Darkness - Die verlorenen Kinder - Johanna Marthens - E-Book

Darkness - Die verlorenen Kinder E-Book

Johanna Marthens

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Beschreibung

Alyssa Nuori saß fünfzehn Jahre unschuldig im Gefängnis. Als sie entlassen wird, wendet sie sich an Privatdetektivin Grace Boticelli, damit diese ihre Kinder findet, die ihr vor dem Haftantritt weggenommen wurden. Doch sobald Grace den Fall übernimmt, verschwindet die Klientin. Grace ermittelt dennoch weiter und entdeckt, dass Alyssa einen geheimen Plan verfolgt, um einen brutalen Mörder zu überführen. Der Haken an der Sache: Wenn es ihr gelingt, den Mörder zu stellen, sieht Alyssa ihre Kinder nie wieder ... ***** Spannend von Anfang bis Ende. Habe den Roman fast in einem Zug durchgelesen ***** Locker, gefühlvoll und spannend. Klare Leseempfehlung ***** Die Autorin Johanna Marthens schafft es wieder, den Leser ab der ersten Seite mitzureißen. Ich bin wieder total begeistert! ***** Es macht süchtig nach mehr ***** Wow

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DARKNESS

Die verlorenen Kinder

 

 

Johanna Marthens

 

 

 

 

Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

 

Copyright © Johanna Marthens, 2015, 2021

 

 

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe ist nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt.

 

Die Liebe der Mutter zu ihren Kindern ist eine Brücke zu allem Guten: im Leben und in der Ewigkeit.

 

Türkisches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

 

PROLOG

VERLORENE SEELE

DIE LISTE

EINE FRAGE DER IDENTITÄT

DAS TAGEBUCH

AUGENBLICKE

DER PLAN

FORTSCHRITT

MISS ROSIE

EINSTÜRZENDE MAUERN

ÜBERRASCHUNGOPFER

ZEUGNISSE

EPILOG

IMPRESSUM

PROLOG

 

TONY KNALLTE DIE TÜR mit solcher Wucht zu, dass der Wind den Regen in die Hütte trieb und die Dielen nässte.

„Ich weiß nicht, warum ich das alles für Sie tue!“, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, während er das trockene Holz neben dem Kamin fallen ließ. „Ich habe es langsam satt. Offenbar wollen Sie nicht, dass man Ihnen hilft.“

Er war nass bis auf die Haut. Das Wasser tropfte aus seinen kurzen, braunen Haaren, perlte von seinem Gesicht, rann seinen Hals hinunter. Sogar die Härchen auf seinem Arm waren klatschnass.

Er blickte aufgebracht zu der Frau, die reglos auf einem Stuhl saß und ihn stumm beobachtete. Auch sie war vom Regen durchnässt worden. Ihre schwarzen Haare wellten sich durch die Feuchtigkeit. Ihre Haut schimmerte im schwachen Licht der Hütte goldbraun.

Tony zog sein nasses T-Shirt aus und warf es neben den Haufen Holzscheite. Dann ging er zum Kamin, wo er das Feuer entzündete.

Die Frau sah die Flammen nicht, selbst dann nicht, als das Feuer lichterloh brannte. Sie starrte Tony an. Sein Körper war voller Narben. Sie zogen sich über seine linke Körperhälfte, von der Hüfte bis zum Hals. Die Haut spannte über den Rippen, die Brust war völlig entstellt. Dort, wo das Schlüsselbein lag, erhob sich eine dicke Narbenwulst. Die gesunde Seite war sehr attraktiv, athletisch und durchtrainiert, die andere wirkte wie ein Zerrbild.

Dass sie seine Narben sah, schien Tony plötzlich unangenehm bewusst zu werden. Er verkrampfte sich und warf einen schiefen Seitenblick auf sie.

Doch sie fand seinen Körper nicht hässlich. Im Gegenteil. Als sie ihn erblickte, wusste sie auf einmal mit Bestimmtheit, dass Tony etwas Besonderes war. Und dass er ihr nicht wehtun würde. Die Narben machten ihn einzigartig.

In diesem Moment zerbrach die Mauer in ihr. Ihr Widerstand schmolz dahin wie Schnee in der Frühlingssonne. Die Ablehnung verdampfte wie das Wasser auf Tonys Haut in der Hitze des Feuers.

„Was haben Sie sich dabei gedacht?“, fragte er, erneut zornig und aufgebracht und ohne dass er sich der Veränderung in ihrer Gefühlswelt bewusst war. „Dachten Sie, Sie könnten hier allein überleben? Ich denke, ich sollte Sie einfach an die Polizei ausliefern. Sie machen mir zu viel Ärger.“

Sie antwortete nicht, sondern starrte unentwegt auf seinen Körper. Sie beobachtete, wie sich die Muskeln unter seiner Haut bei jeder Bewegung hoben und senkten. Wassertropfen funkelten auf seinem Rücken wie Diamanten. Das Feuer warf geheimnisvolle Schatten auf sein Gesicht und beleuchtete die Narbe auf seiner Wange. Die Frau hatte sich die ganze Zeit gefragt, woher er dieses Wundmal im Gesicht hatte, aber da hatte sie noch nicht gewusst, dass es nicht das einzige an seinem Körper war.

Er erhob sich und kam zu ihr. Dass sie seinen entstellten Körper aus nächster Nähe sehen würde, machte Tony verlegen, aber jetzt war es ohnehin zu spät. Sie hatte das Elend bereits bemerkt. Und vermutlich würde er sie bald sowieso nicht wiedersehen, auch wenn es ihm das Herz brach.

„Ich müsste Sie eigentlich an den Stuhl anbinden. Aber vermutlich würden Sie dann damit fliehen.“

Sie erwiderte noch immer nichts. Sie starrte seinen Bauch an, der wie ein Waschbrett ausgebildet war. Die Muskeln spielten leicht bei jedem Wort, das er sagte.

Er beugte sich zu ihr, um die Fesseln an ihren Handgelenken zu prüfen. Er kam ihr dabei ganz nah. Sie konnte den Duft seiner Haut riechen, die Wärme seines Körpers spüren. Als seine Hände über ihre Arme strichen und ihre Handgelenke berührten, fühlte sie ein sanftes Stechen in ihrer Herzgegend. Und ein leises Flattern im Bauch – etwas, was bei Colin niemals eingetreten war.

Ihr Mund berührte fast seine Schulter.

„Ich werde Sie zurückbringen und dann trennen sich unsere Wege. Wollten Sie eben fliehen, um Patterson allein zur Stecke zu bringen? Sie besitzen offenbar weder Einsicht noch den Wunsch, Ihr Leben verantwortungsvoll zu leben. Was Patterson betrifft, sind Sie besessen und augenscheinlich zu borniert, um noch klar zu sehen. Ich mach das nicht mehr mit.“ Er klang entschieden. Sie hörte seine tiefe, dunkle Stimme ganz nah an ihrem Ohr und spürte, wie bei ihrem Klang ein feines Prickeln über ihre Haut rann.

Tony wollte sich aufrichten, doch da fühlte er für einen winzigen Augenblick ihre Lippen auf seiner Schulter. Erstaunt wich er einen Zentimeter zurück.

Sie starrte noch immer seinen Körper an.

„Ich wusste vom ersten Moment an, dass du mir und meinem Vorhaben gefährlich werden könntest“, sagte sie plötzlich leise. Ihre Stimme hatte den Schmerz der Wut und Verzweiflung verloren. Sie klang auf einmal genauso verloren und sehnsüchtig, wie sie sich fühlte.

Tony wollte bei diesen Worten bitter auflachen, weil sie, seiner Meinung nach, die Wahrheit völlig verzerrten. Doch er schluckte das Lachen hinunter, als er ihren Blick sah. Der Ausdruck in ihren Augen war nicht mehr zornig und verbittert, sondern weich und verlangend.

„Und mir war klar, dass du mich in Teufels Küche bringen würdest, als du durch meine Tür tratst“, antwortete er mit heiserer Stimme, während er versuchte, das erregte Klopfen seines Herzens im Zaum zu halten.

Sie verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Das zu erahnen, war nicht schwierig gewesen. Ich sah bestimmt aus wie ein Häuptling auf dem Kriegspfad.“

„Du warst wunderschön“, murmelte er. Danach zögerte Tony einen Moment, bevor er sich wieder zu ihren Fesseln beugte. „Ich werde es vermutlich bereuen. Aber versprichst du mir, dass du nicht wieder davonläufst, wenn ich dich losbinde?“

Sie antwortete nicht, sondern berührte mit ihren Lippen erneut seine Schulter. Ganz sanft, als wollte sie ihn kosten.

„Versprichst du es mir?“, flüsterte er in ihr Ohr.

„Ja, ich verspreche es“, erwiderte sie leise.

Sie spürte, wie er das Messer aus der Tasche zog und damit die Plastikfesseln zerschnitt. Das Blut schoss zurück in ihre kühlen Finger, so dass sie kribbelten. Mit ihren befreiten Gliedern strich sie sanft über die Narben auf seiner linken Körperhälfte.

„Sie sind hässlich“, murmelte er verlegen.

„Nein, das finde ich nicht“, erwiderte sie. „Dadurch weiß ich, dass du bist wie ich.“

„Du hast keine Narben.“

„Keine, die man sieht.“

Er nahm sanft ihr Gesicht in beide Hände. Bei dieser Berührung spürte sie, wie die letzte Mauer in ihr einstürzte. Und wie sich der Schmerz in ihrem Herzen in eine Sehnsucht verwandelte, die sie schon seit langer, langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Sie fühlte keinen Hass mehr, sondern nur noch Zuneigung und Leidenschaft.

„Wir müssen zusammenarbeiten, dann schaffen wir es“, flüsterte er.

Sie nickte und fuhr mit ihrer Zunge zärtlich über die Narbe, die früher seine Brustwarze gewesen war. „Ich vertraue dir.“

„Wir bringen ihn zu Fall und finden deine Kinder, koste es, was es wolle.“

„Zusammen mit Grace.“

„Das wiederum verspreche ich dir“, sagte er, während seine Lippen ihrem Mund immer näherkamen.

Dann küsste er sie.

VERLORENE SEELE

WENIGE TAGE ZUVOR

Voller Entsetzen starrte Grace Boticelli in den Spiegel. „Was haben Sie getan?“, flüsterte sie fassungslos.

„Sie wollten sie kürzer haben“, erwiderte die junge Frau mit der Schere fröhlich und zufrieden mit ihrem Werk. „Jetzt sind sie kürzer.“

„Aber doch nicht soooo kurz.“ Grace schluckte und betrachtete die Katastrophe auf ihrem Kopf. Sie sah aus wie ein Junge. Oder schlimmer: wie ein Soldat. Eigentlich sollte ihre Kurzhaarfrisur nur nachgeschnitten werden, also nur ein wenig überall angepasst. Aber die junge, übereifrige Friseurin hatte ihr einen Stoppelschnitt verpasst.

„Diese Frisur ist auf jeden Fall sehr praktisch“, versuchte die Urheberin des Übels ihr Werk zu rechtfertigen.

„Aber sie passt nicht mehr zu mir“, erwiderte Grace mit monotoner Stimme, in der immer noch das Entsetzen mitschwang. „Die Frisur, die ich vorher hatte, ließ mich frech und attraktiv wirken. Das hier macht aus mir einen halben Mann.“

„Wenn Sie nicht zufrieden sind, können Sie von unserer Geld-zurück-Garantie Gebrauch machen“, sagte die Friseurin, einen Hauch weniger euphorisch als vorher.

„Das Geld nützt mir nichts, wenn ich jetzt die ganze Zeit mit diesem Elend auf dem Kopf herumlaufen muss“, stöhne Grace gequält.

„Aber die Haare wachsen ja wieder“, tröstete sie die junge Frau. „Das nächste Mal weiß ich, was Sie sich vorstellen.“

„Das nächste Mal schneide ich sie lieber selbst, als dass ich noch einmal hierher komme“, brummte Grace missmutig und stand auf. Das war das erste Mal, dass sie in San Francisco zum Friseur ging, und schon passierte solch eine Katastrophe! Immer noch geschockt ging sie zur Frau an der Kasse und überlegte, ob sie sich tatsächlich das Geld zurückgeben lassen sollte. Aber dann sah sie in das betretene Gesicht der Friseurin, die endlich begriff, was sie angerichtet hatte, und überlegte es sich anders. Die junge Frau hatte vermutlich das Beste gewollt, dabei nur ordentlich danebengelegen. Also bezahlte Grace und legte sogar noch ein – zugegebenermaßen etwas kleines – Trinkgeld obendrauf. Dann verließ sie den Laden.

Grace sah schrecklich aus, fand sie. Jedes Mal wenn sie ihr Spiegelbild in einem Schaufenster sah, zuckte sie zusammen und stöhnte leise. Um ehrlich zu sein, war die Frisur wirklich nicht ideal. Dennoch kamen dadurch ihre ausdrucksstarken Augen noch besser zur Geltung. Sie wirkte nicht männlich, wie sie sich einbildete, sondern eher zerbrechlich. Aber das sah sie nicht. Sie erinnerte sich an die Zeit in Texas vor ihrer Veränderung, als sie sich unscheinbar und hässlich gefühlt und bei ihrem Traummann Tim nicht die geringste Chance gehabt hatte. Dass die Verwandlung vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan sie auch in die Hände eines irren Serienmörders getrieben hatte, daran dachte sie lieber nicht.

Jetzt, nach dem verunglückten Besuch beim Friseur, kam das unangenehme Gefühl des fehlenden Selbstbewusstseins zurück. Sie zog unbewusst die Schultern ein, um sich kleiner zu machen, in der Hoffnung, dass niemand sie wahrnahm. Und das ausgerechnet heute, da sie noch so einen wichtigen Termin vor sich hatte!

***

DIE STRASSE WAR LAUT, viel zu laut. Der Lärm der Motoren dröhnte in den Ohren von Alyssa Nuori Wilkins, als würde sie direkt neben einem startenden Flugzeug stehen. Unaufhörlich strömte der Verkehr an der Frau vorüber.

Sie schob ihre Tasche auf die Schulter, um sich die Hände über die Ohren legen zu können. Dadurch wurde der Lärm erträglicher. Nicht jedoch der Gestank, der beißend in ihre Nase kroch. Die Abgase der Fahrzeuge umnebelten sie. Sie hustete und krächzte und überlegte, ob sie eine Hand, die schützend über einem Ohr lag, für die Nase opfern sollte. Sie versuchte es. Dadurch wurde der Lärm zwar wieder lauter, aber wenigstens verringerte sich der Gestank. Allerdings drangen auf diese Weise der Staub und die giftigen Dämpfe ungefiltert durch ihren Mund in die Lungen.

Was sie auch tat, irgendetwas belästigte sie auf jeden Fall.

Also legte sie die Hand wieder über das Ohr und beschloss, einen Umweg zu nehmen. Es war besser, eine weitere Strecke zu laufen, als direkt am Highway entlang zu gehen.

An der nächsten Seitenstraße bog sie ab und in eine Siedlung ein. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Der Bus hatte sie am Highway abgesetzt, bevor er weiter nach Sacramento gefahren war. Für eine Busfahrkarte einer anderen Linie besaß sie kein Geld mehr. Sie musste zu Fuß ins Zentrum von San Francisco gelangen. Doch das Gebiet sah ganz anders aus, als sie es in Erinnerung hatte. Dort, wo früher Felder und Wiesen gewesen waren, befand sich eine Siedlung. Sie lief zwischen einfachen Häusern hindurch, vorbei an blühenden Gärten, gestutzten Hecken und bellenden Hunden. Frauen hängten die Wäsche auf und betreuten ihre Kinder. Ein junger Mann fischte Laub aus einem Swimmingpool. Dabei war an dieser Stelle mal ein Tümpel gewesen.

Langsam ging Alyssa weiter. Das Gefühl vom Wind auf ihrer Haut war unbeschreiblich. Als etwas Laub aufwirbelte und zwischen ihren Schuhen spielte, musste Alyssa stehenbleiben und die Tränen niederkämpfen. Die Luft strich durch ihre Haare und streichelte ihre Wangen. Sie roch nach Meer und Regen, so wunderbar frisch und lebendig. Darüber hinaus strahlte die Sonne auf Alyssa herab und zauberte eine sanfte Wärme auf ihre Haut. Sonne und Wind hatte sie schon so lange nicht mehr wahrgenommen und gespürt. Sie waren etwas völlig anderes als die gefilterte Luft und die Klimaanlage, die so lange das Klima ihres Alltags bestimmt hatten.

Alyssa wandte ihr Gesicht der Sonne zu und versuchte ein Lächeln. Es gelang ihr nicht, stattdessen stahlen sich doch zwei Tränen auf ihre Wangen. Sie trockneten jedoch sofort im warmen Wind.

Alyssa musste sich bemühen, dass es bei diesen beiden Tränen blieb. Die Versuchung war groß, sich den Gefühlen hinzugeben und hemmungslos zu weinen. Doch sie erlaubte es sich nicht. Sie hatte zu viel Angst, dass sie danach schwach werden würde. Schwäche war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Das Allerletzte.

Sie wischte die Tränen von ihren Wangen und ging weiter.

Sie war jedoch gerade einmal fünfzehn Meter gelaufen, als sie abermals innehielt. Dieses Mal wurde ihre Aufmerksamkeit auf ein Kinderlachen gelenkt. Sie blickte in die Richtung, aus der das Lachen gekommen war. Ein Kind saß auf einer Schaukel, eine Frau Anfang zwanzig mit langen, braunen Haaren schob es an, so dass das kleine Mädchen hoch in die Lüfte flog und lachend wieder herunterkam.

Als Alyssa diese Szene sah, musste sie hart schlucken. Und der Gedanke an ihr Vorhaben in San Francisco rückte plötzlich in weite Ferne. War alles nur ein völlig verrückter Plan? Ein irrwitziges Unternehmen, das ihr weder Ruhe noch Glück, sondern nur wieder Elend und Unglück bringen würde?

Es gab noch eine andere Möglichkeit. Doch deren Erfüllung befand sich ebenfalls in der City in einem der Häuser mitten im Herzen der Stadt.

Bei diesem Gedanken begann ihr Herz wie wild zu klopfen. Ihr Atem ging schneller, so dass ihr schwindelig wurde.

Sie könnte diese Chance nutzen.

Alyssa atmete tief durch, bis ihr Herzschlag sich etwas beruhigte. Dann ging sie zügigen Schrittes weiter. Sie musste Richtung Norden laufen, wo die Wolkenkratzer von San Francisco in der Sonne glitzerten und funkelten wie ein geheimnisvoller Schatz.

Gold und Edelsteine würden Alyssa dort nicht erwarten, aber dafür etwas anderes. Etwas, was in ihren Augen viel, viel wertvoller war als alle Schätze dieser Erde.

* * *

GRACE STRICH SICH EIN LETZTES MAL den Rock glatt und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie sah in ihren Augen alles andere als gut aus. Die Haare waren in den vergangenen zwei Stunden leider nicht gewachsen, sondern immer noch viel zu kurz. Immerhin hatte sie ihre großen Augen so geschickt geschminkt, dass sie ausdrucksvoll und lebhaft wirkten und den Blick von der Frisur ablenkten. Ihre vollen Lippen schimmerten prall. Sie hatte eine weiße Bluse und einen Rock angezogen, der knapp über das Knie reichte. Dazu trug sie schwarze Pumps, die nicht zu hoch und nicht zu flach waren. Wenn sie schon aufs Amt gehen und eine Art Prüfung über sich ergehen lassen musste, um eine Lizenz zu erhalten, musste sie trotz ihrer erst vierundzwanzig Jahre aussehen wie eine Geschäftsfrau, die wusste, was sie wollte. Es war leider so, dass die meisten Menschen nur auf das Äußere blickten und ihr Gegenüber lediglich danach beurteilten. Doch dieses Phänomen konnte sie sich in diesem Fall zunutze machen und den Beamten geben, was sie gerne sehen wollten – eine kluge, junge Frau, die ihr eigenes Geschäft eröffnen und darin erfolgreich sein wollte. Allerdings musste sie unbedingt etwas tun, um den Kopf zu verstecken. Sie lief zurück ins Schlafzimmer und kramte im Schrank nach einem Hut. Als der auf dem Kopf saß, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. So war es besser.

Einigermaßen zufrieden mit ihrem Anblick nahm sie alle Unterlagen, die sie benötigte, ihren Schlüssel und die Sonnenbrille und verließ das Haus. Als sie die Haustür schließen wollte, hielt sie jedoch inne. Etwas Weißes fiel von der Klinke herab.

Grace bückte sich und hob eine Lilie auf.

Sie verzog den Mund zu einem halben Lächeln und sah zur Straße. Aber sie wusste, dass sie denjenigen, der ihr die Lilie an die Haustür gesteckt hatte, nicht entdecken würde. Der Mann, der ihr ständig Blumen schenkte, tauchte wie aus dem Nichts auf und verschwand, bevor sie seiner habhaft werden konnte. Seitdem sie ihn am Tag ihres Einzugs das erste Mal gesehen hatte, hinterließ ihr der Fremde in unregelmäßigen Abständen eine einzelne weiße Lilie. Manchmal steckte die Blume am Gartentor, manchmal lag sie auf dem Briefkasten, gelegentlich auf dem Fensterbrett, und hin und wieder, wie heute, klemmte sie an der Klinke der Haustür. Grace hatte sich schon mehrere Male auf die Lauer gelegt und hinter der Gardine des Fensters gewartet, ob er erschien, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Aber es war ihr nie gelungen. Sie hatte ihn nicht gesehen, und doch fand sie bald darauf eine weitere Lilie. Er war offenbar ein Meister im Anschleichen und Verstecken.

Grace ging zurück ins Haus und steckte die Blüte in eine Vase, in der schon mehrere andere standen. Dann ging sie endgültig hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Sie setzte sich in ihr rotes Cabriolet und fuhr zum Rathaus von San Francisco. Wie jedes Mal, wenn sie die steile Straße hinunterfuhr und vor sich den Pazifik liegen sah, konnte sie sich ein glückliches Lächeln nicht verkneifen. Sie liebte diese Stadt am Meer, ihr neues Zuhause – das Brausen der Wellen am Strand, den Anblick der Brücken, die sich über das Wasser spannten, die grünen Hügel im Hinterland und das emsige Treiben in den Straßen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Texas hinter sich zu lassen und in San Francisco ein neues Leben anzufangen. In der alten Heimat gab es niemanden mehr, der ihr etwas bedeutete; ihr Vater war tot, ihre Freundinnen nur mit sich selbst beschäftigt. Und da sie das Haus in der Sacramento Street in San Francisco geerbt hatte, zusätzlich zu einer bedeutenden Geldsumme, fiel ihr der Neuanfang ausgesprochen leicht. Und heute würde sie einen weiteren Schritt gehen, um hier richtig Fuß zu fassen.

 

IM RATHAUS ANGEKOMMEN, suchte sie sofort die Abteilung für Gewerbeangelegenheiten im zweiten Stock auf. Es saßen nur zwei Personen in einem kahlen Warteraum um eine riesige Grünpflanze herum: ein älterer Mann, dessen Hand leicht zitterte, und eine junge Frau in Grace‘ Alter, die kaum aufsah, sondern emsig auf ihrem Smartphone tippte.

Grace setzte sich auf einen freien Platz und wartete geduldig. Zuerst wurde der Mann aufgerufen, dann die junge Frau. Als diese etwa eine Viertelstunde im Zimmer bei dem Beamten saß und Grace große Hoffnung hegte, in wenigen Augenblicken endlich an die Reihe zu kommen, vernahm sie großen Lärm im Gebäude. Im ersten Stock schrie jemand um Hilfe, es krachte und knallte laut.

Grace sprang auf und eilte aus dem Wartezimmer hinaus auf den Flur.

„Ich rufe den Sicherheitsdienst oder besser die Polizei!“, kreischte eine Frau im Gang unter ihr. „Es muss jemand die 911 anrufen!“

„Nicht die Polizei!“, ertönte eine weitere weibliche Stimme. „Oder ich bringe Sie um!“ Sie klang nicht, als würde sie scherzen.

Wieder ertönte ein Schrei.

Hastig eilte Grace die Treppe hinunter und lief in die Richtung, aus der das Handgemenge zu kommen schien. Vor der Bürotür des Jugendamtes im ersten Stock hielt sie inne. Dort standen mehrere Personen und starrten auf eine Frau Ende dreißig mit lockigen, schwarzen Haaren, blasser Hautfarbe und Augenringen. Sie stand neben dem Schreibtisch des Büros und hielt eine Schere an den Hals einer Beamtin, die panisch nach Luft schnappte.

„Sagen Sie mir, wo meine Kinder sind, dann lasse ich Sie in Ruhe!“, sagte die Frau mit der Schere heiser. Danach fuchtelte sie mit dem in eine Waffe umfunktionierten Bürogegenstand in der Luft herum und sah zu den erschrockenen Zuschauern. „Wenn einer von Ihnen die Polizei ruft, schneide ich ihr die Halsadern durch.“

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, rief die Geisel und begann zu weinen. „Ich weiß nicht, wo Ihre Kinder sind. Ich habe die Unterlagen nicht hier. Und selbst wenn, dürfte ich sie Ihnen nicht geben. Bitte lassen Sie mich los!“ Sie schluchzte auf.

Diese Worte machten die Angreiferin nur noch wütender. „Sie sind das Jugendamt, Sie müssen die Unterlagen hier aufbewahren.“

„Wenn ihr Sohn dieses Jahr achtzehn Jahre alt wurde, wie Sie sagten, werden die Akten von uns abgegeben. Er ist mündig. Und Ihre Tochter hat er vielleicht mitgenommen. Ich weiß es nicht! Ich bin erst seit einem Monat hier. Bitte lassen Sie mich los!“

„Ich glaube Ihnen nicht!“ Sie presste die Schere an den Hals der Beamtin, so dass sie tief in die Haut einschnitt.

Grace überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Sie durfte die Lage auf keinen Fall weiter eskalieren lassen. Niemand durfte verletzt werden. Zum Glück hatte die Angreiferin keine Schusswaffe bei sich.

Grace war früher Polizistin gewesen, sie hatte gelernt, was in solchen Situationen zu tun war. Mutig trat sie einen Schritt vor. „Geben Sie der armen Frau etwas Raum, damit sie noch einmal suchen kann“, schlug sie vor, während ihre Hand unauffällig das Handy in ihrer Tasche suchte, um heimlich die Polizei zu rufen. „Wenn Sie sie auf diese Weise an der Arbeit hindern, kann sie gar nichts ausrichten.“

„Sie hat gesagt, sie kann die Unterlagen nicht finden!“, fauchte die Frau mit der Schere Grace an.

„Dann stimmt es vielleicht. Sie sagt, sie sei erst seit einem Monat hier. Sie wird möglicherweise wirklich nicht wissen, wo sich ältere Akten befinden“, gab Grace zu bedenken. Ihre Finger suchten indessen auf dem Smartphone heimlich die Zahlen Neun, Eins und nochmal die Eins – der Notruf der Polizei.

„Aber ich will wissen, wo meine Kinder sind“, sagte die Angreiferin. Sie klang auf einmal nicht mehr wütend, sondern verzweifelt. „Zuerst nehmen sie sie mir weg, dann verweigern sie mir die Auskunft. Was ist das für ein Staat? Ein Staat, der seine Bürgerin jahrelang wegen eines Verbrechens wegsperrt, was sie nicht begangen hat, und ihr dann das Glück verweigert, die eigenen Kinder sehen zu dürfen. Ich hasse diesen Staat!“ Beim letzten Satz kreischte sie wieder und fuchtelte erneut mit der Schere herum.

Grace fühlte auf einmal Mitleid mit der Fremden.

Sie war im Gefängnis, deshalb ist sie so blass. Ihr wurden die Kinder weggenommen und zu Pflegeltern gebracht oder gar zur Adoption freigegeben.

Grace trat noch näher, drückte aber noch nicht die Taste, um die Polizei zu rufen. „Diese Frau, die Sie gerade bedrohen, kann nichts dafür, was Ihnen angetan wurde. Wenn Sie sie verletzen, sind Sie genauso schlecht wie der Staat, der Sie für etwas büßen ließ, was Sie nicht getan haben, wie Sie sagen. Lassen Sie sie gehen und klären Sie es mit der Stelle, die dafür verantwortlich ist.“

Grace konnte sehen, dass die Frau unsicher wurde. Sie starrte Grace an.

„Wer sind Sie?“, fragte die Fremde leise.

„Mein Name ist Grace Boticelli. Ich bin in dieses Gebäude gekommen, um ein Gewerbe anzumelden, und vielleicht werden Sie jetzt meine erste Klientin.“

„Welches Gewerbe?“

„Privatdetektivin.“

Die Frau mit der Schere musterte Grace, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe kein Geld. Ich kann Sie mir nicht leisten.“

Grace lächelte. „Aber ich kann es mir leisten, für Sie pro bono zu arbeiten. Als erste Klientin bekommen Sie meine Dienste gratis. Ich finde für Sie Ihre Kinder. Nehmen Sie jetzt die Schere herunter.“

Die Frau zögerte noch einen Moment, während sie Grace eingehend musterte. Doch dann gehorchte sie. Langsam nahm sie die Schere vom Hals der Beamtin. Die atmete auf und ließ sich heulend auf einen Stuhl sinken.

Grace löste die Finger vom Handy in ihrer Tasche und schaltete das Gerät aus. Sie wandte sich an die Zuschauer, von denen einige nun ebenfalls die Telefone zückten, um die Polizei zu rufen. „Lassen Sie es sein. Beide Frauen haben genug gelitten. Die Angreiferin ist für einen Augenblick aus der Fassung geraten, aber jetzt ist alles wieder gut. Sehen Sie, sie ist ganz ruhig.“

Die drei Frauen und ein Mann mit Halbglatze musterten die Ex-Gefangene kritisch, die tatsächlich still und mit hängenden Schultern im Raum stand. Sie sah aus wie das personifizierte Elend. Ihr Blick war auf den Boden gerichtet, als traute sie sich nicht, den Menschen offen ins Gesicht zu sehen.

Grace wandte sich an die bedrohte Beamtin, die sich die Tränen wegwischte und den verletzten Hals rieb. „Geht es Ihnen gut oder brauchen Sie einen Arzt?“

Nachdem sie festgestellt hatte, dass die Sache unblutig verlaufen war, schüttelte die Beamtin den Kopf. „Ich denke, ich bin okay.“

„Gut.“

In diesem Moment eilte ein Mann vom Sicherheitsdienst um die Ecke und auf die Gruppe zu.

„Es waren Schreie zu hören. Ist alles in Ordnung?“

„Alles geklärt“, meinte Grace.

Der Mann sah sich um, ob ihm jemand mehr erzählen würde, aber niemand sagte etwas. Sein Blick blieb an der verheulten Beamtin hängen, dann musterte er die Angreiferin. Schließlich nickte er zufrieden und ging zurück ins Erdgeschoss. Er wollte im Kabuff des Pförtners in Ruhe eine Zeitschrift für Männer weiterlesen, die er mit einem Schutzumschlag versehen hatte, damit niemand die nackte Frau auf dem Cover sehen konnte.

„Wollen Sie eine Anzeige erstatten?“, fragte Grace die Beamtin, sobald der Mann verschwunden war.

Die Frau betrachtete ihre Angreiferin eingehend und auch ein wenig skeptisch, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Aber ich will sie hier nie wieder sehen. Ich habe diese Unterlagen wirklich nicht.“

„Okay, wir haben es verstanden“, nickte Grace und wandte sich an ihre frischgebackene Kundin. „Dann gehen wir jetzt.“

„Wohin?“, fragte die Frau, folgte Grace jedoch aus dem Raum.

„Ich muss nun endlich mein Gewerbe anmelden und einen Waffenschein beantragen. Danach kann ich Sie offiziell als meine erste Klientin annehmen.“

Als sie sich Richtung Treppe wenden wollte, bemerkte Grace die missbilligenden Blicke der Zuschauerinnen, die sich noch nicht zurück in ihre Zimmer begeben hatten. Eine grauhaarige, ältere Frau schüttelte verständnislos den Kopf. „Sie ist ein Ex-Knacki. Wieso kümmern Sie sich um sie? Sie wird Ihnen nur Ärger machen.“

Grace versuchte, ein freundliches Lächeln in ihr Gesicht zu zaubern. „Sie hat ihre Strafe abgesessen. Sie verdient es, wie eine normale Frau behandelt zu werden. Sie sollte eine faire Chance bekommen.“

„Sie sieht schon aus wie eine Verbrecherin. Einmal kriminell, immer kriminell.“ Die Ältere winkte angewidert ab und wollte sich abwenden, doch Grace hielt sie zurück.

„Ich lasse mich nicht vom äußeren Eindruck beeinflussen“, sagte Grace resolut. „Hinter einer unansehnlichen Fassade muss nicht zwangsläufig ein schlechter Mensch stecken. Und hinter einem schönen Äußeren verbirgt sich nicht immer ein wirklich glücklicher Zeitgenosse. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Grace dachte an ihr Erlebnis in San Antonio, als sie einen Serienmörder gejagt hatte, der an schönen Frauen grausame Operationen vorgenommen hatte. Und sie dachte an Mabel, eine wunderschöne Frau und Kollegin, die sich trotz ihres hübschen Äußeren so unglücklich und einsam gefühlt hatte, dass sie sich umbringen wollte.

Die Ältere im Flur antwortete nicht, sondern schüttelte Grace‘ Hand ab und trottete hinter den anderen Frauen in ein Büro auf der linken Seite des Flurs. „Schön dumm“, murmelte sie, bevor sie in dem Raum verschwand.

Grace hörte es, zog es jedoch vor, nicht darauf zu reagieren. Sie wandte sich dem Ex-Häftling an ihrer Seite zu und lief mit der Frau in den zweiten Stock. Als sie in dem Wartezimmer der Abteilung für Gewerbeangelegenheiten angekommen waren, saß inzwischen eine neue Person neben der Grünpflanze und blätterte gelangweilt in einer Frauenzeitschrift. Sie achtete kaum auf die Hinzugekommenen.

Grace setzte sich auf einen leeren Stuhl. Ihre Begleiterin ließ sich neben ihr nieder.

„Wie heißen Sie?“, fragte Grace die ehemalige Gefängnisinsassin.

„Alyssa. Alyssa Nuori Wilkins.“

„Ist es in Ordnung, wenn ich Alyssa zu Ihnen sage?“

Alyssa nickte. „Ja. Das ist okay. Alles ist besser als Schlampe oder Zicke, was ich mir jahrelang anhören musste.“

„Weshalb haben Sie gesessen?“

„Totschlag.“

„Haben Sie es wirklich nicht getan?“

Alyssa verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Spielt das denn eine Rolle?“

„Ich denke schon.“

Alyssa überlegte einen Moment, dann winkte sie ab. „Was ich jetzt sage, ändert nicht die Tatsachen. Ich wurde verurteilt und habe meine Strafe abgesessen. Egal, was wirklich geschehen ist.“

„Das sehe ich anders. Wenn Sie zu Unrecht verurteilt wurden, muss die Wahrheit ans Licht kommen.“

Alyssa nickte mit dem Kopf. „Es ist nicht so einfach, wie Sie denken.“

Grace wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür zum Amtszimmer und ein Mann trat heraus. Er ging zu der wartenden Frau, die die Frauenzeitschrift zur Seite legte und sich erhob, um mit ihm das Wartezimmer zu verlassen. Das bedeutete, dass Grace sofort an der Reihe war.

„Versprechen Sie mir, keinen Ärger zu machen, solange ich da drinnen bin?“, fragte Grace ihre Begleiterin.

Alyssa schüttelte den Kopf. „Ich werde keinen Ärger machen, sondern brav hier warten. Nach fünfzehn Jahren kommt es auf ein paar Minuten mehr oder weniger auch nicht mehr an.“

 

ES DAUERTE KNAPP ZWANZIG MINUTEN, bis Grace aus dem Büro herauskam, ihren Gewerbeschein in der Hand hielt und offiziell eine Waffe tragen durfte. Sie hatte die Gebühr bezahlt und alle Anforderungen erfüllt. Der Beamte hatte in sein Stempelkissen sogar neue Farbe gefüllt, um den Stempel auf der Bescheinigung besonders deutlich hervorzuheben, weil sie ihm während des Vorgangs hin und wieder ein ehrliches Lächeln geschenkt hatte – etwas, was er sonst kaum zu sehen bekam.

Nun durfte sich Grace offiziell Privatdetektivin nennen und Kunden bei ihren Problemen helfen. Sie fühlte sich glücklich und fast ein bisschen übermütig, als sie das Dokument betrachtete, das ihr die Ausübung dieser Tätigkeit genehmigte. Sie hatte lange überlegt, was sie nach ihrem Umzug in San Francisco machen sollte. Viele Möglichkeiten waren ihr nicht eingefallen. Denn sie wollte zwar weiter Rätsel an Tatorten lösen, aber nicht als Polizistin arbeiten. Schließlich war sie auf die Idee gekommen, unabhängig und freiberuflich ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzukommen, indem sie Privatdetektivin wurde. Und nun war die Erfüllung dieses Wunsches zum Greifen nahe. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie das Büro für Gewerbeangelegenheiten verließ und zu Alyssa trat, die tatsächlich geduldig auf sie gewartet hatte.

„Alles klar“, grinste Grace. „Herzlich willkommen als meine Klientin Nummer eins. Es freut mich sehr, Ihnen behilflich sein zu dürfen.“ Sie reichte Alyssa die Hand, die diese zögerlich nahm und schließlich schüttelte.

„Wissen Sie denn überhaupt, was Sie tun müssen? Haben Sie schon Erfahrungen auf diesem Gebiet sammeln können?“

Grace lächelte. „Ich habe einen Mörder, einen Serienmörder und vor allem Diebe zur Strecke gebracht. Ich liebe es, das Puzzle zu lösen, das ein Tatort bietet, und darin bin ich wirklich gut. Bevor ich Ihnen jedoch helfen kann, benötige ich weitere Angaben von Ihnen.“

„Welche?“

„Das erkläre ich Ihnen gleich. Folgen Sie mir einfach. Wir fahren in mein Büro.“

Alyssa nickte zögerlich. „Okay.“ Dann wandte sie sich ab, und beide Frauen gingen aus dem Raum.

 

GRACE VERSPÜRTE SELBST nach einigen Wochen noch immer ein Glücksgefühl, wenn sie ihr hübsches Haus betrat. Es war groß und geräumig, hell und sonnig. Grace hatte nach ihrem Einzug Einiges geändert, ein paar Wände gestrichen, Möbel umgestellt oder entsorgt, dafür neue gekauft. Die Vorhänge und Gardinen hatte sie gewaschen, die Teppiche säubern lassen und ein paar Türen repariert. Es war ein altes Haus, die Vorbesitzerin hatte in den letzten Jahren ihres Lebens nicht mehr viel daran gemacht. Der Staub und der Geruch der Auflösung hatten darin gehangen wie alte Geister. Doch nun wirkten alle Räume frisch und jung und fast ein bisschen glücklich über die Veränderung und den belebenden Wind. Und Grace war mehr als froh, ein solch schönes Heim besitzen zu dürfen.

Alyssa hingegen betrat Grace‘ Haus, als wäre der Boden aus zerbrechlichem Glas. Unschlüssig blieb sie im Flur stehen.

„Was ist los?“, fragte Grace. „Treten Sie ein. Wollen Sie Tee? Ich habe sehr leckeren Beruhigungstee.“

„Was machen wir hier?“, fragte Alyssa, ohne sich von der Stelle zu bewegen.

„Ich habe kein Büro im eigentlichen Sinne, sondern bewahre alles in meinem Haus auf. Ich nehme Ihre Personalien in meine Kartei auf, damit alles seine Ordnung hat“, erklärte Grace und nahm nun endlich auch den Hut ab. Mit der Hand fuhr sie über das raspelkurze Haar. Es fühlte sich weich und – leider – immer noch extrem kurz an. „Danach erzählen Sie mir bitte alles, was ich wissen muss, um Ihre Kinder zu finden. Dafür wäre ein Beruhigungstee äußerst gut geeignet.“

Unsicher schielte sie zu Alyssa, um zu sehen, ob die Besucherin vielleicht das Gesicht verzog beim Anblick ihrer missglückten Frisur. Aber Alyssa achtete gar nicht darauf. Sie ging wortlos ins Wohnzimmer, wo sie sich einmal um sich selbst drehte, bevor sie sich steif in einem Sessel niederließ. Offenbar war das ihre Einverständniserklärung zum Tee.

Grace beobachtete sie, bevor sie in die Küche ging und Wasser für den Tee aufsetzte. Als es kochte, goss sie es in zwei Tassen und hängte die Teebeutel hinein. Dann kehrte sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich in einen Sessel gegenüber von Alyssa. Sie reichte ihr die Tasse, dann lehnte sie sich zurück.

„Wann sind Sie entlassen worden?“, fragte Grace mit ruhiger Stimme. Sie bemerkte, dass ihr Gegenüber bei näherer Betrachtung wesentlich älter aussah, als sie zuvor gedacht hatte. An den Schläfen zeigten sich schon viele graue Haare, die Haut war trocken und rissig. Falten an den Augen verliehen dem einst wunderschönen Gesicht einen müden und fast verbitterten Ausdruck.

„Heute bin ich rausgekommen“, erwiderte Alyssa.

Dann ist es klar, dass sie so unsicher ist, dachte Grace. Sie weiß nicht mehr, wie sie sich in der Welt verhalten soll.

„Wie lange haben Sie gesessen?“

„Fünfzehn Jahre, drei Monate und vierzehn Tage. Ich habe noch ein Jahr Bewährungszeit.“

Grace schluckte. Das war wesentlich länger, als sie vermutet hatte. Länger als das offizielle Strafmaß für Totschlag in Kalifornien – das lag bei maximal elf Jahren.

„Warum fünfzehn? Gab es weitere Anklagepunkte?“

„Widerstand gegen die Verhaftung, Tierquälerei, Betrug, Beleidigung und üble Nachrede.“

Grace musterte ihr Gegenüber sorgenvoll. „Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?“

Alyssa zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Sie können den Fall in jedem Archiv nachlesen. Ich war Anfang zwanzig und betrieb mit meinem Mann ein Waisenhaus für Tierkinder drüben in Sausalito. Eines Tages kam ein Inspektor und bezichtigte uns der Tierquälerei. Er wollte die Anlage stilllegen lassen. Mein Mann war zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause, sondern in der Stadt, um Besorgungen zu machen. Die Kinder waren mit dem Kindermädchen unterwegs. Ich war allein. Der Kerl sah sich alles an und zählte jeden noch so lächerlichen Kritikpunkt auf. Dann begann er, mich zu bedrängen. Er fasste mich an und meinte, er würde die Anklage fallenlassen, wenn ich mit ihm schlafe. Ich habe mich gewehrt, doch er ließ nicht locker. Wir befanden uns am Fluss, der durch das Gelände floss, etwas entfernt vom Haus. Der Kerl drängte mich gegen das Geländer und riss mir die Bluse auf, um mich an den Brüsten zu begrapschen. Auf einmal tauchte mein Mann auf, der zurückgekehrt war, und wollte ihn wegzerren. Doch der Inspektor schlug ihn und schubste ihn, so dass er in den Fluss stürzte. Dann hielt der Kerl mich im Würgegriff, bis ich die Besinnung verlor.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in der Nähe des Hauses, meine Bluse war angezogen, der Inspektor neben mir war tot. Ich hatte ihn mit einem Messer erstochen. Mein Mann war im Fluss ertrunken.“

Sie hatte mit fast monotoner Stimme erzählt, als wäre das Geschehen eine alte Kamelle, die sie zum hundertsten Mal zum Besten geben musste.

„Es klingt, als wäre es eigentlich Notwehr gewesen“, erwiderte Grace.

„Das dachte ich auch, aber niemand glaubte mir, dass der Kerl mich bedrängt hatte. Die Polizei hatte zwar direkt nach meiner Verhaftung Aufnahmen von meinem Körper gemacht, um mögliche Spuren von Gewalteinwirkung zu sehen. Aber die Flecken und Kratzer konnten auch als Spuren eines Kampfes gedeutet werden, den ich geführt hatte. Der Staatsanwalt behauptete, ich wollte eine Anklage wegen Tierquälerei vermeiden und die Schließung des Tierheims verhindern und deshalb den Kerl beseitigen. Er plädierte sogar auf Mord und forderte die Todesstrafe. Mein Mann und ich, wir hätten Spendengelder missbraucht und bewusst alle Zeugen ausschalten wollen, beschuldigte er mich. Der Tod meines Mannes kam mir am Ende schließlich zugute. Ich hätte in Rage gehandelt, weil er ertrunken war. Also Totschlag.“

„Sie haben keine Erinnerung an die Tat?“

Alyssa verzog gequält den Mund. „Direkt nach dem Geschehen war ich mir ganz sicher, dass ich lange Zeit bewusstlos gewesen war. Ich konnte ihn nicht getötet haben. Jetzt, fünfzehn Jahre später, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Das Gedächtnis ist trügerisch. Wenn einem die Leute lange genug einreden, was man getan oder was man nicht getan haben soll, glaubt man es am Ende wirklich selbst.“

„Was war das für ein Messer, mit dem der Mann erstochen wurde?“

„Mein Küchenmesser.“

„Was ist mit den anderen Anklagepunkten, die wegen Beleidung und übler Nachrede?“

Sie winkte betont lässig ab. „Die wurden extra verhandelt. Dabei handelte es sich um eine Firma, die ich beschuldigt hatte, den Wald zu vergiften. Diese Sache hat mit dem Totschlag nichts zu tun.“

Grace lehnte sich nachdenklich zurück und nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Es ist eine schreckliche Geschichte. Aber ich fürchte, sie ändert alles.“

„Sie ändert was?“

„Die Sache mit Ihren Kindern. Was geschah mit ihnen, nachdem Sie verurteilt wurden?“

Wieder Schulterzucken. „Sie kamen zuerst zu Pflegeeltern.“

„Wurden sie dann adoptiert?“

„Ja.“

„Eine offene Adoption?“

„Nein.“

„Wie alt sind die Kinder jetzt?“

„Jackson ist achtzehn, Summer sechzehn.“

„Hatten Sie während der Inhaftierung Kontakt zu ihnen?“

„Nein.“

Grace verzog das Gesicht. Es fiel ihr nicht leicht, ihrem Gegenüber das sagen zu müssen, aber die Aussichten waren alles andere als gut. „Ich fürchte, ich habe Ihnen vorhin zu viel versprochen. Ich weiß nicht, ob ich Ihre Kinder wirklich finden kann. Oder sagen wir, ob ich sie für Sie finden sollte. Ich wusste nicht, dass Sie so lange inhaftiert waren.“

„Was meinen Sie?“

„Das Gesetz besagt, dass Mütter, die im Gefängnis sitzen, jegliches Recht an ihren Kindern verlieren, wenn die Kindern länger als fünfzehn Monate bei Pflegeeltern leben. Danach dürfen Sie nichts mehr mit den Kindern zu tun haben: kein Besuch, kein Anruf, nicht einmal ein Brief. Die Kinder sollen sich so reibungslos wie möglich in die neue Familie einfügen. Nach so langer Zeit ist es außerdem fraglich, ob die Kinder sich überhaupt noch an Sie erinnern. Ihre Tochter war ein Baby, Ihr Sohn ein Kleinkind. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass sie eine leibliche Mutter im Gefängnis haben.“

Grace konnte sehen, dass Alyssa noch blasser geworden war. „Das ist mir klar. Ich hatte fünfzehn Jahre lang Zeit, darüber nachzudenken“, sagte sie leise. „Ich kenne auch die Gesetzeslage. Ich möchte aber trotzdem wissen, wie es ihnen geht, was sie treiben, ob sie glücklich sind.“

Grace sah sie mitleidig an. „Das kann ich sehr gut verstehen. Ich weiß nur nicht, ob das wirklich von Vorteil ist, sowohl für Sie als auch für die Kinder.“

„Bitte.“ Alyssa klang fast flehend. „Ich habe jahrelang an nichts anderes denken können. Es hat mich am Leben erhalten.“

Grace zögerte lange, doch dann gab sie nach. „Okay. Sie sollten es aber trotzdem unbedingt auch noch auf offiziellem Wege versuchen. Ihr Bewährungshelfer wird Ihnen dabei helfen können. Wenn es eine gesetzliche Möglichkeit zur Wiedervereinigung zwischen Mutter und Kindern gibt, dann nur über ihn. Wer ist Ihr Bewährungshelfer?“

„Irgendein Anthony O’Neill.“

„Haben Sie ihn schon aufgesucht?“

Alyssa schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Tee. Sie sah nicht so aus, als stünde dieser Besuch ganz oben auf ihrer Liste.

„Sie müssen mit ihm sprechen“, mahnte Grace.

„Aha“, erwiderte Alyssa beiläufig. „Was wollen Sie noch wissen?“ Sie klang auf einmal wesentlich kühler.

„Wo wohnen Sie?“

Alyssa zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es noch nicht.“

„Sie können hier schlafen, wenn Sie wollen. Ich habe ein Zimmer frei.“

Alyssa verzog den Mund, als wüsste sie nicht, ob sie lächeln oder weinen sollte, sagte jedoch nichts.

„Sie brauchen Hilfe, Alyssa. Die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach so langer Zeit ist nicht einfach. Das schaffen Sie nicht allein. Ich helfe Ihnen gern, Sie müssen es nur annehmen.“

Alyssa nickte. „Danke. Vielleicht.“ Sie klang gleichgültig und unsicher zugleich. Als würde sie sich nicht trauen, die Hilfe anzunehmen und wollte diese Unsicherheit unter einem Mantel von Gleichgültigkeit verstecken.

„Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisteten“, fügte Grace betont locker hinzu. Die Frau tat ihr leid, und sie wollte Alyssa mit dieser unkomplizierten Art die Hemmungen nehmen. „Das Haus ist viel zu groß für mich allein. Außerdem kann ich Sie hier auch viel direkter darüber informieren, was ich herausfinde.“

Es funktionierte. Alyssa lächelte vage. „Okay. Dann bleibe ich. Danke für Ihre Mühe.“

„Gern geschehen. Haben Sie Hunger?“

„Ja. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.“ Jetzt war es später Nachmittag, fast Abend.

Grace erhob sich und ging Richtung Küche. „Ich könnte eine Pizza auftauen oder Spaghetti kochen. Oder eine Tütensuppe machen.“ Als sie merkte, dass sie nicht gerade den Eindruck einer Sterne-Köchin ablieferte, schmunzelte sie verlegen. „Ich bin in der Küche weniger gut bewandert als in meinem Job. Man muss Prioritäten setzen.“

Alyssa nickte verständnisvoll. „Das sehe ich ein. Aber selbst eine Tütensuppe oder eine aufgetaute Pizza klingt großartig für mich.“

„Gut, dann bin ich für Pizza.“ Grace öffnete das geräumige Gefrierfach ihres Kühlschranks, um eine Pizza herauszuholen.

Eine halbe Stunde später saßen die beiden Frauen am Tisch und aßen ihr Mahl. Grace öffnete dafür sogar eine Flasche Wein.

Alyssa trank ihr Glas ganz langsam aus, als würde sie jeden Tropfen besonders genießen.

Sie empfand diesen Augenblick am Tisch tatsächlich als wunderbar. Das Gefühl der Freiheit war noch so neu für sie, gerade erst wiedergeboren, so dass es den ganzen Tag nur hin und wieder schüchtern in ihrem Bewusstsein aufgetaucht war. Jetzt, beim Essen, machte es sich jedoch mit aller Macht in ihrem Körper und in ihrem Kopf breit. Es lag vermutlich am Geschmack der Pizza, die tatsächlich an Italien erinnerte, nach frischen Gewürzen, Gemüse und Käse schmeckte und nicht nach der einheitlich faden Geschmacklosigkeit der Gefängnisküche. Es lag sicherlich auch am Alkohol, den sie so lange nicht trinken konnte, offiziell jedenfalls. Hin und wieder hatte eine Insassin eine Flasche Schnaps einschmuggeln lassen, aber guten Wein hatte es definitiv nicht gegeben.

Als Grace nach dem Essen ihren Laptop auf den Tisch stellte und im Internet nach der Büro-Adresse des Bewährungshelfers Anthony O‘Neill suchte, stellte sich Alyssa ans Fenster. Sie wollte den Blick auf die Stadt genießen, die ihr eigentlich so vertraut war, aber derzeit so fremd vorkam. Die ganze Welt schien momentan unbekanntes Gelände für sie zu sein – Terra incognita. Sie hatte fünfzehn Jahre lang nur die engen Wände ihrer Gefängniszelle, den Hof und die anderen Räumlichkeiten des Gefängnisses gesehen. Sie wusste nur aus dem Fernsehen, wie ein Smartphone funktionierte oder was Facebook war. Als sie verurteilt wurde, war von Elektroautos auf den Straßen noch keine Rede gewesen, die Gentechnik steckte noch in den Kinderschuhen und an Googles Street View war noch nicht einmal zu denken gewesen. Alyssa hatte noch nie einen Euro-Schein gesehen oder den Gangnam-Style getanzt. Es war, als fehlten ihr fünfzehn Jahre ihres Lebens. Definitiv fehlten ihr fünfzehn Jahre Normalität.

„Sein Büro befindet sich in der Colorado Avenue“, verkündete Grace. „Morgenvormittag ist es von neun bis zwölf Uhr besetzt.“

„Danke“, erwiderte Alyssa und wandte sich Grace zu. „Ist es schlimm, wenn ich schon ins Bett gehe? Ich bin sehr müde.“ Tatsächlich fühlte sich Alyssa wie erschlagen, leer und fast ein wenig hilflos. Es war ein langer Weg gewesen, den sie heute zu Fuß in die Stadt zurückgelegt hatte. Außerdem wusste sie nicht mehr, was sie mit dem Tag oder dem Abend anstellen sollte, wenn niemand das enge Korsett eines straffen Zeitplans vorgab. Sechs Uhr am Abend hatte es im Gefängnis immer Abendbrot gegeben, von acht bis neun Uhr durften die Insassen fernsehen. Danach war Bettzeit gewesen, bis am Morgen um sechs der Wecker klingelte. Jeden Tag fünfzehn Jahre lang derselbe Rhythmus. Jetzt, ohne dieses Korsett, fühlte sie sich jedoch nicht befreit, sondern fast nackt und orientierungslos. Als hätte man ihr das Skelett gestohlen, das ihr Zeitgefühl darstellte und ihrem Leben einen Inhalt gab. Grace hatte Recht. Es würde ein langer, schmerzhafter Prozess sein, bis sie sich wieder an eine normale Existenz gewöhnt hatte.

„Ich zeige Ihnen das Zimmer“, bot Grace an und brachte Alyssa nach oben, wo sie sie in das Schlafzimmer führte, das neben der Treppe lag. Das Fenster öffnete nach vorn zum Garten. Grace selbst schlief in dem Zimmer mit dem Blick auf den Pazifik.

„Sie haben ein eigenes Badezimmer“, sagte Grace und öffnete die Tür zu einem danebengelegenen, kleinen Raum mit Duschkabine, Toilette und Waschbecken. „Der Hahn für das warme Wasser in der Dusche klemmt ein wenig. Handtücher und Seife finden Sie hier im Schrank.“ Sie deutete auf ein Schränkchen, das neben der Dusche stand.

„Danke.“

„Machen Sie es sich gemütlich“, erwiderte Grace lächelnd. „Und träumen Sie etwas Schönes in der ersten Nacht Ihrer wiedergewonnenen Freiheit.“

„Vielen Dank.“

Grace ging hinaus und ließ Alyssa allein zurück.

Alyssa stand einen Moment regungslos in dem Schlafzimmer und sah die frischgestrichenen Wände an, die in einem sanften Orange leuchteten. Dann ging sie zum Fenster und öffnete es weit. Die Vorhänge raschelten leicht und knisterten wie gerade erst gewaschen. Der Duft von Rosen und Azaleen drang vom Garten ins Zimmer. Amseln zwitscherten in einem Baum neben dem Gartentor. Die untergehende Sonne tauchte die Häuserfront auf der Straßenseite gegenüber in ein magisches Licht, als wäre alles mit einem Pinsel rötlich übermalt worden. Die Welt sah aus, als stammte sie aus einem Märchenbuch. Für Alyssa war diese alltägliche Szenerie ein unbeschreiblicher Anblick, etwas, was sie so lange vermisst hatte.

Sie spürte, wie erneut Tränen in ihre Augen treten wollten. Dieses Mal besaß sie jedoch kaum noch die Kraft, sie zurückzuhalten.

Schnell wischte sie die Augenwinkel trocken und trat vom Fenster zurück. Dann ging sie unter die Dusche, anschließend sofort ins Bett.

 

Grace saß noch lange am Küchentisch und dachte über Alyssa nach. Irgendetwas gefiel ihr nicht an der Haltung der Frau. Sie wirkte auf der einen Seite so leidenschaftlich daran interessiert, ihre Kinder zu finden, so dass sie sogar die Beamtin im Jugendamt bedrohte. Auf der anderen Seite schien sie manchmal so gleichgültig, vor allem bei der Erzählung über die Tat. Und wieso hatte sie sich damals nicht für eine offene Adoption entschieden?

Normalerweise kann eine verurteilte Mutter, die eine lange Gefängnisstrafe antreten muss, entscheiden, ob sie die Kinder bei Verwandten unterbringt oder zur Adoption freigibt. Wenn es keine nahen Verwandten gibt, kann die Adoption in die Hände einer Adoptionsagentur oder eines Anwalts gelegt werden. Dann handelt es sich um eine private Adoption, bei der die Mutter die Kontaktdaten der Adoptiveltern erhält. Bei solch einer offenen Adoption kann die Mutter sogar Einfluss darauf nehmen, welche Eltern ihre Kinder adoptieren und versorgen sollen. Sie kann auch weiterhin in Kontakt mit ihnen bleiben.

Wenn die Mutter nicht in der Lage ist, eine solche Entscheidung zu treffen, übernimmt der Staat die Versorgung der Kinder, das bedeutet, sie werden zu Pflegeeltern gebracht oder anonym zur Adoption freigegeben. Dabei werden Geschwister oftmals voneinander getrennt oder verlassen den Bundesstaat, so dass sie ihre biologische Mutter nicht mehr im Gefängnis besuchen können. Nur zwanzig Prozent der inhaftierten Mütter in den USA bekommen regelmäßig Besuche von ihren Kindern.

Fakt ist, dass laut Gesetz eine Mutter nach mehr als fünfzehn Monaten, in denen die Kinder bei Pflegeeltern untergebracht sind, jegliches Recht an ihren Kindern verliert. Danach darf sie keinen Kontakt mehr zu ihnen haben.

Es war also kein Wunder, dass die Beamtin vom Jugendamt keine Unterlagen an Alyssa geben konnte. Und durfte.

Grace überlegte einen Moment, ob es ein Vertrauensbruch an Alyssa war, wenn sie jetzt im Internet ein bisschen nach dem Fall ihrer ersten Klientin recherchierte. Schließlich entschied sie, dass sie sich nicht allein auf das Wort ihrer Kundin verlassen, sondern sich allumfassend informieren sollte. Deshalb schlug sie erneut den Computer auf und gab den Namen Alyssa Nuori Wilkins ein.

Es gab sofort mehrere Treffer. Alyssa erschien in der Liste der Insassen des Central California Women's Facility in Chowchilla. Dabei handelt es sich um das größte Frauengefängnis der Vereinigten Staaten, wo auch die Todeskandidatinnen von Kalifornien untergebracht werden.

Ein Artikel, der über die Frauen mit den längsten Freiheitsstrafen in Kalifornien berichtete, erwähnte sie ebenfalls. Darin wurden auch sämtliche Anklagepunkte genannt, die Alyssa aufgezählt hatte.

Auf Seite zwei der aufgeführten Treffer fand Grace schließlich weiterführende Informationen. Ein Anwalt beschrieb die spektakulärsten Mordfälle der letzten zwanzig Jahre in Kalifornien. Alyssas Fall rangierte auf Platz acht. Und er war offensichtlich genauso passiert, wie Alyssa ihn beschrieben hatte, jedenfalls die Mord-Totschlag-Version des Staatsanwaltes. Ein Inspektor des Tierschutzamtes war gekommen, um das Waisenhaus und Tierheim zu überprüfen, und wurde erstochen. Alyssas Version der Notwehr wurde am Rande erwähnt, jedoch als äußerst unwahrscheinlich abgetan. Den Ehemann fand man am Morgen nach der Tat am Ufer des Flusses. Kopfwunde, vermutlich vom Fall ins steinige Flussbett verursacht. Er hatte Wasser in der Lunge, war also ertrunken. Der Fall schien klar zu sein, das Urteil in Anbetracht der Vorwürfe mehr als gerecht.

Es war wirklich eine schreckliche Geschichte, die – entgegen der Meinung des Artikels – jedoch noch viele Fragen offen ließ. Wie hatte Alyssa den Inspektor töten können, wenn sie bewusstlos war? Hatte sie ihn während eines Blackouts umgebracht, so dass sie sich an nichts erinnern konnte?

---ENDE DER LESEPROBE---