und meine Entscheidungen. Aber ich bin jetzt stärker.
Ich reiße mich los und stoße ihn von mir, so fest, dass er rückwärts taumelt. Obwohl sich der Saum seines Staubmantels um seine Beine verheddert, gewinnt er das Gleichgewicht mühelos zurück.
Kichernd macht er eine schwungvolle Gebärde mit einem Arm und verbeugt sich.
»Spiel, Satz und Sieg. Stets eine ebenbürtige Gegnerin.« Sein selbstgefälliges Grinsen verhöhnt mich mit Verheißungen und Anspielungen.
»Das ist kein Spiel. Du hättest Jeb in dieser Flut umbringen können!« Ich stürze mich auf ihn, aber er zieht einen Flügel vor sich, um mich abzuwehren. Knurrend schlage ich gegen die seidige schwarze Barriere. »Du hast eine Grenze überschritten. Belästige mich nicht noch einmal tagsüber.« Ich gehe zur Tür. Lieber würde ich mich einem überfluteten Abwassertunnel stellen, als noch eine weitere Sekunde hier zu bleiben.
»Wir sind noch nicht fertig«, erklärt er hinter mir.
»Oh, wir sind so was von fertig.«
In einem verborgenen Winkel meiner Seele bedeutet Wunderland mir mehr, als ich laut zuzugeben wage. Aber wenn ich Morpheus das zeigen würde … wird er mich davon überzeugen, zu bleiben und zu kämpfen. Als ich das letzte Mal Königin Rot gegenübergestanden habe, hat sie einen Fingerabdruck des Grauens auf meinem Herzen hinterlassen. Nach dem, was mit dem Land passiert ist, sind ihre Kräfte jetzt noch stärker als damals. Ich unterdrücke einen weiteren Schauder. Ich bin überhaupt nicht gerüstet für eine Schlacht von diesen Ausmaßen. Ich bin nur halb so viel Netherling wie sie und ihr nicht gewachsen.
Ich werde es niemals sein.
Einige Schritte von der Tür entfernt lässt mich ein Klatschen von Morpheus’ in Leder gehüllte Handflächen wie angewurzelt stehen bleiben. Ein unheilvolles Rascheln breitet sich um mich herum aus, wie Blätter, die über Gräber kratzen. Ich drehe mich um, aber nicht schnell genug. Ranken klettern meine Beine hinauf, umschlingen sie fest. Meine Wadenmuskeln verkrampfen sich unter dem Druck. Mit Hilfe meiner unterentwickelten Netherlingsmagie versuche ich, Einfluss auf die Pflanzen zu nehmen. Der Efeu pulsiert, weigert sich jedoch loszulassen.