Tod im Licht der Luminale - Hanna Hartmann - E-Book

Tod im Licht der Luminale E-Book

Hanna Hartmann

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Beschreibung

Stefan Weber und Edith Tannhäuser, Kommissare der Kripo Frankfurt, ermitteln in einem undurchsichtigen Fall. Der neue Eigentümer eines ehemaligen Luftschutzbunkers im Frankfurter Nordend wird bedroht, nimmt dies aber nicht sonderlich ernst. Die Vorbereitungen zur Luminale, dem jährlichen Lichtkunstspektakel in der Mainmetropole, sind in vollem Gange, da nimmt das Verhängnis seinen unabänderlichen Lauf. Hanna Hartmann liefert mit ihrem zweiten Frankfurt-Krimi einen spannenden Thriller ab, der die Stadt in alle ihren Facetten zeigt. Einmal begonnen, verstrickt das Buch Sie immer tiefer in die dunklen Abgründe der Stadt. City-Beats im Licht der Luminale.

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Hanna Hartmann
Tod im Licht der Luminale
Ein Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2012 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-942921-91-6

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt Gerhard O. Stief und Ines Martini, den „Machern“ der Frankfurter Explora. Ihre wundervolle Ausstellung hat mich inspiriert, die Geschichte des Glauburgbunkers zu recherchieren und neu zu schreiben. Sie haben die Entwicklung von „Tod im Licht der Luminale“ so umfassend unterstützt, wie man es sich als Autorin nur wünschen kann.
Für Hilfe bei den Korrekturen bin ich meinem Sohn Konstantin, Karin Caetani und meiner „Textperle“, Frau Bärbel Philipp, zu großem Dank verpflichtet. Ich danke meinen Kindern und Freunden, die dieses Buches mit kreativen Anmerkungen und kritischen Kommentaren immer wieder begleitet haben.
Mein Dank gilt Herrn Homrighausen, Herrn Dr. Heinen und meiner Lektorin Frau Schmidt vom Societäts-Verlag für ihre Geduld mit dem Manuskript.
…und ich danke dir, wenn mal wieder Buchstaben gefehlt haben...
„Wann fährt dein Zug nach Berlin?“ Stefans Bemerkung klang eher beiläufig, als er von seinem Monitor zu Edith aufschaute. Überrascht zog Silke ihre Augenbrauen hoch.
„Die Chefin macht Urlaub?“
„Korrekt“, nickte Edith. „Ich bin dann mal weg.“
Zufrieden lächelnd blickte die Kommissarin aus dem Fenster des Polizeipräsidiums auf die Adickesallee.
„Was guckt ihr so komisch? Ich fahr Freunde besuchen. Noch muss ich mir mein Privatleben nicht von der gesamten Abteilung genehmigen lassen, oder?“
Der leicht gereizte Unterton war unüberhörbar. Für einen Moment ärgerte sich Edith über ihren Versuch der Rechtfertigung. Warum tat sie das eigentlich? Da lachte Stefan gönnerhaft.
„Keine Sorge, erhol dich mal ein paar Tage von uns.“
„Keine E-Mails, keine Akten, keine vertrockneten Gummibäume…“, seufzte die Assistentin augenzwinkernd. „Sie wird uns spätestens am Samstagmorgen vermissen, wetten?“
Die Kommissarin drehte sich abrupt um und stützte ihre Hände auf den Schreibtisch.
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
Ein vielsagendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann schaute sie ungeduldig auf die Uhr. Bis zum Termin beim Friseur war hinreichend Zeit, die Post zu erledigen. Wolfgang hatte zwar immer beteuert, dass es ihm egal sei, wie sie aussehe; ihm käme es nur auf ihre inneren Werte an. Das sahen ihre nussbraunen Locken ähnlich und kringelten sich morgens immer in alle Richtungen um ihr Gesicht. Doch seit einigen Wochen machte sie der morgendliche Blick in den Spiegel unglücklich. Was bist du für ein langweiliges Trudchen, dachte sie. Welcher Mann soll so einen Anblick interessant finden? Aber darum ging es morgen in Berlin nach fast zwanzig Jahren nicht, sondern vielmehr um ein simples Wiedersehen. Oder? Ein kräftiger Windstoß stob durch die grünen Blätter der meterhohen Pappeln vor dem Polizeipräsidium.
„Edith, mach dir meinetwegen keinen großen Kopf. Betrachte es als Veteranentreffen“, hatte Wolfgang gestern noch spöttisch am Telefon gefrotzelt. Gedankenverloren öffnete sie ihre Handtasche und seufzte. Als sie die perlmuttfarbene Dose aufklappte, zerbröselte das Make-up unter der Puderquaste und rieselte in dicken, braunen Flocken auf den Boden.
„Och nee ...“
„Haltbarkeitsdatum abgelaufen?“
Mit kritischem Blick musterte ihre Assistentin die in die Jahre gekommene Dose.
„Ich brauche nur den Spiegel“, rechtfertigte Edith sich unwirsch.
„Wofür?“
Überrascht blickte Stefan von seinem Schreibtisch auf.
„Wofür? Wofür wohl?“, fauchte die Kommissarin zurück und zückte ein Taschentuch.
„Das verstehst du nicht, Stefan“, grinste Silke und zwinkerte ihrem Kollegen vielsagend zu. „Unsere Chefin hat ein Date.“
Edith spürte, wie sie errötete.
„Ihr seid so was von blöd!“, schimpfte sie und drehte sich schmollend zum Fenster. Große, weiße Kumuluswolken segelten gemächlich über einen strahlendblauen Himmel Richtung Osten. Sonnenstrahlen brachen sich wie flirrender Puderstaub ihre Bahn durch die aufgetürmten Wolkengebirge. Ein wunderbarer Frühlingsmorgen. Edith seufzte. Es sah bei Weitem nicht so kalt aus, wie der Wetterdienst in Offenbach die Temperatur für heute vorhergesagt hatte. Bald würde sie auf ihren schweren Wollmantel verzichten können.
„Edith, kommst du mit zum Glauburgbunker? Oder soll ich einen Kollegen bitten? Ich wollte wegen der Drohbriefe noch mal…“
Der Kommissar stockte. Edith wirkte irritiert. Wortlos hielt er ihr eine durchsichtige Hülle mit einem zerknüllten Fetzen Papier hin. Die Kommissarin kniff die Augen zusammen. Wo war nur ihre Brille?
„Alt werden ist nicht schön“, hatte ihr schon ihre Oma immer wieder versichert.
„Ich bin der Geist, der stets verneint!“ Mühsam entzifferte Edith die altmodisch anmutende Schrift. „Und das mit Recht! Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“
Skeptisch runzelte sie ihre Stirn.
„Hast du dich als Dichter versucht?“
Ein maliziöses Lächeln umspielte Stefans Lippen.
„Nicht irgendein Dichter. Das ist Goethe!“, klärte er sie sanftmütig auf. „Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches Element.“
Mit einer huldvollen Handbewegung verbeugte sich der Kommissar in Richtung eines imaginär klatschenden Publikums. Die Assistentin war verblüfft.
„Du darfst ruhig Mephisto zu mir sagen, Silke“, grinste er und verschränkte lässig die Hände hinter seinem Kopf. „Der Teufel hatte ja bekanntlich mit Gott gewettet, dass es ihm gelingen würde, Faust vom rechten Wege abzubringen.“
Erstaunt musterte er die beiden Frauen, die sich verständnislos anblickten.
„Goethe, meine Damen. Ich zitiere gerade einen Klassiker aus eurem Deutschunterricht.“
Edith gähnte herzhaft.
„Oh, da geht’s aber direkt vom Winterschlaf in die Frühjahrsmüdigkeit“, bemerkte die Assistentin süffisant. Edith quittierte den Satz mit einer abwertenden Handbewegung.
„Du willst nicht ernsthaft vorschlagen, dass wir Ermittlungen einleiten, weil jemand krude Sätze aus einem Reclam-Heftchen abschreibt, oder?“
Silke lachte kurz auf und griff nach ihrer Kaffeetasse. Nachdenklich musterte der Kommissar das zerknitterte Papier in der Klarsichthülle.
„Vielleicht hast du ja recht, Edith. Aber Frau Stiefenhagen war so verstört...“
„Frau Stiefenhagen?“
Edith schaute Silke fragend an.
„Oh“, die Assistentin winkte genervt ab.
„Das war die wasserstoffblonde Ziege, die heute Morgen eine riesige Welle gemacht hat…“
„Silke!“
Stefan klang vorwurfsvoll.
„Ist doch wahr.“
Ungehalten stellte die Assistentin ihre Porzellantasse vor den Kommissar. Bedrohlich schwappte die braune Flüssigkeit hin und her.
„Wenn die nicht so eine beeindruckende Figur gehabt hätte“, dabei formten ihre Hände die Umrisse eines gut proportionierten Frauenkörpers, „und nicht diese superschicken Klamotten und diese auftoupierte Banane, dann …“
Edith schaute verständnislos auf ihre beiden Kollegen.
„Hab ich was verpasst?“
„Was eine Banane ist? Na, das war diese schreckliche Hochsteckfrisur aus den Sechzigern, die nur mit Tonnen von Haarspray oben gehalten wurde und der Antarktis das Ozonloch beschert hat. Allein die irre teuren Schuhe … die Frau war so overdressed – grauenhaft!“
Stefan lächelte süffisant.
„Hör ich da Neid, Fräulein Müller?“, feixte er. Grinsend griff er nach dem Kugelschreiber und trommelte triumphierend auf seinem Schreibtisch. Dann kreuzte sein jubelnder Blick die hellwachen Augen seiner Chefin und er wurde ernst.
„Edith, dieser Drohbrief ist anders als die anderen. Das hat sie sehr überzeugend…“
„… anders als die anderen?“, unterbrach Edith den Kommissar und musterte ihn mit der ihr eigenen Wachheit.
„Ja, ihr Mann Gerhard Stiefenhagen erhält schon seit geraumer Zeit diese seltsamen Briefe. Seitdem er den Glauburgbunker zur Explora…“
Abwehrend hob Edith die Hand, um Stefans Redefluss zu stoppen.
„Moment mal, Stefan, wir sind nicht zuständig für Drohbriefe…“
„…aber für Morddrohungen!“
„…abgeschrieben aus Reclam-Heftchen, wenn ich das bemerken darf!“
Edith war sauer, doch Stefan wirkte fest entschlossen.
„Wir sollten die Sache ernst nehmen, Edith!“, sagte er mit Nachdruck.
„So ernst wie das Dekolleté der Wasserstoffblondine“, giftete Silke und erhob sich kopfschüttelnd. Stefan winkte lässig ab.
„Edith, Frau Stiefenhagen hat mir hier ein Dutzend dieser seltsamen Briefe vorgelegt. Die sahen alle gleich aus. Immer aus Zeitungsschnipseln zusammengeklebt. Und bis auf den letzten immer der gleiche Wortlaut. Dass das keine Kunst sei, was die Explora zeige. Dass Künstlern, die in der Weimarer Republik so entartetes Zeug geschaffen hätten, im Dritten Reich ein gebührender Platz zugewiesen worden sei.“
Edith schüttelte unwillig ihren Kopf und blickte mit einem tiefen Seufzer den vorbeiziehenden Wolken hinterher.
„Stefan, unser Job sind Leichen. Oder die damit einhergehenden Versuche. Für Kunst, Kultur und Reclam-Hefte sind die Frankfurter Museen oder das Bildungsdezernat zuständig. Damit lass es bitte gut sein.“
Entschlossen klappte sie ihre Puderdose zu.
Langsambog die S-Bahn-Linie 6 aus der lang gezogenen Kurve von der Galluswarte kommend in das weitverzweigte Gleisvorfeld des Frankfurter Hauptbahnhofs. Rechts und links säumten verwitterte Graffiti die Mauern aus Beton, die von wild wachsenden Brombeerhecken überwuchert wurden. In den Fenstern der Hochhäuser an der Mainzer Landstraße glitzerte die Sonne in den verspiegelten Fenstern wie Facetten eines hochkarätigen Diamanten. Dann versank das beeindruckende Panorama hinter dem unterirdischen Tiefkai des Frankfurter Hauptbahnhofs.
Müde fischte Max die Kopfhörer aus seiner Jacke und suchte „Crazy“. Die tiefe, beruhigende Stimme von Seal gefiel ihm für die kurzen Fahrten unter der Stadt. Müde lehnte er seine Stirn an die Tür mit dem warnenden „Defekt“-Aufkleber. Durch das notdürftig mit dicker Folie überklebte Glas zogen sich tiefe Risse kreuz und quer durch die Scheibe. An den hässlichen Vandalismus in Bussen und Bahnen würde er sich niemals gewöhnen, da war sich der 42-Jährige absolut sicher.
„A man decides after seventy years, that what he goes there for, is to unlock the door…” Wer würde wohl den Turm seiner Erinnerungen aufsperren? „…unless we get a little crazy.” Vielleicht musste man nur verrückt genug sein, um den stressigen Job Tag für Tag durchzustehen? Wurde nicht der Takt der Anforderungen immer schneller? Oder wurde er einfach nur älter und langsamer? Er hasste es, wenn sein Leben aus dem Takt geriet. Doch mit der Musik im Ohr fühlte er sich irgendwie mit dem Tempo seines Lebens im Einklang.
Wie von unsichtbarer Hand gesteuert glitt die S-Bahn in den von Neonlampen taghell erleuchteten Tiefkai unter die Erde. Ob Daniel diesmal pünktlich war? Der Gedanke verdunkelte schlagartig seine misanthropisch gefärbte Stimmung. Skeptisch musterte er seine von blauen Adern gezeichneten Hände. Seine bisherige Erfahrung mit dem Jungen sprach komplett dagegen, dass es dieses Mal funktionieren würde. Er hatte eigentlich keine Lust, heute Babysitter spielen zu müssen. Dazu kamen die technischen Probleme, die allein die Illumination des Glauburgbunkers für die am Wochenende beginnende Luminale bereitete. Der Probelauf des ambitionierten Projekts mit der Explora war vergangene Nacht völlig aus dem Ruder gelaufen. Nichts habe funktioniert, absolut gar nichts, hatte ihm von Schwanenwede vorhin ins Handy gebrüllt. Erst habe das Windrad keinen Strom für die riesige LED-Wand geliefert, wo nach Einbruch der Dämmerung die Twitter-Botschaften aus der ganzen Welt übertragen werden sollten. Dann sei endlich der Strom geflossen, zumindest der, der über die Sonnenkollektoren gewonnen wurde. Aber die Musik aus den mannshohen Boxen rechts und links neben der Lenin-Büste am Eingang hätte sich einfach nicht mit der Lichtshow auf dem LED koordinieren lassen. Und als die fluoreszierenden Botschaften endlich synchron zur Musik gelaufen wären, habe ein erboster Nachbar die Polizei vorbeigeschickt, um der Generalprobe den Saft abdrehen zu lassen. Die Stimme von Schwanenwede hatte sich in maßloser Wut überschlagen. Jetzt sollte er als „Troubleshooter“ einspringen und den Soundcheck wiederholen. Das alles für sich genommen war schon ambitioniert. Dumm war lediglich, dass er Jürgen schon vor Wochen fest versprochen hatte, sich heute um den Jungen seiner Schwester zu kümmern. Das gab seinem Job den zusätzlichen Adrenalin-Kick. Jürgens ältere Schwester Susanne wollte übers Wochenende zu ihrer Freundin nach München und Jürgen hatte unaufschiebbare Termine bei Gericht.
„Nur ein bisschen nach ihm gucken“, hatte sein Freund ihn gebeten.
„Daniel braucht nicht den Lover seines Onkels als Babysitter. Daniel braucht eine klare Ansage, wo es in seinem Leben langgeht“, hatte Max seinem Partner schon nach dem Eklat im Handyladen unmissverständlich zu verstehen gegeben. Seiner Auffassung nach gehörte Jürgens Neffe dringend in eine Therapie.
„Komasaufen ist keine Lösung“, hatte Max seiner Schwägerin versucht klarzumachen. Doch Susanne hatte den Ausraster ihres Sprösslings als „für das Alter normal“ bagatellisiert und die Kosten für den in die Ladenauslage geschleuderten Stuhl ohne mit der Wimper zu zucken beglichen.
„Maxi, reg dich ab. Die Sache ist erledigt“, hatte Jürgen seinen Neffen in Schutz genommen. „Die haben in dem Handyshop ja noch nicht mal Anzeige erstattet – meine Schwester ist halt ’ne gute Kundin. So ein Ausraster, das kann doch jedem mal passieren.“
Max blieb skeptisch.
„Warum zum Teufel willst du nicht wahrhaben, dass dein Neffe auf dem besten Wege ist, Alkoholiker zu werden?“
Doch Jürgen hatte ihm besänftigend auf die Schulter geklopft.
„Ach Max, das ist Unsinn. Die Jungs sind mit siebzehn doch alle mal aus der Spur. Wir waren doch auch so.“
Als er ihn zum Abschied küssen wollte, drehte Max seinen Kopf beleidigt zur Seite.
„Maximilian, bitte!“, schmollte er. „Was ist mein Schatz heute wieder empfindlich.“
Jürgen verdrehte die Augen spöttisch gen Himmel.
„Sorry, aber ich muss jetzt zur Arbeit. Lass uns später telefonieren! Und räum die Spülmaschine aus, bevor du gehst.“
„Lichtist einer der wichtigsten Baustoffe des 21. Jahrhunderts!“, hatte von Schwanenwede morgens in der turbulenten Teambesprechung mit leuchtenden Augen und weit ausgebreiteten Armen missionarisch verkündet. An der Wand in der alten Volta-Halle in Bockenheim glitt der Lichtpointer immer schneller über eine riesige Karte mit unzähligen schwarzen, roten und grünen Punkten. Grün stand für „im Plan“. Rot bedeutete, dass erst heute Nacht der letzte Test geplant war. Und schwarz waren alle Projekte, die Probleme machten.
Immer wenn Max die unter Denkmalschutz stehende Industriehalle betrat, keimte in ihm eine unbändige Freude auf, für die „Biennale des Lichts“ als Fotograf zu arbeiten. Um sich mit den Effekten der einzelnen Objekte vertraut zu machen, hatte er seit nunmehr sechs Wochen viele Techniker und Künstler begleitet.
Max liebte die Nächte in Frankfurt, die in krassem Gegensatz zum Tag standen. Besonders morgens nervte die Stadt gewaltig. Der unbeschreibliche Lärm der Autos, Busse, Lastwagen, Taxis, U- und Straßenbahnen, die sich schonungslos wie eine Springflut ihren Weg durch die viel zu engen Straßen der Mainmetropole bahnten, empfand er als sportliche Herausforderung, die er als Radfahrer mit einer eingeübten Rücksichtslosigkeit gerne annahm. Und so schnell der Verkehr morgens über die Mainzer und die Hanauer Landstraße ins Zentrum der Stadt strömte, genauso schnell ebbte dieser Strom abends wieder ab. Jeden Tag aufs Neue. Frankfurt schien diesen Rhythmus zu atmen. Wie ein Durchlauferhitzer, den man morgens um sieben ein- und abends um sieben wieder ausschaltete. Nachts wirkte das glitzernde Herz des Rhein-Main-Gebietes dann sichtlich erschöpft. Nur hier und da unterbrachen Martinshörner die verwaiste Stille zwischen den Häuserschluchten, wenn die Stadt innehielt, um gierig die frische Luft von den Hängen des Taunus in sich einzusaugen. Bevor am nächsten Morgen der Puls von Deutschlands geschäftigster Wirtschaftsmetropole wieder heftiger zu schlagen begann.
„Wenn ich mich recht erinnere, hat Herr Wiatrowski bereits Erfahrung mit Windkrafträdern!“
Die Blicke des Teams in der überfüllten Volta-Halle hatten sich auf Max gerichtet. Doch der hatte abwehrend die Hände gehoben.
„Tut mir leid, das ist ein Irrtum!“
„Aber Sie haben mir doch die Fotos…“
Hektisch zückte Arthur von Schwanenwede sein klingelndes BlackBerry aus der Innentasche seines Jacketts.
„Jetzt nicht“, fauchte er ungehalten und drückte den Anrufer ungestüm weg. Dann wandte er sich direkt an Max.
„Tut mir leid, Herr Wiatrowski. Ich habe heute Morgen keinen Techniker für die Explora da. Das wird Sie ja wohl nicht überfordern, dieses alberne Windrad mit etwas Musik zu koordinieren, oder?“
Der Lichtpointer fuhr über das Nordend und stoppte abrupt auf einem schwarzen Fleck. Max wollte widersprechen, doch der Projektleiter stoppte seinen Protest mit einer eindeutigen Handbewegung.
„Genug diskutiert. Betrachten Sie es als Mission – Ihre Mission! Der Bunker soll sich symbolisch aus der Vergangenheit lösen und als Leuchtturm weit über die Luminale hinaus erstrahlen. Als grüne Innovation der Biennale! Ein wahres Zukunftsprojekt. In dieser neuen Gesellschaft ist für Zögerer und Zauderer leider kein Platz.“
Für einen Moment zitterte der Lichtpointer.
„Der Bunker ist unser Leuchtturmprojekt für erneuerbare Energien. Und wir werden es allen zeigen!“
Das klang unmissverständlich nach dem Ende der Diskussion.
„Und wenn die Welt Sonntagnacht eine Scheibe ist, werden wir auch die beleuchten“, murmelte Max.
„Bitte, was sagten Sie eben, Herr… äh… Wiatrowski?“
Arthur von Schwanenwede formte mit seiner linken Hand einen Trichter hinter seiner fleischigen Ohrmuschel, aus der ein hässliches, graues Haarbüschel wucherte. Irgendwie ekelhaft, durchfuhr es Max.
Als Fotograf hatte er sich mit stimmungsvollen Fotos des riesigen Windparks zwischen Los Angeles und Palm Springs für die Luminale beworben. Und jetzt sollten die Lichteffekte extrem überzeichneter Bilder von Windkrafträdern in der amerikanischen Wüste als Nachweis für technische Kompetenz ausreichen?
Wie unter Schmirgelpapier hatte sich seine Haut damals angefühlt, als der warme Pazifikwind die heißen Sandstürme in die Schlucht vor Joshua Tree geschoben hatte. Langsam hatten sich die Räder des riesigen Windparks in Bewegung gesetzt. Je weiter der Tag voranschritt, umso heftiger wurde der Wind. Bis er kurz vorm Sonnenuntergang die über viertausend klapprigen Räder wie ein brausendes Orchester dirigierte. Max erinnerte sich, dass die Anlage damals über neunhundert Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr für die Retortenstädte Palm Springs und Palm Desert produziert hatte. Das gigantische Zusammenspiel von Technik und Natur im Licht der untergehenden Wüstensonne hatte ihn tief beeindruckt. Tausende von Windrädern, so weit sein Auge reichte. Riesige Stahlmasten mit langarmigen, blechernen Rotoren, inmitten eines unwirtlichen, steinigen Felsenmeeres, nur von verdorrten Hecken umgeben. Am elektrischen Zaun hatten weiße Schilder der PS Windmill Tours nachdrücklich davor gewarnt, das futuristisch anmutende Gelände zu betreten.
Max hatte das Tosen der Rotoren und den flirrend heißen Staub nie mehr aus seinem Kopf tilgen können. Und ausgerechnet diese Erfahrung und eine Handvoll ausdrucksstarke Fotos sollten jetzt die hinreichende Qualifikation sein, ein kaputtes Windrad auf einem ehemaligen Kriegsbunker im Frankfurter Nordend zum Laufen zu bringen?
Der Fotograf seufzte und schnappte sich seinen Rucksack. Das Tempo des Hamsterrades seines Lebens begann mal wieder schneller Fahrt aufzunehmen, als ihm lieb war.
Hoffentlich wartete Daniel wie abgemacht vor „Conrad Electronic“ an der Konstabler. Susanne hatte es dem Jungen gestern Abend noch wortreich eingebläut. Anders war das Gezeter aus Jürgens Handy nicht zu interpretieren.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hastete er über die mit Kaugummis verfleckte Steintreppe nach oben. Zwischen Obststand und Blumenladen wankte ein Obdachloser wirr brabbelnd auf ihn zu. Doch Max umschiffte den schwankenden Mann galant. Nur der stechende Geruch von Urin blieb für eine Sekunde in seiner Nase hängen.
An der Haltestelle gegenüber fuhr langsam die Straßenbahnlinie 12 ein. Wo verdammt noch mal war der missratene Zwerg? Suchend schweifte sein Blick über die Konstablerwache. Plötzlich piepste eine SMS.
„Warte auf dich am ‚Feinstaub’.“
Max rollte wütend seine Augen. Dann setzte er zum Sprint über die rote Fußgängerampel an, fest entschlossen, genau diese Straßenbahn zu erreichen. Bremsen quietschten, und ein wild hupender Autofahrer tippte sich schimpfend an die Stirn.
„Sie sinn werklisch kaa Vorbild für klaane Kinner!“, fauchte eine aufgebrachte Mutter mit Buggy und Kleinkind wütend hinter ihm her. Doch Max quittierte ihre Bemerkung mit einer abwertenden Handbewegung. Missbilligend schüttelte der Straßenbahnfahrer seinen Kopf, als Max sich durch die schließenden Türen quetschte. Beginnt ein vielversprechender Tag zu werden, dachte er und ließ sich heftig atmend auf einen freien Platz sinken.
Das„Feinstaub“ an der Friedberger Landstraße zwischen Rohrbachstraße und Nibelungenplatz machte seinem Namen alle Ehre. Seitdem die VGF begonnen hatte, dort die Gleise für die 18 zu verlegen, dominierten Staus und Abgasschwaden die Straße vor dem Musikklub. Schon seit Monaten war der Pendlerverkehr an diesem neuralgischen Punkt in Frankfurt empfindlich gestört. Daniel kauerte mit geschlossenen Augen auf den Stufen der Bar.
„Salut, compadre!“, grinste er, als Max ihn freundlich anstupste, und schwenkte lachend eine halbvolle Flasche Römer Pils. „Nicht anfassen!“, murmelte der Junge und begann ungelenk nach der Hand des Fotografen, der ihn hochziehen wollte, zu schlagen.
„Spinnst du? Dich am helllichten Tag hier so volllaufen zu lassen? Wir haben einen Job zu erledigen, falls du das vergessen hast!“
Es war zum Kotzen. Der Junge war exakt in dem Zustand, den er seinem Freund wie eine unheilvoll quakende Unke vorhergesagt hatte.
„Los, du Vollpfosten. Komm mit!“
Mühsam zog er Daniel von den verdreckten Stufen der Bar hoch. Der getrocknete Schlamm vor der Eingangstür war weit entfernt von dem, was er als Feinstaub bezeichnen würde. Widerstrebend ließ sich der protestierende Teenager um die Sparkasse herum in die Glauburgstraße manövrieren.
„Bist du verrückt geworden! Nicht so schnell, sonst wird mir schlecht!“, protestierte Daniel lallend. Wenn Max seinem Freund gestern Abend nicht fest versprochen hätte, sich heute um den Jungen zu kümmern, hätte er den alkoholisierten Teenager ohne mit der Wimper zu zucken auf den verdreckten Stufen liegen lassen. Der empörte Blick einer Mutter mit topmodischem Kinderwagen, die die beiden missbilligend umkurvte, hatte Max gerade noch gefehlt.
„Was guckst du so blöd?“, giftete Daniel und spuckte auf den Bürgersteig. Rülpsend torkelte er hinter Max her. Als sein Handy klingelte, stellte er die Bierflasche mitten auf den Bürgersteig und fischte umständlich sein Smartphone aus der Jacke.
„Unsere Sprache heißt Muttersprache, weil die Väter nie zu Wort kommen.“
Daniel lachte. Dann hielt er Max grinsend das Display hin.
„Das Häkelschwein ist wirklich schlau“, amüsierte er sich.
„Twitterst du auch?“
Der Fotograf hob abwehrend die Hände.
„Nein. Ich schenk mir Facebook und Twitter. Ich schick meine Daten lieber direkt an den amerikanischen Geheimdienst.“
Daniel war für einen Moment verblüfft. Dann kniff er ein Auge zu und musterte Max mit verächtlichem Blick.
„Du willst mich verarschen!“
„Nein!“ Max schüttelte seinen Kopf. „Nur geht deine digitale Bohème spurlos an mir vorbei. Ich brauche nicht noch mehr Zeitfresser. Mein Leben ist eh schon zu kurz. Komm, mach mal hinne – wir haben einen Termin!“
Er packte den Jungen, der mühsam die nächste SMS entzifferte, ungeduldig am Arm.
„Verdammte Scheiße, fass mich nicht an!“
Wütend schlug der Teenager nach der Hand von Max. „Lass mich in Frieden. Ich hab ’ne Mutter. Ich brauch dich nicht!“
Zeternd sank der Junge auf die Holzbank am Eingang zum Glauburgplatz.
„Daniel, so geht das nicht!“
Zornig wollte Max den Jungen hochziehen.
„Du sollst mich nicht anfassen! Elende Schwuchtel!“
Hysterisch schlug der Junge um sich. Dabei entglitt ihm die Flasche. Krachend zersplitterte das Glas auf dem Kies.
„Schau, was du angerichtet hast“, keifte der Junge und zeigte vorwurfsvoll auf die Scherben.
Wütend griff Max nach dem kichernden Jungen, der ungelenk versuchte, ihm auszuweichen.
„Willst du mich schlagen? Dann zeig ich dich an!“
Daniel klang drohend. Fassungslos ließ Max seine Hände sinken.
„Ha, ha, ha… schau dich an! Was bist du? Ein Mann? Nein, nur eine elende Schwuchtel aus’m Bahnhofsklo, die sich nix traut!“
Die Häme und die geballte Ladung Zorn des Jungen hatten Max zutiefst verletzt.
„Er ist ein Kind“, hämmerte es in seinem Kopf. Trotzdem raste sein Puls. Um sich zu beherrschen, drehte er den Kopf zur Seite. Tief durchatmen. Atem kontrollieren. Das hatte er damals als Auflage für die Bewährungsstrafe immer wieder trainieren müssen. Der Junge will doch nur seine Grenzen ausloten, signalisierte ihm sein Verstand. Um sich emotional zu fangen, begann er innerlich zu zählen. Es war zum Kotzen, dass dieser Teenager, wenn er getrunken hatte, so heftig auf Krawall aus war. Und die nette Familie blendete diesen Teil der Realität immer wieder aus. Es war doch keine Lappalie, dass Daniel auf dem besten Wege war, sich mit seinen Alkoholexzessen und Gewaltausbrüchen um alle Chancen zu bringen!
„Los, du Idiot. Das hier ist ein Kinderspielplatz. Bring das in Ordnung und raff die Scherben auf!“
„Du bist ein echter Komiker“, lallte der Junge. Dann zeigte er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Scherben.
„Du wirst das aufheben!“
Max zögerte.
„Das ist alles deine Schuld!“, schimpfte Daniel. Dann schnäuzte er sich die laufende Nase in den Ärmel seiner Jacke. Max wandte sich angeekelt ab. Vorsichtig hob er die zerbrochenen Scherben auf, damit sich die Kinder beim Spielen nicht verletzen würden.
Als er sich suchend nach einem Papierkorb umschaute, traf ihn der neugierige Blick eines alten Mannes auf der Holzbank gegenüber. Offensichtlich hatte er das unwürdige Schauspiel die ganze Zeit aufmerksam verfolgt. Aber auch Daniel hatte den Mann im beigefarbenen Trenchcoat bereits bemerkt.
„Was glotzt du so blöd?“, fuhr er den Alten drohend an. Erschrocken fuhr der Mann zusammen. Um seine Mundwinkel herum begann es zu zucken. Dann senkte er peinlich berührt seinen Kopf und griff mit zitternden Händen nach der sorgfältig gefalteten Zeitung auf der Bank. Umständlich fingerte er aus der Innentasche seines abgetragenen Mantels ein fleckig-braunes Brillenetui. Wie nach einem zerbrechlichen Schatz griff er mit seinen dünnen Fingern nach einer Brille, deren linker Bügel provisorisch mit Heftpflaster umwickelt war. Es dauerte eine geraume Weile, bis er sie aufgesetzt hatte. Als er endlich zu Daniel aufblickte, war Max bereits Richtung Explora entschwunden.
Nachder Teambesprechung hatte Max die Eckdaten des Explora-Projekts im Ausstellerverzeichnis nur flüchtig wahrgenommen. Der Glauburgbunker war bereits 1938 von den Nationalsozialisten als „bombensichere“ Anlage für den Zivilschutz geplant und noch vor den ersten Luftangriffen im Sommer 1942 fertiggestellt worden. Mindestens zwölfhundert Menschen sollten in den fünfzig, als „giftgassicher“ eingestuften Räumen mit je zwölf Quadratmetern Zuflucht finden. Der Luftschutzbunker war einer von insgesamt achtunddreißig Bunkern, den die Stadtverwaltung für die damals knapp 550.000 Einwohner zählende Stadt bauen ließ. 1995 hatte dann die Bundesrepublik Deutschland den Glauburgbunker an einen privaten Investor veräußert, der ihn zu einem experimentellen Museum umgebaut hatte. Heute, fünfundsechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, triumphierte eine meterhohe Lenin-Büste am Eingang eines Bauwerks, das von Deutschlands dunkelster Vergangenheit zeugte.
Interessiert musterte Max den stoisch anmutenden Torwächter aus Bronze und Edelstahl, der ihn durchdringend mit den rot-grünen Gläsern seiner 3D-Brille fixierte. 1945 hatte hier noch Stemmermann residiert. Was wohl der ehemalige Nazigeneral davon gehalten hätte, wenn er gewusst hätte, dass heute ein Russe die in den Bunker hineinströmenden Menschen begrüßen würde? Ironie der Geschichte? Zeitläufte? Ein Lächeln umspielte die Lippen von Max. Dann riss er mit viel Schwung die schwere Edelstahltür auf.
Dudarfst so etwas Schlimmes nicht sagen“, murmelte der Alte auf der Holzbank und schlug fahrig den Börsenteil der F.A.Z. auf.
„Homophobie ist einfach wahnsinnig verletzend.“
Betreten schaute er zu Boden und nestelte umständlich an seinem abgegriffenen Brillenetui. Daniel musterte den Mann. Suchte er Streit? Konnte er haben, er war gerade richtig gut in Fahrt. Wobei ihm zu dämmern begann, dass ihn der Disput mit Max gerade seinen Hiwi-Job gekostet hatte.
„Gestatten, Schlosser“, stellte sich der Alte vor und nickte freundlich mit dem Kopf.
„Stanislaus Schlosser.“
Daniel schaute missbilligend auf die ihm hingestreckte Hand und blickte trotzig zur Seite. Mit einem Seufzer ließ der Alte die von Altersflecken gezeichneten Finger langsam sinken.
Durch den Haupteingang strömte mittlerweile eine Gruppe schnatternder Kinder der Arbeiterwohlfahrt mit ihren roten Bollerwagen.
„Gehören Sie auch zu diesen komischen Leuten, die diesen verfluchten Bunker für die Luminale ins rechte Licht rücken wollen?“
Schlosser musterte den Jungen aufmerksam. Daniel nickte.
„Dieser obskure Hokuspokus mit dem furchtbaren Lichtdach über der Innenstadt gehört verboten“, brach es urplötzlich aus dem Alten heraus. Seine linke Hand, mit der er in Richtung Bunker deutete, zitterte.
„Leni Riefenstahl wäre stolz auf euch!“, nickte er vielsagend.
Dann schob er schwer atmend die langsam von der Nase rutschende Brille wieder nach oben und klopfte sich den Staub vom Ärmel seines verschlissenen Mantels.
Daniel musterte den Alten mit einem skeptischen Blick.
„Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?“
„Verstehen? Was gibt es da nicht zu verstehen?“
Der Alte lachte bitter auf. Erneut hob er die linke Hand und deutete mit den von Gicht gekrümmten Fingern auf den Bunker.
„Hier ist schon viel Unglück passiert, Jüngelchen.“
Schlosser senkte verschwörerisch seine Stimme.
„Schon klar“, nickte Daniel. „Ohne die Nazis würde es den Bunker ja auch nicht geben. Aber ich will die alten Geschichten nicht hören“, winkte er lässig ab und zog sich die gehäkelte Wollmütze von seinen verschwitzten Haaren. Der alte Mann war empört.
„Junge, diese Geschichte wird niemals vergehen!“
Daniel musterte den alten Mann mit skeptischem Blick. Was für ein seltsamer Kerl, dachte er. Meckert hier rum wie Rumpelstilzchen. Aber das war ja nicht ungewöhnlich für Frankfurt. Hier gab es eine Menge Spinner, die nicht nur auf der Zeil Gott und die Welt mit ihren Einsichten beglückten. Jeder hat halt so seine eigene Wahrnehmung. Ein Lächeln huschte über Daniels Gesicht.
„Schon klar, Kollege.“
Einfach zustimmen, dachte der Junge, dann würde er ihn in Ruhe lassen.
„Du denkst, ich bin ein Penner, ja? So ein trotteliger Berber, der in die Bahnhofsmission gehört!“
Schlosser musterte den Jungen mit durchdringendem Blick. Dann richtete er sich mühsam auf. Doch der verhärmte Mann wirkte alles andere als bedrohlich. Ächzend fuchtelte er in Richtung Bunker.
„So eine Lichtorgel gebiert nur neues Unglück. Ihr werdet es anziehen wie Motten das Licht. Diese braunen Fackelträger warten doch nur auf so ein Zeichen. Du wirst erleben, dass sie wiederkommen, um ihrem Rassenwahn zu huldigen.“
Daniel entrang sich ein gelangweiltes Achselzucken.
„Was haben Sie gegen die Luminale? Das Lichtprojekt ist doch eine tolle Chance für die Stadt. Endlich ist nachts in Frankfurt was los, endlich sind mal Leute unterwegs...“
Der Alte musterte Daniel mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen. Plötzlich rang er nach Luft. Ein erbarmungsloser Hustenanfall schüttelte ihn. Heftig hob und senkte sich der Brustkorb des Mannes in dem viel zu weiten Trenchcoat. Nach zwei endlos langen Minuten ebbte das Schnaufen und Röcheln ab, und das Atmen des Mannes wurde ruhiger. Erschöpft zog Schlosser ein kariertes Taschentuch aus dem Mantel. Tränen standen in seinen Augen.
„Dasist ja eine gelungene Überraschung! Lange nicht gesehen.“
Erstaunt schaute Stiefenhagen auf die sich langsam öffnenden Falttüren des Lastenaufzugs.
„Man sieht sich im Leben immer zweimal“, entrang sich Max Wiatrowski unterkühlt.
Er hatte absolut nicht damit gerechnet, dass er ausgerechnet diesen Menschen hier oben wiedertreffen würde. Für einen Moment verspürte er den heftigen Impuls, sich umzudrehen und nach unten zu fahren. Was für ein Zufall, dass er ausgerechnet heute, nach dem Fiasko mit dem Jungen, in diesem alten Kriegsbunker jetzt auch noch mit Stiefenhagen konfrontiert war.
Max ärgerte sich, dass er die Projektbeschreibung so nachlässig überflogen hatte. Der Name wäre ihm hundertprozentig aufgefallen. Nach allem, was damals in Berlin passiert war, hätte es für ihn nie wieder ein Treffen mit diesem Menschen gegeben.
Wie unberechenbar doch das Leben manchmal war. Ausgerechnet hier oben traf er heute auf seinen ärgsten Feind – den Mann, den er für den Rest seines Lebens in die allertiefste Hölle verwünscht hatte. Stiefenhagen schien Gedanken lesen zu können, denn sein Gesicht verzerrte sich für einen Moment zu einer höhnischen Fratze.
„Das ist ja eine hübsche Fußnote unserer gemeinsamen Geschichte“, grinste er frech. „So klein ist sie also, die wahnsinnig weite Welt. Hübsch, dass wir uns ausgerechnet heute in meinem Bunker wiedersehen. Das hat doch was. Das müssen selbst Sie zugeben.“
Stiefenhagen machte mit seinem rechten Arm eine einladende Bewegung.
„Wir wollen nicht unhöflich sein, oder?“
Ein spöttisches Grinsen huschte über sein Gesicht.
„Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten? Oder trinken Sie nicht mehr?“
Max fühlte eine Riesenwut in sich aufsteigen. Dieser widerliche Kotzbrocken war immer noch so arrogant wie damals, als Oliver sterben musste, und er dieses Schwein dafür verantwortlich gemacht hatte. Wie verzweifelt war er gewesen, als er ihn auf dem Weg vom Gruselkabinett zum Anhalter Bahnhof zur Rede gestellt hatte. Doch Stiefenhagen war ihm verbal überlegen gewesen. Erst als der Mann heftig blutend am Boden gelegen hatte und ihn verfluchte, dass er das bitter bereuen würde, erst da hatte er von ihm abgelassen. Und jetzt stand er diesem grässlichen Menschen zum zweiten Mal in seinem Leben gegenüber. Ein schier unbeschreibliches Gefühl von Machtlosigkeit überwältigte ihn. Was für ein beschissener Tag. Erst der uneinsichtige Projektleiter, dann der betrunkene Teenager und jetzt dieser schreckliche Psychopath. Dieser denkwürdige Tag war wohl nicht mehr zu toppen.
„Das wundert mich, dass Arthur ausgerechnet Sie vorbeischickt. Haben Sie umgeschult? Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie damals nicht so ein talentfreier Fotograf gewesen?“
Der Museumsdirektor dehnte das Wort „talentfrei“ wie einen ausgelutschten Kaugummi, kurz bevor man ihn ausspuckt. Dann lachte er dröhnend. Am liebsten hätte Max sich die Ohren zugehalten. Musste er sich so demütigen lassen?
„Korrekt“, nickte er.
„Was heißt korrekt?“, polterte der Mann.
„Korrekt heißt, ich bin immer noch Fotograf“, antwortete Max mit gefasster Stimme.
Sein Blick schweifte über das Chaos, das hinter Stiefenhagen den abgedunkelten Raum dominierte.
„Sie haben absolut recht“, setzte er nach. „Ich bin schlicht und einfach kein Techniker.“
Dann drehte er sich um. Er hatte sich entschlossen, bei diesem unwürdigen Spiel nicht länger mitzuspielen.
„Halt, warten Sie...“
Max war überrascht. Hatte Stiefenhagen sich etwa verändert?
„Lassen wir die Vergangenheit ruhen“, schlug der Chef des Museums versöhnlich vor. „Wir müssen das Problem da oben gemeinsam lösen. Hören Sie, die Luminale ist für mich extrem wichtig. Es geht immerhin um die Zukunft der Explora. Das hier ist mein Baby, darin habe ich fast zwei Jahrzehnte lang mein gesamtes Vermögen investiert. Das sollten wir nicht durch unsere Vergangenheit aufs Spiel setzen.“
Max zögerte. Das „wir“ war falsch. Es war Stiefenhagens Projekt, nicht seins. Quietschend begannen sich die Falttüren zu schließen. Blitzschnell blockierte der Museumschef mit der Stahlkappe seines Cowboystiefels die sich schließende Tür.
„Schauen Sie es sich bitte zumindest einmal an!“
Max war unschlüssig. Stiefenhagens Stimme klang kooperativ. Was sollte er von Schwanenwede sagen, wenn er unverrichteter Dinge zur Voltastraße zurückkehren würde? Mit einem tiefen Seufzer trat er aus dem Aufzug zurück in den Loft.
„Okay. Überredet. Ich schaue mir Ihr Windrad an. Aber dann verschwinde ich.“
Stiefenhagen grinste zufrieden.
„Dann gehen wir mal nach oben!“
Lautlosdreht sich das Windrad auf dem Dach des Museums.
„Es ist eine Vertical-Axis-Turbine“, rief Stiefenhagen, dem der Wind durch die grauen Haare stob, und deutete auf den zwei Meter hohen Mast, über den sich die silbernen Rotorblätter lautlos um ihre senkrechte Achse drehten. Interessiert stellte Max den Rucksack mit seiner Kamera ab.
„Das Modell kombiniert zwei Methoden“, erläuterte Stiefenhagen mit sichtlichem Stolz. „Der Savonius-Rotor in der Mitte und die drei Darrieus-Flügel fangen den Wind ein. Das hat den unschlagbaren Vorteil, dass die Anlage nahezu geräuschlos arbeitet. Und die Anwohner nicht durch die wechselnden Reflexionen geblendet werden. Als Segelflieger verstehe ich was von Aerodynamik“, prahlte er und strich sich eine zerzauste Haarsträhne aus dem Gesicht. Max nickte anerkennend.
„Wie viel Watt liefert die Anlage pro Stunde?“
„Fünfhundert.“
„Reicht das für den Betrieb der Twitter-Wall?“
„Problemlos“, nickte Stiefenhagen. „Nur die Einspeisung ins Stromnetz der Mainova gestaltet sich problematisch.“
Max schaute ihn verständnislos an.