Darling - Hanna Hartmann - E-Book

Darling E-Book

Hanna Hartmann

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Beschreibung

"Darling" ist ein unverblümter Roman über die Schattenseiten Frankfurts. Zwischen hartem Sex und schnellem Geld löst sich die Moral rasch auf und für tiefe Gefühle bleibt wenig Platz – das muss der Taxifahrer Adrian Baumann auf bittere Weise erfahren. Er trifft die Liebe seines Lebens, aber auch das kann manchmal die falsche Frau sein. Hanna Hartmann schreibt schnell und ohne Rücksicht. Ihr Buch ist wie eine Fahrt durch eine bizarre Achterbahn. Der Frankfurter Taxifahrer Adrian Baumann hat jede Menge privater Probleme – doch als eine unbekannte Schöne in sein Taxi einsteigt, scheinen sie wie weggeblasen. Er folgt ihr heimlich, und ein Albtraum beginnt: Erst entdeckt er, dass die Frau bizarre Filme dreht, dann wird er Zeuge eines Mordes. Auf der Suche nach einer Erklärung taucht er immer tiefer in eine Welt ein, in der man mit Demütigung und Dominanz viel Geld verdienen kann. Am Ende weiß er mehr, als er vielleicht wissen wollte. Hanna Hartmanns Debüt führt durch ein abseitiges und fremdartiges Frankfurt. Die Autorin und Politikerin zeigt in ihrem Buch, wie gut sie die Stadt am Main kennt.

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Hanna Hartmann
Darling
Frankfurt bei Nacht
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2009 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-942921-94-7

Dank

Für ihre Unterstützung bei der Realisierung dieses Buches bin ich Andrea Richter, Reni Rau, Saskia Wiese und Kerstin Kuschik zu großem Dank verpflichtet.
Mein Dank gilt darüber hinaus Dr. Jürgen Kron vom Societäts-Verlag und seinen Mitarbeitern sowie meinem Lektor Christoph Nettersheim für seine Geduld mit meinem Erstling.
Ich danke meiner Familie und meinen Freunden, die die Entstehung dieses Buches mit vielen interessanten Kommentaren und Anregungen begleitet haben.
Der Anstoß für „Darling“ war ein Gespräch mit einem Unbekannten an einem der seltsamsten Orte, die Frankfurt zu bieten hat.
Gewidmet ist dieses Buch Andreas.

1

Adrian hasste Tage wie diesen. Der Himmel über Frankfurt war den ganzen Tag nur grau in grau gewesen. Regentropfen perlten unablässig über die Windschutzscheibe. Monoton mühte sich der Scheibenwischer, gegen die Wasserfluten anzukommen. In den trüben Pfützen am Taxihalteplatz vor dem Hauptbahnhof spiegelte sich die blaue Neonbeleuchtung der Iran Air. Die großen Zeiger der Bahnhofsuhr unter dem Atlas schoben sich langsam Richtung neun. Es war das traurige Ende eines trüben, kalten Novembertages. Und weder die Messe noch ein Fußballspiel in der Commerzbank-Arena verhießen nennenswert Fahrgäste an diesem Abend. Die Nacht würde sich wie Kaugummi in die Endlosigkeit ziehen. Vielleicht sollte er, wie er es Annika versprochen hatte, jetzt schon nach Hause fahren, damit sie noch etwas vom gemeinsamen Abend hätten. Aber es zog ihn nicht wirklich in die gemeinsame Wohnung.
Adrian kurbelte das Seitenfenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Was soll’s. Zwei Jahre lang hatte er den Luxus eines Rauchertaxis genossen. Doch das neue Nichtraucherschutzgesetz war erbarmungslos. Taxifahrer sind Parias, dachte er. Und rauchende Taxifahrer sind die Parias der Parias.
Ein dumpfer Schlag auf den Kofferraum des Mercedes riss ihn abrupt aus seinen trüben Gedanken.
„Steig aus, wenn du rauchst“, fauchte Karl. Und freute sich diebisch, weil er den jungen Kollegen ohne Vorwarnung hochgeschreckt hatte.
„Hau ab“, fluchte Adrian. „Elender Blockwart! Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu kontrollieren?“
Karl lachte kurz und trocken auf. Dann schob er sich eine dünne Haarsträhne aus der Stirn seines aschfahlen Gesichts und stimmte einen versöhnlicheren Ton an.
„Du weißt doch, wie Sissi reagiert, wenn du im Taxi rauchst. Die merkt das sofort, da kannst du das Fenster noch so weit runterkurbeln!“
Schmollend schob Adrian die Unterlippe vor. Trotz der Konkurrenz unter den Fahrern mochte er den 55-Jährigen, der beim Taxifunk zu den alten Hasen zählte. Schon öfters hatte er mit Karl einen Kaffee in der Zentrale getrunken und über dieses und jenes philosophiert.
Eine Böe wehte nasskalten Regen in Adrians Gesicht. Einige Tropfen perlten über seine dunklen, gegelten Haare in den Nacken. Er fröstelte. Ein tiefer Zug noch, dann schnippte er die Marlboro weg und kurbelte das Fenster hoch. Auf dem Handy blinkte eine SMS. Annika. Missmutig verzog er den Mund und drehte den Zündschlüssel um. Der Mercedes bewegte sich zwei, drei Wagenlängen in der Fahrzeugschlange nach vorne. Noch sechzehn Taxen vor ihm. Nicht sonderlich motiviert stellte Adrian den Motor wieder ab.
Als er das Radio einschaltete, klopfte Karl an die Seitenscheibe.
„Eh, mach mal auf.“
Bevor Adrian antworten konnte, hatte Karl sich schon auf den Beifahrersitz geschoben.
„Kannst du mir nachher um zehn eine Fahrt abnehmen?“, fragte er vorsichtig.
Adrian zuckte mit den Achseln. Was für eine alberne Frage.
„Sie fährt nicht mit jedem.“ Karl senkte seine Stimme.
„Stammgast. Verstehst du?“
Adrian schaute Karl verwundert an.
„Was ist los? Ist was nicht in Ordnung?“
Karl verzog das Gesicht. „Ich habe mir gestern Nacht wohl was geholt und mich heute Morgen schon zweimal übergeben. Mir ist furchtbar flau. Irgendwie Schicht im Schacht.“
Adrian schaute auf den Anhänger am Mercedes-Schlüssel. Das Foto von Annika baumelte am Schlüsselbund, ein Schnappschuss vom letzten Wäldchestag im Mai. Jetzt war November, und die Momentaufnahme erschien Lichtjahre von seinem jetzigen Leben entfernt.
„Sie fährt nur mit dir, wenn sie dir vertraut“, murmelte Karl.
„Eh, Alter, was soll das? Vertrauen? Ich bin Taxifahrer, da hat man Vertrauen, oder?“, fuhr Adrian den leichenblassen Kollegen schroff an.
Mühsam hob der seinen Kopf und biss sich auf die Lippen.
„Behandel sie einfach gut, wenn du sie fährst, okay?“
Adrian sah Karl skeptisch an. Der war heute wirklich ein merkwürdiger Kauz, wie er plötzlich am Lautsprecher drehte und für eine Weile andächtig der monotonen Stimme von Sissi aus der Zentrale lauschte.
„Du musst sie pünktlich um zehn Uhr abholen. Und wundere dich nicht über den Ort, wo sie hingefahren werden soll. Du wirst sie morgen früh da wieder abholen. Und stell keine Fragen. Sie zahlt gut.“
Karl drückte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die rechte Faust in den rebellierenden Magen.
„Du gehörst ins Bett.“ Adrian sah Karl mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete, an. „Gib mir die Adresse, ich erledige das. Du kannst dich auf mich verlassen.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er versöhnlich hinzu: „Versprochen, Karl. Madame wird zufrieden sein.“
Karl nickte erleichtert. Dann drückte er auf die Tasten, um die Verbindung zur Zentrale herzustellen.
„Sissi, ich bin krank. Magenverstimmung. Ich fahr nach Hause und melde mich morgen wieder.“ In der Leitung knackte es.
„Adrian, verdammt noch mal! Du bist in letzter Zeit ausgesprochen oft unpässlich!“, keifte es aus dem Äther.
„Mach mal langsam, Sissi!“, empörte sich Adrian. „Ich bin es nicht. Karl sitzt hier bei mir im Wagen. Er hat einen MagenDarm-Virus und ist krank.“
Sissis vorwurfsvolle Stimme brachte Adrian auf die Palme. Anscheinend gab es einen Punkt, an dem alle Frauen gleich hysterisch reagierten. Adrian hasste diese Situationen. Denn Annika verhielt sich mittlerweile immer öfters wie Sissi, wenn sie schlechte Laune hatte. Er schaute auf sein Handy. Dort lauerte immer noch die SMS, die er partout nicht lesen wollte.
Karl drückte ihm einen krakelig beschriebenen ZetteHand und schaute ihn erwartungsvoll an.
„Du tust, was sie will“, flehte er mit großen Augen. Adrian nickte. Der Typ war heute echt eine Nervensäge.
„Ach übrigens, dein rechtes Rücklicht ist defekt“, bemerkte der Alte und öffnete die Beifahrertür.
Adrian fluchte. „Oh Mann, das hab ich völlig vergessen. Die Polizei hat mich gestern schon mal angehalten. Ich hab’s heute total verpeilt, zum Check in die Werkstatt zu fahren. So ein Mist!“
„Wenn du willst, können wir die Wagen bis morgen früh tauschen“, schlug Karl vor. „Du musst nur Sissi Bescheid sagen, dass du auf die 353 umgestiegen bist.“
Adrian nickte. Er schnappte sich seine Lederjacke, Papiere, Handy und die unvermeidliche Zigarettenschachtel, während Karl um das Auto herum zur Fahrerseite ging.
„Du tust, was sie will“, klang es in Adrians Ohren, als er in Karls Wagen stieg und den Zündschlüssel drehte. Ihn fröstelte, und eine Gänsehaut breitete sich auf seinem Rücken aus. Unwillig schüttelte er sich und meldete sich über Funk in der Zentrale.
„Sissi, ich hab’ einen Auftragskunden um zehn in Griesheim. Melde mich zurück, wenn die Fahrt erledigt ist.“
„Okay!“, schallte es hörbar gelangweilt zurück.
Adrian kannte die Straße, die Karl ihm aufgeschrieben hatte. Dafür brauchte er kein Navigationssystem so wie viele der Aushilfen, die beim Taxifunk Schicht schoben. Er setzte den Blinker und fädelte sich dann rechts Richtung Baseler Platz in den träge dahinfließenden Verkehr ein. Noch fast dreißig Minuten, bis er in Griesheim sein musste. Da blieb noch genügend Zeit für eine Cola und eine Zigarette.

2

Langsam schob Adrian die House-CD in den Player. Ein Geschenk von seinem früheren Studienkollegen Enzo. Der saß seit knapp einem Jahr „direkt an der Quelle“, wie er sich grinsend brüstete, seit er den Nachtwächter-Job im Rechenzentrum von „connection“ angetreten hatte. Hunderte von Servern surrten unter dem monotonen Brausen überdimensionierter Klimaanlagen im Hightechzentrum an der Hanauer Landstraße.
„Voll der easy Job“, hatte Enzo zufrieden festgestellt, nachdem er Absage um Absage auf zig Bewerbungen für einigermaßen vernünftig bezahlte Vollzeitstellen kassiert hatte. Geografiestudenten gebe es wie Sand am Meer. Und Geografiestudenten mit lausigen Abschlüssen seien so zahlreich wie Wassertropfen im Pazifischen Ozean, hatte ihn die Personalchefin der Zeitarbeitsfirma, die ihn letztendlich vermittelte, sichtlich gelangweilt aufgeklärt.
Adrian empfand Enzos Arbeitsplatz als superstupide. Nacht für Nacht Tausende von Servern über endlose Reihen von Monitoren zu überwachen, um unendliche Datenströme zu kontrollieren und zu protokollieren. Datenpaket um Datenpaket schnurrte auf dem virtuellen Highway des World Wide Web wie ein langer monotoner Fluss an Enzos Bildschirmen vorüber. Und immer, wenn der virtuelle Strom ins Stocken geriet, klingelte das Telefon im Support Sturm.
„Ich arbeite am DeCIX, Deutschlands größtem Verkehrsknotenpunkt im Internet“, hatte sich Enzo vor kurzem stolz vor ihm aufgeplustert.
„Und ich am Frankfurter Hauptbahnhof, Deutschlands größtem realen Verkehrsknotenpunkt“, hatte Adrian mit wegwerfender Handbewegung gekontert.
In den vergangenen Monaten hatte er dann allerdings schon zu schätzen gelernt, dass Enzo an einer schier unerschöpflichen Quelle für Spiele, MP3s und Videofilme saß. „Vom Laster gefallen“, hatte er ihm grinsend zugezwinkert, als er ihm am Vortag die heißersehnte CD mit den allerneusten House-Stücken durchs Seitenfenster auf den Schoß geworfen hatte. Sein Dankeschön. Weil Adrian ihn vergangene Woche nach seiner Nachtschicht, als er knapp bei Kasse war, zum Freundschaftspreis zum Cocoon gefahren hatte.
Enzo stand auf Taxifahren. Das mache bei Türstehern und Mädels heftig Eindruck, behauptete er aus tiefer Überzeugung. Adrian bezweifelte den Wahrheitsgehalt dieser These, aber er war im Gegensatz zu Enzo ohnehin nicht der Typ, der Eindruck bei Türstehern schinden wollte. Zudem war es ihm schnurzegal, was Enzo an Theorien und Hypothesen in die Welt hinausposaunte. Der Typ las seiner Meinung nach zu viel BILD und surfte zu oft im Internet.
Als die ersten Klänge von SkyFM New York den Wagen erfüllten, entspannte sich Adrian im schwarzen Ledersitz des Mercedes. Das Armaturenbrett von Karls Wagen war picobello gewienert. Keine Fingerabdrücke, keine Flecken, keine Krümel auf dem Boden. Im Kofferraum lagen, wie Adrian wusste, der Handstaubsauger und eine Packung Feuchttücher, damit der Wagen immer tipptopp gepflegt aussah. Das Taxi war Karls ganzer Stolz.
Als Adrian auf die Emser Brücke einbog, hörte der Regen langsam auf. Von hier oben war der nächtliche Blick Richtung Hauptbahnhof und Skyline beeindruckend. Frankfurt hatte sich in den vergangenen zwanzig Jahren, seit Adrian mit seinen Eltern nach Sachsenhausen in die Kisselsiedlung gezogen war, rasant verändert.
Allerdings gelang es Adrian immer weniger, die zunehmende Armut, die sich zwischen den Glitzerfassaden der Häuserschluchten ihren Weg bahnte, aus seiner Wahrnehmung zu verbannen. Die traurigen Gestalten am Hauptbahnhof im Kaisersack ließen sich kaum noch aus seinem Blickfeld eliminieren. Früher war das Elend im Kaisersack ein dichter Pulk von Junkies gewesen, die beständig zwischen Bahnhof und Taunusanlage hin und her gewuselt waren. Heute sah man auf der Straße nur noch die Übriggebliebenen, die Ausgemergelten, die psychisch Kranken. Menschen, die in den vergangenen zwanzig Jahren den Trip aus Heroin und Methadon mehr schlecht als recht überlebt hatten. Wahrscheinlich wirkten diese Kreaturen nur deshalb so nachhaltig auf ihn, weil sie so krass mit den blanken und glatten Spiegelfassaden des Frankfurter Bankenviertels kontrastierten.
Castor und Pollux vor dem Messeturm zum Beispiel. Kühle, abweisende Torwächter des Geldes, die klar und deutlich signalisierten: „Du kommst hier nicht rein.“ Wie die Türsteher vom „Living XXL“, die ihn früher wegen seines südländischen Aussehens immer wie einen dummen Schuljungen hatten abtropfen lassen.
„Ich bin Deutscher!“, hatte er sie einmal aus Wut angeschrien. Doch der Ausbruch verpuffte völlig wirkungslos. Adrian war Luft für die Türsteher gewesen. Ihm war bewusst geworden, dass er – wie so oft – draußen bleiben würde. Geschlossene Gesellschaft. So muss sich Apartheid in Südafrika angefühlt haben, dachte er beim Blick auf die Türsteher der Frankfurter Clubszene.
An der Galluswarte zeigte die Ampel rot. Die Straßenbahn Richtung Mönchhofstraße rauschte zügig über die Kreuzung.
„Kulturexpress“, hatte seine Schwester die Linie 11 getauft. Weil die sechzehn Kilometer Schienen von Fechenheim bis Höchst Frankfurt wie ein stählernes Band von Arm nach Reich und wieder zurück miteinander verbanden.
Erneut schweiften seine Gedanken zu den Junkies vom Hauptbahnhof ab. War das ein Aufstand gewesen, als man die Süchtigen nach der Eröffnung des ersten Druckraums in der Schielestraße dazu genötigt hatte, sich ihren Schuss nicht mehr direkt vor dem Bahnhof in ihre zerstochenen Venen zu setzen, sondern mit der Straßenbahn 25 Minuten quer durch Frankfurt bis zur Haltestelle „Riederhöfe“ zu fahren, um dort unter klinisch sterilen Bedingungen endlich das Rauschgift in den Körper zu drücken.
Wer in dieser merkwürdigen Stadtverwaltung war damals eigentlich auf die glorreiche Idee gekommen, dass ein Junkie mit dem heißersehnten Stoff in der Hand so diszipliniert wäre, sich erst wie jeder andere ordentliche Fahrgast einen Fahrschein zu lösen, um dann dreizehn Stationen in einer proppenvollen Straßenbahn zu fahren, zusammen mit schniefenden Babys in schmuddeligen Buggys, müden Schichtarbeitern von Neckermann und Casella, übermütigen Schülern, die sich leere Trinkpackungen um die Ohren warfen, und abgekämpften Frauen mit Kopftüchern und überquellenden Einkaufstüten? Das war Absurdistan. Aber das war irgendwie auch Frankfurt. Jetzt fuhr die Linie 11 mit einer Horde aufgebrezelter Teenager, die zu Hause schon mal vorgeglüht hatten, Richtung „Halli-Galli“. Adrian ekelte sich vor den billigen Flatrate-Partys in einigen Frankfurter Discos, die auch seine Schwester anzogen wie Motten das Licht.
Respekt hatte er dagegen vor den Frankfurter Straßenbahnfahrern. Denn die blieben, trotz all dieser marodierenden Horden, meist stoisch und gelassen. Straßenbahnfahrer hatten eben irgendwie ein Ziel. Und wenn es nur die nächste Haltestelle war, die sie beharrlich im Frankfurter Verkehrsdschungel ansteuerten.
Was er in seinem Leben für ein Ziel hatte, konnte Adrian nicht sagen. Er war nie wirklich in die bürgerliche Spur von Aufstieg und Anpassung gekommen, die seine Eltern ihm lange Zeit zufrieden vorgelebt hatten. Mittlerweile hatte dieses Ziel fast alle seine früheren Mitschüler und Kommilitonen erfasst. Seit es Annika in seinem Leben gab, fühlte Adrian sich von dieser Zukunftsperspektive wie eingefangen.
Die Ampel sprang auf Grün, und Adrian bog in die Mainzer Landstraße ein. Schwarz und nass schimmerte der Asphalt in der hellen Straßenbeleuchtung. Was hatte Karl gesagt? Wo verdammt noch mal war der Zettel mit dem Namen der Tante? Flüchtig überflog er die Adresse. Noch zwanzig Minuten bis zur Elektronstraße. Das reichte allemal für einen Stopp bei Burger King.
Vor der Esso-Tankstelle an der Rebstöcker Straße hielt er den Wagen an. Sein Blick fiel aufs Handy. Das Display signalisierte ihm eine zweite ungelesene SMS. Adrian atmete tief durch. In dem Moment fiel ihm siedendheiß ein, dass er seinen Haustürschlüssel beim Taxitausch im Handschuhfach vergessen hatte.
„Mist!“ Unbeherrscht schlug er aufs Lenkrad. In dem Moment klingelte sein schwarzes Motorola.

3

Annika war nervös. Warum meldete Adrian sich nicht auf ihre SMS? Sollte sie ihn anrufen? Oder ihn in Ruhe lassen? Wieso lebte er immer so planlos in den Tag hinein? Warum machte er verdammt noch mal nichts Vernünftiges aus seinem ausgezeichneten Geografieabschluss?
Taxifahren gefalle ihm, rechtfertigte er sich einsilbig, wenn sie ihn darauf ansprach. Die Menschen, die Einsamkeit im Wagen, die Nachtschichten. Das sei das echte Leben, verteidigte er seinen Job.
Sein trotziges Beharren machte sie zunehmend zornig. Ihrer Auffassung nach verplemperte er sein Leben. Als sie sich vor zwei Jahren in der MainArena bei der Fußballweltmeisterschaft kennengelernt hatten, hatte es sofort gefunkt. Adrian war ihr privates Sommermärchen. Wie viele wunderbare Zukunftspläne hatten sie damals geschmiedet. Und jetzt? Seit einem halben Jahr kriselte ihre Beziehung gewaltig. Auf ihren Druck, sich endlich einen vernünftigen Job zu suchen, reagierte er zunehmend abweisend und verschlossen. Vor kurzem war er dann erstmals einfach abgetaucht. Einfach verschwunden für ein, zwei Nächte. Und dann mit einem strahlenden Lächeln gut gelaunt wieder aufgetaucht. Als wenn er nur für fünf Minuten weg gewesen wäre.
Mit der Hand strich sie sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Unschlüssig schaute sie auf die Tastatur ihres Handys. Vielleicht dauerte seine Taxischicht heute Nacht ja gar nicht so lange, und es machte Sinn, auf ihn zu warten. Sie liebte es, neben ihm einzuschlafen. Auf keine der beiden SMS war jedoch eine Antwort gekommen. Unschlüssig schaute Annika aus dem Wohnzimmerfenster auf den Main.
Morgen früh musste sie topfit sein, um bei MyWay ihren zugesagten Statusbericht für die Eventabteilung zu präsentieren. Gedankenverloren schaute sie auf das Sachsenhäuser Flussufer und über das dunkel dahinfließende Wasser zu den verrosteten Kränen an der Ruhrorter Werft. Irgendwo da draußen in der Stadt war Adrian unterwegs. Und sie war hier und wünschte ihn sehnsüchtig zurück.
Seit ihrem Berufseinstieg vor knapp elf Monaten als Projektleiterin für E-Mail-Marketing in der Agentur an der Hanauer Landstraße war es für sie beruflich steil bergauf gegangen. Adrian blieb dagegen immer weiter zurück. Zu oft zerbrach sie sich den Kopf, was die Ursache dafür war, dass Adrian sich so beharrlich dem realen Leben verweigerte und immer öfter in seine merkwürdige Taxiwelt flüchtete.
Wenn sie ihn zur Rede stellte, küsste er sie und versicherte ihr mit seinen wunderschönen bernsteinfarbenen Augen, dass es reiche, wenn einer in der Familie Karriere mache. Und das dürfe ruhig sie sein, damit er die Zeit habe, sich um die Kinder zu kümmern. Diese Idee empfand Annika als ausgesprochen abwegig. Einmal war sie sogar so weit gegangen und hatte ihm mit dem Zeigefinger ein „Spinner“ an die Stirn getippt, als er wieder diesem Gedanken nachgehangen war. Traurig und verloren hatte Adrian über sie hinweggeschaut. Dann war er mit den Worten „Muss jetzt Taxi fahren“ aus der Wohnung geflüchtet. Das war das erste Mal gewesen, dass er für zwei Tage spurlos abgetaucht war.
Annika spürte den unbezähmbaren Drang, jetzt mit ihm zu reden. Hektisch tippte sie die Nummer ins Display. Es klingelte. Einmal, zweimal. Geh verdammt noch mal dran, flehte sie innerlich. Gerade als sie auflegen wollte, hob Adrian ab.
„Hallo Annika“, meldete er sich.
„Wo bist du?“, fuhr sie ihn wie aus der Pistole geschossen an.
„Annika, was soll das? Was ist los? Ich fahr’ Taxi. Das ist mein Job. Ich verdiene damit meinen Lebensunterhalt. Das weißt du.“
„Wann kommst du nach Hause?“, drang sie in ihn.
„Keine Ahnung, ich hab gleich noch eine Fahrt, weiß nicht. So um Mitternacht vielleicht“, stotterte er. „Annika, was willst du?“
Sie spürte, wie er sich bedrängt fühlte. Und sie wusste, dass es falsch war, ihn ständig dazu zu zwingen, sich für einen Job zu rechtfertigen, der ihm offensichtlich Spaß machte. Doch sie konnte nicht anders, es musste jetzt raus. Etwas, das sich in ihr seit langer Zeit aufgestaut hatte. Immer schneller reihte sie Vorwurf an Vorwurf. Und doch konnte sie sich nicht bremsen.
„Annika, was willst du?“, fuhr er sie ungehalten an.
Genervt schaute er auf sein Handy, als sie zur üblichen Tirade, wieso, weshalb, warum ansetzte. Um dann grundsätzlich ihre Beziehung in Frage zu stellen. Adrian hörte schweigend zu und war gefühlsmäßig Lichtjahre von ihr entfernt. Warum konnte sie verdammt noch mal nichtm respektieren, dass das, was sie von ihm forderte, nicht seine Welt war? Ihn nervte ihre Stimme, die wie Sissi, wenn sie schlecht gelaunt war, im Stakkato Vorwurf an Vorwurf reihte.
„Liebst du mich?“, fragte sie plötzlich.
Und dann hörte sie ihn auf einmal ganz ruhig „Nein“ sagen. Annika schrie tief verletzt auf.
„Annika, warte. So war das nicht gemeint“, wollte er sie beschwichtigen. Doch sie schluchzte und ihre Stimme überschlug sich hysterisch. Sein „Nein“ hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. „Warum willst du was anderes aus mir machen als das, was ich bin? Warum? Wer gibt dir das Recht dazu?“
„Ich will dir helfen.“ Annika weinte jetzt hemmungslos. „Ich will, dass wir glücklich werden. Ich weiß, dass es funktioniert, wenn wir es beide wollen.“
Adrian warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war zwei Minuten vor zehn.
„Scheiße“, entfuhr es ihm.
„Bist du nicht mehr ganz richtig?“ Wütend überschlug sich ihre Stimme. „Scher dich zum Teufel!“

4

Durch den Streit mit Annika hatte Adrian Karls Auftrag völlig vergessen. Zornig warf er sein Handy auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Das wird verdammt knapp, hörte er sich innerlich fluchen. Ausgerechnet beim ersten Mal so eine bescheuerte Panne. Er war sonst immer pünktlich. Wo war nur der verdammte Zettel mit der Anschrift? Mit der rechten Hand tastete er auf dem Beifahrersitz nach dem Fetzen Papier, während er den Wagen auf deutlich über 50 Stundenkilometer beschleunigte.
An der Mönchhofstraße sprang die Ampel plötzlich auf Rot. Mit quietschenden Bremsen kann der Wagen auf dem nassen Asphalt vor der Haltelinie zum Stehen. Das Motorola schoss vom Beifahrersitz. Adrian fluchte. Heute war absolut nicht sein Tag.
Grün. Einsam und viel zu schnell jagte der Mercedes über die regennasse Mainzer Landstraße nach Griesheim. Als er in die Elektronstraße einbog, war er mindestens fünfzehn Minuten zu spät. Eine gefühlte Ewigkeit. Hausnummer 50, Sander. Er drückte die Klingel. Die Gegensprechanlage sprang sofort an.
„Karl, wo bleibst du? Du bist absolut zu spät! Du weißt, dass du pünktlich sein musst!“
Adrian durchzuckten die Worte wie ein Blitz. Er wollte antworten. Doch seine Stimme versagte. Wie ein abgekanzelter Schuljunge stand er vor der Eingangstür eines hässlichen, dreigeschossigen Mietshauses aus den sechziger Jahren. Dann hörte er hastige Schritte im Treppenhaus. Ruckartig wurde die Haustür von innen aufgerissen. Adrian prallte zurück.
Die Frau in der Tür stutzte.
„Wo ist Karl?“
Adrian senkte schuldbewusst den Kopf.
„Karl ist krank. Ich soll Sie fahren.“
Die Frau im schwarzen Mantel zögerte. Dann musterte sie ihn aufmerksam von Kopf bis Fuß.
Adrian fühlte sich ihrem Röntgenblick völlig ausgeliefert. Sehnsüchtig wünschte er sich seine Zigaretten herbei. Doch die Schachtel lag Lichtjahre entfernt im Taxi. Er schaute hoch, und sein Blick traf auf zwei große graublaue Augen, die ihn hellwach von Kopf bis Fuß rasterten.
Erst als die Stille durch ein weit entferntes Telefonklingeln unterbrochen wurde, ließ Adrians Schockstarre nach. Annika, schoss es ihm durch den Kopf, und er drehte sich zum Taxi um. Die Frau musterte ihn spöttisch. Unschlüssig blieb er stehen.
„Wo soll ich Sie hinfahren?“ Unsicher schaute er zu ihr.
„Wie wäre es mit einer Reise in den Untergrund?“
Ihre Lippen umspielte ein amüsiertes Lächeln. Die Stimme der Frau traf Adrian mit voller Wucht. Ein Schauer rieselte seinen Rücken herunter.
„Ist Ihnen kalt?“, fragte sie kühl und ging, ohne die Antwort abzuwarten, an Adrian vorbei zum Taxi. Dort blieb sie stehen.
„Wollen Sie mir nicht die Tür aufhalten?“ Ihrem fordernden Unterton hatte Adrian nichts entgegenzusetzen, ihre Frage duldete keinen Widerspruch.
Flink eilte er zum Taxi und riss die hintere Wagentür auf. Als sie sich setzte und lasziv die Beine übereinanderschlug, umfing ihn für einen Moment ein Hauch von Prada. Verwirrt schaute er zu der Frau herab. Warum irritierte ihn diese Unbekannte so maßlos? Er war sich hundert-, nein tausendprozentig sicher, sie nie zuvor gesehen zu haben. Trotzdem kam es ihm vor, als hätte er ein Déjà-vu.
Was konnte es nur sein? An das trostlose Wohnhaus aus den sechziger Jahren mitten in Griesheim hätte er sich sicher erinnert; er vergaß selten eine Adresse. Für die Frau galt das Gleiche.
Adrian stieg in den Mercedes und drehte sich zu ihr um.
„Hat die Unterwelt auch einen Straßennamen?“
Er wollte ironisch wirken, doch seine Stimme klang völlig verunsichert.
Die Frau lachte.
„Fahren Sie mich zum Niederräder Klärwerk. Haupttor. Und bitte beeilen Sie sich. Ich bin schon mindestens eine Viertelstunde zu spät.“
Adrian griff zum Taxameter.
„Was soll das?“, fuhr sie ihn schroff an.
Irritiert schaute er in den Rückspiegel. Ihr durchdringender Blick duldete keinen Widerspruch.
„Ich zahle morgen früh. Das ist so mit Karl vereinbart. Ich setze natürlich Ihr Einverständnis in die bestehenden Geschäftsbedingungen voraus.“
Die Ansage war kühl und klar. Adrian nickte und startete den Motor.
„Rauchen Sie?“, fragte er, nachdem sie ein paar Meter gefahren waren.
„Nein. Warum? Rauchen Sie?“
Er nickte und blickte auf die Mainzer Landstraße. Niemals zuvor hatte er in so durchdringende und wache Augen geschaut. Er fühlte sich wie unter einem hochauflösenden Röntgengerät. Was natürlich Quatsch war. Trotzdem lag in den Augen der Frau etwas, das ihn an Voodoo und Magie erinnerte. Schweigend fuhr Adrian über die Mainzer Landstraße. In Höhe des Ordnungsamtes wagte er einen vorsichtigen Blick in den Rückspiegel. Sie telefonierte mit leiser Stimme. An ihrem Handy klimperte ein zierliches Amulett. Wie diese japanischen Glücksbringer, mit denen Jugendliche ihre Mobiltelefone zu individualisieren pflegten. Das Pandora-Armband an ihrem Handgelenk war ausgesprochen geschmackvoll zusammengestellt. Annika schwärmte von dieser Art Schmuck, doch er konnte es sich nicht leisten, ihr diesen ausgefallenen Wunsch zu erfüllen.
Die glänzenden, dunklen Haare der Frau waren streng nach hinten gekämmt und hochgesteckt. Als sie für einen Moment die Augen schloss, um sich auf das Telefonat zu konzentrieren, schmiegten sich ihre Wimpern wie ein Seidenvorhang auf ihre Wangen. Der schön geschwungene Mund war perfekt geschminkt. Wie alt mochte sie sein? Ende dreißig, Anfang vierzig vielleicht?
„Nein, nein, ich bin in zehn Minuten da. Der Taxifahrer hat’s verpeilt. Kein Problem. … Dann dreh mit Patricia die Szene im Aquarium. Nein, der Techniker hat die Elektrik gecheckt, die Verkabelung ist neu. … Nein. … Nein, keine Sorge. Mit Frau Dr. Brückner ist wie immer alles vereinbart. Ich zahle am Mittwoch. … Ja. … Ja, ich dich auch.“
Als sie auflegte, schaute sie ihm unvermittelt über den Rückspiegel in die Augen. Adrian fühlte sich ertappt. Spöttisch schob sie ihre rote Unterlippe nach vorn.
„Belauschen Sie immer Ihre Fahrgäste?“ Hart und unvermittelt herrschte sie ihn an.
Adrian schüttelte verneinend den Kopf. Schamröte stieg in ihm auf. Warum, verdammt noch mal, warum hatten dieser Blick und diese Stimme so eine Macht über ihn?
Monoton rauschten die Anund Abmeldungen der Taxikollegen durch den Äther. Sissi verteilte aus der Zentrale die spärlichen Aufträge dieser trüben Nacht. Irgendwie nervte Adrian die Monotonie ihrer Ansagen. Obwohl es von der Taxizentrale nicht gern gesehen war, drehte er den Lautstärkenregler herunter. Er wollte sich ganz auf die Stimme der Frau, die hinter ihm im Taxi saß, konzentrieren.
„Wie wäre es mit Musik?“, fragte sie in die sich dehnende Gesprächspause hinein.
„House?“, schlug er einsilbig vor.
Doch sie antwortete nicht und kramte suchend in ihrer Handtasche. Dann hörte er ein metallisches Klimpern, so als ob Kleingeld aus einem Portemonnaie auf die Fußmatte gefallen wäre. Adrian registrierte flüchtig, wie die Frau suchend auf den Boden schaute. Dann richtete sie sich auf und blickte nervös aus dem Fenster auf die langsam durch die Nacht vorbeigleitende Stadt.

5

Annika heulte, fluchte, trommelte mit den geballten Fäusten auf ihr Bett. Wie konnte sie nur so ungeschickt sein! Was war verdammt noch mal mit Adrian los? Seit Wochen, nein, seit Monaten immer nur Ausflüchte und Ausreden. Einmal waren es Termine mit Enzo, dann Besuche seiner Schwester. Beim nächsten Mal der Sport. Und immer wieder der Taxijob. Wenn sie mit ihm über ihre Beziehung reden wollte, flüchtete er. Am Anfang in Ausreden. In letzter Zeit zunehmend aus der gemeinsamen Wohnung. Oder er hing die halbe Nacht vor seinem PC und duellierte sich mit virtuellen Zufallsbekanntschaften irgendwo auf diesem Planeten in Ego-Shooter-Spielen.
In ihren Augen war das eine planlose Vergeudung kostbarer Zeit. Wieder liefen ihr Tränen wie Sturzbäche über ihre Wangen. Morgen früh würde sie fürchterlich aussehen. Ihre Präsentation, auf die sie sich akribisch vorbereitet hatte, war im Eimer. In diesem Zustand würde sie beim besten Willen niemals Schlaf finden. Sie musste mit Adrian noch heute Nacht reden und sich irgendwie mit ihm versöhnen. Sonst würde sie verrückt werden. Ihr Handy lag noch immer auf ihrem Bett, wo sie es nach dem Wortgefecht wutentbrannt hingeworfen hatte. Keine SMS im Display. Adrian würde sich nicht entschuldigen, so gut kannte sie ihn. In ihr focht ihr Stolz unbarmherzig gegen ihr Reuegefühl.
Die Sehnsucht nach Adrian siegte letztendlich über die Vernunft. Seufzend angelte sie nach ihrem Telefon. Seit ihrem Streit war kaum mehr als eine Viertelstunde vergangen. Mit fliegenden Fingern tippte sie die Wahlwiederholung. Sie hörte das Freizeichen, einmal, zweimal, dreimal. Doch nichts passierte.
Auch nach dem zehnten Klingeln sprang die Mailbox nicht an. Adrian hatte, wie so oft, den Anrufbeantworter ausgeschaltet. Seine Mailbox abzuhören war ihm einfach zu lästig. Annika dagegen hatte permanent Angst, irgendetwas zu verpassen. Deshalb schaltete sie ihr Handy auch nachts nie aus.
Am Anfang ihrer Beziehung hatte Adrian ihr einmal das rosa Samsung mit einem süffisanten Lächeln entwunden.
„Sag mir, was fasziniert euch Frauen so wahnsinnig an dieser elektronischen Fußfessel? Warum seid ihr bereit, euch von dieser Technologie so versklaven zu lassen?“
Annika hatte die Frage überrumpelt. Sie hatte sich ertappt gefühlt.
Ratlos stand sie im Schlafzimmer. Wahrscheinlich war Adrian ja wirklich mit einem Fahrgast unterwegs und konnte deshalb nicht telefonieren. Wenn sie die ISDN-Kennung ihres Handys unterdrücken würde, könnte sie ihn vielleicht als „unbekannter Teilnehmer“ überrumpeln. Adrian hasste solche Manöver noch mehr als ihre „normalen“ Überraschungsanrufe. Aber es war wohl ihre letzte Gelegenheit, ihn heute Nacht noch einmal zu sprechen.
„Gib ihm eine Chance und warte“, beschwichtigte sie ihre innere Stimme. Vielleicht ruft er ja doch noch an.

6

„Was wollen Sie mitten in der Nacht im Niederräder Klärwerk?“ Er hatte den Satz noch nicht beendet, da spürte er die Peinlichkeit seiner Neugier.