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Der Abschluss der mitreißenden "Dark Winderland"-Trilogie!
Al hat den Angriff beim Abschlussball überlebt, doch ihre Liebsten wurden von Königin Rot entführt. Um sie zu retten, muss Al sich in einem finalen Kampf der Königin stellen, um den Krieg um Wunderland ein für alle Mal für sich zu entscheiden. Dafür muss sie ihre Besonderheit als Netherling endgültig die Oberhand gewinnen lassen – was sie ihre Liebe zu Jeb kosten könnte ... Haben die beiden überhaupt eine Chance auf ein Happy End? Oder wird Al sich sowieso für Morpheus entscheiden? Wer wird letztendlich ihr Herzkönig?
Alle Bände der "Dark Wonderland"-Trilogie:
1. Herzkönigin
2. Herzbube
3. Herzkönig
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Seitenzahl: 656
Veröffentlichungsjahr: 2016
A. G. Howard
DARKWONDERLAND
Herzkönig
Aus dem Englischenvon Michaela Link
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Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel »Ensnared« bei
Amulet Books, an imprint of ABRAMS, New York
© 2016 cbt Verlag, München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Published by Arrangement with A.G. Howard
© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München,
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück, 30287 Garbsen.
Aus dem Englischen von Michaela Link
Lektorat: Catherine Beck
Covergestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Bilder von © Shutterstock (bogadeva1983; ivangal)
MG · Herstellung: AnG
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-17987-8V002
www.cbj-verlag.de
1
Das ist ein armseliges Gedächtnis, das nur rückwärts funktioniert.
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln
Früher dachte ich, Erinnerungen seien etwas, das man am besten hinter sich lässt … eingefrorene Zeittaschen, die man aus sentimentalen Gründen erneut aufsuchen kann, aber eher als Luxus denn als Notwendigkeit. Das war, bevor ich begriffen habe, dass Erinnerungen der Schlüssel zum Weiterkommen sein können, ein Weg, um Schicksal und Zukunft all derer zum Guten zu wenden, die man auf der Welt am meisten liebt.
Ich stehe vor der glänzenden roten Tür eines Privatabteils im Zug der Erinnerung. Auf das abnehmbare Namensschild in der Halterung ist der Name Thomas Gardner eingraviert.
»Eine unnötige Formalität, da er persönlich hier ist«, sagte der Schaffner – ein mit Teppichen umwickelter Käfer, der fast so groß ist wie ich –, als ich ihn das erste Mal um ein Namensschild gebeten habe. Ich warf ihm einen zornfunkelnden Blick zu und bestand darauf, meine Bitte zu erfüllen.
Als ich jetzt die Stirn fest gegen das Messing drücke und das Metall meine Haut kühlen lasse, denke ich über Dads Namen nach und mache mir klar, dass er mehr bedeutet, als ich mir je vorgestellt habe … dass mein Vater selbst mehr ist, als ich mir jemals hätte erträumen können.
Bei unserer Ankunft wäre ich ihm beinahe ins Abteil gefolgt. Er hat schon furchtbar gezittert, noch bevor wir in London gelandet sind.
Wer hätte auch nicht gezittert? Auf Insektengröße geschrumpft, sind wir auf dem Rücken von Monarchfaltern über den Atlantik geflogen. Ich kann noch immer die salzige Luft schmecken. Gerade als sich Dad bei Morgengrauen damit abzufinden begann, dass wir wirklich auf Schmetterlingen saßen, sind wir durch ein Loch im Fundament einer riesigen Eisenbrücke geschlüpft und tief in einem Tunnel an einem verrosteten Spielzeugzug gelandet. Angesichts der Tatsache, dass wir klein genug waren, um in den Zug steigen zu können, haben sich Dads Augen so sehr geweitet, dass ich glaubte, sie würden ihm gleich aus dem Kopf springen.
Ich wollte ihn schützen, aber er ist nicht schwach, und ich werde ihn nicht so behandeln, als sei er es. Jetzt nicht mehr.
Er war in Alice’ Alter, als er sich nach Wunderland verirrt hat und von einer spinnenhaften Grabhüterin gefangen wurde, doch irgendwie hat er überlebt. Besser, er stellt sich dieser Erinnerung allein. Sonst wird er vielleicht versuchen, mich zu schützen. Und ich brauche diesen Schutz ebenso wenig wie er.
Ich musste erst den Verstand verlieren, um die Dinge klar zu sehen. Wenn das bei meinem Dad genauso ist, dann soll es eben so sein.
Mit zitterndem Finger fahre ich die Buchstaben nach: T-h-o-m-a-s. Dad wird heute seinen wahren Namen erfahren – es ist nicht der, den meine Mom ihm gegeben hat. All die Erscheinungen, all die Ungeheuerlichkeiten, die er als Kind erlebt hat – seine Erlebnisse werden uns ins IrgendWoanders führen: in jene Spiegelwelt, in die alle aus Wunderland Vertriebenen verbannt werden. Sie ist von einer eisernen Kuppel umgeben, die die Wesen darin gefangen hält, und sollten sie im Innern von ihrer Magie Gebrauch machen, werden sie zu grotesken Kreaturen entstellt. Eine spezielle Gruppe von Rittern bewacht die beiden Tore von IrgendWoanders.
Jeb und Morpheus, meine eigenen beiden Ritter, sind dort gefangen. Ein Monat ist vergangen, seit sie verschluckt wurden. Ich will glauben, dass sie noch leben.
Ich muss es glauben.
Und dann ist da noch Mom, die nun als Geisel desselben gehässigen Spinnenwesens, das einst Dad in seinem Netz gefangen gehalten hat, in einem Wunderland festsitzt, das dem Zerfall preisgegeben ist. Das Kaninchenloch, das Tor zum Netherreich, ist von meiner Hand zerstört worden. IrgendWoanders ist jetzt der einzige Weg hinein.
Wir sind auf einer Rettungsmission und Dads Erinnerungen sind der Schlüssel zu allem.
Ich mache mich auf den Weg zum vorderen Teil des Wagens, schleppe meine schmutzigen Füße über den rot und schwarz gefliesten Boden. Meine Muskeln schmerzen vom sechsunddreißig Stunden langen Flug auf dem Monarchfalter. Er hätte noch viel länger gedauert, wären wir nicht von einem Sturm erfasst und mehrere Tausend Meter in die Lüfte gehoben worden, sodass wir in Minutenschnelle Hunderte Kilometer zurückgelegt haben – ein wahnsinniger Ritt, den Dad und ich so bald nicht vergessen werden.
Mein Haar hängt in wilden platinblonden Knoten herunter, ganz schwer vom Regen. Es passt dazu, wie ich mich fühle: durcheinander und aufgewühlt, aber erschöpft. Die Netherlingshälfte meines Herzens schwillt an, um die menschlichen Gefühle abzuschütteln, die es umschnürt haben. Es wird keine Ruhe geben, bis ich meine Lieben gefunden und die Dinge in Wunderland wieder in Ordnung gebracht habe.
Aber keiner von uns wird je wieder derselbe sein.
Eine Handvoll seltsamer Wesen hat auf den weißen Plastiksitzen Platz genommen. Sie warten, bis sie an der Reihe sind, um sich wieder mit ihren verlorenen Erinnerungen zu vereinen. Sie sind hier, weil sie ebenfalls Gestrandete sind. Seit das Kaninchenloch verschwunden ist, gibt es für sie keinen Weg zurück nach Wunderland, ihrem Zuhause.
Eines dieser Geschöpfe ist ein bleiches menschenähnliches Wesen mit Kegelkopf: eine Frau, deren Schädel immer wieder aufklappt, um einer kleineren Ausführung ihrer selbst Gelegenheit zu geben, mit ihr zu streiten – bis sich wiederum deren Schädel öffnet, um ein noch kleineres Abbild zu enthüllen. Die winzigste Figur ist ein Männchen mit einer großen Nase. Es versetzt seinen weiblichen Gegenstücken mit einem klitzekleinen Nudelholz einen Schlag, um sich sogleich wieder zu verstecken. Es ist, als betrachte man die albtraumhafte Matroschka-Version eines Kasperletheaters, ähnlich dem traditionellen Puppentheater von Mr Punch und seiner Frau Judy, das ich vom Theaterunterricht in der Schule kenne.
Zwei weitere Passagiere sind Kobolde; ich frage mich, ob sie Teil der Gruppe waren, der ich letztes Jahr auf dem Friedhof in Wunderland begegnet bin. Ohne ihre Grubenlampen sehen sie anders aus: kahle, schuppige Köpfe mit Büscheln von silbrigem Haar. Die Plastiktüte zwischen ihnen raschelt, während sie das kegelköpfige Geschöpf abwechselnd mit Erdnüssen bewerfen, was weitere Streitigkeiten provoziert.
Die langen Schwänze der Kobolde zucken, und ihre Spinnenaffengesichter verzerren sich zu einem wissbegierigen Ausdruck, als ich in ihre silbernen Augen schaue. Sie haben weder Pupille noch Iris und ihre Lider blinzeln senkrecht, wie Theatervorhänge.
Sie tuscheln miteinander, während ich mir die Nase zuhalte, um den Gestank des verfaulenden Fleischs abzuwehren, den der aus ihrer Haut triefende silbrige Schleim absondert.
»Alice, sprühende Sprechin«, sagt einer mit hauchiger Stimme, als ich in Hörweite komme. »Maldies ichtnich irrvert?«
Sein Dialekt ist eine Mischung aus Geheimsprache und Unsinn. Er will wissen, ob ich mich diesmal nicht verirrt habe.
»Doch nicht Alice, Dummköpfler«, bringt der andere ihn zum Schweigen, bevor ich antworten kann. »Und nur Denker irrverten sich hier. Denker und Augblicken.«
Ich gehe weiter den Gang entlang, zu beansprucht von meinen Problemen, um ihr Gespräch weiter zu beachten.
Der Käfer-Schaffner kritzelt etwas auf ein Klemmbrett, während er mit den letzten drei Passagieren redet. Diese Geschöpfe sind rund und flauschig, mit Augen, die auf hohen, wuscheligen Stielen sitzen und mehr nach Kaninchenohren aussehen als nach Augenhöhlen. Sie beobachten mich, als ich vorbeigehe, und ihre Pupillen weiten sich mit jeder Drehung ihrer Ohren.
Das dickste der Wesen niest als Antwort auf eine Frage des Schaffners und eine Schmutzwolke steigt aus seinem Fell auf.
»Verdammte Staubhäschen«, bellt der Käfer, zieht einen Staubsauger aus einer Tasche an seiner Hüfte und macht sich daran, den Staub von seiner Teppichhaut zu saugen.
Ich nehme in einer freien Sitzreihe im vorderen Teil des Wagens Platz und hocke mich ans Fenster, um auf den Schaffner zu warten. Ich habe ihn beauftragt, für mich etwas nachzuprüfen: verlorene Erinnerungen, die ich unbedingt sehen muss. Es sind nicht meine. Ich werde die verschwundenen Momente von jemand anderem ausspionieren.
Mom hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie hinter seinem Rücken Dads verlorene Erinnerungen aufgesucht hat. Ihre Klugheit macht mich vorsichtig. Aber die Kreatur, in deren Geist ich eindringen werde, verdient meinen Respekt nicht. Sie ist bösartig und rachsüchtig. Sie hätte mir beinahe meinen Körper geraubt und hat es geschafft, mein Leben und den größten Teil von Wunderlands Ländereien im Chaos versinken zu lassen.
Morpheus sagt immer, jeder habe eine Schwäche. Wenn er hier wäre, würde er mir raten, die ihre zu finden, damit ich sie unschädlich machen kann, wenn ich ihr wieder begegne.
Und genau das habe ich vor.
Der Staubsauger des Pelzkäfers heult auf und dämpft das Streiten, Niesen und Tuscheln um mich herum. Ich lehne mich zurück und schaue zu den aus Glühwürmchen bestehenden Kronleuchtern hinauf. Die Glühwürmchen – halb so groß wie mein Arm – sind durch Messinggeschirr und Ketten zusammengebunden. Während die leuchtenden Insekten in der Luft schweben, bewegen sie sich zugleich schnell auf und ab und malen Pinselstriche aus gelbem Licht auf die roten Samtwände. Ich lege den Kopf schräg und schaue aus dem Fenster. Weitere Leuchtkörper aus Glühwürmchen erhellen die Dunkelheit und rollen wie glitzernde Riesenräder über die Decke des Tunnels.
Ich unterdrücke ein Gähnen. Ich bin erschöpft, aber zu überreizt, um die Augen zu schließen. Ich finde mich in Zeit und Raum nicht zurecht. Gestern noch habe ich an einem Tisch im sonnigen Innenhof der Irrenanstalt gesessen und meinen Dad dazu überlistet, einen Pilz zu essen, der ihn schrumpfen ließ. Das scheint jetzt eine Ewigkeit her zu sein, aber doch nicht mal annähernd so lange wie meine letzte Umarmung Moms … als ich zuletzt mit Morpheus gestritten … Jeb geküsst habe. Ich vermisse Moms Duft, wie sie nach der Arbeit im Garten riecht – nach umgegrabener Erde und Blumen. Ich vermisse es zu sehen, wie ein Regenbogen aus Gefühlen durch Morpheus’ juwelenbesetzte Augenmarkierungen blitzt, wenn er mich herausfordert, und ich vermisse den gehemmten Ausdruck, den Jeb immer im Gesicht hatte, wenn er mich gemalt hat.
Die kleinsten Dinge, die ich früher für selbstverständlich gehalten habe, sind zu kostbaren Schätzen geworden.
Mein Magen knurrt. Dad und ich haben nicht gefrühstückt, und mein Körper sagt mir, dass es Zeit fürs Mittagessen ist. Ich schiebe die Hand in die Schürze über meinem steifen, schlammverkrusteten Krankenhaushemd und rolle die verbliebenen Pilze zwischen den Fingern. Ich bin hungrig genug, um zu erwägen, einen davon zu essen. Was mich davon abhält, ist die ihnen innewohnende Magie, die uns klein genug gemacht hat, um auf Schmetterlingen zu reiten, und die uns wieder groß machen wird, sobald wir hier fertig sind.
Meine Umrisse spiegeln sich in der Fensterscheibe: blauer Kittel, weiße Schürze, schlimm zugerichtetes blondes Haar mit einer knallroten Strähne an einer Seite.
Der erste Kobold hatte recht. Ich bin die genaue Verkörperung von Alice.
Von einer Albtraum-Alice.
Einer wahnsinnig gewordenen Alice, die nach Blut dürstet.
Wenn ich Königin Rot finde, wird sie mich anflehen, sie nicht einen Kopf kürzer zu machen.
Ich schnaube verächtlich auf, dann beruhige ich mich wieder, als der Käfer seinen Staubsauger abschaltet. Er richtet seine schwarze Schaffnermütze und humpelt auf zweien seiner sechs spindeldürren Beine herüber. Die übrigen beiden Beinpaare dienen ihm als Arme, in denen er sein Klemmbrett hält.
»Also?«, frage ich und schaue zu ihm auf.
»Ich habe drei Erinnerungen gefunden, von vor langer Zeit, als sie jung und unverheiratet war. Ehe sie …« Er sieht sich um und senkt die Stimme zu einem Flüstern. »… Königin war.«
»Großartig«, antworte ich und mache Anstalten aufzustehen, aber der Käfer schubst mich mit seinem Stachelarm an der Schulter und so nehme ich wieder Platz.
»Zuerst zerstört Ihr den einzigen Weg zurück nach Wunderland und macht mich zum Babysitter von Staubhäschen und stinkenden Kobolden. Jetzt wollt Ihr, dass ich mein Leben gefährde, indem ich Euch …« Er mustert die Passagiere hinter mir und seine überkreuzten Insektenkiefer zittern. »… indem ich Euch ihre ganz persönlichen Erinnerungen zeige.« Ein Klickgeräusch begleitet sein Flüstern – wie schnippende Finger.
Ich knirsche mit den Zähnen. »Seit wann respektieren Netherlinge die Privatsphäre anderer? Das ist kein Bestandteil eures Moralkodex. Die meisten von euch wissen ja gar nicht mal, was Moral ist.«
»Ich weiß alles, was ich wissen muss. Ich weiß, dass sie keine Nachsicht kennt – nicht die da.« Er vermeidet es, ihren Namen zu nennen.
Ich folge seinem Beispiel. »Sie wird nie erfahren, dass Sie sie mir gezeigt haben.«
Der Schaffner blättert in den Seiten auf seinem Klemmbrett und kritzelt etwas auf das Papier, um Zeit zu schinden. »Da gibt es noch einen anderen heiklen Punkt.« Er spricht lauter als vorher. »Es handelt sich um verworfene Erinnerungen.«
»Was bedeutet das?«
»Sie ist nicht dazu gezwungen worden, sie zu vergessen. Sie hat sich dafür entschieden. Hat einen Vergessenstrank zu sich genommen.«
»Umso besser«, sage ich. »Sie hat aus irgendeinem Grund Angst vor ihnen. Das ist ein Vorteil für mich.«
Das Klickgeräusch wird lauter, seine Insektenkiefer beben. »Im Idealfall könntet Ihr sie als Waffe einsetzen. Verworfene Erinnerungen sind von einer brisanten emotionalen Magie durchtränkt. Sie streben nach Rache an demjenigen, der sie geschaffen und sich dann ihrer entledigt hat. Aber dazu würdet Ihr sie zu ihr hintragen müssen, während sie in Eurem Inneren schlummern. Da Ihr ein Halbblut seid, seid Ihr nicht stark genug dafür.«
Seine Herablassung empört mich. »Sterbliche haben ihre eigene Art, Erinnerungen schlummern zu lassen. Sie schreiben sie nieder, damit sie ihre Gedanken nicht ständig in Anspruch nehmen. Ich brauche nur ein Tagebuch.«
Er hält mir seinen Stift dicht vor die Nase. »Das wird mit verzauberten Erinnerungen nicht funktionieren, jedenfalls solange Euer Buch nicht mit verzaubertem Papier gefüllt ist, das sie an sich binden kann. Leider habe ich von so einem magischen Tagebuch noch nie gehört. Ihr etwa?«
Ich funkle ihn nur stumm an.
»Dachte ich mir.« Der Käfer tippt mir mit der Spitze des Stifts auf die Nase.
Knurrend reiße ich ihm den Stift aus der Hand und stopfe ihn in meine Tasche. Soll er es nur wagen, ihn sich zurückzuholen.
»Törichtes Mädchen. Wenn sich verworfene Erinnerungen in jemandes Gedanken einnisten, können sie förmlich zum Ohrwurm werden und sich immer und immer wieder wiederholen, bis es zur Qual wird. Bestenfalls können sie einen dazu verleiten, mit seinem Opfer Mitgefühl zu haben, sodass man nichts mehr gegen es ausrichten kann. Schlimmstenfalls treiben sie einen in den Wahnsinn. Seid Ihr bereit, das Risiko einzugehen, so viel zu verlieren?«
Ich reibe mit den Händen über meine gebeugten Knie, dann ziehe ich meinen Krankenhauskittel stramm, indem ich den überschüssigen Stoff unter meine Hüften stopfe. So beängstigend die Vorstellung auch sein mag, dass die feindseligen Erinnerungen von jemand anderem an meinem Verstand nagen – ich kann Rot nur besiegen, wenn ich ihren schwachen Punkt finde.
»Ich habe bereits alles verloren und bin schon verrückt geworden.« Ich halte dem Blick seiner vorgewölbten Augen stand. »Soll ich Ihnen das mal demonstrieren?«
Unzählige Lider flackern über seine Facettenaugen. Käfer sollten eigentlich weder Lider noch Wimpern haben, aber er ist kein typischer Käfer. Er ist ein Spiegelinsekt oder ein Zurückgewiesener; je nachdem, ob man Lewis Carrolls Begrifflichkeit wählt oder die des Teppichkäfers.
Der Käfer wurde vom Düsterholz verschluckt und am Tor von IrgendWoanders abgewiesen. Dann wurde er als Mutant wieder ausgehustet. Was beinahe auch mit Jeb und Morpheus passiert wäre. Zum Glück wurden sie in die Spiegelwelt hineingelassen, auch wenn mir der Gedanke daran, dass sie dort auf sich allein gestellt sind, eine ganz neue Dimension des Grauens eröffnet. Aufgrund der Eisenkuppel wird Morpheus seine Magie nicht einsetzen können und Jeb ist nur ein Mensch. Wie soll einer von ihnen in einem Land von mörderischen, verbannten Netherlingen irgendeine Chance haben?
Ein stummer Schrei der Verzweiflung brennt mir in den Lungen.
Ich senke die Stimme, sodass mich nur der Schaffner hören kann. »Ich habe früher Insekten gesammelt. Ich habe sie mit Nadeln an Pinnwände gesteckt. Meine Wände waren voll davon. Ich habe mir überlegt, wieder damit anzufangen. Vielleicht wären Sie ja gern mein erstes Exemplar.«
Der Schaffner runzelt die Stirn oder zieht eine Grimasse – schwer zu sagen, wenn seine Gesichtszüge so in Bewegung sind. Er zieht sich in den Gang zurück. »Hier entlang, Madam.«
Ich schenke all den Blicken keine Beachtung, während wir zu den Privatabteilen hinuntergehen. Drei Türen hinter Dads Abteil bleibt der Käfer stehen und schaut zurück, um sicherzugehen, dass wir nicht verfolgt worden sind, dann schiebt er ein Namensschild aus Messing in die dafür vorgesehene Halterung: Königin Rot.
Meine Flügelknospen kribbeln, wollen sich befreien. Ein Gebräu aus Magie und Zorn kocht direkt unter meiner Haut. Bereit und voller Erwartung.
Der Schaffner macht sich daran, die Tür aufzuschließen, dann hält er inne. »Ich habe einmal ein Gartenfest in ihrem Palast besucht.« Er verfällt wieder ins Flüstern. »Habe gesehen, wie sie dem Freund dieser Haselmaus die Haut wegrasiert hat … diesem Hasen-Burschen.«
Mir schaudert bei der Erinnerung an den Tag vor einem Jahr, als ich den Hasen bei der Teegesellschaft zum ersten Mal gesehen habe und er wirkte, als habe man ihn von innen nach außen gestülpt. »Der Märzhase? Rot hat ihn gehäutet?«
Der Käfer nickt so heftig, dass ihm beinahe die Mütze vom Kopf fällt. »Sie hat ihn dabei erwischt, wie er an den Rosenblättern knabberte. Nun gut, sie hatte die Rosen zu Ehren ihres toten Vaters pflanzen lassen. Aber trotzdem. Sie hat dazu eine Gartenhacke genommen, wie einen Gemüseschäler … hat seine Haut abgezogen. Das Blut ist über alle Gäste gespritzt. Hat die weißen Anzüge sämtlicher Anwesender und alle Gänseblümchen ruiniert. Habt Ihr jemals ein Kaninchen schreien gehört? Das vergisst man nie.«
Ich mustere die flatternden Lider des Käfers. Er verliert die Nerven. Ich habe Mitleid mit ihm, da ich Rots Gewalttätigkeit am eigenen Leib erfahren habe. Einmal hat sie meine Blutadern wie Marionettenfäden benutzt – die körperlich qualvollste Erfahrung meines Lebens. Sie hat sogar ein Mal auf meinem Herzen hinterlassen … ein Mal, das ich immer noch fühlen kann wie einen deutlich wahrnehmbaren Druck.
In letzter Zeit ist es mehr als nur ein Druck geworden. Seit jenem schicksalhaften Abend beim Schulball, an dem alles schiefging, als ich mich in meinen Wahnsinn gestürzt habe, hat sich der Druck auf meinem Herzen zu einem wiederkehrenden stechenden Schmerz entwickelt. So als würde sich etwas in meinem Innern langsam auflösen.
Ich habe Dad nichts davon erzählt. Ich war damit beschäftigt, mich in meiner Magie zu üben und meinen Plan zu schmieden. Meine Lieben brauchen mich, und ich muss diese Schlacht gewinnen, so wie ich die erste gewonnen habe. Diesmal muss ich endgültig stärker sein als Rot.
Den Luxus einer Untersuchung beim Arzt kann ich mir nicht leisten. Und es würde ohnehin nicht helfen. Was auch immer mir fehlt, wurde durch Magie herbeigeführt. Durch Rots Magie. Mein Bauch weiß es. Und ich werde sie zwingen, es wieder in Ordnung zu bringen, bevor ich ihrer traurigen Existenz für immer ein Ende mache.
Entschlossener als zuvor greife ich nach dem Schlüssel, den der Schaffner in der Hand hält.
Er steckt ihn sich unter den Hut, dann hantiert er mit dem Namensschild herum, versucht, es aus seinem Schlitz zu ziehen. »Ich habe meine Meinung geändert«, sagt er mit knackenden Mundwerkzeugen. »Ein Insekt pflegt so etwas gelegentlich zu tun.«
»Nein.« Ich packe seinen zweigdürren Arm. Er ließe sich so leicht brechen. Eine verwirrende Versuchung überschattet meine Gedanken – will mich provozieren, zur Mörderin zu werden –, aber ich lasse los und lege mir die Hand auf die Brust. »Ich schwöre bei meiner Lebensmagie«, sage ich flehentlich, »dass ich ihr nie erzählen werde, dass Sie sie mir gezeigt haben.«
»Es ist das Beste, wenn Ihr Platz nehmt und auf Euren Vater wartet«, erwidert der Schaffner. Er wühlt unter dem groben Teppich herum, der seine Brust bedeckt, zieht ein Päckchen Erdnüsse hervor und reicht es mir. »Ihr müsst nach Eurer Reise hungrig sein. Esst etwas zu Mittag.«
»Ich gebe nicht nach, bis ich ihre Erinnerungen sehe, Teppichwanze.« Ich werfe die Erdnüsse auf den Boden, drücke den Rücken gegen die Tür und versperre ihm das Namensschild.
Der Käfer gibt ein ärgerliches Gurgeln von sich. »Es spielt keine Rolle, dass mein Körper aus Teppichen besteht. Mein Verstand funktioniert genauso gut wie Eurer.«
»Offensichtlich nicht. Sie haben vergessen, was Morpheus Ihnen gesagt hat. Ich bin eine mächtige Hoheit.«
»Ah ja, aber Morpheus ist nicht hier, oder?«
Ich versuche, mir eine schlagfertige Erwiderung einfallen zu lassen, aber die Erinnerung daran, warum Morpheus nicht hier ist, zieht wie Eis durch meine Glieder und macht meine Zunge so starr wie ein Stück gefrorenes Rindfleisch.
»Ihr seid eine mächtige Nervensäge, nichts weiter«, spottet der Schaffner. »Ihr seid Euch doch wohl darüber im Klaren, dass wir uns unter einer Eisenbrücke befinden. Netherlingsmagie ist hier begrenzt. Das ist auch der Grund, warum wir die verlorenen Erinnerungen hier aufbewahren – um sie zu schützen. Ihr könnt mich also zu gar nichts zwingen. Und ich werde mich nicht wegen eines mageren, machtlosen kleinen Etwas von einem Halbblut, wie Ihr es seid, unter dem Daumen von Königin Rot zerquetschen lassen.«
Eine heiße Woge des Stolzes pulst durch mich hindurch und taut meine Zunge wieder auf. »Vielleicht sollten Sie sich mehr Sorgen machen, gefangen genommen als zerquetscht zu werden.«
Ich rufe die Glühwürmchen-Kronleuchter über mir herbei und stelle sie mir als eine riesige Qualle aus Metall vor. Ketten rasseln und Verschlüsse an der Decke schnappen auf. Die Geschirre öffnen sich und lassen ihre Glühwürmchen-Gefangenen los. Beglückt über ihre Freiheit tanzen die leuchtenden Insekten kreiselnd durch den Raum: wie eine Planetariumsvorführung auf Speed. Die anderen Zuggäste kreischen auf und verkriechen sich unter ihre Sitze.
Mit einem spitzen Aufschrei versucht der Schaffner zurückzuweichen, während die Kronleuchter-Apparatur durch die Luft auf uns zugleitet. Ihre metallenen Tentakel treiben sie vorwärts – eine graziöse und zugleich verstörende Vorführung. Ich ducke mich, und die Ketten fangen den Käfer, schlagen ihm den Hut vom Kopf und schleudern ihn gegen die Wand. Die Verschlussbolzen schnappen zu und formen ein riesiges Metallnetz. Er steckt darin fest, hoch genug, dass seine Beine über dem Boden baumeln.
Die Glühwürmchen schweben in der Luft und verströmen ein sanftes Leuchten.
Mit zusammengebissenen Zähnen angle ich den Schlüssel unter dem heruntergefallenen Hut des Schaffners hervor, zusammen mit der Tüte Erdnüsse. »Es gibt jetzt eine neue Königin.« Zornfunkelnd blicke ich zu ihm auf. »Und gerade wegen meines unreinen Menschenbluts hat Eisen keine Wirkung auf meine Magie. Also kann Rot mir nichts anhaben.« Ich gehe auf Königin Rots Tür zu.
»Wartet«, fleht der Käfer. »Verzeiht mir meine Dreistigkeit, Euer Majestät. Ihr habt ein gutes Argument vorgebracht. Aber ich bin der Schaffner. Ich muss die Vorräte an verlorenen Erinnerungen vor den Schwarzfahrern schützen. Lasst mich herunter, ich flehe Euch an!«
Ich wirble auf dem Absatz zu den anderen herum. Sie spähen unter ihren Sitzen hervor – die Augen weit aufgerissen, die Schwänze schlaff herabhängend, Haare stehen zu Berge –, und sie schnauben und zittern vor Furcht.
Der Schaffner wimmert, als ich die Tüte Erdnüsse nach ihm werfe. Sie verfängt sich in einer der Ketten nahe seiner linken Arme.
»Er hat gerade Mittagspause«, erkläre ich den Fahrgästen. »Jeder, der aus irgendeinem Grund seinen Platz verlässt, bekommt es mit mir zu tun. Haben wir uns verstanden?«
Die Schwarzfahrer antworten mit einem kollektiven Nicken und nehmen vorsichtig ihre Sitze wieder ein. Meine Anspannung fällt von mir ab und macht Befriedigung Platz.
Grinsend schiebe ich den Schlüssel ins Schloss und öffne die Tür zur Vergangenheit meiner Feindin.
2
In dem Moment, da ich die Tür hinter mir schließe, gerät mein ganzes Selbstvertrauen ins Wanken.
Der Raum ist klein und fensterlos. Über einer cremefarbenen Chaiselongue hängt ein elfenbeinfarbener Wandteppich, und daneben steht eine hohe Lampe, die ihr Licht auf das Schachbrettmuster des Bodens wirft.
Die Mondstrahlkekse auf einem Teller verströmen Mandelduft. Sie wirken, als würden sie immer dort warten. So hungrig ich auch bin, ich kann sie nicht essen. Hier ist alles zu schmerzhaft vertraut.
An diesem Ort habe ich Jeb und Mom umarmt, habe ihre Liebe gespürt, als sie meine Umarmungen erwidert haben. Meine Arme schmerzen vor Sehnsucht. An der gegenüberliegenden Wand warten rote Samtvorhänge darauf, geöffnet zu werden und verborgene Bruchstücke aus der Vergangenheit zu enthüllen. In diesem Zug habe ich die Liebesgeschichte meiner Eltern gesehen und auch Jebs Erinnerungen betrachtet. Ich bin in ihre Köpfe gestiegen und wurde von ihren Gefühlen durchdrungen, als seien sie meine eigenen.
Ich habe Moms Gesinnungswechsel gespürt, als sie auf die Rubinkrone verzichtete, um meinem Dad die Chance auf ein Leben zu geben … ich habe sogar gesehen, wie Morpheus ihr geholfen hat, wie er meinen Dad durch das Portal in das Menschenreich hinausgetragen hat, obwohl das all seine sorgfältig ausgetüftelten Pläne gefährdete. Ich habe Jebs Edelmut und Tapferkeit gespürt, als er seine eigene Zukunft aufgab, damit stattdessen ich eine haben konnte.
So viele Opfer haben zu diesem Augenblick geführt. Ich würde alles tun, um die Uhr zurückzudrehen und die Dinge in Ordnung zu bringen. Aber Zeit kennt kein Erbarmen.
Zeit. Solche Beschränkungen hast du in Wunderland nicht. Lass das dein Lichtblick sein. Jetzt reiß dich zusammen. Wir müssen uns auf Rot vorbereiten.
Das waren Morpheus’ Worte am Abend des Schulballs, nur ein paar Stunden, bevor alles in die Binsen ging. Die Botschaft hallt so deutlich in mir wider, als sei Morpheus gedanklich mit mir verbunden; aber die Eisenkuppel zwischen uns macht das unmöglich. Trotzdem erscheint es einleuchtend, dass seine tiefen Einsichten in meiner Seele ihren Widerhall finden, wenn ich schwankend der Unsicherheit zu verfallen drohe. Schließlich ist er der Weisheitshüter von Wunderland, der Sachwalter aller Dinge, die verrückt und tollkühn sind.
Jeb ist ein Anker; er sorgt dafür, dass die Verbindung zu meiner Menschlichkeit und meinem Mitgefühl nicht abreißt. Aber Morpheus ist der Wind; während ich trete und schreie, zerrt er mich auf den höchsten Felsvorsprung und stößt mich hinunter, und dann sieht er zu, wie ich mit Netherlingsflügeln fliege. Wenn Jeb an meiner Seite ist, ist die Welt eine Leinwand – unbefleckt und einladend. Wenn ich mit Morpheus zusammen bin, ist sie ein Spielplatz für ausgelassene Tollereien – verrucht und mit Suchtwirkung.
Mein Herz ist zweigeteilt und jeder der beiden nimmt eine seiner Seiten in Beschlag. Gemeinsam schlagen sie die Brücke zwischen meiner Netherlingswelt und meiner Menschenwelt. Allerdings weiß ich nicht recht, was ich mit diesem Wissen anfangen soll. Und wenn mein Dad seine Erinnerungen nicht vollständig wiedererlangt hat, wenn er aus seinem Abteil kommt, werde ich vielleicht niemals die Möglichkeit haben, es herauszufinden.
Zum ersten Mal seit Wochen brennen mir Tränen in den Augen. Ich bin gut darin geworden, meine Verzweiflung zu verbergen. Gefühllos und unbeteiligt zu erscheinen – das war ein Bestandteil meines Verrücktspielens für die Irrenanstalt. Aber das ist denkbar weit von dem entfernt, wie ich mich jetzt fühle.
Ich weigere mich zu weinen und recke das Kinn. Morpheus würde sagen, dass ich eine Königin bin, und Königinnen weinen nicht. Und Jeb würde sagen: »Alles klar, du schaffst das, Skatergirl.«
Sie haben beide recht.
Ich drehe den Regler an der Wand, um die Lampe herunterzudimmen. Die Vorhänge öffnen sich und präsentieren eine Kinoleinwand. »Stell dir ihr Gesicht vor, während du auf die leere Leinwand schaust«, äffe ich das einstudierte Sprüchlein des Schaffners nach, »und du wirst ihre Vergangenheit erleben, als geschehe sie am heutigen Tag.«
Es überrascht mich, wie einfach es ist, Rots Bild aus den Skizzen im Alice-im-Wunderland-Buch meiner Mom heraufzubeschwören. Rot, noch bevor die kleine Alice in das Kaninchenloch fiel, noch bevor ein treuloser Gemahl die Welt der Königin zerbrechen ließ … bevor ihr König sie betrogen hat. Damals, als Rot nur eine Prinzessin war.
Die Leinwand wird hell, und ich zerberste in tausend Stücke, die sich auf der Leinwand im Körper und aus der Perspektive von Rot wieder zusammenfügen.
Sie ist noch klein und jung, vielleicht zehn, in Menschenjahren gerechnet. Obwohl Kinder im Netherlingsreich natürlich anders sind – weiser und zynischer, ohne Unschuld, ohne Fantasie. Sie jagt einer Schar Kobolde nach und der Atem rasselt ihr in den Lungen. Sie zerren einen Leichnam mit sich davon, der in roten Samt gehüllt ist. Die Kobolde halten nicht an, bis sie durch das Tor des Friedhofs hindurch sind.
»Wartet! Bringt sie zurück!«, schreit Rot.
Sie stolpert beinahe über ihr Kleid, flattert aber mit den Flügeln und hebt vom Boden ab. Sie landet vor dem Tor, gerade als es zuschlägt. Allein steht sie da und späht durch die Gitterstäbe. Schwester Eins huscht aus dem Labyrinth der Büsche. Die spinnenhafte Gärtnerin beugt sich über Rots Mutter und lockt den Geist aus ihrem Körper. Er zappelt und erhebt sich wie eine schimmernde Ranke aus dem Leichnam.
Schwester Eins windet sich den Geist ums Handgelenk und schickt die Kobolde mit der leeren Körperhülle davon.
»Nein, du darfst sie nicht haben!«, ruft Rot, und das Gewicht in ihrer Brust ist so schwer, dass ihr das Atmen wehtut. Der Gestank von Moder und versengten Blättern brennt ihr in der Nase. Sie ist noch nie so nah am Garten der Seelen gewesen, nachdem sie mit Schauergeschichten über die Hüter und das Gelände aufgewachsen ist. Aber die Geschichten von Scherenhänden und Eindringlingen, die in blutige Fetzen gerissen werden, haben heute keine Gewalt über sie. Nicht, wenn ihr die Mutter für immer genommen wird.
Schwester Eins starrt sie von der anderen Seite des Tors her an und runzelt die Stirn. »Das hier ist heiliger Boden, Kind-Königin. Was immer du denkst, es ist närrisch. Du hast hier nicht die Macht, über die du in deinem Königreich verfügst.«
Rot blickt finster drein. Ihr ganzer Körper leuchtet blutrot auf, während sie sich auf das Haar der spinnenartigen Frau konzentriert. Strähnen, so funkelnd und fein wie Bleistiftspäne, flattern mit der Brise um das Gesicht der Gärtnerin, aber Rots Magie hat keine Wirkung.
Rot schaut nach rechts und links zum hohen Zaun und zu den dornigen Ästen hinauf, die sich wie ein Dach über dessen gesamte Fläche erstrecken. Es gibt keine Möglichkeit, diesen Verteidigungswall zu durchbrechen.
Schwester Eins feixt hochmütig. »Es wäre ein Fehler, einen Weg hier hinein zu suchen, kleine Prinzessin– falls du nicht den Wunsch verspürst, meine Schwester persönlich kennenzulernen. Sie hat ein besonderes Talent, aus schmächtigen kleinen Gören wie dir Konfetti zu machen.«
Ein Schauder rast Rot über den Rücken und bis in die Spitzen ihrer Flügel hinab.
Mit einem letzten grimmigen Blick auf Rot windet sich Schwester Eins den wimmernden, leuchtenden Geist um die Finger. Mit gerafften Röcken und spinnendürren Beinen verschwindet sie im Blätterlabyrinth.
Rots königlicher Vater trifft ein, sein Gesicht erhitzt vom Bemühen, seine Tochter einzuholen.
»Was nutzt es, unsterblich zu sein«, fragt Rot, die Nase gegen das Tor gepresst und kaltvom Metall, »wenn wir nicht ewig zusammen sein können?«
»Unsterblichkeit bedeutet lediglich, dass du an einem gewissen Punkt aufhörst zu altern… und dass dein Geist niemals stirbt«, antwortet er keuchend. Er packt ihre Schulter. »Aber der Körper ist durch gewisse Dinge verwundbar und kann als bloße Hülle zurückbleiben.«
Rots Arme und Beine werden taub. Ihr eigener Körper fühlt sich anwie eine Hülle. Leer und vergänglich, als könne er vom ersten Windstoß davongeweht werden.
Sie umklammert die Gitterstäbe, hält sich fest. »Aber warum können wir sie nicht in der Erde begraben, inmitten der Begonien und Gänseblümchen in unserem Palastgarten? So wie die Menschen es tun? Würde sie in den Blumen leben, könnten wir sie jeden Tag besuchen.«
Ihr Vater runzelt die Stirn, als denke er darüber nach. »Du weißt, dass unsere Geister Träume benötigen, um sich zu sättigen, damit sie nicht ruhelos werden… und dann Besitz von lebenden Körpern ergreifen. Nur die beiden Schwestern Twid können dergleichen finden und zur Verfügung stellen.«
»Träume«, schnieft Rot. »Eines Tages werde ich den Unseren Träume bringen, Vater. Es wird sie überall im Überfluss geben, nicht nur auf dem Friedhof. Eines Tages werde ich die Geister befreien, sodass sie in unseren Gärten schlafen und bei Nacht über unsere Fenster streichen können, und bei Tag werden wir mit den Füßen über sie stolpern. Ich werde unserer Welt die Fantasie bringen, damit jeder immer bei denen sein kann, die er liebt.«
Er tätschelt ihr den Kopf, eine zärtliche Geste, die beinahe das klaffende Loch in ihrer Brust zu schließen vermag. »Das würde dich zur beliebtesten Königin aller Zeiten machen, kleine Rosenknospe. Aber bis dahin sind wir gezwungen, Regeln zu befolgen wie alle anderen. Wir dürfen unsere Macht und unsere Stellung nicht missbrauchen und unsere Untertanen nicht in Gefahr bringen. Ganz gleich, wie sehr wir sie auch lieben mögen.« Er tupft sich die Augen mit einem Taschentuch ab. »Verstehst du das?«
Rot nickt.
Die Szene verschwimmt. Ich werde aus der Erinnerung herausgerissen und befinde mich wieder auf meinem Sitz, umhüllt von der Dunkelheit um mich herum. Eine Empfindung wie ein Klopfen erschüttert meinen Schädel, als boxe eine Faust von innen dagegen. Ich presse die Hände auf die Schläfen, bis es aufhört.
Ich habe das flaue Gefühl, dass es die verworfene Erinnerung war, die sich in meiner Hirnschale festgesetzt hat, denn seit meinem letzten Besuch hier habe ich nichts Derartiges erlebt.
Die Leinwand wird wieder hell. Ein leuchtender Regenbogen wischt über den Raum hinweg und zerrt mich zurück auf die Bühne. Meine Knochen schmiegen sich in die von Rot und meine Haut passt sich der ihren an.
Sie ist jetzt etwa sechs Jahre älter als zuvor. Ihr Vater hat nach dem Tod ihrer Mutter eine Netherlingswitwe geheiratet – der Rote Hof hat nun also eine Königin, um dort zu herrschen, bis Rot volljährig ist. Aber in nur wenigen Monaten wird Rot ihre Krönung feiern und die Magie der Krone wird ihr Blut durchströmen …
Rot verbirgt sich in den Palastgärten. Der Zorn, den sie verströmt, während sie ihren Vater und ihre jüngere Stiefschwester durch einige Büsche hindurch ausspioniert, lässt die violett gestreiften Zinnien welken. Grenadine ist die Tochter aus der ersten Ehe der neuen Königin und hat sich als ein Dorn in Rots Fleisch erwiesen.
Es ist nicht nur so, dass ihr Haar wie Rubine schimmert und ihre silbernen Augen hinter dichten lavendelfarbenen Wimpern tanzen. Sie ist immerzu vergesslich– eine leere Tafel, die darauf wartet, beschrieben zu werden. Ihre Zerbrechlichkeit und Abhängigkeit bieten für das trauernde Herz des Königs eine Ablenkung– die Rot ihm mit ihrer Stärke und Unabhängigkeit nicht zu geben vermag.
Der König beugt sich vor, um Grenadine zum hundertsten Mal zu zeigen, wie man Krocket spielt, nachdem er sie bereits zum tausendsten Mal darauf hingewiesen hat, dass er ihr neuer Vater ist. Er zeigt auf die in Form eines umgekehrten U aufgestellten Drahtbügel, die am Boden eine rautenförmige Bahn beschreiben. Rosa-graue Pflöcke markieren ihre beiden Enden und zwei Paar Bälle liegen in einer mit Satin ausgeschlagenen Schachtel.
»Wir folgen der Bahn der Bügel«, erklärt der König sanft. »Meine rote Farbe tritt gegen deine silberne an. Wer als Erstes seine Bälle in der richtigen Reihenfolge durch die Bügel schießt und den Peg trifft, gewinnt.«
Grenadine schüttelt den Kopf und ihre rubinroten Locken hüpfen ihr um die Schultern. »Was ist noch mal ein Peg?«
»Der Zielpflock am Ende der Bahn.«
»Und ein Bügel, ist das das?« Grenadine hält eine Fee mit einem Flamingohals hoch, deren Körper mittels Magie zur Form eines Krocketschlägers versteift wurde. Die zartrosa Federn stellen sich auf, als habe die falsche Benennung die Fee beleidigt.
»Das ist der Schläger, Liebling. Bügel sind die Tore, durch die wir unsere Bälle schlagen.«
Grenadines Grübchen werden sichtbar, wie immer, wenn sie verwirrt ist. »Ach, Vater. Ich kann es mir einfach nicht merken.«
Er lächelt, hingerissen vom Charme ihres Unverstands. »Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, das zu umgehen. Sir Bill?« Er winkt jemanden heran.
Bill, die Eidechse– ein Reptil-Netherling mit der Fähigkeit, ohne Tinte zu schreiben– huscht herbei und verbeugt sich. Sein roter Frack und seine Hose verwandeln sich in die Farbe grüner Blätter und passen sich so überzeugend dem Busch neben ihm an, dass es wirkt, als würden ein abgeschlagener Kopf und Krallenhände mitten in der Luft schweben.
Grenadine knickst ihrerseits. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.«
Die Eidechse lächelt, von Grenadines Liebreiz verzaubert wie jedermann.
»Sir Bill hat die Fähigkeit, Wörter zu essen«, erklärt der König. »Und anschließend kann er sie auf jede beliebige Oberfläche schreiben, der sie nun für immer als Wispern anhaften, sodass man sie hören, aber nicht sehen kann. Er ist der Stenograf des Roten Hofs. Sag etwas laut auf, das du dir merken möchtest.«
Grenadine wiederholt die Krocket-Regeln, die sie Momente zuvor gehört hat.
Bills chamäleonhafter Kiefer hängt sich aus, seine Zunge schnappt in die Luft und fängt das Echo ihrer Worte auf. Während er einen ziemlich großen Klumpen verschluckt, drehen sich seine gewölbten Augen in verschiedene Richtungen. Sekunden später nimmt er ein Samtband aus seiner Tasche und beschreibt es mit gekrallter Fingerspitze.
Blinzelnd reicht er dem König den roten Streifen.
»Hör hin«, sagt der König und hält Grenadine das Band ans Ohr.
Sie wartet, dann bricht sie in Gekicher aus, das ihre rosigen Wangen erzittern lässt. »Es hat die Regeln geflüstert!«
Der König bindet das Band in einer Schleife um ihren kleinen Finger. »Jetzt wirst du sie niemals wieder vergessen. Ich habe Sir Bill gebeten, dein ganz persönlicher königlicher Ratgeber zu sein. Er wird so viele verzauberte Bänder anfertigen, wie du brauchst.«
Grenadine rümpft irritiert die Nase. »Bill? Ich glaube nicht, dass ich ihm schon einmal begegnet bin.«
Der König lacht leise. »Natürlich bist du ihm begegnet. Er steht direkt hier neben dir.«
Bill, die Eidechse, macht eine weitere Verbeugung.
Der gesamten Szene müde, konzentriert sich Rot auf das Band, das um den Finger ihrer Schwester geknotet ist. Ihr Körper leuchtet blutrot auf und ihre Magie löst die Schleife. Der Samtstreifen flattert von Grenadine weg und landet in Rots Handfläche. Sie tritt aus ihrem Versteck heraus.
Röte überzieht das Gesicht des Königs. Er entlässt Bill und schickt ihn zusammen mit Grenadine in den Palast, damit sie weitere Flüsterstimmen zum Leben erwecken können.
»Warum hast du das getan?«, fragt Rots Vater und streckt die Hand nach dem gestohlenen Band aus.
Rot schließt die Finger um das Band. »Vielleicht sollte ich Bill befehlen, Bänder für dich zu machen, damit du dich daran erinnerst, dass du noch eine andere Tochter hast. Eine, mit der du niemals Zeit verbringst.«
Der König blickt auf seine roten Pantoffeln hinab. »Bänder würden da nicht helfen. Denn das habe ich nicht vergessen.«
Rot reckt verbissen das Kinn. »Sie ist noch nicht mal deine Tochter! Ich dagegen bin es durch Blutsbande.«
»Ja, meine scharlachrote Rosenknospe. Mit jedem Tag wirst du deiner Mutter ähnlicher. Und jeden Tag verspüre ich von Neuem den Schmerz, dass sie mir entrissen wurde. Du bist tapferer als ich.«
»Das ist der Grund, warum ich Königin werde«, sagt Rot, bemüht, ihr Herz zu verhärten.
»Ja, weil du dir alles zu eigen machst, was dich an sie erinnert. Du trinkst deinen Tee mit Asche, um dir ins Gedächtnis zu rufen, wie sie dich beruhigt hat, als du ein Baby warst. Du bittest die Köchin um ihre Lieblingstörtchen mit Tumtumbeeren, damit du dich daran erinnern kannst, wie du sie gemeinsam mit ihr verspeist hast. Und du summst ihre Lieder.«
Rot antwortet nicht.
»Bitte versteh, liebste Tochter. Ich gehe dir nur deshalb aus dem Weg, weil ich dir nicht die Laune verderben will. Du bist zu wichtig für das Königreich, als dass ich dich behindern dürfte. Also beobachte ich dich aus der Ferne. Ich kann mich glücklich schätzen, eine Tochter zu haben, die zu einer so starken jungen Frau herangewachsen ist.«
Rot kann solche leeren Schmeicheleien nicht ausstehen. »Grenadine ist diejenige, die sich glücklich schätzen darf, weil sie keine Erinnerung hat. Sie kann jede Regel vergessen, die ihren Taten Grenzen setzen würde, kann jedes Versagen auslöschen, das ihr Selbstbewusstsein schwächen würde, kann jede Traurigkeit beiseitelegen, die sie daran hindern würde zu lieben. Sie hat keine Maßstäbe, nach denen sie sich richten muss. Durch ihre eigene Unzulänglichkeit ist sie gegen alles gefeit, was sie einschränken würde. Sie begegnet der Welt mit der blauäugigen Fröhlichkeit eines geschleimten Toffen-Welpen, der nie getreten oder an eine Kette gebunden worden ist.«
Der König stößt mit der Zehenspitze eine der Schachteln mit den Krocketbällen an. »Ihre Vergesslichkeit macht sie nicht stärker. Du bist diejenige, die stark ist. Denn du erinnerst dich und machst dennoch weiter. Genau das wird dich eines Tages zu einer wunderbaren Herrscherin machen, genau wie deine Mutter– mitfühlend und verständnisvoll.«
Rot schließt die Faust fester um das Band. »Gefühle, aus Schwäche geboren. Ich will nichts mit ihnen zu tun haben.«
»Ach?« Die strenge Stimme ihres Vaters lässt sie zusammenzucken. »Würdest du das Andenken deiner Mutter mit Füßen treten? Ihre Weisheit beleidigen? Alles wegen des kleinen Keims der Eifersucht?«
Rot knirscht mit den Zähnen, und sie spürt den Blick ihrer Mutter auf sich, obwohl die weit fort ist– eine kristallene Rose im Garten der Seelen.
Unter dem Schatten seiner Krone zieht der König die Augenbrauen zusammen. »Du hast die gleiche dunkle Anlage wie alle aus der königlich roten Abstammungslinie. Deine Mutter war die Erste, die gelernt hat, Wahnsinn mit Tugend auszugleichen. Gib dieses Vermächtnis nicht auf. Mach sie stolz.« Er streckt seine Hand aus.
Tränen brennen in Rots Augen, als sie das flüsternde Band in seine Finger fallen lässt, ein unausgesprochenes Versprechen, das Andenken ihrer Mutter zu ehren und ihr Beispiel niemals zu vergessen.
Ich zittere, und mein Kopf schmerzt, als ich unsanft wieder in die Chaiselongue zurückfalle, nur um für die letzte Erinnerung erneut auf die Leinwand katapultiert zu werden:
Rot kniet neben einem Rosenbusch und atmet den süßen Duft ein. Die Blüten sind von einem so dunklen Rot, dass sie vor dem Hintergrund der unnatürlich leuchtenden blaugrünen Blätter wie Lachen aus frischem Blut aussehen. Sie hat den Busch als Andenken an den Tod ihres Vaters im Schlosshof gepflanzt. Sie sehnt sich nach seinem Geist und wünscht sich, er wäre hier in der Erde und nicht eingeschlossen im Garten der Seelen, wenngleich es sie tröstet zu wissen, dass er endlich wieder mit ihrer Mutter vereint wurde.
»Ich sollte bei euch beiden auf dem Friedhof sein«, murmelt sie den Rosen zu. »Jetzt, da mein Leben vorüber ist.« Sie dreht eine Flasche in der Hand und das Etikett wird sichtbar: Vergessenstrank.
Als in der Ferne das Lachen ihrer Stiefschwester erklingt, begleitet von Rots gleichfalls kicherndem Ehemann, krümmt sie die Schultern. Rot hat ihn eine Woche nach dem Tod ihres Vaters kennengelernt. Er hatte ein sanftes Herz wie ihr Vater und hat sich als der einzige Mann erwiesen, der mit ihrem Zorn vernünftig umgehen und ihren Groll mäßigen konnte. Seine Stärke war sein Mitgefühl und er himmelte Rot an. Aber die Königin wurde immer besessener von ihrem Ziel, Träume nach Wunderland zu bringen, sodass sie ihre Ehe vernachlässigte. In ihrer Abwesenheit war ihr Gemahl oft mit Grenadine allein.
Im Laufe der Zeit hatte Rot beobachten können, wie ihr Mann versuchte, sich mit ihrer Schwester anzufreunden, obwohl Grenadine ihn immer abgewiesen hat. Als Rots König dann wie ein verwundeter Welpe an ihre Seite zurückkehrte, fachte seine Traurigkeit ihre Eifersucht an. Sie tat das Einzige, was sie tun konnte: Sie stahl die Bänder ihrer Schwester, um ihrem Ehemann zu zeigen, was für ein vergesslicher Schwachkopf Grenadine war.
Monatelang lockte Rot jeden Tag, wann immer ihre Schwester Schleifen an ihre Finger oder Zehen band, diese mit Magie fort und ließ sie in den Himmel flattern. Schon bald verdunkelten sie die Sonne wie eine Wolke schimmernder, blutroter Schmetterlinge. Es war eine finstere Zeit für das Königreich, aber Rot scherte das nicht. Sie hatte kein Verlangen, die Bänder zurückzurufen und sich Grenadines banale und unwichtige Erinnerungen anzuhören.
Der Diebstahl der Bänder entwickelte sich zu einem mit großer Befriedigung verbundenen Spiel der Bösartigkeit, bis Grenadine schließlich aufhörte, überhaupt welche zu tragen. Und bald darauf hörte sie auch auf, gegen die Annäherungsversuche von Rots Gatten anzukämpfen.
Die beiden verliebten sich jeden Tag aufs Neue ineinander und Rot musste es wieder und wieder mit ansehen. Zornig rief sie die Bänder vom Himmel herab. Sie zerstreuten sich im ganzen Schlosshof, ein Schauer aus blutrotem Regen. Rot stand in der Mitte, während Hunderte geflüsterter Botschaften um sie herumwirbelten und immer die gleichen Worte wiederholten: Halte Rots Gemahl von deinem Herzen fern. Sie ist deine Schwester, diese Liebe ist kostbar. Sei Rot immer treu.
Grenadine hatte sich täglich daran erinnert, immer das Richtige zu tun, und Rot hatte es ihr unmöglich gemacht, ihre Vorsätze im Gedächtnis zu behalten. Die Verantwortung für ihre zerstörte Ehe lastete auf Rots eigenen Schultern. Rots einzige Möglichkeit zu überleben bestand darin, wie Grenadine zu werden, ihre eigene Rolle bei alledem zu vergessen und sich nur an den Verrat anderer zu erinnern… die Untaten der anderen ihr Herz verhärten zu lassen.
Rot streichelt das Blütenblatt einer Rose und flüstert ein letztes Mal: »Mutter, Vater, ich hoffe, ihr könnt mir beide vergeben, denn wenn ich nicht vergesse, werde ich mir selbst nicht verzeihen können.« Dann hebt sie die Flasche an die Lippen.
Das Bild erlischt, die Vorhänge fallen, und das Licht geht an.
In der Chaiselongue zusammengesackt, halte ich mir die Schläfen, bis das Trommeln in meinem Schädel verebbt. Ich ersticke beinahe an dem bittersüßen Duft der Rosen, der sich tief in meine Sinne gegraben hat. Endlich kann ich anerkennen, was ich mir nie gestattet habe zuzugeben: Ich bin eine Nachfahrin von Königin Rot. Sie ist auf ewig ein Teil von mir. Ich kann es nun annehmen, weil sie einst doch ein Herz besessen hat. Ein Herz, das ähnliche Verluste erfahren hat wie meins: die Abwesenheit einer Mutter, die sie abgöttisch liebte. Die Angst, die Bewunderung ihres Vaters zu verlieren. Die Reue über einen Fehler, der so gewaltig war, dass er sie die Liebe ihres Lebens gekostet hat.
Rot hat ihre verwundbarsten Momente weggesperrt, damit sie in ihrem Streben nach Rache nie zaudern würde. Damit sie sich ohne Schuldgefühle abgrundtief in skrupellose Hemmungslosigkeit versenken konnte.
Mitgefühl plagt mein Gewissen, aber ich schiebe es beiseite. Auf einem Schlachtfeld hat Barmherzigkeit keinen Platz … sei sie magischer oder sonstiger Natur.
Wenn ich ihre geschmähten Erinnerungen lange genug festhalten kann, um sie wieder mit Rots Bewusstsein zu vereinen, werden sie mit ihr ins Gericht gehen, sie mit Reue erfüllen. Dann, wenn sie verwundbar ist, werde ich handeln, und Wunderland wird nie wieder ihren Zorn fürchten müssen.
Von einem dunklen Wirbel aus Gefühlen durchwogt, stehe ich auf und streiche die Falten aus meinem Krankenhauskittel. Ich bin nur wenige Schritte von der Tür entfernt, als sie plötzlich aufschwingt und Dad vor mir steht – in seinen braunen Augen erstrahlt ein flammendes Licht.
»Allie, ich erinnere mich … an alles.«
3
Dad teilt mir mit, dass sein richtiger Name David Skeffington sei. »Interessant«, sage ich, während wir den Flur entlanggehen. »Dabei habe ich geglaubt, wir wären am Ende gar mit Martin Gardner verwandt.«
Dad runzelt die Stirn. »Wer ist das denn?«
»Der Mann hinter dem Buch Lewis Carroll– Alles über Alice. Ein Mathegenie.« Ich zucke die Achseln. »Ein weiteres Indiz dafür, wie sehr Moms Gedanken von Wunderland eingenommen waren. Als sie deinen richtigen Namen nicht herausfinden konnte, hat sie dir einen gegeben, der in das Vermächtnis von Lewis Carroll passt.«
»Ohne zu ahnen, dass ich bereits hineingepasst habe«, erwidert Dad.
»Warum? Wer sind denn die Skeffingtons?«, frage ich.
Dad bemerkt den an der Wand hängenden Schaffner und antwortet nicht.
Ich helfe ihm, den zappelnden Käfer zu befreien. »Mr Teppichwanze hat sich unkooperativ gezeigt«, erkläre ich und befreie das verhedderte Fell meines Gefangenen aus den Drähten und sonstigen Metallteilen.
»Es gibt auch andere Möglichkeiten, um zu überzeugen.« Dads Miene ist streng, als er das derangierte Insekt auf den Boden setzt. »Weniger gewalttätige.«
Ich beiße mir respektvoll auf die Zunge, obwohl ich ihm gern erwidern würde, dass er keine Ahnung hat, wie man mit Netherlingen umgeht.
Nach einer Entschuldigung, die mir eine vorsichtige, aber ehrfurchtsvolle Verbeugung des Schaffners nebst zwei Gratistüten Erdnüssen einbringt, nimmt Dad meine Hand, und wir treten zusammen auf den Bahnsteig des Spielzeugzugs und in die Kühle des schwach beleuchteten Tunnels hinaus. Mit einem lauten Einrasten schließt sich die Wagentür hinter uns.
Ich gähne und atme den Duft von Staub und bröseligen Steinen ein. Das Gewisper von hundert Insekten verschwimmt zu einem Hintergrundrauschen – eine beruhigende Ablenkung. Rots Erinnerungen schieben sich immer wieder neu in mein Gedächtnis, sie trüben meinen Verstand und verteilen verstörende blutrote Flecken über meine Gedanken: ihr gerötetes Gesicht, als sie versucht hat, den Geist ihrer Mutter nicht gehen zu lassen. Der rubinfarbene Schimmer im Haar ihrer Stiefschwester während jener quälenden Krocketstunde, als ihr Vater Rot aus dem Weg ging. Und die tief blutrote Farbe der flüsternden Bänder, die Rots verhängnisvollsten Fehler verkündet haben.
Ich darf kein Mitleid haben. Ich muss stark sein.
Ich halte mir den Bauch, mir ist übel, und ich verliere das Gleichgewicht. Ich hatte keine Ahnung, dass besagter Ohrwurmeffekt so schnell einsetzen würde – und dass er so stark sein würde. Ich muss eine Möglichkeit finden, ihn unter Kontrolle zu bringen.
Dad bemerkt, dass ich mir den Bauch reibe, und hält mir eine Tüte Erdnüsse hin. »Du musst etwas essen.«
Ich werfe mir ein paar Erdnüsse in den Mund. Die salzige Knusprigkeit lindert meinen Hunger, aber sie kann die roten Farbflecken nicht wegscheuchen, die meine Gedanken durchtriefen.
»Sag mir, wo deine Mutter ist«, bricht es plötzlich aus Dad heraus.
Ich ersticke beinahe.
»Sag mir, dass sie nicht in der Spiegelwelt ist.«
Ich schlucke, dann antworte ich: »Sie ist in Wunderland.«
»Gut. Es gibt Geschöpfe im IrgendWoanders, die kein Mensch …« Er unterbricht sich, als erinnere er sich daran, dass sie weit davon entfernt ist, ein Mensch zu sein. »Sie ist eine von ihnen. Wie dieser geflügelte Junge, der mich durch das Portal getragen hat. Sie ist ein Netherling.«
»Zum Teil«, flüstere ich. Das »Genauso wie ich« liegt mir auf der Zunge, unausgesprochen.
»Sie ist stärker, als ich es mir jemals hätte vorstellen können«, murmelt er. »Sie kann Jeb beschützen. Sie können sich aufeinander stützen.«
Ich streiche ihm übers Gesicht. Zur Hälfte hat er recht. Mom ist stark, und ich muss einfach glauben, dass sie in Wunderland überlebt. Wenn Jeb wirklich bei ihr wäre, dann wäre er ebenfalls sicherer. Ich werde Dad nicht verraten, dass sie nicht zusammen sind. Noch nicht. Zuerst muss er alles verdauen, was er erfahren hat. »Die schaffen das schon. Sie alle … alle beide.«
Dad hat noch genug mit der Erinnerung an das geflügelte Feenwesen zu kämpfen, das Mom geholfen hat, ihn aus Wunderlands Garten der Seelen zu befreien. Er braucht jetzt noch nicht zu wissen, dass Morpheus Teil unserer Rettungsmission ist. Aber später werde ich erklären müssen, welche gewaltige Bedeutung Morpheus seit meiner Kindheit für mein Leben hatte. Auch wenn ich niemals verraten darf, für welche Rolle in meiner Zukunft er vorgesehen ist, denn ich habe bei meiner Lebensmagie geschworen, kein Wort darüber zu sagen. Ich kann nicht einmal Morpheus selbst erzählen, dass ich gesehen habe, was die Zukunft bringen wird, obwohl er es selbst gesehen hat.
»Das Problem ist«, fahre ich fort, »dass das Kaninchenloch zugeschüttet wurde. Alle Portale stehen miteinander in Verbindung. Wenn der Eingang nicht mehr benutzbar ist, gibt es also auch keine Wege, die hinausführen.«
»Und deshalb hast du mich hierhergebracht, damit ich meine Erinnerungen wiederfinde«, greift Dad die baumelnden Fäden meiner Erklärung auf. Er drückt meine Finger gegen sein Kinn. »Um einen anderen Weg nach Wunderland zu finden.«
Mir graut davor, ihm zu erzählen, in welchem Zustand sich Wunderland befindet … und dass ich zu allem Überfluss auch noch dafür verantwortlich bin. Dass meine Unfähigkeit, mich meiner zu lange vernachlässigten und entsprechend unterentwickelten Kräfte zu bedienen, diese ganze Tragödie verursacht hat. Und dass ich mich, um die Dinge in Ordnung zu bringen, meiner größten Angst werde stellen müssen.
Ich nehme die Hand von seinem Gesicht. Wir haben eine Menge zu besprechen, bevor ich Rot mit ins Spiel bringe.
»Also, was ist zwischen dir und dem Schaffner vorgefallen?«, wechselt Dad zu meiner großen Erleichterung das Thema. »Warum hast du ihn so schikaniert?«
Ich werfe mir eine Erdnuss in den Mund. »Er hat mich ›ein kleines bisschen von Halbblut‹ genannt«, sage ich und kaue knirschend. »Ich fand meine Lösung ziemlich kreativ.« Meine Stimme wird vom Lärm der Motoren und plaudernden Menschen gedämpft, der durch die Luftschächte über uns von der Brücke herabdringt.
Dad wischt sich Krümel von seinem Polohemd, das die Aufschrift »Tom’s Sporting Goods« trägt. »Gerade so kreativ, wie es die Lügen waren, die du und deine Mutter euch habt einfallen lassen.«
Autsch. Ich stopfe mir noch eine Handvoll Erdnüsse in den Mund.
»Wenn wir ihr und Jeb helfen wollen«, fährt Dad fort, »brauche ich ehrliche Antworten von dir. Die ganze Wahrheit. Keine beschönigenden Lügen mehr.«
Ich betrachte meine nackten Zehen und zucke zusammen, als wir nun auf Kieselsteine und kleine Felsbrocken treten. Meine zarten Fußsohlen sind nicht das Einzige an mir, das mir empfindlich und entblößt vorkommt. »Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll, Dad.«
Er runzelt die Stirn. »Ich erwarte keine sofortigen Antworten. Wir müssen zuerst Humphreys Schenke aufsuchen.«
»Humphreys Schenke?« Ich beiße mir in die Wangen. Der einzige Humphrey, dem ich je begegnet bin, ist das Eiermann-Wesen in Wunderland, das in Lewis Carrolls Roman »Humpty Dumpty« oder »Goggelmoggel« genannt wird. »Was hat es damit auf sich?«
»Humphreys Schenke ist der einzige Hinweis auf den Aufenthaltsort meiner Familie, den ich habe. Dieses Gasthaus war hier mein Zuhause.«
»Hier in London?«
»Hier in dieser Welt. Humphreys Schenke ist eine Art Zwischending auf halbem Weg zwischen dem magischen und dem sterblichen Reich. Sie ist unter der Erde versteckt.«
Dass er so offen die Existenz einer magischen Anderswelt einräumt, macht mich schwindelig. Vielleicht habe ich mich darin geirrt, dass er keine Ahnung hat, wie man mit Netherlingen umgeht. Vielleicht habe ich das sogar bereits geargwöhnt, aber es ist trotzdem schwer zu begreifen … Wie tief doch Wunderland durch meine Adern fließt, auf beiden Seiten meiner Familie.
Dieser Gedanke lässt ein weiteres Bruchstück von Rots Erinnerungen in mir aufsteigen. Taumelnd verliere ich das Gleichgewicht.
Dad gibt mir Halt. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Bloß Kopfschmerzen«, antworte ich, während die Empfindung nachlässt. Ich muss mich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht an meine Urururgroßmutter zu denken, bis ich eine Möglichkeit gefunden habe, diese Erinnerungen zu unterdrücken. »Du warst gerade dabei, mir von dem Gasthaus zu erzählen.«
»Genau. Es befindet sich irgendwo in Oxford.«
»Im Ernst? Dort ist Alice Liddell aufgewachsen. Dort ist sie Lewis Carroll begegnet.«
Dad reibt sich die Bartstoppeln auf dem Kinn. »Irgendwo in fernerer Vergangenheit waren die Skeffingtons mit den Dodgsons verwandt – Dodgson ist Carrolls echter Nachname, Carroll nur das von ihm gewählte Pseudonym. Ich hoffe, mehr Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, sobald wir die Schenke gefunden haben.«
Ich dränge ihn nicht weiter. Ich kann mir seine momentane Überlastung gar nicht ausmalen; er hat so unglaublich viel zu verarbeiten.
Ein Stück weiter weg hängen die Monarchfalter, die uns als Fortbewegungsmittel gedient haben, mit trägem, entspanntem Flügelschlag an den Tunnelwänden. Die Glühwürmchen-Kronleuchter spiegeln sich in ihrer orangefarbenen und schwarzen Zeichnung. Das Ganze erinnert mich an Tiger in einem Naturfilm, die durch die Schatten der Urwaldbäume gleiten.
Die Schmetterlinge flüstern: Wir kennen den Weg zu Humphreys Schenke. Hättet Ihr gern eine Eskorte, kleine Blumenkönigin?
Beim Gedanken, mich erneut von Wind und Regen durchschütteln zu lassen, zieht eine Gänsehaut über meine Arme. Es ist keine Angst. Es ist elektrisierende Erwartung – als stelle man sich vor seiner Lieblingsachterbahn an. Meine Flügelknospen kitzeln. Der rechte Flügel ist noch nicht wieder voll verheilt. Ich hatte noch keine Möglichkeit, seine volle Kraft wieder aufzubauen. Vielleicht kann ich die Flügel während des Schmetterlingsflugs entfalten, kann sie trainieren, ohne Gefahr zu laufen, dabei abzustürzen.
Ja, bitte, bringt uns hin. Stumm übermittle ich den Schmetterlingen die Antwort.
»Reden sie gerade mit dir?«, fragt Dad, der mich dabei ertappt hat, wie ich die Schmetterlinge anblicke.
Ich schlucke. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, einer Person, die man sein ganzes Leben lang zum Narren gehalten hat, nichts mehr vorzumachen. »Ähm … ja.«
Er mustert mich, im fahlen Licht wirkt er fast grün. Ich frage mich, ob ihm jetzt bewusst geworden ist, dass wir Mom für etwas in eine Irrenanstalt haben einsperren lassen, das gar keine Wahnvorstellung, sondern vielmehr Realität war.
»Die Schmetterlinge wissen, wo das Gasthaus ist«, antworte ich.
Dad lässt einen missmutigen Laut hören. »Können wir bitte zu unserer normalen Größe zurückkehren, wenn wir dort angekommen sind?«
»Sicher. Ich habe alles dabei, was wir brauchen.« Ich klopfe auf meine Tasche, wo die Pilze warten, überrascht, neben ihnen den Stift des Schaffners vorzufinden. Ich hatte vergessen, dass ich ihn noch habe.
Dad zieht seine Brieftasche und geht ihren Inhalt durch: Quittungen, Geld, Fotos. Er hält inne, als er auf das Familienbild stößt, das wir vor einigen Monaten aufgenommen haben. Mit zittriger Fingerkuppe zeichnet er Moms Umrisse nach. »Ich kann nicht glauben, was sie für mich getan hat«, murmelt er, und ich frage mich, ob ich es hören sollte oder ob er in diesem Moment ganz in sich selbst versunken ist. Ich habe nie an seiner innigen Liebe zu ihr gezweifelt, aber erst vor Kurzem habe ich erfahren, wie stark auch ihre Liebe zu ihm ist.
Ich würde gern wissen, wie viel ihm in Erinnerung geblieben ist … ob er begriffen hat, dass sie auf dem besten Weg war, Königin zu werden, bevor sie ihn fand.
Dad beißt die Zähne zusammen und lässt das Bild in seine Hülle zurückgleiten. »Wir haben nicht die richtige Währung. Wir werden meine Kreditkarten nehmen müssen. Wenn wir ankommen, sollte es etwa Abendessenszeit sein. Wir können alles beim Essen besprechen.« Er sieht müde aus und doch lebendiger, als ich ihn seit Jahren erlebt habe. »Wir müssen unseren nächsten Schritt planen. Aber es ist wichtig, dass wir unauffällig bleiben und möglichst keine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Angesichts ihres Berufs könnte sich meine Familie einige sehr gefährliche Feinde gemacht haben.«
Ein unangenehmer Knoten bildet sich in meiner Kehle. »Was ist das für ein Beruf?«
Er steckt sein Portemonnaie wieder in die Tasche. »Türhüter. Sie sind die Wächter des IrgendWoanders.«
Meine Knie werden weich. »Was?«
»Wir haben jetzt erst einmal genug durchgesprochen. Ich bin immer noch damit beschäftigt, das alles zu verarbeiten.«
Sein schroffer Ton schmerzt. Aber welches Recht habe ich, verletzt zu sein? Ich habe ihn siebzehn Jahre lang darauf warten lassen, die Wahrheit über mich zu erfahren.
»In Ordnung.« Ich verkneife mir die Entschuldigung, die mir auf den Lippen liegt, und mustere meinen übel in Mitleidenschaft gezogenen Kittel. »Es dürfte nicht leicht sein, unbemerkt zu bleiben, solange ich Irrenhauskleider trage. Und auch du wirst dich umziehen müssen.«
»Irgendwelche Ideen dazu?«, fragt Dad, dann hebt er die Hand. »Und bevor du davon anfängst: Wir werden nichts von einer Wäscheleine stehlen.«
Es ist, als habe er meine Gedanken gelesen. »Warum nicht? Das Motiv rechtfertigt immer das Verbrechen.« Ich beiße mir auf die Zunge. Das ist Morpheus’ Argumentationsweise, nicht meine. Es ist gleichzeitig beängstigend und befreiend, dass sein Mangel an Logik mir durch und durch sinnvoll zu erscheinen beginnt.
Dads Augen werden schmal. »Versichere mir, dass du das eben nicht gesagt hast.«
Ich verdränge das Bedürfnis, auf meinem Argument zu beharren. Die Rechtfertigung von Verbrechen mag im Netherlingsreich geltende Rechtsnorm sein, aber das macht dergleichen für Dad in diesem Moment nicht legitim. »Ich meinte nur, dass es nur ein Borgen wäre, wenn wir später neue Kleider kaufen und die anderen zurückgeben würden.«
»Zu viel Aufwand. Wir brauchen eine schnelle Lösung. Behelfskleider.«
Behelfskleider.