Totengräbers Tochter - Hanna Hartmann - E-Book

Totengräbers Tochter E-Book

Hanna Hartmann

4,4

Beschreibung

Jack arbeitet am Airport und ist tief in den internationalen Drogenhandel verstrickt. Doch er kommt über den Tod seiner Freundin Rena nicht hinweg. Als er aus dem Geschäft mit Kokain aussteigen will, stehen ihm nicht nur seine Auftraggeber, sondern auch grimmig entschlossene Fluglärmgegner von den Montagsdemos im Wege. "Es war längst zu spät, um den Film in seinem Kopf zu stoppen. Der Wind trug das dumpfe Grollen der Schubumkehr über die Baumwipfel. Für den späten Nachmittag hatte der Wetterdienst in Offenbach eine Unwetterwarnung herausgegeben. Der Horror-Tag in Bogota damals, als seine Freundin Rena starb, hatte auch mit einem Gewitter begonnen. Jack schauderte." Als ein heftiges Gewitter den Flughafen lahmlegt und die Zollbeamten in der Ankunftshalle auf eine Leiche stoßen, kommt es zu einer folgenschweren Eskalation.Im dritten Frankfurt-Krimi von Hanna Hartmann, in dem wie immer Kommissarin Edith Tannhäuser ermittelt, dreht sich diesmal alles um den Frankfurter Flughafen.

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Hanna Hartmann
Totengräbers Tochter
Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2017 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagsabbildung: © simone.zander - photocase.de
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-278-3
Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

EINS

Als der Schatten über ihn glitt, zuckte Jack erschrocken zusammen. Wie ein riesiger Greifvogel hatte der Airbus weit vor dem Stadionbad zum Anflug auf die Landebahn Nordwest angesetzt. Um plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, auf sein argloses Opfer hinabzustoßen.
Blinzelnd schob Jack die beschlagene Schwimmbrille nach oben. Irritiert verfolgten seine graugrünen Augen den silbernen Jet, der mit pfeifenden Tragflächen über die Wipfel der alten Eichen des Sportgeländes Richtung Frankfurter Flughafen entschwand.
„Arschbombe, Arschbombe“, johlte eine Gruppe wild gestikulierender Jugendlicher unter dem Zehnmeterturm des geschichtsträchtigen Frankfurter Freibades. Oben auf der Plattform stand ein dunkelhaariger schlaksiger Junge, den offensichtlich der Mut verlassen hatte.
„Mutti kann dir jetzt nicht helfen!“, kreischte eine sich schrill überschlagende Stimme aus der grölenden Meute.
„Spring endlich!“
Der Bademeister auf dem Turm machte eine aufmunternde Geste zu dem zögernden Springer am Rand und rief gleichzeitig etwas nach unten, was Jack im Schwimmerbecken leider nicht verstehen konnte. Auch, weil direkt über ihm eine 767 der Condor laut rumpelnd ihr Fahrwerk ausfuhr. Die Triebwerke jaulten, dann sank der Jet Richtung Horizont, wo sich gerade eine dicke Kumuluswolke aufzupumpen begann.
Jack schloss die Lider. Doch es war zu spät, um den Film, der seit Monaten wie in einer Endlosschleife wieder und wieder in seinem Kopf ablief, noch zu stoppen. Damals, vor mehr als drei Jahren, hatte der Morgen mit Rena in Bogotá auch mit einem tropischen Gewitter begonnen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass dieser brütend heiße Tag Stunden später an Bord der 747 in einer Katastrophe enden würde.
Immer wieder schob sich seitdem das Bild seiner schönen Freundin spontan vor sein inneres Auge. Zum Beispiel, wenn der Pilot auf einem seiner Kurierflüge für die First-Class-Luggage im Landeanflug die Triebwerke drosselte. Oder ihn das Ausfahren der Fahrwerkklappen kurz vor der Landung abrupt aus seinen Gedanken riss. Dann sah er ihre riesigen, in panischer Angst geweiteten rehbraunen Augen, die ihn verzweifelt um Beistand anflehten. Während über ihre blutroten Lippen schaumiger Speichel und unzusammenhängende Wortfetzen gurgelten.
Der größte Fehler, den Rena in ihrem kurzen Leben gemacht hatte, war, ihm zu vertrauen. Und zu glauben, dass Drogenschmuggel im Körper absolut ungefährlich sei. Dass man die mit Kokain gefüllten Fingerlinge nur runterschlucken und während des Flugs auf Essen und Trinken verzichten müsse. Und dass, wenn man sich dieser speziellen Luftfracht am Ziel entledigt habe, man viele Monate sorgenfrei auf einer Trauminsel am Strand würde leben können.
Rena hatte den Sand unter ihren Füßen, das Meeresrauschen, den Sonnenuntergang in der Karibik, einfach all die Orte auf der Welt, wo das Leben wie im Paradies war, geliebt. Und für ihren Traum die mit Wachs verschweißten Kügelchen widerspruchslos geschluckt. Eine nach der anderen.
In Bogotá war noch alles nach Plan verlaufen und sie waren ohne Probleme an Bord gegangen. Bis sie sich mitten in der Nacht plötzlich in heftigen Krämpfen an ihn gekrallt hatte. Er merkte, wie ihr Herz raste. Irgendwie hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst, als Rena der überrumpelten Stewardess in der von kaltem Neonlicht beleuchteten Bordküche mit den Worten „Entschuldigung, der Frau geht’s schlecht“ wie lästigen Ballast zu überlassen.
Bis heute spürte er die ungläubige Verzweiflung in seinem Nacken, als er mit gesenktem Haupt durch die abgedunkelte Kabine schuldbewusst zu seinem Sitzplatz zurückschlich. Und die Frau, die ihn liebte, auf dem klebrigen Linoleumboden eines voll besetzten Jumbos ihren grauenhaften Bauchkrämpfen überließ. Noch immer hörte er diesen furchtbaren Schrei, der nach todgeweihtem Tier klang. Dann splitterte Glas, und eine zittrige Stimme rief über den Bordlautsprecher panisch nach einem Arzt. Jack schloss die Augen. Kein Mediziner dieser Welt würde Rena jetzt noch retten können. Sie würde sterben, hier oben, zehntausend Meter über dem Atlantik. Wobei sie nicht einfach so sterben würde. Nein, sie würde elendig krepieren. Ohne den Hauch einer Chance. Das Kokain würde ihren Kreislauf antreiben, schneller und immer schneller. Bis die Organe versagen würden. Hier oben, hinter einem verknitterten Jersey-Vorhang in einem bis auf den letzten Platz ausgebuchten Jet.
Wie viel Zeit würde ihr noch bleiben? Lissabon war für eine Notlandung noch viel zu weit entfernt. Jack kniff die Augen zusammen, um im Halbdunkeln die Zeiger seiner Uhr zu entziffern. Fünfzehn Minuten? Zwanzig? Vorsichtig drückte er die Jalousie im ovalen Fensterrahmen nach oben. Über ihm funkelte ein unendliches Sternenmeer. Selbst wenn es hier oben einen Gott gäbe, wäre Rena verloren.
Wie oft hatte er sich später für seine Feigheit und überstürzte Flucht aus der Verantwortung verflucht. Immer wenn auf seinen Kurierflügen der Sitz neben ihm frei blieb, mahnte der leere Platz seinen ungesühnten Verrat an. Später holten ihn die Schuldgefühle bereits dann ein, wenn die Landeklappen knirschend eingefahren wurden.
Je länger Jack für das Geschäft mit den Drogen um die Welt jettete, umso deutlicher verspürte er diese tiefe, nicht wieder gutzumachende Schuld. Er hatte versagt. Auch der Wechsel vom Kurier aufs Vorfeld, um die hereinkommende Drogenfracht der FCL diskret unter dem Radar des Frankfurter Zolls abzuwickeln, entließ ihn nicht mehr aus seinem selbst verschuldeten Gedankengefängnis.
Er hatte damals der Polizei nach der Landung in Frankfurt zwar glaubhaft versichern können, dass die Frau nur eine Zufallsbekanntschaft gewesen sei, die er erst beim Abflug am El Dorado International kennengelernt habe. Aber sein Gewissen revoltierte jeden Tag mehr gegen diese Lüge.
Nachdenklich schaute er zum Zehnmeterturm, wo der schlaksige Junge noch immer völlig verunsichert am Geländer lehnte und zögerlich die Distanz bis zum Aufprall auf der Wasseroberfläche taxierte. Unter ihm tobte erbarmungslos der Mob.
„Spring, du feige Nuss!“, schrie ein bulliger Junge mit modischem Undercut und schlug sich dabei mit der flachen Hand hart auf die glatt rasierte und mit kyrillischen Tattoos übersäte Brust. Ein Mädchen im knappen Glitzerbikini hielt triumphierend ihr Handy hoch, um die wenig schmeichelhafte Szene zu filmen.
„Du bist gerade live auf Facebook!“, kreischte sie hämisch.
Der Wind trug das dumpfe Grollen der Schubumkehr einer Maschine über die Baumwipfel. Für den späten Nachmittag hatte der Wetterdienst in Offenbach eine Unwetterwarnung herausgegeben.
Jack schauderte. Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken. Energisch stieß er sich vom Beckenrand ab und kraulte ein paar Züge. Im Wasser konnte er früher immer zuverlässig die Gespenster der Vergangenheit abschütteln. Das hielt dann zumindest für zwei oder drei Tage an. Wenn auch das nicht mehr half, ertränkte er seine Schuldgefühle in Bier. Oder Gin Tonic. Doch der Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart wurde nicht größer, sondern Woche für Woche kleiner.
„Die Einschläge kommen näher“, hatte er seinem Betriebsarzt beim letzten Gesundheitscheck düster prophezeit, nachdem dieser ihn kopfschüttelnd mit seinen miserablen Werten konfrontiert hatte.
„Ich kann Ihnen nur dringend empfehlen, endlich Konsequenzen zu ziehen, Herr Janzon!“, hatte der Mediziner gesagt und ohne aufzublicken auf die Tastatur des Computers getippt. „Sie wissen, dass wir Sie unterstützen, wenn Sie dem Entzug zustimmen. Soll ich Sie krankschreiben?“
Doch Jack hatte dankend abgelehnt. Er brauchte keine Hilfe. Wenn sich heute Abend die Türen des Airbus nach Istanbul hinter Edward schließen würden, würde alles gut werden. Diesmal würde er sich nicht mehr überreden lassen, im Drogengeschäft der FCL weiter mitzumachen. Heute war Schluss. Er wollte sich nicht mehr jede Nacht den Kopf zermartern. Sein Weg und der des Amerikaners würden sich für immer trennen. Klar würde Ed wieder mit den Konsequenzen der „Organisation“ auf der anderen Seite des Atlantiks drohen. Doch das machte ihm keine Angst mehr. Es wäre die gerechte Strafe für das, was er Rena angetan hatte. Wenn er heute aussteigen würde, dann hätte er zumindest eine realistische Chance, seinen Seelenfrieden wiederzufinden.
Als Jack sich am Ende der 50-Meter-Bahn umdrehte und mit zusammengekniffenen Augen den Sprungturm im blendenden Gegenlicht fixierte, war der Junge auf der Plattform verschwunden.

ZWEI

Gertrud hatte den Flughafen schon immer gehasst. Aber ganz besonders hasste sie ihn, seitdem die Landebahn Nordwest eröffnet worden war. Für sie war der Airport eine wuchernde Krake, die die wehrlosen Menschen mit ihren unablässig nachwachsenden Tentakeln aus Start- und Landebahnen im mitleidlosen Würgegriff gefangen hielt.
Gott sei Dank verstanden Alexandra, Lula Mae und Carolin ihre Gefühle, wenn sich ihre Hilflosigkeit in unbändigen Zorn verwandelte, der sich bei den Montagsdemos am Flughafen lautstark entlud. Wann immer sie gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen „Die Bahn muss weg“ skandierte, empfand sie sich als untrennbaren Teil einer eingeschworenen Schicksalsgemeinschaft.
Sie hatte aber noch ein zweites Ventil für ihre Wut. Gestern Abend, nachdem Bernhard wie jeden Sonntag in den Sprinter nach Berlin gestiegen war, hatte sie ihrem abgrundtiefen Hass bis weit nach Mitternacht im „Forum gegen Fluglärm“ hemmungslos freien Lauf gelassen. Bis der senile „Käpt’n Kirk“ – wie so oft – „Mäßigung“ angemahnt hatte. Sie schade den Interessen der Fluglärmopfer, wenn sie aus falsch verstandenem Eifer wahrheitswidrige Behauptungen verbreiten und Persönlichkeitsrechte verletzen würde. Da war Gertrud geplatzt. Wer hatte bitte schön beim Flughafenausbau auf ihre Persönlichkeitsrechte Rücksicht genommen? Wer??? Na bitte!!! Genau wie ihr Vater, der, wenn er vom Friedhof heimgekommen war, keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse seiner Familie genommen hatte. Um seinen Suff, ja! Darum hatte sich der alte Totengräber zuverlässig gekümmert. Und ums Geld fürs Kartenspiel mit seinen tumben Saufkumpanen, mit denen er sich Abend für Abend an der Trinkhalle in der Teplitz-Schönauer zum Palaver verabredete. Nur wenn er auf der Suche nach einem Sündenbock für seine Launen war, erinnerte er sich sehr zuverlässig an seine Familie. Dann nutzte es auch nichts, sich die Ohren zuzuhalten, um die Schreie der Mutter auszublenden, die vergeblich versuchte, den Attacken ihres durch den Alkohol völlig enthemmten Gatten zu entkommen. Doch die verräterischen Spuren der Misshandlungen ließen sich nicht wirklich vor der klatschsüchtigen Nachbarschaft verbergen. Wann immer die Situation unerträglich wurde, flüchtete Gertrud in den umzäunten Schrebergarten hinten am Bahndamm. Obwohl ihre Mutter stets beklagte, dass sie der hohe Stacheldraht, den die Genossenschaft um die Parzelle gezogen hatte, an die Lager der Nationalsozialisten erinnere.
Im eigenen Grün im Kleingartenverein hatte Gertrud später immer zuverlässig Entspannung gefunden, wenn sie Ärger mit ihrem Mann hatte oder sie die Albträume ihrer Kindheit einholten. Bis zu diesem grauenhaften Tag im Oktober 2011, als die neue Landebahn eröffnet wurde und die Flugzeuge ihr Idyll zerfetzten. Wenn die Jets ab fünf Uhr morgens mit 80 Dezibel in 250 Metern Höhe über die Siedlung rauschten, fühlte sich das für sie wie Folter an. Der Krach versetzte sie zurück in die Zeit, als sie den Wutausbrüchen ihres Vaters schutzlos ausgeliefert war. Doch seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts war auch ihr klar, dass es aus dem Lärmterror so schnell kein Entrinnen mehr geben würde.
Als sich der Fahrwerksschacht des Airbus über ihrem Kopf öffnete, reckte sie wütend die knatternde Kettensäge, mit der sie gerade der wild über den Weg wuchernden Brombeerhecke Einhalt geboten hatte, gen Himmel. Das Einschreiben vom Vorstand des Kleingartenvereins, verbunden mit der heuchlerischen Frage, ob sie mit ihrem Grundstück nicht heillos überfordert sei, war eine bodenlose Frechheit. Warum wollten diese kleingeistigen Vereinsmeier nicht kapieren, dass ihr aller Leben durch etwas viel Größeres bedroht war als durch ein paar popelige Brombeerhecken? Und natürlich konnte sie die Arbeit, die ihr der Garten machte, locker bewältigen.
Kreischend riss das schwere Gerät eine tiefe Schneise in das dornige Gestrüpp. Vermutlich hatte der opportunistische Kassierer, der sie noch nie leiden konnte, einen potenteren Interessenten für ihr wunderschönes Grün an der Hand. Und ganz sicher hatte der den Vorstand kräftig geschmiert, damit dieser sich jetzt schamlos an ihren Garten heranwanzen konnte. Ausgerechnet jetzt, wo sie all ihre Ressourcen für den Kampf gegen den Fluglärm benötigte, fielen ihr diese niederträchtigen Verräter heimtückisch in den Rücken. Warum konnten diese Kleingeister nicht verstehen, dass die Fluglärmgruppe im Internet gerade jetzt ihre tausendprozentige Aufmerksamkeit erforderte?
Sie war sich sicher, dass das ganze Schmierentheater eine billige Abrechnung mit ihrem Mann war, der sich als Vorsitzender für den Verein unermüdlich aufgeopfert hatte. Bis ihn diese hinterfotzigen Sektierer ohne Aussprache in einer kurzfristig einberufenen Mitgliederversammlung abgewählt hatten. Bernhard war am Boden zerstört gewesen. Das sei alles ihre Schuld, hatte er sie auf dem Nachhauseweg verbittert getadelt. Weil sie mit ihrer Streitsüchtigkeit als „Frau Vorsitzende“ wirklich jeden in der Anlage, der sich traute, gegen sie aufzumucken, heruntergeputzt hatte.
Sie! Ausgerechnet sie! Streitsüchtig! Was für ein Unsinn! Ohne die Eröffnung der Nordwestbahn hätte sie diese Scharte gegen ihre Familie im Kleingartenverein längst ausgewetzt. Jetzt aber waren ihr die Hände gebunden.
Schwitzend pustete sie eine fettige Haarsträhne aus der von einer tiefen Zickzacknarbe gezeichneten Stirn. Dass diese fiesen Kleingärtner sie nötigten, sich bei 30 Grad im Schatten mit dieser widerspenstigen Dornenhecke abzuplagen, würde definitiv ein Nachspiel haben. Doch alles zu seiner Zeit, beruhigte sich Gertrud, alles zu seiner Zeit.
Erst würde sie die Geschichte des Flughafenausbaus, die vor Desinformationen, Wortbrüchen, Täuschungen und Unwahrheiten nur so strotzte, penibel im Internet aufarbeiten. Das hatte vor der anstehenden Wahl allerhöchste Priorität. Und nach der Wahl würde sie dann genüsslich mit diesen dusseligen Spießern im Vereinsheim abrechnen.
Ihr Kampf gegen den Fluglärm sei sicher „löblich“, hatte ihr der Schriftführer auf ihren Einspruch hin per Einschreiben mitgeteilt. „Nichtsdestotrotz, verehrte Frau Bollmann, muss die Brombeerhecke bis spätestens Montag, den 19. August, auf das Maß zurückgestutzt sein, wie dies in den Richtlinien unserer Satzung eindeutig geregelt ist.“ Wenn möglich an einem Werktag zwischen 15 und 18 Uhr. Damit die Ruhezeiten der Anlage, „die uns ja allen sehr am Herzen liegt“, eingehalten würden.
In Gertrud brodelte es. Was waren das nur für schlichte Gemüter! Seit der Eröffnung der Landebahn tobte von fünf Uhr morgens bis elf Uhr nachts der totale Luftkrieg über der Kleingartenanlage. Und dieser Vorstand aus geistigen Tieffliegern erdreistete sich, ihr die Einhaltung der Mittagsruhe ans Herz zu legen! Sie würde diese unwürdigen Lurche bei der nächsten Mitgliederversammlung rücksichtlos zertrampeln. Die würden nie wieder so dumme Briefe schreiben.
Der Hinweis im Einschreiben, beim Abholzen der Hecke das Wurzelwerk sachgerecht zu entfernen und die verholzten Rankenstücke im kommenden Winter im Kamin ihrer Laube „unter Beachtung der behördlichen Vorschriften“ zu verbrennen, hatte Gertrud endgültig in Rage versetzt. Falls sie der Fristsetzung nicht nachkomme, werde man ihr den Garten wegen Verletzung ihrer vertraglichen Pflichten außervertraglich zum Monatsende kündigen. Was der Vorstand des Kleingartenvereins natürlich „zutiefst bedauern würde“.
Der Motor stotterte. Wütend schüttelte Gertrud die Kettensäge, damit Benzin nachlief. Irgendwie schien sich die ganze Welt gegen sie verschworen zu haben. Was hatte Alexandra vorhin so beiläufig am Telefon bemerkt? Dass der Orleander sich über ihren nächtlichen Beitrag auf Facebook lustig gemacht habe? Dieser Journalist von der Frankfurter Presse war ein Kretin, der sich symbiotisch an ihre Freundin krallte, um sie auf der Suche nach Informationen über die Fluglärmgegner hemmungslos auszusaugen.
In dem Moment schnellte eine der langen, verhakten Brombeerranken zurück. Tief bohrten sich die harten Dornen durch das dünne Nylon ihrer Bluse in ihren Unterarm. Blut tropfte zischend auf den Motorblock. Gertrud wollte vor Schmerz aufschreien. Doch dann presste sie ihre spröden Lippen fest auf­einander. Tränen schossen ihr in die Augen. Nichts würde sie je wieder kleinkriegen. Mit einem Ruck riss sie die Dornen aus der von braunen Altersflecken gezeichneten Haut. In dem Moment drosselte direkt über ihr eine 737 die Triebwerke.

DREI

Überrascht schaute Stefan Weber auf, als Edith schnaufend in ihren abgewetzten Ledersessel sank. Unwirsch schüttelte die Mittfünfzigerin ihre braunen Locken, während ihr der Schweiß in Strömen in den Nacken rann.
„Es ist viel zu heiß“, japste die Kommissarin.
„Es ist Sommer“, bemerkte Stefan lakonisch und verschränkte die Arme lässig hinter dem Kopf.
„Hast du nicht frei?“
„Sissis Flug hat zwölf Stunden Verspätung“, nuschelte Edith unwirsch und versuchte vergeblich, den heftigen Schweißausbruch mit einem Taschentuch zu stoppen. „Zwölf Stunden! Unfassbar!“
Der Kommissar winkte ab. „Worüber regst du dich eigentlich auf?“
„Ich? Ich rege mich auf??? Wie kommst du denn darauf?“ Die Nasenflügel von Edith Tannhäuser bebten vor Empörung.
Ihr Kollege lehnte sich ironisch grinsend zurück.
„Es ist mir unbegreiflich, warum Sissi ausgerechnet im Sommer Urlaub in Thailand macht. Wo es in Frankfurt mindestens so heiß ist wie in Bangkok. So etwas würde mir im Traum nicht einfallen.“ Kopfschüttelnd runzelte sie die Stirn.
„Steht halt nicht jeder auf Pinguine am Südpol streicheln“, frotzelte der Kommissar. „Meine Güte, Edith, wo ist dein Problem?“
„Mein Problem? Mein Problem ist, dass ich Sissis Wohnungsschlüssel habe“, gab die Kommissarin genervt zurück.
Missmutig blinzelte sie durch die Schlitze der heruntergelassenen Jalousie auf die Adickesallee, wo die flirrende Hitze über dem kochend heißen Asphalt waberte.
Der Kommissar grinste.
„Sorry, Edith, aber du bist echt putzig. Deine Freundin ist Chefin der größten Frankfurter Taxizentrale. Und dann bestellt sie dich morgens um sechs zum Abholservice an den Flughafen, statt sich ein Taxi aus ihrem eigenen Fuhrpark zu ordern? Wirklich logisch ist das nicht.“
Edith ignorierte die Bemerkung ihres Kollegen und wühlte hektisch in ihrer Handtasche.
„Das verstehst du nicht“, fauchte sie mit hochrotem Kopf zurück.
„Jetzt weiß ich zumindest, was ich am Wochenende nicht vermisst habe“, konterte der Kommissar konsterniert.
Edith stutzte einen Moment, dann musterte sie den Mann gegenüber mit einem ergebenen Seufzer.
„Sissi soll heute Abend um sechs landen. Haben die am Infoschalter gesagt. Gab wohl Triebwerkprobleme mit dem Airbus.“
„Das heißt, du bist schon am Flughafen gewesen?“ Stefan Weber runzelte ungläubig die Stirn.
„Was glaubst du, warum ich hier so aufgeweicht eintrudele? Weil es nichts Schöneres gibt, als bei 30 Grad im Schatten durch Frankfurt zu düsen. Bist du heute schon mal außerhalb des Radius deiner Klimaanlage gewesen?“
Für einen Moment wirkte der Kommissar frustriert.
„Warum hast du nicht im Internet nachgeschaut, ob die Maschine von Sissi pünktlich ist?“
Edith tat, als ob sie die Frage überhört habe.
„Hast du eigentlich eine Ahnung, auf welche Höllenfahrten die Deutsche Bahn einen bei solchen Temperaturen schickt? In der S8 war die Klimaanlage defekt! Ganz zu schweigen von den kreuz und quer stehenden Koffern im Gang. Und last but not least…“, Edith hob warnend den Zeigefinger, „der Zug war verspätet!“
Langsam nahm die Kommissarin Fahrt auf.
„Da baut diese Stadt Dutzende neuer Hochhäuser mit allem erdenklichen Hightech-Schnickschnack. Und leistet sich in Sichtweite des internationalen Bankenviertels einen Weltflughafen. Aber um hinzukommen, wird man wie Schlachtvieh in seit bestimmt 30 Jahren abgeschriebene Waggons gepfercht. Was glaubt eigentlich dieser Herr Grube, wen er bei dieser Hitze transportiert? Wüstenechsen?“ Sichtlich verstimmt knallte sie ihren Kugelschreiber auf die Tastatur ihres PCs.
„Nachher soll’s Gewitter geben“, bemerkte Stefan lakonisch und griff zur Wasserflasche. „Übrigens, die Fluglärmgegner nehmen heute Abend ihre Montagsdemos im Terminal wieder auf. Steht in der Frankfurter Presse.“
„Fluglärm macht krank“, antwortete Edith und rieb sich die leicht pochende Schläfe.
„Hast du den Bericht ‚Auf dem Frankfurter Lerchesberg wächst die Wut‘ in der Rundschau schon gelesen?“
Langsam fuhr der Kommissar mit dem Zeiger seiner Maus über den Monitor. „Natürlich habe er keine Kontakte zu Al-Qaida, sagt hier so ein Zahnarzt. Aber wenn er sie hätte: Es gebe oben das Zimmer mit den Dachfenstern… Da könnten die mit ihren Gewehren dann machen. Flugzeuge kämen ja genug.“
Für einen Moment schloss Edith seufzend ihre Augen. Dann wanderte ihr Blick durch die Lamellen ins strahlende Blau des Himmels über dem Frankfurter Polizeipräsidium.
„Sag ich doch“, nickte sie und schlug die als „vertraulich“ gezeichnete Postlaufmappe auf. „Fluglärm macht krank.“
„Was meinst du? Wird die CDU die Wahl in Frankfurt auch dann noch gewinnen, wenn ihr die Millionäre vom Lerchesberg die Gefolgschaft verweigern?“ Fragend musterte Stefan die Kommissarin, die wieder in den Aktenberg auf ihrem Schreibtisch vertieft war.
„Ist mir eigentlich egal, wer in Wiesbaden regiert“, zuckte sie mit den Achseln. „Das ändert an den Bergen von Papier auf meinem Schreibtisch auch nichts, oder? …Hast du meine Brille gesehen?“
Der Kommissar fuhr gedankenverloren mit dem Zeigefinger über den Bildschirm: „Der Doktor und seine Nachbarin haben mit Piloten gesprochen, die sie kennen, sie haben bei der Flugsicherung angerufen und bei Fraport, sie haben bei Rhein angefragt, bei Roth, bei Koch. Und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das System, mit dem sie immer gut gelebt haben, gar nicht das ist, für das sie es gehalten haben. Das Planfeststellungsverfahren sei eine Farce und die Mediation eine Lüge.“
„Willkommen auf der Erde“, erwiderte Edith und bedachte ihren Kollegen mit einem mitleidigen Lächeln.
„Tut mir leid, Stefan, aber mein Interesse an solch hochkomplexen Vorgängen hält sich heute Morgen in sehr engen Grenzen. Haben die Leute, die jetzt so heftig rumheulen, nicht genau diesen Zustand bei der letzten Landtagswahl mit ihren Stimmen kraftvoll herbeigewählt?“
Gedankenverloren klemmte sie sich eine verschwitzte Haarsträhne hinters Ohr. „Haben die ein Glück, dass sie im Rechtsstaat leben.“
Dann zog sie ruckartig die Schreibtischschublade auf. „Wo ist eigentlich Silke?“

VIER

Jack ist ein Problem.“
Edward wirkte angespannt, als seine stahlblauen Augen den Airbus der Lufthansa, der steil über das glitzernde Dach des Flughafens in das flirrende Blau des Himmels aufstieg, verfolgten.
Hinter den getönten Scheiben des Congress Centers war durch die leise surrende Klimaanlage nichts von der mörderischen Hitze draußen zu spüren.
Das Büro in Frankfurt, das Edward McDonnell auf seinen Flügen zwischen Amerika nach Afghanistan für Besprechungen reservierte, war sehr funktional. Doch er liebte die deutsche Effizienz. Außerdem konnte er hier ungestört telefonieren und vertrauliche Gespräche führen. Was eine der Voraussetzungen für seine Beratertätigkeit zur Drogenbekämpfung in Kabul war. Neben der notwendigen Entschlossenheit forderte sie auch immer ein Maximum an diplomatischem Fingerspitzengefühl von ihm.
„Wann kommst du zurück?“, fragte David und zappte gelangweilt zwischen den monoton dahinplätschernden Nachrichten von CNN und den hektischen Börsenkursen von Bloomberg hin und her.
Der kleine, drahtige Mann gegenüber zuckte lässig mit den Schultern. „Du kennst den Job. Und du kennst die politische Lage da unten“, entgegnete er kurz angebunden.
David nickte. Die beiden Männer schwiegen, bis Edward sich abrupt umdrehte.
„Jack will Schluss machen. Aussteigen. Er hat mir gesagt, dass heute sein letzter Tag ist.“
Ungläubig kniff David die Augen zusammen. „Machst du Witze? Man kann aus der First-Class-Luggage nicht wie aus jeder x-beliebigen Firma aussteigen! Warum will er denn den Job hinschmeißen?“
Der bullige Mann mit dem teuren, aber um die Hüften viel zu eng sitzenden Anzug und dem schlecht rasierten Kinn öffnete kichernd eine Flasche mit exquisitem italienischen Tafelwasser. „Diese Hitze ist die Hölle, Edward“, seufzte er gequält.
Edwards wachsamem Blick entging nicht, dass David widerwillig an der Sprudelflasche schnüffelte.
„Wo sollen wir denn von heute auf morgen jemanden finden, der mit dem Vorfeld und dem Koffersystem am Airport so vertraut ist wie Jack? …und noch dazu so zuverlässig!“, fuhr David aufgeregt fort. Angeekelt stellte er das Wasser zurück.
„Jack sagt, es sei alles eine Frage des Preises“, bemerkte Edward frostig. „Seit der Liberalisierung könnte man für die FCL überall Leute finden, man müsse sie nur anständig bezahlen.“
„Quatsch! Es ist nahezu ausgeschlossen, noch einmal so einen abgezockten Typen wie Jack zu finden!“
David zog das Wort „abgezockt“ in die Länge, wie man einen festgetretenen Kaugummi unter der Sohle von Lederschuhen vergeblich an einem Fußabtreter abzustreifen versucht.
„Dir ist schon klar, was die Zentrale von Jacks Idee hält?“
Edward hielt das auf Hochglanz polierte Whiskyglas in seiner Hand gegen die Sonne. Dann stieß er zielsicher mit der silbernen Zange in die Kristallschale mit Eis. Klirrend glitten die Würfel in die Cola light.
„Jeder ist käuflich, David. Jack hat recht, wenn er meint, dass das nur eine Frage des Preises ist!“
Der BlackBerry auf dem Tisch vibrierte.
„Willst du nicht rangehen?“, fragte David. Die Hände des aufgedunsenen Mannes zitterten. Doch Edward schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Das hat Zeit.“
„Wie hat Jack sich seinen Ausstieg denn vorgestellt? Dass wir eine Anzeige schalten?“
David führte seine Hand wie das Nachrichtenlaufband am New Yorker Times Square vor seinen Augen entlang. „Als modernes, serviceorientiertes Unternehmen im weltweiten Drogenhandel bieten wir Ihnen den perfekten Job zur kreativen Erweiterung Ihres Horizonts. Wenn Sie verschwiegen sind, Ihnen der Umgang mit Gefahrgütern nicht die geringsten Kopfschmerzen bereitet, Sie das zeitkritische Verladen sensibler Waren in einer hochkomplexen Gepäckanlage innovativ handhaben und Ihnen die Paragrafen des deutschen Luftsicherheitsgesetzes keine schlaflosen Nächte bereiten, dann sind Sie unser Mann! Oder unsere Frau!“
„Mach dich nicht lächerlich!“ Brüsk kanzelte Edward sein Gegenüber ab. Dann beobachtete er schweigend das Glas, in dem die Eiswürfel langsam zerschmolzen. „Jack sagt, der Gedanke an das Zeug mache ihn verrückt. Es sei ein moralisches Problem. Deshalb will er aussteigen.“
David stutzte.
„Was soll das denn? Den haben die zugedröhnten Zombies in der B-Ebene vom Frankfurter Hauptbahnhof doch noch nie gestört?“ Unwirsch zog der Mann mit dem teigigen Doppelkinn die Tür zur Minibar auf.
„Verdammt trockene Luft hier“, murmelte er, und ein verheißungsvolles Lächeln umspielte seine spröden Lippen.
„Musst du jetzt schon mittags trinken?“
Missbilligend drehte Edward David den Rücken zu. Sein Blick streifte das in der heißen Mittagssonne glitzernde Terminal. Die Hitze ließ den Asphalt der Landebahnen wie Wüstenpisten in der Sahara flimmern. Bei diesen Temperaturen im Minutentakt schweres Gepäck ein- und auszuladen, war ein ziemlich brutaler Job. Dazu der hochfrequente Lärm der Triebwerke gepaart mit dem penetranten Geruch von verbranntem Kerosin. Edward bewunderte immer wieder die logistische Meisterleistung, wenn eine Armada von Hubwagen einen 380er umstellte, um den Airbus wieselflink auszuweiden, damit er nach einer Stunde wieder startklar gemeldet werden konnte.
Hinter dem Tower, Richtung Startbahn West, türmten sich dicke weiße Kumuluswolken übereinander. Bis zum Boarding seiner Maschine nach Istanbul würde das vom Deutschen Wetterdienst vorhergesagte Gewitter allerdings längst vorübergezogen sein.