Instinct - Der geduldige Tod - Johanna Marthens - E-Book

Instinct - Der geduldige Tod E-Book

Johanna Marthens

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Beschreibung

Privatdetektivin Grace Boticelli sieht sich voller Entsetzen das Video an, das ein Unbekannter vor ihrer Türe abgelegt hat: Eine Frau wird bei lebendigem Leibe begraben. Grace wird erst ihren Aufenthaltsort erfahren, wenn sie den Sohn einer seit über fünfzig Jahren toten Frau findet. Als ihr klar wird, dass es sich bei der Vergrabenen um Rosie handelt, die Frau, mit der sie sich angefreundet hat, setzt sie alles daran, um sie zu finden. Und sie erfährt, dass Rosie in den vergangenen Tagen selbst einen Fall verfolgt hat. Rosie wollte herausfinden, wer vor über fünfzig Jahren ihre Freundin entführt und getötet hat. Grace weiß weder, was Rosie herausgefunden hat, noch wer der Entführer sein kann oder wie sie den Sohn der Toten finden soll. Sie hat vierundzwanzig Stunden, um Rosie zu retten. Die Uhr tickt ... ***** Es geht ab der ersten Seite Schlag auf Schlag. Wenn ich könnte würde ich gerne mehr Sterne vergeben! Vielen Dank für die tolle Unterhaltung!!!!! ***** Tolle Serie, schade, dass die Serie schon zu Ende ist. ***** Einfach nur schön. Alle 5 Teile fand ich gleich spannend. Die Autorin schreibt sehr flüssig, ich mag sie und kann jedem raten, diese Reihe zu lesen

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INSTINCT

 

Der geduldige Tod

 

 

 

JOHANNA MARTHENS

Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

 

Copyright © Johanna Marthens, 2016, 2021

 

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe ist nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt.

 

Mehr über die Autorin unter www.johannamarthens.de

oder Facebook/Johanna.Marthens.

Kontakt: [email protected]

 

 

 

 

Wir beklagen uns unaufhörlich, dass unserer Tage so wenige seien, und betragen uns trotzdem so, als ob sie nie enden würden.

 

Lucius Annaeus Seneca

INHALTSVERZEICHNIS

 

 

 

PROLOG

NOCH DREIUNDZWANZIG STUNDEN

NOCH ZWEIUNDZWANZIG STUNDEN

NOCH NEUNZEHN STUNDEN

NOCH SIEBZEHN STUNDEN

NOCH VIERZEHN STUNDEN

NOCH ZWÖLF STUNDEN

NOCH ZEHN STUNDEN

NOCH ACHT STUNDEN

NOCH FÜNF STUNDEN

NOCH ZWEI STUNDEN

NOCH EINE STUNDE

NOCH ZEHN MINUTEN

EPILOG 20 MONATE SPÄTER

IMPRESSUM

PROLOG

 

 

ROSIE KAM LANGSAM ZU SICH. Nach und nach begann sie, eine Empfindung nach der anderen zu sortieren. Zunächst verspürte sie ein unangenehmes Gefühl im Hals. Sauer und ätzend. Ihr Brustkorb schien zusammengepresst, denn das Atmen fiel ihr schwer. Ihr Kopf glühte, als würde ihr Blut nur in diese Richtung fließen. Sie wollte sich aufrichten, doch es war nicht möglich. Für einen Moment war ihr, als würde sie schwerelos im All schweben. Ihre Füße berührten den Boden nicht, auch sonst fehlte ihr der Kontakt mit der Erde. Doch warum fühlte sich ihr Kopf dann so massig wie ein Felsblock an?

Sie verspürte Bewegung, aber das leichte Rütteln stammte nicht von ihr. Das seltsame Schaukeln verstärkte das ätzende Gefühl in ihrem Hals. Die Säure kroch in ihren Mund. Ihr Magen gab ein unangenehmes Ziehen von sich, dann ergoss sich die Säure aus ihrem Mund.

»Igitt wie eklig«, murmelte sie, als ihr bewusst wurde, dass sie sich gerade übergeben hatte. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch sie sah nichts. Es war alles schwarz um sie herum. Einen furchtbaren Augenblick lang fürchtete sie, dass sie erblindet sei. Aber dann nahm sie schwache, helle Punkte wahr, die durch einen dunklen Stoff schimmerten. Offenbar hatte man sie in einen Sack gesteckt. Wieder versuchte sie, sich zu bewegen, aber es ging kaum. Jedes Aufbäumen verursachte starke Schmerzen in ihrem Brustkorb. Offenbar hing sie über einer Karre oder auf einem Wagen, dessen Rand in ihren Brustkorb schnitt. Das würde erklären, wieso sie beim Atmen solche Schwierigkeiten hatte und warum ihr Kopf sich wie ein Zementblock anfühlte.

»He! Ich kann alleine laufen. Es geht nicht mehr so schnell wie früher, aber ich kann es noch.« Sie wollte eigentlich empört rufen, aber ihre Stimme klang kläglich leise. Und kratzig von der verbliebenen Säure in ihrem Hals. »Was soll das?«, krächzte sie.

Die alte Frau erhielt keine Antwort. Deshalb fing sie an, vorsichtig zu zappeln. Sie bewegte ihre Beine hin und her und schaukelte mit dem Oberkörper. Schnell gab sie die Bewegung wieder auf. Ihre Wange berührte das Erbrochene, und die Kante schnitt noch tiefer in ihren Körper ein, aber einen größeren Effekt hatte es nicht, dass sie sich wehrte.

Ich hätte mehr essen sollen, dann könnte man mich nicht so leicht wegbringen, dachte sie und sehnte sich nach Donuts mit Zuckerguss, die sie als Teenager geliebt hatte, und an Entenbrust mit Cranberry-Gelee, mit der sie einst ihren Mann bezaubert hatte. Sie war hungrig, aber nicht nur nach Donuts und Entenbrust, sondern nach Luft und Freiheit. Dann strampelte sie erneut. Doch auch dieses Mal zeigte es keinen Erfolg. Stattdessen fühlte sie, wie der Karren stoppte.

»He, lassen Sie mich raus!« Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie sie in diese Situation gekommen war. Aber sie schaffte es nur bis zu dem Gespräch mit dem ehemaligen Kindermädchen der Fedderbeers. Was sie gehört hatte, war so furchtbar gewesen, dass sie sich gewünscht hatte, niemals nach Rachels Schicksal geforscht zu haben. Danach verließ sie die Erinnerung.

Der Karren stand still. »Wer ist da? Was wollen Sie?«, rief sie. Dieses Mal etwas lauter.

Sie spürte, wie jemand den Sack, in dem sie steckte, ein Stück nach oben zerrte. Der Jemand keuchte schwer.

»Lassen Sie mich raus!«, rief Rosie. »Ich bekomme keine Luft hier drin!«

Sie glaubte, ein heiseres Kichern zu hören, dann spürte sie, wie derjenige, von dem das Kichern stammte, sie unsanft auf den Boden gleiten ließ und dann schubste, so dass sie zur Seite rollte. Danach fiel sie nach unten. Mit einem Krachen kam sie etwa einen Meter tiefer auf einem Holzboden auf. Der Aufprall jagte das letzte bisschen Luft aus ihren Lungen. Sie lag in dem Sack auf dem Bauch und ächzte. Mühsam drehte sie sich zur Seite, um Luft holen zu können.

»Hilfe!«, murmelte sie mit jämmerlich leiser Stimme, während sie hörte, dass ein Holzdeckel über ihr zufiel. »Hilfe!« Dieses Mal war ihr Ruf lauter, laut genug, um in einem Umkreis von mehreren Metern gehört zu werden. Aber er nützte nichts mehr. Sie war plötzlich von ungewöhnlicher Ruhe umgeben. Etwas Erde fiel auf das Holz über ihr, mehr war nicht zu hören. Kein Verkehrsrauschen, kein Vogelgezwitscher, kein Wind. Und selbst das feine Rieseln der Erde blieb nach wenigen Augenblicken aus.

Rosie schnappte entsetzt nach Luft, als ihr langsam bewusst wurde, dass jemand sie bei lebendigem Leibe begraben hatte. Und dass niemand wusste, wo sie sich befand und sie retten könnte. Nicht einmal Grace.

 

 

***

 

 

DIE DARK OAK BAY LAG IM SCHATTEN. Hinter den Bergen im Osten ging zögerlich die Sonne auf und färbte den Himmel in ein leuchtendes Orange mit goldenen Wolken, die über den Bergspitzen zu kleben schienen. Doch das Licht schaffte es noch nicht, das Meer und die Bucht im Westen zu beleuchten. Der Weg zwischen den Bäumen zog sich im Dunkeln. Was zwischen den Büschen raschelte, blieb in der Finsternis verborgen. Nur der Tau lag funkelnd auf Gräsern und Blättern und reflektierte den Schimmer des erwachenden Morgens. Grace fröstelte leicht und knöpfte ihre Jacke zu. Zu ihren Füßen rauschte das Meer und brandete unermüdlich gegen die Felsen, pausenlos und dröhnend wie ihre Gedanken. Immer wieder dachte sie an Roan, an den Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass sie in ihn verliebt sei. Der, der ihr wochenlang heimlich Blumen gebracht und ihr gesagt hatte, dass sie ihm unendlich viel bedeutete. Doch er war auch der Mann, der Grace betrogen und sich mit einer anderen Frau verlobt hatte. Die Verlobung war sein Auftrag gewesen, sein Job. Dennoch hatte er Grace damit zutiefst verletzt und enttäuscht. Außerdem zwang ihn seine Arbeit zu ständiger Heimlichtuerei und zu unregelmäßigen Arbeitszeiten. Doch Roan wollte, dass Grace ihm verzieh und mit ihm zusammenkam. Sollte sie? Würde er sich für sie ändern und seinen Job aufgeben?

Und dann war da Travis, der für sie da gewesen war, als sie ihn gebraucht hatte. Er hatte sie vor dem sicheren Tod von der Hand eines Psychopathen gerettet und war auch im Krankenhaus nicht von ihrer Seite gewichen. Er hatte gesagt, dass er um sie kämpfen wolle. Wen sollte sie wählen?

Wenn sie tief in sich hineinlauschte, spürte sie, dass ihr Herz noch immer für Roan schlug. Hier in der Dark Oak Bay hatte sie ihn das erste Mal richtig getroffen und ihn nach seinem Namen gefragt. Und hier hatte er sie das erste Mal geküsst. Noch deutlich sah sie seine leuchtenden Augen und seinen zärtlichen Blick vor sich.

Die junge Frau mit dem hübschen Gesicht und den großen, ausdrucksvollen Augen seufzte tief. Warum war das Leben so kompliziert? Wieso verliebte sie sich in einen Mann wie Roan, der wegen seines Berufs als Agent nicht offiziell mit ihr leben konnte, aber mit anderen Frauen zusammen sein musste? Er hatte ihr gestern Nacht versprochen, seinen Job zu kündigen, um sie nicht mehr zu enttäuschen. Aber wollte sie wirklich, dass er wegen ihr alles aufgab? Würde sein Verzicht nicht immer zwischen ihnen stehen? Und wollte sie für Roan im Gegenzug Travis aufgeben?

Bei dem Gedanken an den Polizisten schlug ihr Herz ebenfalls schneller. Auch er war ihr in den vergangenen Tagen näher gekommen, und sie spürte ganz deutlich die Zuneigung für ihn in ihrem Herzen.

Also? Was sollte sie tun?

Zunächst einmal seufzte sie erneut und beobachtete einen Lichtstrahl, der sich zwischen zwei Bergspitzen hindurch bis zur Bucht vorgewagt hatte. Er kroch langsam über einen Grasflecken, dann schob er sich über einen runden Stein auf Sand und Kies, bis er an Grace‘ Fuß ankam. Sie spürte, wie das Licht ihr Bein hinaufkroch und ihre Haut wärmte. Als das Licht endlich auf ihrem Gesicht lag, blinzelte sie. Sie wusste zwar immer noch nicht, was sie tun und wie sie sich entscheiden sollte, aber sie fühlte sich plötzlich etwas besser. Als würde das Licht ihre trüben Gedanken verscheuchen und das nicht enden wollende Karussell in ihrem Kopf langsamer werden lassen. Der Kreisel war noch nicht verschwunden, drehte sich jedoch mit jedem Moment ruhiger. Sogar ein kleines Lächeln legte sich auf Grace‘ Lippen.

Sie warf einen Blick auf die Brandung am Fuße der Klippen. Sie würde hier sowieso keine Lösung für ihr Liebesdilemma finden. Da konnte sie auch in Ruhe frühstücken gehen.

Sie löste sich von ihrem Platz und ging den Weg zwischen den Bäumen entlang, der inzwischen teilweise von der Sonne beschienen wurde, zurück zu ihrem Auto. Sie setzte sich hinein und fuhr nach Hause, wo sie den Wagen parkte und zum Haus ging. Sie wollte die Tür öffnen, doch als sie einen Brief entdeckte, der auf der Fußmatte lag, stockte ihr Schritt. Ihr Herz schlug eine Spur schneller, weil sie glaubte, die Nachricht sei von Roan.

Als sie den Brief öffnete, wich alles Blut aus ihrem Gesicht. Die Nachricht stammte nicht von Roan, auch nicht von Travis. Und sie war ganz bestimmt keine Botschaft, die mit ihren Liebesabenteuern zu tun hatte.

NOCH DREIUNDZWANZIG STUNDEN

 

 

FASSUNGSLOS HIELT GRACE DIE NACHRICHT in den Händen. Der Zettel mit den wenigen Worten befand sich in der linken Hand, in der anderen lag ein USB-Stick, der zwischen dem Blatt eingeklemmt mitgeschickt worden war.

»Du hast 24 Stunden oder sie endet wie Rachel«, stand auf dem Papier.

Mit einem Schlag war das Gedankenkarussell um Roan und Travis zum Stillstand gekommen. Aufgeregt lief Grace zu ihrem Computer, schaltete ihn an und steckte den USB-Stick hinein. Es dauerte einen Moment, bis der Ordner sich öffnete und das Gerät betriebsbereit war. Mit zitternden Fingern öffnete Grace die Datei, die sich auf dem Stick befand. Es handelte sich um ein Video. Sie hätte es eigentlich zuerst von einem Virenprogramm überprüfen lassen müssen, aber sie war zu ungeduldig. Sie spielte es sofort ab und hielt die Luft an, als die ersten Bilder erschienen. Der Film zeigte eine dunkle Grube, in der ein Mensch lag. Ein Sack war über den Kopf gezogen, so dass nicht zu erkennen war, um wen es sich handelte. Nicht einmal das Geschlecht konnte Grace bestimmen.

Jemand legte einen Deckel über das Opfer, dann steckte derjenige einen Schlauch zwischen das Holz des Deckels. Das andere Ende des Deckels verband er mit einem Sauerstoffgerät.

Grace‘ Herz klopfte bis zum Hals, als sie beobachtete, wie der Fremde das Gerät anschaltete. Sie konnte jedoch nur seine Hand sehen, mehr war von ihm nicht zu erkennen.

»Der Sauerstoff reicht vierundzwanzig Stunden«, sagte plötzlich eine Stimme in dem Video. »So lange hast du Zeit, Rachels Sohn zu finden und mir zu bringen. Ansonsten ist sie tot und es ist deine Schuld.«

»Wohin soll ich ihn bringen? Wer sind Sie?«, rief Grace, als die Kamera, die das Video filmte, stark zu wackeln begann.

»Ein kurzer Uhrenvergleich: Jetzt ist es sechs Uhr morgens«, sagte der Mann in dem Video. »Ach ja: Keine Polizei, oder sie ist sofort tot.« Wie zum Beweis schaltete er in dem Film für einen Moment das Sauerstoffgerät ab. »Alles klar?« Er stellte das Gerät wieder an. »Vierundzwanzig Stunden. Die Uhr tickt.« Dann wurde der Bildschirm schwarz. Die Kamera war aus.

»Nein! Nicht ausschalten! Wer ist das in der Grube? Wer ist Rachels Sohn?« Grace hätte noch viel mehr Fragen gehabt, aber ihr wurde bewusst, dass der Mann keine davon beantworten würde. Der Bildschirm ihres Computers zeigte nur noch den Ordner an, in dem sich das Video befand.

Geschockt starrte Grace auf das Gerät, dann sah sie auf die Uhr. Es war bereits kurz vor sieben. Eine Stunde hatte sie verloren, weil sie in der Dark Oak Bay gewesen war. Entsetzt spielte sie das Video erneut ab und versuchte dieses Mal auf Details zu achten. Sie entdeckte jedoch nicht viel, was ihr weiterhelfen würde, den Mann oder das Opfer in der Grube zu identifizieren.

Deshalb nahm sie mit klopfendem Herzen den USB-Stick an sich und setzte sich wieder in ihr Auto, um mit quietschenden Reifen zu Mabel zu fahren.

 

 

***

 

MABEL WURDE VON EINER HAND an ihrer Hüfte geweckt. Sie blinzelte in die Dämmerung des Schlafzimmers und lächelte, als sie die Konturen des Mannes unter der Bettdecke entdeckte. Sheriff Rosewater. Seine Hand lag ruhig an Mabels Hüfte, aus seinem Mund drang ein leises Schnarchen. Mabel streckte sich behaglich und betrachtete sein Profil, seine scharfe Nase, die kluge Stirn. Er war ein attraktiver Mann mit einem großen Herzen. Ein glückliches Herzklopfen breitete sich in ihrer Brust aus bei dem Gedanken, dass er gestern zurückgekehrt war. Allerdings in Begleitung seiner Tochter. Mabel hatte nicht einmal geahnt, dass es Reena gab, er hatte sie bisher vor ihr verheimlicht. Die Kleine schlief jetzt im Gästezimmer nebenan.

Mabel wusste noch nicht genau, was sie von der neuen Situation halten sollte und wie sich ihr Verhältnis mit Rosewater in Zukunft entwickeln würde, aber sie verdrängte die Gedanken daran schnell. Es war zu früh für Sorgen. Jetzt wollte sie zunächst einmal die Anwesenheit ihres Liebhabers genießen.

Sie suchte unter der Bettdecke nach seinem Körper und strich zärtlich verlangend über seinen Bauch. Er rührte sich nicht, sondern schlief seelenruhig weiter. Erst als sie mit ihrer Hand in seine empfindlichste Region glitt, die unter einer Boxershorts versteckt lag, begannen seine Augenlider zu flattern.

»Hey«, murmelte er lächelnd. »Es ist angenehm, so geweckt zu werden.«

»Guten Morgen.« Mabel küsste seine Brust, die aus der Bettdecke hervorlugte. »Gut geschlafen?«

»Ja, nur zu kurz. Wir hätten gestern nicht so lange reden sollen.«

Mabel lächelte. Sie hatten bis weit nach Mitternacht auf dem Sofa gesessen und über Dinge gesprochen, die bisher nie Thema gewesen waren, zum Beispiel Rosewaters Frau, die vor fünf Jahren an Leukämie gestorben war und ihn mit einer kleinen Tochter zurückgelassen hatte, die er nun zusammen mit seinen Schwiegereltern großzog. Reena, die neunjährige Tochter, war zwischendurch im Sessel eingeschlafen. Erst, als alle wichtigsten offenen Fragen geklärt worden waren, hatten Mabel und Rosewater ihr Gespräch beendet und Reena zu Bett gebracht, bevor sie selbst schlafen gegangen waren. Das war gegen Morgen gewesen. Es fehlten definitiv ein paar erholsame Stunden Schlaf.

»Das können wir noch nachholen«, murmelte Mabel und küsste seine Brust erneut, dann wanderten ihre Küsse tiefer. Nachdem sie die Bettdecke zur Seite geschoben hatte, strich sie über seinen Oberschenkel und küsste seinen Nabel. Sie spürte seine Hände sanft in ihrem Haar. Als ihre Lippen den Gummizug seiner Boxershorts berührten und ihre Finger die Hose nach unten streifen wollten, klingelte es stürmisch an der Haustür. Danach ertönte ein ungeduldiges Klopfen aus dem Erdgeschoss.

Mabel richtete sich erstaunt auf und strich die Haare aus ihrem Gesicht. »War das nur in meinem Kopf zu hören oder klingelt und klopft da wirklich jemand?«

»Wer stört denn jetzt um diese Uhrzeit?«, knurrte Rosewater unwillig.

»Mabel! Mach die Tür auf! Es ist dringend!«, ertönte auf einmal die Stimme von Grace von unten durch das Fenster.

»Das klingt, als müssten wir alles auf später verschieben.« Rasch sprang Mabel auf, zog sich einen Bademantel über und warf Rosewater einen bedauernden Blick zu, bevor sie die Treppe nach unten zur Haustür eilte. »Was ist los?«, fragte sie, als sie die Tür weit öffnete, um die Freundin hineinzulassen.

»Jemand ist entführt und bei lebendigem Leibe vergraben worden.« Fast atemlos vor Anspannung stürmte Grace in das Wohnzimmer von Mabels Haus. Normalerweise verhielt sie sich nicht so unhöflich, aber sie war viel zu aufgeregt, um an einen Morgengruß zu denken. »Der Entführer hat ein Video von der Tat geschickt. Wo ist dein Computer?«

Mabel holte den Laptop vom Küchentisch und schaltete ihn an. Danach steckte Grace den USB-Stick hinein, der ihr geschickt worden war, und zeigte Mabel das Video.

»Verdammter Mist«, murmelte Mabel, nachdem sie den Film gesehen hatte. »Wer liegt da in dem Grab?«

»Ich habe keine Ahnung. Es sieht nicht gut aus.«

»Und welchen Sohn von Rachel meint er?«

»Ich bin mir nicht sicher. Meint er vielleicht das Kind von Rachel, deren Verschwinden ich aufklären wollte. Sie ... «

»Was ist los?«, fragte Rosewater plötzlich, der sich ein Hemd übergeworfen hatte und zu ihnen getreten war. Er war zwar inzwischen einigermaßen wach, doch sein Haar klebte am Kopf und der Abdruck des Kopfkissens zierte seine Wange. Er hätte vor dem Kontakt mit der Damenwelt, außerhalb des Schlafzimmers, lieber einen Kaffee getrunken. Aber den gab es noch nicht. Also fuhr er mit den Händen über seinen Kopf, so dass das Haar sich wieder aufrichtete, und holte tief Luft, um sich fit zu machen.

Grace fuhr erschrocken herum, als sie seine Stimme vernahm. Vor lauter Aufregung hatte sie ihn gar nicht kommen gehört. Sie sammelte sich jedoch schnell. Es gab momentan Wichtigeres, als sich über das unerwartete Auftauchen von Mabels Freund zu wundern. »Das lag heute vor meiner Tür.«

»Wer ist Rachel?«, wollte er wissen, nachdem er das Video ebenfalls gesehen und die Nachricht auf dem Zettel gelesen hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, aber der Kerl meint möglicherweise eine Frau, die vor mehr als fünfzig Jahren verschwand. Rosie und ich haben versucht, ihr Verschwinden aufzuklären, sind aber nicht sonderlich gut vorangekommen. Allerdings finde ich es mehr als seltsam, dass ein Fall heute etwas mit der alten Geschichte zu tun haben soll. Die Sache ist längst vergessen. Niemand erinnert sich mehr an Rachel, nur Rosie. Vielleicht ist eine andere Rachel gemeint, ich kenne jedoch keine. Aber ...«

»Gibt es Frühstück?« Die erneute Unterbrechung stammte von einer hellen Kinderstimme hinter Grace. Abermals fuhr Grace erschrocken herum und entdeckte ein neunjähriges Mädchen im Nachthemd, das erstaunt die Gruppe in Mabels Wohnzimmer betrachtete.

»Nein, kein Frühstück.« Nun wunderte sich Grace doch ein wenig, wen Mabel alles so beherbergte, verschob ihre Fragen jedoch auf später. Sie wandte sich wieder an Rosewater und Mabel. »Ich war zu sehr mit dem Fall des irren Malers beschäftigt, so dass Rosie in den vergangenen Tagen allein wegen Rachel weitergeforscht hat. Ich habe keine Ahnung, was sie herausgefunden hat. Sie …« Erschrocken hielt sie inne. Ein schrecklicher Gedanke war durch ihren Kopf geschossen. Sie begann, das Video noch einmal von vorn zu spielen und versuchte erneut, auf Details zu achten, um herauszufinden, um wen es sich bei dem vergrabenen Opfer handeln könnte. Doch wieder konnte sie nichts entdecken. Der Sack verdeckte fast den ganzen Körper.

»Verdammt. Es ist nichts zu erkennen.«

»Was ist das?« Reena stellte sich an den Computer und starrte gebannt auf den Film.

»Du solltest lieber wieder ins Bett gehen. Das ist nichts für dich. Denke ich.« Mabel fühlte sich unsicher im Umgang mit dem Mädchen. Sie selbst hatte keine Kinder und wusste nicht, ob sie ihre Kompetenzen als Gastgeberin überschritt, wenn sie Reena Anweisungen gab. Verlegen sah sie zu Rosewater, in der Hoffnung, dass der sie unterstützte. Er beachtete die beiden jedoch gar nicht weiter, sondern starrte gebannt auf den Bildschirm.

»Es ist eine Frau in dem Grab«, stellte er fest. »Man sieht einen leichten Absatz am Schuh.«

Grace beugte sich näher zum Monitor und entdeckte nun auch einen Damenschuh vor dem dunklen Holz. Ihr wurde übel. Sollte der Gedanke, der ihr soeben gekommen war, tatsächlich die Wahrheit sein? »Es kann sein, dass er Rosie hat.« Sie flüsterte nur, als hätte sie Angst, die Vermutung würde zur Gewissheit, wenn sie sie laut aussprach.

»Wer ist Rosie?«

Grace erklärte ihm, dass es sich um eine alte Frau handelte, die mit Rachel bis zu deren Verschwinden befreundet gewesen war. Als Grace in das Haus in San Francisco eingezogen war, war Rosie immer wieder aufgetaucht, bis sie mit Grace zusammen versuchte, das Verschwinden von Rachel aufzuklären.

»Dann ist es möglich, dass sie es wirklich ist.«

Grace wurde noch übler zumute. »Das darf nicht sein!«

»Was habt ihr über diese Rachel herausgefunden?«

»Sie war mit einem Afroamerikaner liiert, der zu der Zeit ebenfalls verschwand. Und sie war schwanger. Zuletzt hat Rosie herausgefunden, dass Rachel am Tag ihres Verschwindens zu einem Mann ins Auto stieg.«

»Das ergibt Sinn«, murmelte Mabel nachdenklich. »Den einzigen Namen, den der Kerl in dem Video nennt, ist der von Rachel. Also geht er davon aus, dass du Bescheid weißt. Das kann er nur von Rosie wissen. Das ist sie in dem Grab.«

»Wer wusste noch von dem Kind?« Rosewater zog in Gedanken vertieft die Augenbrauen zusammen.

Grace‘ Stimme begann zu zittern. »Nicht viele. Nicht einmal Carls Familie wusste etwas. Wir haben es in dem Tagebuch entdeckt, das Rachels Freundin Felicitas geschrieben hat. Es war mit dem Code SEXY verschlüsselt. Rachel hat niemandem davon erzählt, ihre Freundin hat es nur vermutet.«

»Wenn der Entführer von einem Sohn spricht, bedeutet das, er hat mit Rachel nach ihrem Verschwinden gesprochen.« Mabel sah Grace gedankenvoll an. Reena hatte sie schon vergessen. »Und er hat Rachel getötet oder war zumindest daran beteiligt. Denn er sagt: Sonst endet sie so wie Rachel. Damit meint er bestimmt ihren Tod.«

»O Gott. Das ist möglich.« Grace flüsterte vor Entsetzen. Sie verspürte ein grauenhaftes Gefühl in ihrer Magengrube. Eigentlich war es nicht ihr Magen, sondern eher ihr Herz. »Ich fühle mich schrecklich«, sagte sie leise. »Ich habe Rosie im Stich gelassen mit der Ermittlung. Ich habe die Sache nicht ernst genug genommen, weil ich dachte, der Fall ist so lange her, wir können sowieso nichts mehr ausrichten. Doch nun ist sie in den Händen eines irren Entführers und Mörders und hat nur noch einen Tag zu leben.« Ein Anflug von Panik schnürte ihre Kehle zusammen. Tränen sammelten sich in ihren Augen.

Mabel legte beruhigend ihre Hand auf Grace‘ Arm. »Das konnte niemand wissen. Ich hätte vermutlich genau wie du gehandelt und zuerst die aktuellen Fälle gelöst. Wenn ein Fall so lange ruht, dann kommt es auf ein paar Tage oder Wochen mehr oder weniger nicht an.«

»Kommt es wohl doch.« Grace wischte eine voreilige Träne weg, die über ihre Wange gerollt war.

»Zumindest wissen wir, dass diese Rosie etwas herausgefunden hat, was ihr noch nicht gewusst habt. Sonst wäre sie nicht in dem Grab gelandet. Und wir wissen, dass Rachels Sohn lebt.« Rosewater versuchte, freundlich zu klingen, seine Worte trafen Grace dennoch mitten in ihr verwundetes Herz.

Sie schluckte. »Es sieht ganz danach aus.«

»Aber was hat Rosie herausgefunden? Hat Rosie Rachels Mörder getroffen? Ist er ihr Entführer? Warum will er den Sohn sehen? Ist er der Vater des Kindes? Es gibt noch viele offene Fragen. Wir müssen eine nach der anderen klären, dann können wir Rosie finden.« Rosewater klang ruhig und gefasst, so dass sich Grace ein wenig besser fühlte. Es war noch nicht alles verloren. Sie konnten Rosie retten. Dennoch hatte sich ein unangenehmes, beklemmendes Gefühl in ihrer Brust festgesetzt und wollte nicht weichen.

»Uns rennt die Zeit davon.« Grace schloss für einen Augenblick die Augen, um sich zu sammeln und ihren Kopf freizubekommen. Sie musste klar denken, wenn sie Rosie aus den Fängen den Irren retten wollte. »Womit fangen wir an?« Sie blickte zu Rosewater, dann zu Mabel. »Vielleicht sollten wir uns aufteilen, damit wir es schaffen?«

Mabel nickte zustimmend. »Du solltest Travis zu Hilfe rufen.«

»Der Entführer hat gesagt, die Polizei darf nicht eingeschaltet werden!« Grace schüttelte entsetzt den Kopf. »Sonst stirbt Rosie sofort.«

»Dann sprich im Vertrauen mit Travis, nicht in offizieller Manier. Wir brauchen ihn.« Eindringlich strich Mabel über Grace‘ Schulter. »Wir schaffen das. Wir finden Rosie rechtzeitig.«

Grace nickte unglücklich. »Das hoffe ich.«

»Wir sollten aber auch versuchen, die Forderung des Kidnappers zu erfüllen und den Sohn von Rachel aufzustöbern.« Rosewater kratzte sich am Kinn. Ein schabendes Geräusch entstand bei der Bewegung, weil er sich noch nicht rasiert hatte.

»Wie alt ist er?« Bei der geflüsterten Frage wandten sich die Köpfe von Mabel, Grace und Rosewater erschrocken dem Kind zu, das sie ausgesprochen hatte. Die Erwachsenen hatten sie völlig vergessen. Reena wirkte bleich und erschüttert, das Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. »Ist er ein Kind wie ich?«

Mabel schüttelte schnell den Kopf. »Nein, er ist schon erwachsen. Eher so alt wie ich.« Sie sah hilfesuchend zu Grace.

Grace nickte zustimmend. »Rachel ist 1963 verschwunden. Sie muss das Kind 1964 geboren haben. Das ist über fünfzig Jahre her, er ist also wirklich so alt wie Mabel und längst kein Kind mehr.«

Reena wirkte nur geringfügig beruhigt. »Passiert dieser Rosie etwas?«, fragte sie vorsichtig. »Wird der Mörder sie einfach umbringen?«

Rosewater ging ein paar Schritte auf seine Tochter zu, um sie an der Schulter zu fassen und sanft in die Küche zu führen. »Wir werden dafür sorgen, dass Rosie nichts geschieht. Du weißt, dass es mein Job ist, Menschen zu beschützen. Ich werde alles tun, um Rosie zu retten. Okay?«

Reena nickte. Das Entsetzen war aus ihrem Gesicht gewichen. Offenbar besaß sie großes Vertrauen in ihren Vater. »Okay, Daddy.«

Er drehte sie liebevoll dem Kühlschrank zu. »Aber jetzt wird erst einmal gefrühstückt. Und dann machen wir uns mit vereinten Kräften an die Arbeit und holen Rosie da raus.«

Reena nickte und öffnete den Kühlschrank, um nach Leckereien zu suchen.

Grace hingegen machte eine Kopie des Films, die sie auf dem Computer von Mabel speicherte. Dann wandte sie sich an Mabel. »Ich werde als Erstes versuchen, den Sohn aufzustöbern.«

»Mit Travis.« Mabel nahm Grace in den Arm. »Ruf ihn an und bitte ihn um Hilfe. Wir brauchen ihn und den Zugang zu Polizei-Datenbanken. Der Entführer wird es nicht erfahren.«

»Okay.« Grace löste sich von der Freundin. »Könnt ihr euch darum kümmern, herauszufinden, was Rosie zuletzt getan hat, wo sie war und mit wem sie gesprochen hat? Ich glaube, sie wollte mit meiner Nachbarin Sophie reden und ein Phantombild von dem Mann anfertigen lassen, der in dem Auto saß, in das Rachel vor ihrem Verschwinden einstieg.«

»Wir werden Sophie aufsuchen und danach fragen.«

»Danke.«

Grace ging zur Haustür und öffnete. Sie sah auf die Uhr. Ihnen blieben noch genau zweiundzwanzig Stunden und neunzehn Minuten, um Rosie zu retten.

 

 

***

 

 

GRACE FÜHLTE SICH HUNDEELEND, als sie wieder in ihrem Auto saß und mit hohem Tempo zum Polizeirevier fuhr. Wenn Rosie starb, war Grace daran schuld. Sie hatte Rosie vernachlässigt, hatte sie den Fall allein bearbeiten lassen, obwohl Rosie weder Polizistin noch Privatdetektivin, sondern eine alte Frau war. Dass sie jetzt in Gefahr geraten war, hatte sich Grace ganz allein zuzuschreiben.

Sie schluckte schwer. Angst machte sich in ihr breit. Was, wenn der Entführer sie überwachen ließ, um zu kontrollieren, ob sie wirklich keine Polizei verständigte? Dann würde er Rosie umbringen, sobald sie bei Travis angekommen war.

Abrupt bremste sie ab, so dass der Fahrer hinter ihr verärgert hupte. Sie parkte den Wagen am Straßenrand und lief zu Fuß weiter, bis sie in irgendeinen Bus an der Haltestelle sprang. Drei Stopps später stieg sie aus und rannte mehrere Häuserblocks auf den Hafen zu. Dann stieg sie in den nächsten Bus, bis sie das Gefühl hatte, einen möglichen Verfolger abgeschüttelt zu haben. Anschließend stieg sie wieder aus und lief durch ein Einkaufszentrum, um es auf der anderen Seite durch den hinteren Ausgang zu verlassen. Danach nahm sie ein Taxi, das vor dem Gebäude stand, und ließ sich bis zum Polizeirevier fahren, wo sie an der Ecke ausstieg und sich vorsichtig umsah. Dann eilte sie in das große Haus und schlich am Pförtner vorbei, der glücklicherweise gerade mit drei Besuchern beschäftigt war und sie nicht entdeckte. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in das oberste Stockwerk und klopfte an das Büro, in dem Travis normalerweise mit mehreren weiteren Kollegen saß. Doch niemand öffnete. Grace betätigte die Klinke, aber die Tür war abgeschlossen.

Unruhig lief sie den Gang hinunter und zog dabei ihr Handy aus der Tasche, um die private Nummer von Travis anzurufen. Er antwortete nicht, nur die Mailbox sprang an.

Langsam wurde Grace verzweifelt. Sie konnte nicht so viel Zeit mit der Suche nach Travis verschwenden!

Sie rannte zurück zum Fahrstuhl. Sie drückte auf den Knopf und fuhr zurück ins Erdgeschoss, um aus dem Gebäude zu laufen. Doch in diesem Moment klingelte ihr Telefon.

»Guten Morgen, Grace«, ertönte Travis‘ Stimme leise. »Ich sitze gerade in einer Besprechung. Ich will nur kurz Hallo sagen, weil du angerufen hast. Ich ruf dich aber später in Ruhe zurück.«

»Nein, Travis, nicht auflegen! Es eilt!« Grace klang so verzweifelt, dass Travis sofort hellhörig wurde.

»Was ist los?«

»Ich muss dich sprechen. Ich brauche deine Hilfe. Es ist wichtig!«

»Jetzt?«

»Ja, sofort.«

Travis zögerte einen winzigen Moment, dann stimmte er zu. »Ich komme zu dir. Wo bist du?«

»Im Erdgeschoss des Polizeireviers.«

»Bis gleich.« Sie hörte, wie er die Verbindung trennte.

Erleichtert lehnte sie sich an die Wand und merkte plötzlich, wie sehr sie sich danach sehnte, ihre Sorgen um Rosie Travis anvertrauen zu können. Sie mochte ihn nicht nur, sie vertraute ihm auch. Hoffentlich konnte er ihr wirklich helfen.

Als sie nur wenige Augenblicke später seine Schritte im Flur vernahm, löste sie sich von der Wand und rannte auf ihn zu. »Es ist ein Notfall. Ich habe vierundzwanzig Stunden Zeit, um einen fünfzigjährigen Mann zu finden, von dem ich weder den Namen noch den Geburtstag weiß. Das heißt, es sind inzwischen nur noch zweiundzwanzig Stunden und fünf Minuten.« Sie holte tief Luft. »Und wenn ich ihn nicht finde, wird Rosie sterben.«

Travis runzelte erschrocken die Stirn. »Was ist passiert?«

Grace erklärte ihm in kurzen Sätzen, was passiert war, dann sah sie auf die Uhr. »Und jetzt sind es nur noch zweiundzwanzig Stunden und zwei Minuten.«

NOCH ZWEIUNDZWANZIG STUNDEN

 

 

MABEL UND ROSEWATER KLOPFTEN an die Tür der Galerie von Sophie Mondahl. Drinnen brannte kein Licht, es war noch zu früh für Besucherverkehr. Als niemand öffnete, gingen sie um das Haus herum und fanden eine kleine Pforte auf der Hinterseite, wo sich eine Klingel befand. Nach dreimaligem Läuten öffnete sich die Tür und Sophie sah heraus. Ihr Haar war zerwühlt, sie trug einen Schlafanzug.

»Was wollen Sie?« Sophie klang ungehalten. »Wir waren gestern lange im Krankenhaus bei meiner Nichte.«

Mabel trat einen Schritt vor. »Es geht um eine ältere Frau namens Rosie, die bei Ihnen war und eine Phantomzeichnung anfertigen ließ. Wissen Sie, um wen es sich handelte?«

Sophie wirkte plötzlich wacher. »Gehören Sie zu ihr?«

»Zu Grace. Sie hat uns gebeten, mit Ihnen zu sprechen.«

»Grace?« Überrascht strich sich die kleine Frau durch das unordentliche Haar. Nach der Nennung des Namens wurde sie jedoch sofort mitteilsam. »Ja, Rosie war hier bei mir, und ich habe nach ihrer Beschreibung eine Zeichnung angefertigt. Aber wer es ist, den ich da gezeichnet habe, kann ich nicht sagen. Sie hat nur etwas von einem Sebastian gebrummelt. Und dass sie ihn kennt. Dann ging sie. Mehr weiß ich nicht.«

»Sebastian? Hat sie einen Familiennamen genannt?«

»Nein, leider nicht.«

»Haben Sie die Zeichnung hier?«

»Nein, auch nicht. Sie hat sie mitgenommen. Was ist mit ihr?«

»Sie wurde entführt. Wir versuchen, sie zu finden.«

Sophie hielt bestürzt ihre Hand an den Mund, ihre Augen weiteten sich vor Schreck. »Das tut mir leid. Ich weiß aber wirklich nicht mehr. Ich könnte Ihnen die Zeichnung auch nicht mehr reproduzieren, weil ich das Bild nicht mehr in Ruhe betrachten konnte. Rosie riss mir das Blatt sofort aus der Hand, als sie den Mann darauf erkannte.«

»Wissen Sie, wohin sie wollte, nachdem sie bei Ihnen war?« Rosewater mischte sich ein.

»Nein, das weiß ich nicht. Sie stürmte hinaus, das ist alles, was ich weiß.«

»Danke, Sophie, vielen Dank«, sagte Mabel.

»Wenn ich noch etwas tun kann, sagen Sie mir bitte Bescheid. Grace hat mir mit der Rettung meiner Nichte einen enorm großen Gefallen getan. Ich stehe tief in ihrer Schuld.«

Mabel lächelte. »Ich werde es ihr ausrichten. Etwas Aufmunterung wird ihr momentan guttun.«

»Viel Erfolg!«

Mabel dankte ihr erneut, dann wandte sie sich mit Rosewater ab und ging zum Auto, wo Reena auf sie wartete. Das Mädchen hatte nicht allein im Haus bleiben wollen und darauf bestanden, ihren Vater und Mabel zu begleiten.

---ENDE DER LESEPROBE---