Darwin schlägt Kant - Frank Urbaniok - E-Book

Darwin schlägt Kant E-Book

Frank Urbaniok

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Beschreibung

Der Verstand gilt als schärfste Waffe des Menschen. Durch den Verstand ist er anderen Lebewesen überlegen. Er ist das Beste, was die Evolution in Millionen Jahren hervorgebracht hat, ihr ultimatives Erfolgsmodell. So weit die Legende. Fakt aber ist: Der primär evolutionäre Zweck der Vernunft, nämlich die Überlebensfähigkeit der menschlichen Art zu steigern, wird oft zu wenig beachtet. Ihr Potenzial hingegen wird überschätzt. Denn in den menschlichen Verstand wurden viele Mechanismen eingebaut, die sich in der Evolution über Millionen von Jahren als sehr erfolgreich erwiesen: stereotype Automatismen und emotionale Kurzschlüsse, sogenannte evolutionäre Stoßdämpfer, die oft zu verzerrten Beurteilungen führen. Diese Mechanismen stehen im Widerspruch zu den Ideen der Aufklärung und des Humanismus und werden bis heute in Diskussionen stark vernachlässigt. Frank Urbaniok analysiert differenziert, welche fatalen Folgen daraus für das Individuum und die Gesellschaft resultieren können. Nicht zuletzt, so sein Fazit, zielen gerade populistische und extremistische Kräfte mit ihrer Propaganda genau auf diese Schwächen und erschüttern die Demokratien bis in die Grundfesten.

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Frank Urbaniok

Darwin schlägt Kant

Über die Schwächen der menschlichen Vernunft und ihre fatalen Folgen

Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch

© 2020 Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-280-05722-3

eISBN 978-3-280-09091-6

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Teil 1:Begrenzungen und Schwachstellen menschlichen Denkens und Handelns

1Erkenntnistheoretische Grenzen der menschlichen Vernunft

1.1Grünes Blatt und roter Ball, alles Täuschung oder was?

1.2Kant und seine synthetischen Urteile a priori

1.3Trotz aller Bedenken: Denken lohnt sich!

1.4Zusammenfassung erkenntnistheoretischer Grenzen

2Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft

2.1Schläger und Ball

2.2Rückschaufehler

2.3Halo-Effekt

2.4What you see is all there is (WYSIATI-Regel)

2.5Priming

2.6Ankereffekte

2.7Wiederholungen

2.8Kausalitätsillusion

2.9Physiognomischer Kurzschluss

2.10Überschätzung geringer Häufigkeiten

2.11Der schwarze Schwan und stumme Zeugen

2.12Generalisierung: Der unterschätzte Denkfehler

2.13Vermeidung kognitiver Dissonanz

2.14Hereinspaziert: A little something for everybody

2.15Radikaler Konstruktivismus und Grenzen der Kommunikation

2.16Kommunikation wird überschätzt

3Individuelle Persönlichkeitsprofile

3.1Die Kaltblütig manipulative Persönlichkeit (KmP)

3.2Instabiler Realitätsbezug

3.3Basale Wahrnehmungsmuster

4Vernunft und Evolution

4.1Instinktverhalten: Stereotyp, aber oft effektiv

4.2Investition in Vernunft: Ein evolutionäres Projekt mit Chancen und Risiken

4.3Kooperation versus egoistische Abgrenzung

4.4Individuelle Zuspitzungen der basalen Evolutionsprinzipien der menschlichen Natur

4.5Abgrenzung schafft Identität

4.6Das Verhältnis Mensch – Tier: Ein Beispiel für die Aktivierung und Deaktivierung des Kooperationspotenzials

5Das RSG-Modell

5.1Registrieren

5.2Subjektivieren

5.3Generalisieren

5.4Ordnungen

5.5Die menschliche Natur zeigt sich in allen Bereichen, die mit Menschen zu tun haben

6Naturwissenschaft: Der Königsweg?

6.1Kahnemans Taxiproblem

6.2Methodische Probleme statistischer Modelle am Beispiel des Taxiproblems

6.3Methode oder Versuchspersonen: Wer liegt hier falsch?

6.4Irrtümer der Wissenschaft: Einige Beispiele

6.5Das erkenntnisleitende Interesse

6.6Das Hamsterrad dreht sich immer und überall

6.7Skandal um Rosi

7Pragmatisch-phänomenologische Betrachtungsweise

7.1Beispiel für theoriegeleitete Fehlentwicklungen: Der Fluch der Psychosomatik

7.2Die Problematik impliziter Theorien

7.3Pragmatisch-phänomenologisches Erkenntnismodell und klassische Phänomenologie

7.4Empirismus versus Rationalismus

7.5Die Konzeption des pragmatisch-phänomenologischen Erkenntnismodells

7.6Die Bewertungskriterien der pragmatisch-phänomenologischen Methode

7.7Das Falsifikationsprinzip

7.8Falsifikationsprinzip und die Evidenzkriterien der pragmatisch-phänomenologischen Methode

7.9Relative Determination: Ein oft verkanntes, aber universelles Prinzip

7.10Der Fall der Berliner Mauer: Ein Beispiel für relative Determination

7.11Prognosen über die Zukunft: Ein Ding der Unmöglichkeit?

8Evolution: Wie Lüge und Krieg in die Welt kamen

8.1Das schmutzige Instrumentarium: Lügen, Täuschung, Manipulation, Stehlen und Gewalt

8.2Nachteile des schmutzigen Instrumentariums

8.3Der Mensch: Vom evolutionären Ladenhüter zum Erfolgsmodell

8.4Das rätselhafte Schicksal der Neandertaler

8.5Geschwistermord, die wahre Erbsünde?

8.6Das schmutzige Instrumentarium: Garant für Erfolg

8.7Die Mafia: Das schmutzige Instrumentarium als Strukturprinzip

8.8Das archaische Spannungsfeld der menschlichen Natur: Weit sind wir noch nicht gekommen

9Werte

9.1Humanistische Werte

9.2Nietzsche und die Aufklärung

9.3Nietzsche und die Kritik an klassischen Wertvorstellungen

9.4Der Wille zur Macht

9.5Max Stirner

9.6Die Rehabilitation von Mitleid und Liebe etc

9.7Werte als handlungsleitende Orientierungspunkte

10Geschichtliche Entwicklungen und Gesellschaftsmodelle

10.1Diskontinuität kultureller Entwicklungen

10.2Karl Popper und der Kampf für die offene Gesellschaft

10.3Popper contra Hegel

10.4Frankfurter Schule

10.5Frankfurter Schule und Aufklärung

10.6Negri und Hardt: Das Empire

10.7Aufklärung gescheitert?

10.8Eine makabre Rangliste

10.9Gemeinsamkeiten der drei größten Massenmörder aller Zeiten

10.10Menschlichster aller Menschen, Sonne der Menschheit!

10.11Mao Tse-tung: Ungebrochene Verehrung eines großen Führers

10.12Sind wir dem Mittelalter näher, als wir denken?

11Gedanken, Gefühle, Glaube und Überzeugungen

11.1Vorstellungen und andere Informationskonglomerate

11.2Der Glaube versetzt Berge

11.3Die Wechselwirkung von Glaube und Evidenz

Teil 2: Gesellschaftliche Schwach- und Baustellen

12Ordnungen und Organisationen

12.1Beschleunigung in der Postmoderne

12.2Einkaufsliste

12.3Regeln, Prinzipien, Konzepte, Systeme, Organisationen

12.4Neuer Wind in der Musikschule

12.5Ungebremstes Verwaltungswachstum: Folge der inhärenten Logik und übergeordneter Wachstumstreiber

12.6Die 80-20- und die ⅓-⅔-Regel, oder: Regeln und individuelle Kompetenz

12.7Standards und Papiere: Die Verschleierung fehlender persönlicher Kompetenzen

12.8Gruppenkategorien und Gruppenidentitäten

12.9Gute und schlechte Gründe für Gruppenkategorien

12.10Absolute Prinzipien enden in Absurdität

12.11Im Würgegriff des juristischen Prinzips

12.12Der Fall Metzler

12.13Asylrecht

12.14Flucht- und Migrationsursachen

12.15Algorithmen und künstliche Intelligenz

12.16Pferd oder Gießkanne, das ist hier die Frage

12.17Werner Heisenbergs Pollenallergie

12.18Das Würfelgericht

12.19Die Verfeinerung des Würfelgerichts und andere Systembrecher

13Ökonomie

13.1Die unsichtbare Hand

13.2Animal Spirits

13.3Ökonomische Ungleichheit und die Idealisierung des Unternehmertums

13.4Ehrliche Handwerker und egoistische Trader

13.5Machiavelli: Eine tief verankerte kulturhistorische Tradition

13.6Profitorientierung und Wachstumsprimat

13.7Mafiamethoden in der Ökonomie am Beispiel der Tabakindustrie

13.8Jeffrey Wigand: Ein hart bekämpfter Whistleblower

13.9Mafiamethoden in der Ökonomie: Die Spitze des Eisbergs

13.10Aber die Wahrheit kommt am Ende doch ans Licht – oder doch nicht?

13.11Schulden

14Medien und Information in der Postmoderne

14.1Eine Flut von Informationen

14.2Angriff auf die Pressefreiheit

14.3Die weiche Zensur

14.4Der Umgang mit populistischen Parteien am Beispiel der deutschen AfD

14.5Migrations- und Flüchtlingspolitik: Das gute und das schlechte Narrativ

14.6Im Wahlkampf gilt: Ausländische Regelbrecher verlassen das Land

14.7Abschiebungen von ausländischen Straftätern: Ein schwieriges Geschäft

14.8Abschiebungen: Theorie und Praxis

14.9Ausländerkriminalität: Das etablierte Gegen-Argumentarium

14.10Faktoren, die das Phänomen der Ausländerkriminalität verschleiern

14.11Die Analyse der Polizeilichen Kriminalstatistik von Jochen Renz

14.12Weitere Zahlen zur Ausländerkriminalität

14.13Die Bundeszentrale für Aufklärung und die Erziehung zum mündigen Bürger

14.14Die Angst vor aussagekräftigen Zahlen

14.15Schlussbetrachtung zum Thema »Ausländerkriminalität«

14.16Der Fall Edathy

14.17Der Fall Herman

14.18Öffentliche Entschuldigungsrituale

14.19Einzelfälle als Beurteilungsgrundlage

14.20Seltene Ereignisse können keine häufigen Ursachen haben

14.21Thesenjournalismus und Fake News

15Werbung, Propaganda und Politik

15.1Die Werbeindustrie

15.2Werbung in der Politik

15.3Das Informations- und Diskussionsvakuum westlicher Demokratien

15.4Populismus

15.5Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Populisten und Extremisten

15.6Massenpsychologie nach Gustave Le Bon

15.7Prinzipien der nationalsozialistischen Propaganda

15.8Goebbels in Berlin

15.9Goebbels gegen Bernhard Weiß: Beispiel einer gezielten Hetzjagd

15.10Unterschiede und Schnittmengen innerhalb des politischen Spektrums

15.11Extremismus, Populismus und die demokratische Mitte: Ein Differenzierungsschema

15.12Agitatorische Propagandamethoden versus aufklärerische Ideale

15.13Die Schweizerische Volkspartei (SVP)

15.14Populistische Stilmittel

15.15Ein ungleicher Kampf: Smarte Bogenschützen gegen schwerfällige Ritter

15.16Der Bus des Schreckens

15.17Verdienste der SVP

15.18Der Horror-Clown im Weißen Haus

15.19Profil und Markenkern demokratischer Parteien

15.20Stärken und Schwächen politischer Grundausrichtungen

15.21Die Sozial-Liberale-Ökologische-Kriminalität-und Überregulierung bekämpfende Partei (SLÖKÜBP)

16Zum Schluss:Ein vorsichtig optimistischer Ausblick

Quellenverzeichnis

Personenregister

Einleitung

Die Legende der Sieger

Der Mensch ist eindeutig das dominierende Lebewesen auf unserem Planeten. Wie hat er es auf diesen Spitzenplatz geschafft? Nicht ein besonders kräftiges Gebiss, eine außerordentliche Schnelligkeit, ein tödliches Gift oder überbordende Körperkraft sind sein Erfolgsgeheimnis. Die schärfste Waffe ist sein Verstand. Durch ihn ist er allen anderen Lebewesen haushoch überlegen. Er ist das Beste, was die Evolution in vielen Millionen Jahren hervorgebracht hat. Der Mensch ist ihr ultimatives Erfolgsmodell. So weit die Legende der vermeintlichen Sieger. Sie ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Das fängt schon damit an, den heute lebenden Menschen als »den Menschen« zu bezeichnen. Fakt ist: Es gab einige Menschenarten. Aber nur eine von ihnen überlebte. Alle anderen starben aus. Die Art, die überlebte, gab sich selbst einen schmeichelhaften Namen: Homo sapiens – der weise Mensch. Für die ausgestorbenen Verwandten reichte es, den Ort zu nennen, an dem man ihre Knochen fand. Sie mussten sich mit schmucklosen Namen wie Neandertaler oder Australopithecus begnügen.

Bescheidenheit war noch nie eine Stärke des weisen Menschen. Das sieht man auch daran, dass er sich gerne als Krone der Schöpfung und als ein Wesen begreift, das von Gott auserwählt und mit unendlicher Liebe beschenkt wird. Kein Wunder, dass die Evolutionstheorie des Naturforschers Charles Darwin lange Zeit erbittert bekämpft wurde. Auch heute noch ist sie wütenden Protesten ausgesetzt. Fakt ist auch: Für die Evolution sind 100 000 Jahre ein klein wenig mehr als nichts. Ob der Homo sapiens tatsächlich ein dauerhaftes Erfolgsmodell darstellt, ist eine offene Frage. Solche Fragen beantwortet die Evolution in Zeiträumen von mehreren Millionen Jahren. Und aus dieser Perspektive betrachtet haben wir bei einem Marathonlauf gerade mal den Startbereich verlassen.

Der Homo sapiens hat Stärken und Schwächen. Vieles, was in dieser Welt schiefläuft, hat mit seinen Schwächen zu tun. Man muss sich nur umschauen und findet sie in alltäglichen Kleinigkeiten genauso wie in Gesellschaft, Politik oder Wissenschaft. Es ist gut zu wissen, wie die Evolution den Homo sapiens konstruiert und geprägt hat. Denn das hilft zu verstehen, warum die Demokratie weltweit auf dem Rückzug ist, warum wir Kriege führen, Regeln bis zur Absurdität ausbauen, Populisten mögen, uns gerne selbst belügen und vieles mehr. In diesem Sinne erwartet die Leserinnen und Leser ein großes Themenspektrum. Damit verfolge ich vor allem ein Ziel: Das Buch soll zum kritischen Nachdenken anregen und dazu, sich eine eigene Meinung zu bilden. Denn unabhängige und mündige Bürger, die sich an humanistischen Idealen orientieren, sind der wichtigste Faktor in dem Versuch, die Welt besser zu machen, als sie derzeit ist.

Der große Irrtum

Beginnen wir mit der menschlichen Vernunft. Sie unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Sie ist eingebettet in die allgemeine menschliche Psychologie (= menschliche Natur) und hat ein gigantisches Potenzial. Aber, Vorsicht. Die Vernunft hat auch viele Schwachstellen, die den meisten Menschen unbekannt sind. Räumen wir gleich mit einem Irrtum auf, der seit Jahrtausenden gepflegt wird. Ja, die menschliche Vernunft ist ein faszinierendes Instrument dafür, uns selbst und die Welt um uns herum zu erkennen und einzuordnen. Aus dieser Tatsache wird ein unreflektierter Kurzschluss abgeleitet. Weil man mit der Vernunft die Wirklichkeit erkennen kann, sei das genau auch der Zweck unserer Vernunft. In der christlichen Tradition klingt das so: Gott habe den Menschen die Vernunft gegeben, um Gott und Gottes Schöpfung erkennen zu können. Denn nur mit diesem Geschenk sei es möglich, die Existenz und die Größe Gottes zu erkennen, sich für die richtige Religion zu entscheiden und die Welt sowie die eigene Existenz zu verstehen. Aber auch ohne diesen religiösen Bezug hat man immer angenommen, der Mensch besitze seine Vernunft, damit er die Welt und sich selbst richtig erkennen und einordnen könne. Das ist falsch. Vor allem aber ist dieses Missverständnis über den Zweck der Vernunft eine schlechte Voraussetzung, die Vernunft »vernünftig« anzuwenden. Denn es macht die Vernunft noch viel fehleranfälliger, als sie es ohnehin schon ist. Ich will den Gedanken anhand eines Beispiels verdeutlichen. Dabei versetzen wir uns in die Zeit der Urzeitmenschen.

Stellen wir uns vor, unsere Vorfahren hörten in der Nacht ein Rascheln im Busch. Der eine Urmensch geht stets davon aus, das Rascheln stamme von einem Löwen. Er macht sich blitzschnell aus dem Staub. Der andere wartet auf weitere Informationen, um eine bessere Beurteilungsgrundlage zu haben. Der erste ist ein wahrhaft einfältiger Geist. Bei jedem Rascheln sieht er vor seinem geistigen Auge einen hungrigen Löwen und nimmt schnurstracks die Beine in die Hand. Er lebt in einer eigenen Vorstellungsblase, die wenig mit der Realität zu tun hat. Die Welt erfasst er nur rudimentär. Anders sein Kollege. Der ist neugierig und will seinen Verstand nutzen. Mittlerweile hat er das Phänomen des Raschelns gut verstanden. Er weiß, dass es meistens der Wind ist, der geräuschvoll die Blätter bewegt. Er hat beobachtet, dass auch eine Vielzahl kleiner und großer Tiere solche Geräusche verursachen kann. Nur selten steckt tatsächlich ein Löwe dahinter. Mithilfe seines Verstandes und seiner Beobachtungsgabe hat er ein differenziertes Bild der Wirklichkeit entwickelt, das ihm viele faszinierende Details offenbart. Er kennt die Welt sehr viel besser als sein Artgenosse, der die Präsenz von Löwen in grotesker Weise überschätzt. Aber er hat leider einmal zu lange überlegt und gewartet. Da nutzte es ihm auch nichts, dass er in mehr als 99 Prozent der Fälle mit seinen Beurteilungen über die vielfältigen Ursachen des Raschelns goldrichtig lag. Die eine tragische Fehleinschätzung war eine zu viel. Sie ereignete sich unglücklicherweise zu einem Zeitpunkt, in dem er noch keine Kinder gezeugt hatte. Da zeigt sich der evolutionäre Vorteil seines in seinen Wahrnehmungen und Urteilen total verpeilten Kollegen. Der wurde nie gefressen und zeugte zehn Kinder. Die Evolution hatte also gute Gründe – diese personifizierende Darstellung eines Prinzips sei aus Gründen der Anschaulichkeit erlaubt (vgl. Kap. 2.8) –, die Geschwindigkeit und Eindeutigkeit einer Urteilsbildung weit höher zu gewichten als deren Wahrheitsgehalt. Hier wird klar, worin der schlagende Vorteil dumpfer Automatismen und total verzerrter Beurteilungen liegt. Die Folgen dieser evolutionären Ausrichtung der Vernunft sind insbesondere in der modernen Informationsgesellschaft gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Was ist Aufklärung?

Die Aufklärung hat die Menschheit tiefgreifend verändert. Sie prägt bis heute unser Denken und ist Grundlage einer Fülle zivilisatorischer Errungenschaften. Die Aufklärung ist im Kern eine Haltung. Sie ist das Streben, die Welt, ihre Gesetzmäßigkeiten und auch uns selbst möglichst unvoreingenommen zu erforschen, dadurch Erkenntnisse zu gewinnen und so auf vielen Gebieten Fortschritte zu erzielen. Ein in der Menschheitsgeschichte beispielloser Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fortschritt lassen sich ebenso auf die Aufklärung zurückführen wie Menschenrechte und demokratische Staatsformen.

1784 hat der Philosoph Immanuel Kant seinen berühmten Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« geschrieben. »Aufklärung«, so lautet darin seine Antwort, »ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Und weiter: »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! [Wage es, weise zu sein!; F. U.] Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

Für Kant sind »Faulheit und Feigheit« die Ursachen dafür, dass die meisten Menschen »zeitlebens unmündig« bleiben. Denn es sei bequem, nicht selbst zu denken, sondern anderen dieses »verdrießliche Geschäft« zu überlassen. Für die meisten Menschen sei es schwer, sich aus der »beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten«. Weil sie nicht daran gewöhnt seien, ohne Anleitung und Vorgaben eigenständig zu denken, würden sie beim freien Denken »auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun […]. Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wikkeln, und dennoch einen sicheren Gang zu thun.« [1]

Der Aufsatz ist ein flammendes Plädoyer für den freien Geist – oder, um einen heute gebräuchlicheren Begriff zu gebrauchen: den mündigen Bürger. Kant wendet sich gegen Denkverbote. In seinem Aufsatz betont er damit den emanzipatorischen Aspekt der Aufklärung. Man soll sich von Ideologien und gesellschaftlichen Dogmen befreien, die einem offenen Prozess des Erkennens und Verstehens im Wege stehen. Kant beschreibt damit einen wichtigen Faktor, durch den eigenständiges Denken und damit die Mündigkeit eines Menschen behindert werden können: Es handelt sich um einengende gesellschaftliche Bedingungen.

Wie viele andere Autoren seiner Zeit richtete Kant seine Kritik gegen die christliche Religion und ihre kirchlichen und gesellschaftlichen Repräsentanten. Sie gaben in der westlichen Welt über Jahrhunderte vor, wie die Welt, wie der Mensch, wie die Schöpfung beschaffen seien und welche Ordnung sich hieraus auf Erden ableiten müsse. Verständlicherweise sah die Kirche durch die Ideen der Aufklärung ihr Wissensmonopol und damit auch ihre irdische Macht bedroht. Kant nimmt aber auch die Bürger selber in die Pflicht. Denn er unterstellt, dass sie durch ihre Vernunft zwar grundsätzlich die Möglichkeit zur Selbstbefreiung in sich tragen, ihr Potenzial jedoch häufig aufgrund von Bequemlichkeit und mangelndem Mut nicht ausschöpfen.

Bevormundende Autoritäten sind zweifellos ein wichtiges und nach wie vor aktuelles Hemmnis für die Anliegen der Aufklärung. Denken wir an totalitäre Systeme, an Pressezensur, Verfolgung von politisch Andersdenkenden, an politischen oder religiösen Fanatismus. Sie sind aber längst nicht das einzige Hindernis für einen unvoreingenommenen Erkenntnisprozess.

Auch auf der persönlichen Ebene gibt es viele Hindernisse, die sich einem aufgeklärten Verständnis der Welt und einem darauf basierenden vernünftigen Handeln in den Weg stellen. Es sind Hindernisse, die damit zu tun haben, wie die menschliche Vernunft und die menschliche Psychologie konstruiert sind. Das wiederum hat mit der evolutionären Entwicklung des Menschen zu tun. Die von Kant genannten persönlichen Haltungen, Bequemlichkeit und fehlender Mut, sind hier nicht einmal die Spitze eines riesigen Eisbergs, der den meisten Menschen unbekannt ist. Von diesem Eisberg, seinen Konsequenzen, aber auch von möglichen Lösungsansätzen wird in diesem Buch die Rede sein.

Menschliche Psychologie und menschliche Vernunft

Zwar hat Kant recht: Die Vernunft ist die entscheidende Fähigkeit des Menschen, um die Wirklichkeit zu erkennen und ein autonomes Leben zu führen. Das Beispiel des Urzeitmenschen zeigt aber, dass die menschliche Vernunft zweischneidig ist. Sie hat ein immenses Potenzial, ist jedoch auf der anderen Seite aus guten evolutionären Gründen mit vielfältigen Schwachpunkten ausgestattet. Diese beiden Seiten bestimmen die Chancen und die Risiken, die mit ihr verbunden sind. Dabei bewegt sie sich nicht in einem luftleeren Raum. Sie ist eingebunden in die psychologische Grundstruktur und damit Teil der allgemeinen menschlichen Natur. Diese menschliche Natur bewegt sich selbst zwischen zwei entgegengesetzten Polen. An dem einen Pol verfügt sie über ein großes Potenzial für Kooperation und die Gestaltung tragfähiger Beziehungen. Auf der anderen Seite findet sich eine grenzenlose egoistische Dynamik, die in diesem Buch als »egoistische Selbstbehauptung« bzw. »Wille zur Macht« bezeichnet wird. Auch diese beiden Pole der allgemeinen menschlichen Natur sind Ergebnis evolutionärer Prägungen. Sie entspringen also nicht unseren Wünschen und unseren Idealvorstellungen darüber, wie die menschliche Natur sein sollte. Aus der Perspektive der Evolution haben diese beiden Seiten ebenso einen Sinn wie die zwei entgegengesetzten Seiten der menschlichen Vernunft. Der Sinn erschließt sich aus einer evolutionären Entwicklung, die sich über Hunderttausende von Jahren vollzogen hat. Aber sind diese Baupläne, die sich in unvorstellbar langen Zeiträumen entwickelt haben, für den modernen Menschen noch sinnvoll? Stimmen die grundlegenden Konstruktionselemente der allgemeinen menschlichen Psychologie und der menschlichen Vernunft in der heutigen Zeit noch? Stimmt das Verhältnis zwischen Chancen und Risiken für das Leben in unserer heutigen Welt, die sich fundamental vom Umfeld der Urzeitmenschen unterscheidet? Jedenfalls sind die Risiken beträchtlich. Diese Risiken sind Folge der Prägungen, die uns die Evolution aus einst guten Gründen in unsere psychologische Grundstruktur und unsere Vernunft über Hunderttausende von Jahren eingebrannt hat.

Das, was ich hier einleitend mit wenigen Worten skizziere, ist der Leitgedanke dieses Buches. Die beiden entgegengesetzten Pole der menschlichen Natur im Allgemeinen und der menschlichen Vernunft im Speziellen haben vielfältige Wirkungen. Sie erklären individuelle menschliche Verhaltensweisen ebenso wie gesellschaftliche, wissenschaftliche, geschichtliche oder politische Phänomene.

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil steht die Analyse der allgemeinen menschlichen Natur und insbesondere der menschlichen Vernunft im Vordergrund. Im Verlauf dieses ersten Teils werde ich ein übergeordnetes Erklärungsmodell präsentieren, das die vielfältigen, evolutionär geprägten Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft und damit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit abbildet. Es handelt sich um das RSG-Modell (Registrieren-Subjektivieren-Generalisieren), auf das ich auch im zweiten Teil des Buches immer wieder Bezug nehmen werde (Kap. 5). Ebenfalls noch im ersten Teil stelle ich auch eine praktische Vorgehensweise vor, die den Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft Rechnung trägt. Es ist die pragmatisch-phänomenologische Vorgehensweise (vgl. Kap. 7).

Die grundlegenden Konstruktionsbedingungen der menschlichen Natur und vor allem der menschlichen Vernunft finden sich in allen Bereichen, die mit Menschen und menschlichen Aktivitäten zu tun haben. Das ist der Fokus des zweiten Teils dieses Buches. Hier werden die Folgen dieser Bedingungen – und die damit verbundenen Chancen und Risiken – anhand verschiedener Beispiele in Gesellschaft, Geschichte, Politik, Wissenschaft oder Ökonomie dargelegt. In den Blick geraten dabei so unterschiedliche Facetten dieses Themas wie die menschliche Tendenz, Regeln, Gesetze und Normen bis zur Absurdität zu generalisieren. Es lassen sich aus dieser Perspektive aber gleichfalls Fehlleistungen in der Wissenschaft, in der modernen Informationsgesellschaft oder in der Ökonomie zeigen. Am Schluss des zweiten Teils nimmt das aktuelle Thema des Populismus einen breiten Raum ein. Grob gesagt, lassen sich die Empfänglichkeit für Populismus und populistische Propagandamethoden auf die Mechanismen des RSG-Modells zurückführen. Das gilt für die individuelle Empfänglichkeit vieler Menschen für populistische Agitation. Das gilt aber auch für klar benennbare gesellschaftliche Schwachstellen in westlichen Demokratien. Diese Schwachstellen schaffen ein Klima, in dem populistische Agitation gut gedeihen kann.

Grundlage der folgenden Analyse ist, dass wir zunächst einmal genau die konkreten Schwachstellen der menschlichen Vernunft in den Blick nehmen. Diese Schwachstellen begegnen uns auf drei verschiedenen Ebenen.

−Ebene 1: Grundlegende erkenntnistheoretische Grenzen unseres Denkens

Denken und Wahrnehmung bewegen sich in einer vorgegebenen Struktur. Diese Struktur ist mit einem Betriebssystem vergleichbar, ohne das die »Maschine« gar nicht laufen würde. Das Betriebssystem als solches nehmen wir gar nicht wahr. Es ist ein Raster, das wir in alles und jedes automatisch hineinprojizieren. Da wir ohne Betriebssystem gar nichts wahrnehmen und denken können, ist es allgegenwärtig, ohne dass es uns bewusst ist. Mit diesen erkenntnistheoretischen Grenzen hat sich die Philosophie ausgiebig beschäftigt.

−Ebene 2: Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft

Wenn die erkenntnistheoretischen Grenzen dem Betriebssystem entsprechen, dann sind die allgemeinen psychologischen Schwachstellen mit den vielen unterschiedlichen Programmen verbunden, die den operativen Betrieb unserer Wahrnehmung und unseres Denkens gewährleisten. Sie sind vorab installiert. Hier hat uns die Evolution allerdings zahlreiche »Bugs« eingebaut.

−Ebene 3: Persönlichkeitsprofile mit individuell akzentuierten Schwachstellen der menschlichen Vernunft

Die Schwachstellen der ersten beiden Ebenen betreffen mehr oder weniger alle Menschen. Manche Menschen können damit besser umgehen, andere schlechter. Selbstverständlich bin ich der Überzeugung, dass es sehr nützlich ist, die Schwachstellen genau zu kennen, um den mit ihnen verbundenen Risiken möglichst aus dem Wege zu gehen. Die dritte Ebene geht aber über den Umgang mit den Schwachstellen hinaus. Denn Menschen haben höchst unterschiedliche Charaktereigenschaften. Es gibt zahlreiche Persönlichkeitsprofile, durch die jene Schwachstellen der menschlichen Vernunft auf individueller Ebene drastisch verschärft werden.

Teil 1:Begrenzungen und Schwachstellenmenschlichen Denkens und Handelns

1Erkenntnistheoretische Grenzen der menschlichen Vernunft

1.1Grünes Blatt und roter Ball, alles Täuschung oder was?

Will man Grenzen und Schwachstellen der menschlichen Urteilsfähigkeit untersuchen, kommt man nicht an der philosophischen Erkenntnistheorie vorbei. Denn wie erwähnt betrifft sie gewissermaßen das Betriebssystem unseres Denkens. Im Zentrum steht die Frage, was man überhaupt mit dem menschlichen Verstand erkennen kann und wo prinzipielle, also theoretische Grenzen liegen. Hier muss noch einmal Immanuel Kant erwähnt werden. Die Ideen Kants sind keine leichte Kost, aber ich hoffe, die Leserinnen und Leser lassen sich nicht abschrecken. Wem dieser philosophische Einstieg aber zu abstrakt ist, der kann dieses Kapitel auch problemlos überschlagen und gleich mit den »Apps«, also der operativen Programmierung unserer Vernunft, fortfahren.

Bevor wir uns im Zusammenhang mit dem »Betriebssystem« mit synthetischen und analytischen Urteilen und anderen Ideen Kants beschäftigen, möchte ich mit einem praktischen Beispiel beginnen. Es verdeutlicht das prinzipielle Problem, um das es Kant und anderen Philosophen geht: Wenn wir ein grünes Blatt oder einen roten Ball sehen, dann sagen wir: Das Blatt ist grün oder der Ball ist rot. So empfinden wir es auch. Das Grün empfinden wir als eine Eigenschaft des Blattes und das Rot als eine Eigenschaft des Balls. Für uns sind es ein grünes Blatt und ein roter Ball. Aber sind diese Farben, die wir wahrnehmen, wirklich Eigenschaften des Blattes und des Balls?

Philosophisch gesprochen: Hat das »Ding an sich«, also das, was wir als Blatt, und das, was wir als Ball wahrnehmen, wirklich diese Farbeigenschaften? Ist das Blatt auch dann grün, wenn wir nicht hinschauen? Ist der Ball auch dann rot, wenn wir ihn nicht ansehen? Sind die grüne und die rote Farbe also Eigenschaften, die etwas über den tatsächlichen Charakter der beiden Dinge aussagen? Oder entstehen die grüne und die rote Farbe durch die Art, wie wir sehen, und sind eigentlich Eigenschaften, die mehr über uns als über das Blatt und den Ball aussagen? Dass sich die Farben, die wir den Dingen zuordnen, mit anderen Augen ganz anders darstellen, kann man sich leicht am Beispiel der Bienen verdeutlichen. Bienen können im Gegensatz zu uns ultraviolettes Licht sehen. Rot hingegen existiert für sie nicht. Was für uns rot ist, ist für die Biene schwarz. Aber dafür sehen Bienen prachtvolle Farbmuster, die wir nicht erkennen können und bei denen wir nur eine einzige Farbe sehen.

Physikalisch ist es so: Unsere Farbwahrnehmung beruht auf der Wahrnehmung von Licht. Licht ist eine elektromagnetische Strahlung. Es kommt in verschiedenen Wellenlängen vor. Je nachdem, mit welcher Wellenlänge das Licht auf unsere Netzhaut trifft, werden sogenannte Farbrezeptoren aktiviert. Diese Farbrezeptoren lösen bei uns eine Farbwahrnehmung aus. Die Farben entstehen also in unserem Kopf und sind ein subjektiver Eindruck. Hat das Licht eine Wellenlänge zwischen 490 und 570 Nanometer, dann löst das bei uns die Wahrnehmung der Farbe Grün aus. Trifft Licht mit einer Wellenlänge zwischen 640 und 780 Nanometer auf unsere Netzhaut, dann wird damit der Schalter für »Rot« gedrückt und wir »sehen« rot.

Das Blatt ist in unseren Augen deswegen grün, weil es selber gar nicht grün ist. Was meine ich damit? Das Blatt kann die Wellenlängen schlucken (absorbieren), die Rot oder Blau entsprechen. Einzig die Wellenlänge zwischen 490 und 570 Nanometer kann das Blatt nicht verarbeiten. Sie wird abgewiesen und damit reflektiert. Wenn wir also das Blatt ansehen, dann trifft dieses reflektierte Licht auf unsere Netzhaut und wir sehen »grün«. Genauso ist es beim Ball. Er ist in unseren Augen deswegen rot, weil er das Licht im Wellenspektrum von Rot reflektiert. Man könnte sagen, wir ordnen dem »Ding an sich« genau die Farbe als Eigenschaft zu, die am allerwenigsten mit dem eigentlichen Charakter des »Dings an sich« zu tun hat. Denn es ist ja die Farbe, die das »Ding an sich« von sich abweist und zurück in die Umwelt reflektiert.

Man kennt das Prinzip der Farbwahrnehmung aus dem Physikunterricht. Es ist ein gutes Beispiel für eine fundamentale Frage, die weit über Farben und Sinneswahrnehmungen hinausgeht. Was können wir tatsächlich von uns selbst und von der Welt, in der wir leben, erkennen? Können wir unseren Sinnen und unserer Vernunft vertrauen oder spielen uns beide ein Theater vor, das mit der »wirklichen Welt« wenig oder gar nichts zu tun hat? Viele Philosophen haben über die Erkenntnismöglichkeiten und deren Grenzen nachgedacht, die mit unseren Sinneswahrnehmungen und unserer Vernunft verbunden sind. Bis in unsere Gegenwart prägend ist das Werk Immanuel Kants.

Kant rückte die Gesetzmäßigkeiten der Vernunft und ihren Zusammenhang mit den Erkenntnismöglichkeiten der Wirklichkeit ins Zentrum seiner Metaphysik. Die Metaphysik ist der Zweig der Philosophie, der sich mit den Dingen beschäftigt, die »hinter« den Dingen stehen bzw. zu vermuten sind. Die Metaphysik sucht also nach den großen und letzten Wahrheiten. Kant zog es bei dieser Suche nicht hinaus in die Welt. Vielmehr machte er das Instrumentarium, mit dem wir die Welt zu erkennen glauben, selbst zum Forschungsgegenstand. Er kehrte also erst einmal vor der eigenen Haustür und beschäftigte sich mit der menschlichen Vernunft und den menschlichen Wahrnehmungen. »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten«. [2, S. XVI]

»A priori« ist ein Terminus, der bei Kant häufig vorkommt. Er meint damit ein Wissen, das unabhängig von konkreten Erfahrungen besteht. Also ein Wissen, das es schon »vorher« gibt, bevor wir irgendeine Sinneswahrnehmung oder Erfahrung einleiten. Kant hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit man von einer »Erkenntnis a priori« sprechen kann. Doch dazu später mehr.

Jedenfalls bringt Kant mit seinem Zitat Folgendes auf den Punkt: Wir haben es mit den Erscheinungen der Dinge zu tun, nicht aber mit den Dingen an sich. Wir sehen den roten Ball so, wie er auf unserer Netzhaut erscheint. Wir wissen aber nicht, wie er aussieht, wenn wir nicht hinschauen. Die Erscheinungen, so wie sie sich uns darbieten, so wie sie in unserem Bewusstsein stattfinden, sind nach den Regeln unseres eigenen Erkenntnisvermögens aufgebaut. Das heißt, sie spiegeln in hohem Maße die Regeln unserer eigenen Wahrnehmung und Vernunft wider. Manche Autoren greifen diesen Gedanken auf und sagen: Das »Ding an sich« gibt es doch dann gar nicht. Denn das »Ding an sich« wäre die wahre Identität hinter der Erscheinung, so wie sie unabhängig von einem Beobachter existiert. Wir kennen aber nichts anderes als diese Erscheinungen, die in unserem Kopf entstehen. Alles das, was wir wahrnehmen, sei daher eine Art Illusion, die wir selbst produzieren. Das glaube ich nicht. Auch Kant meinte, dass es »ungereimt« sei, anzunehmen, »daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint«. [2, S. XXVII] Ein anderes Argument für die Existenz des »Dings an sich« sei »der moralische Vernunftglaube, der, auf das Bewusstsein der Pflicht gestützt, von hier zum Unbedingten, das heißt zu Gott, Freiheit und Unsterblichkeit aufsteigt«. [3, S. 17]

1.2Kant und seine synthetischen Urteile a priori

Er unterscheidet ferner zwischen Urteilen a priori und a posteriori. A priori sind Urteile, für deren Beurteilung nicht auf Erfahrungen zurückgegriffen werden muss. Also Dinge, die man einfach weiß, weil man sie weiß. A posteriori sind Urteile, zu deren Begründung explizit Erfahrungen verwendet werden müssen. Also Dinge, die sich belegen lassen, wenn wir etwas beobachten oder ausprobieren.

Demzufolge gelten folgende Zusammenhänge: Analytische Urteile sind immer a priori, weil die Beurteilungskriterien dieser Urteile bereits immanent vorliegen und nicht erst nachträglich anhand einer Beweisführung – zum Beispiel experimentell – ermittelt werden müssen. Daraus folgt zwingend: Es kann keine analytischen Urteile a posteriori geben (denn für die braucht es ja Beweise). Hingegen ist die Mehrheit aller synthetischen Urteile zwingend a posteriori. Denn sie werden ja meist anhand von Erfahrungen (z. B. durch Experimente) belegt. Bei einem Experiment handelt es sich um nichts anderes als um die Bestätigung oder das Verwerfen einer zuvor aufgestellten Hypothese anhand von konkreten Erfahrungen.

Strittig ist die Frage, ob es auch synthetische Urteile a priori geben kann. Das wären Aussagen, die nicht allein aufgrund von logischen Gesetzen oder Sprachdefinitionen (weißer Schimmel) beurteilt werden können. »Andererseits darf aber auch Erfahrung zu ihrer Begründung oder Ablehnung nicht ausreichen, weil sie schlechthin allgemeingültig und notwendig zu sein beanspruchen.« [3, S. 24] Kant sah die Existenz solcher Urteile, die nicht nur einen Begriff analytisch zergliedern und näher bestimmen, sondern unsere Erkenntnisse wirklich erweitern, als bewiesen an.

Was kompliziert klingt, ist praktisch eine wichtige Frage. Wenn synthetische Urteile a priori nicht möglich wären, dann gäbe es eine einfache Zweiteilung. Über die Wirklichkeit können wir dann nur etwas aus der Erfahrung wissen, also letztlich mit empirischen Methoden (z. B. Experimente). Alles andere (z. B. freies Nachdenken oder Philosophieren) wäre dann nichts anderes als das Reproduzieren von Regeln und Implikationen, die vorher schon von uns selbst angelegt waren. Es wäre also in gewisser Weise ein formales Kreisen um sich selber. Erkenntnis der Wirklichkeit wäre über diesen Weg nicht möglich.

Kant vertrat eine andere Meinung. Nehmen wir uns noch einen Augenblick Zeit, um seine Argumentation besser zu verstehen. Sie kommt – reichlich verdichtetet – in folgendem Satz zum Ausdruck: »[…] auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich, wenn wir […] sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.« [2, S. 197]

Wie bitte? Kant sagt mit diesem Satz, dass es Bedingungen gibt, die uns überhaupt erst die Möglichkeit verschaffen, eine Erfahrung zu machen. Sie sind aber gleichzeitig auch Bedingungen der Gegenstände, die wir durch Erfahrung erkennen können. Es handelt sich um Bedingungen, die allgemein und notwendig sind, nicht aber aus der Erfahrung stammen. Es geht somit um die Form, in der uns Gegenstände gegeben werden. Gegeben werden uns Gegenstände durch unsere Sinnesorgane. Demnach gibt es eine Wahrnehmung von Gegenständen, bevor das Denken einsetzt und diesem Gegenstand einen Begriff zuordnet. Kant spricht davon, dass unsere Sinne durch Gegenstände affiziert werden können und uns diese Gegenstände dann in der Form gegeben werden, die Kant Anschauung nennt. Anschauung ist die Art, wie uns Gegenstände durch unsere Sinneswahrnehmungen unmittelbar gegeben werden können. Der Begriff »Gegeben-Werden« soll zum Ausdruck bringen, dass es sich um einen spontanen passiven Vorgang handelt. Er läuft also automatisch und unbewusst ab. Es muss nicht aktiv – zum Beispiel durch gedankliche Verarbeitung – etwas getan werden. Kant sagt es so: »[…] vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.« [2, S. 33]

Nach Kant sind der Raum und die Zeit reine Formen der Anschauung. Damit ist gemeint, dass diese uns über die Sinne gegebenen Kategorien als Eigenschaften auch für die Gegenstände objektive Gültigkeit haben – unabhängig von unserer Wahrnehmung und unserem Bewusstsein.

Aufbauend auf diesem Grundgedanken untersuchte Kant, wie unser Verstand funktioniert, wenn er die sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes weiterverarbeitet. Elementar für diesen Verarbeitungsprozess sind Urteile, mit denen irgendetwas über den Gegenstand ausgesagt wird. Eine Systematik der Form dieser Urteile legte Kant in einer Tafel dar, in der er aus reinen Urteilsformen eine Liste reiner Verstandesbegriffe (Kategorien) ableitete. Die Tafel gilt nicht als vollständig und muss heute zum Teil in ihren Zuordnungen revidiert werden. Wichtig ist aber der Grundgedanke: Nach Kant gibt es Funktionskategorien unseres Verstandes, die für uns die Vorstellung einer objektiven Außenwelt konstituieren, also qualitativ, quantitativ, relational oder modal bestimmte Kategorien wie Einheit, Negation, Kausalität, Notwendigkeit etc. Die reinen Verstandesbegriffe, die Kant postulierte, leitete er aus der Tatsache ab, dass wir ein eigenes Identitätserleben haben. Demnach nehmen wir uns als ein Wesen war, das sich seiner Existenz selbst bewusst ist. Darum müssen wir uns zwingend von einer unabhängig von uns bestehenden Welt unterscheiden. Denn Identität kann nur in der Abgrenzung von etwas anderem geschaffen werden.

Das Element der »sinnlichen Affizierung« (die automatisch ablaufende Wahrnehmung von Gegenständen, bevor das Denken einsetzt) hat in den Überlegungen von Kant eine Schlüsselstellung. Denn es ist das Tor zum Erkennen objektiv gültiger Kategorien, die unabhängig von unserem Bewusstsein existieren. Genau dieser Punkt ist allerdings auch sehr umstritten. Denn er entwertet alle Erkenntnismöglichkeiten des Bewusstseins abseits der sinnlichen Affizierung.

Dieser Streitpunkt knüpft an die Kontroverse von Rationalisten und Empiristen an, die sich später und bis heute zum Beispiel in der Rezeption des Positivismus fortsetzt. Ich will bereits an dieser Stelle feststellen, dass ich die Möglichkeiten zur Generierung wirklichkeitsnaher Erkenntnisse durch reine, im Bewusstsein erzeugte Ideen ebenfalls stärker gewichte, als Kant dies tat. Dementsprechend stimme ich auch keinesfalls der Meinung strikter Empiristen zu, nach der reine Empirie der einzig wissenschaftlich legitimierte Weg für objektiv gültige Erkenntnisse ist. Hierauf werde ich später noch genauer eingehen (Kap. 7.4 und 12.16).

1.3Trotz aller Bedenken: Denken lohnt sich!

Halten wir hier einfach einmal fest, dass es umstritten ist, ob es synthetische Urteile a priori geben kann oder nicht. Die meisten Autoren gehen aber – in Übereinstimmung mit Kant – davon aus, dass prinzipiell Erkenntnisse über Wirklichkeit nicht nur durch die Auswertung von Erfahrungen möglich sind, sondern – etwas zugespitzt ausgedrückt – auch durch reines Denken.

Ich teile diese Auffassung. So bin ich davon überzeugt, dass durch Gedankenexperimente oder durch die freie Variation im Sinne der Phänomenologie (vgl. Kap. 7.3) nicht nur eine Reproduktion bestehender Regeln oder eine haltlose Spekulation generiert werden können. Gerade Kant selbst ist ein Beispiel dafür, welch bahnbrechende Erkenntnisse durch Gedankenexperimente hervorgebracht werden können. Denn seine Untersuchungen im Zusammenhang mit synthetischen Urteilen a priori sind nichts anderes als das. Auch Einstein nutzte Gedankenexperimente sehr intensiv. Einige seiner Ergebnisse wurden sehr viel später durch Experimente bestätigt, andere widerlegt. Richtig ist aber der Einwand, dass zum Beispiel Gedankenexperimente nicht empirisch überprüfbar sind, sofern sie sich nicht auf theoretisch überprüfbare Schlussfolgerungen beziehen. Das mag ein Nachteil sein. Aber bei näherem Hinsehen erkennt man, dass viele wichtige Fortschritte in der Wissenschaft nicht durch Experimente, sondern zunächst durch Gedankenexperimente erreicht wurden. Manchmal konnten sie erst viele Jahre später – a posteriori – experimentell bestätigt wurden. Ohnehin ist es so, dass die experimentellen Methoden der Empirie häufig überschätzt werden (vgl. Kap. 6).

Auch hier darf noch einmal auf Kant verwiesen werden. Er demonstrierte am Beispiel der Physik – übertragen gilt das für jede Naturwissenschaft –, dass experimentelle Methoden keineswegs mit Empirie gleichzusetzen sind. Patzig schreibt dazu: »Der Physiker, wie jeder Naturwissenschaftler, muß von einer bestimmten Hypothese ausgehen, und seine Experimente müssen Antworten auf gezielt formulierte Fragen liefern.« [3, S. 15]

Bei Kant klingt das so: »Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf.« [2, S. XIII]

Die Vernunft erkennt Kant zufolge in der Natur also nur das, »was sie selbst nach ihrem Entwurfe« in die Natur hineingetragen hat. »Diese Aussage«, so Patzig, »räumt der Spontanität der Vernunft bei der wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit eine führende, ja ausschließliche Rolle ein.« [3, S. 15]

Neben der Vorstrukturierung durch Hypothesenbildung gibt es einen weiteren Nachteil von naturwissenschaftlichen Experimenten: Immer wird durch ein Experiment die Komplexität der wirklichen Verhältnisse drastisch reduziert. Häufig führt das auf dem Papier und in PowerPoint-Präsentationen zu schön darstellbaren Ergebnissen, die aber leider zu Verzerrungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Das ist ein gravierender Einwand gegen experimentelle Methodik. Wir werden uns mit den vielfältigen praktischen Konsequenzen dieser Problematik noch genauer beschäftigen. Genau das ist aber ein großer Vorteil von Gedankenexperimenten. Denn sie sind weit weniger auf die Reduzierung von Komplexität angewiesen.

Die Strukturregeln unseres Erkenntnisvermögens laden zwar zu Verzerrungen ein und sind mit zahlreichen Limitationen verbunden. Aber wenn man die Prinzipien und die Fallstricke kennt, lässt sich dessen Potenzial besser nutzen. Und dieses Potenzial ist trotz aller Einschränkungen groß. Denn die Strukturprinzipien unseres Verstandes eröffnen ein Spektrum von unendlich vielen möglichen Gedanken und Kombinationen von Gedanken. Dass dadurch – zumindest manchmal – nicht nur eine quantitative Aussage gemacht ist, sondern auch qualitativ – ähnlich dem oft zitierten Quantensprung – eine über die ursprünglich engen Grenzen hinausweisende Erkenntnis möglich sein soll, scheint mir eine plausible Annahme zu sein. Warum soll etwas Unendliches von vornherein begrenzt, also qualitativ endlich sein?

1.4Zusammenfassung erkenntnistheoretischer Grenzen

Unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten sind durch viele Vorstrukturierungen geprägt, bevor sie überhaupt in Gang gesetzt werden. Ich habe diese Grundeinstellungen vorangehend mit einem Betriebssystem verglichen. Es gibt nur dieses eine Betriebssystem, das den Rahmen vorgibt. So wie ein Computer durch sein Betriebssystem begrenzt wird, gehen mit dem menschlichen Gehirn bestimmte Dinge und andere gehen nicht. Diese Grundeinstellungen sind die harten Grenzen unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit. Psychologische Mechanismen spielen hier noch keine Rolle. Gerade sie sind es aber, die im vorliegenden Buch im Zentrum stehen. Dazu zählt z. B. unser Hang, Beurteilungen, Prinzipien, allgemein verbreitete oder subjektiv höchst naheliegende und vertraute Meinungen zu verabsolutierten und als allgemeingültig anzusehen. Notwendige Differenzierungen und das Sowohl-als-auch bleiben auf der Strecke. Das hat kleine oder große Katastrophen zur Folge. Damit verwandt sind all die bequemen, naheliegenden und sowohl bei einzelnen Menschen als auch bei ganzen Gesellschaften verbreiteten typischen psychologischen Urteilsfehler. Bei ihnen geht es oft darum, der gefühlten Wahrheit den Vorzug gegenüber der Wahrheit zu geben, die durch das Potenzial der eigenen Vernunft eigentlich erkannt werden könnte. Die Konsequenzen für die Praxis sind ähnlich verheerend.

Bei diesen psychologischen Mechanismen lässt sich eine Verbindung zu philosophischen Erkenntnistheorien erkennen. Auch dort und somit schon in der Grundstruktur unseres Erkenntnisprozesses angelegt ist die Tendenz, Erkenntnisse über die Welt mit eigenen Projektionen in diese Welt zu verwechseln. So ist das, was der Mensch als vermeintliche Wahrheit in der Welt erkennt, oft nichts anderes als das, was und wie er selber denkt. Die vermeintliche Wirklichkeit gleicht dann einem Spiegel, in dem einem die eigene Person in neuem Gewand entgegentritt. Der Mensch sieht in dem, was er in der Welt erkennt, nur sich selbst, geht aber davon aus, dass er Eigenschaften der Dinge dieser Welt erkennt. Dass wir darauf hereinfallen, ist aber nicht zwangsläufig. Denn wir haben gute Gründe anzunehmen, dass den Erscheinungen ein »Ding an sich« zugrunde liegt, auch wenn es uns in einem objektiven Sinne stets verborgen bleiben muss.

Zugespitzt formuliert: Dass uns ein Auto von A nach B bringt, dass wir mit absoluter Zuverlässigkeit prognostizieren können, dass ein Apfel, der sich vom Baum löst, nicht zum Himmel steigt, sondern zu Boden fällt, spricht dafür, dass vieles, was die Vernunft erkennt, in der Praxis gut funktioniert und seine Nützlichkeit für den Umgang mit der Welt, in der wir leben, unter Beweis stellt.

Es wird noch davon die Rede sein, dass sowohl die Aufklärung als auch die Vernunft als ihr zentrales Instrument immer wieder stark kritisiert und in ihrem Nutzen infrage gestellt wurden. Nun ist aber unsere Vernunft – zum Beispiel basierend auf unseren Sinneswahrnehmungen – das einzige Instrument, das uns gegeben ist, um Dinge zu erkennen, einzuordnen, zu verstehen und Urteile zu bilden. Etwas anderes haben wir nicht. Sie ist trotz ihrer naturgegebenen Limitationen und Schwachstellen auch gar nicht so schlecht und hat in der Menschheitsgeschichte doch einiges Brauchbares hervorgebracht. Wir haben also guten Grund, uns ihrer mit einigem Zutrauen in ihre Fähigkeiten zu bedienen.

Mit diesem Buch ist die Hoffnung verbunden, dass die Leser für sich aus der Lektüre einen praktischen Nutzen für den Umgang mit eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten generieren können. Damit ist mein tiefer Glaube verbunden, dass wir mit all unseren erkenntnistheoretischen Limitationen und den Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten wirklich sehr viel erreichen und verbessern können. Dafür ist es nützlich, wenn uns die wichtigsten Fallstricke bekannt sind und wir sie umgehen können – vielleicht nicht immer, aber zumindest ab und zu.

2Allgemeine psychologischeSchwachstellen der menschlichenVernunft

Die Psychologie hat eine Fülle von Schwächen unseres Wahrnehmungsapparates und unseres Urteilsvermögens herausgearbeitet, die zu systematischen Verzerrungen und Fehlbeurteilungen führen. Es handelt sich um Fehlerquellen, die aus der Art und Weise resultieren, wie unsere Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeiten psychologisch konstruiert sind. Es sind gewissermaßen Konstruktionsmängel, die durch die Evolution bis heute noch nicht beseitigt wurden. Genau genommen sind es aus Sicht der Evolution aber gar keine Mängel, sondern bewusst in Kauf genommene Schwächen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

All diese archaischen Programme und Mechanismen stecken nach wie vor in uns. Manche von ihnen sind in unserer modernen Zeit nicht mehr so wichtig wie vor 500 000 Jahren oder sogar nachteilig. Vielleicht wird die Evolution noch das ein oder andere verändern, an unsere heutigen Lebensgewohnheiten anpassen und damit optimieren. Da »denkt« die Evolution aber in sehr, sehr langen Zeiträumen. Es kommt hinzu, dass die hier angesprochenen Probleme aus Sicht der Evolution keine Priorität genießen. Denn die Fortpflanzungsfähigkeit wird kaum dadurch beeinträchtigt, dass man von unsinnigen Meinungen über sich und die Welt überzeugt ist. Aus Sicht der Evolution ist oft sogar das Gegenteil der Fall. Das werde ich später noch vertieft darlegen.

Einem breiten Publikum sind psychologische Konstruktionsschwächen unserer Wahrnehmung und unseres Urteilsvermögens durch die Bücher des Psychologen Daniel Kahneman bekannt geworden. [4] Daniel Kahneman wurde 1934 in Tel Aviv geboren und lehrte an den Universitäten von Jerusalem, British Columbia, Berkeley und Princeton. 2002 wurde er zusammen mit Vernon L. Smith mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Es spricht einiges dafür, seine Bücher zur Pflichtlektüre in Schulen zu machen. Denn es ist gut zu wissen, womit wir zu rechnen haben, wenn wir unsere Sinneswahrnehmung und unser Urteilsvermögen gebrauchen. Immerhin benutzen wir beides jeden Tag ausgiebig. Es wäre ja auch gut zu wissen, dass die Bremsen des Autos, mit dem wir täglich fahren, bei Nässe sehr schlecht funktionieren und der Tacho die Geschwindigkeit stets zwanzig Prozent unterschätzt. Aber wer liest schon gerne Gebrauchsanweisungen?

Kahneman unterscheidet zwischen einem schnellen und einem langsamen System. Das schnelle System könnte man grob mit unserer spontanen Intuition, das langsame System mit rationalem Denken bezeichnen. Intuition führt zu leichten, subjektiv angenehmen Beurteilungsprozessen (Kahneman spricht von »kognitiver Leichtigkeit«). Das rationale System ist schwerfälliger und wird subjektiv als anstrengender erlebt.

Anders als wir selbst annehmen, basiert die Mehrzahl unserer Urteile auf dem schnellen intuitiven System oder wird durch dieses System zumindest maßgeblich beeinflusst – häufig sogar verzerrt. Der Vorteil des schnellen Systems ist – wie der Name schon sagt – seine Geschwindigkeit. Hier geht es nicht um Details, nicht um Genauigkeit. Im Gegenteil besteht das Prinzip gerade darin, viele Informationen wegzulassen, nicht zu analysieren, dafür aber sehr rasch zu urteilen. Demgegenüber hat das vernunftgeprägte Denken zumindest theoretisch den Vorteil, eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zu analysieren und so zu genaueren Urteilen zu kommen. Der Preis dafür: Es braucht mehr Zeit und führt oft nicht zu eindeutigen Antworten. Hinzu kommt, dass auch das rationale System alles andere als »objektiv« arbeitet, sondern ebenfalls zu Verzerrungen und Fehlleistungen neigt. Es hat aber wiederum den Vorteil, dass es – zumindest potenziell – eine auf Einsicht basierende, größere Distanz zu subjektiven Verzerrungen entwickeln kann. Erinnern wir uns an das Beispiel der zwei Urzeitmenschen. Schematische, verzerrte und letztlich falsche Beurteilungen können je nach Situation und Ziel ein großer evolutionärer Vorteil sein.

Dass die Meinungen, die sich Menschen bilden, und die Art und Weise, wie sie handeln, primär das Resultat vernünftiger Überlegungen sind, wurde nicht erst durch die Forschungen Kahnemans und vieler seiner Kollegen erschüttert. Schon Arthur Schopenhauer leitete eine Wende gegenüber der in der Philosophie lange Zeit vorherrschenden Meinung ein, der Mensch sei ein vorwiegend durch die Vernunft gesteuertes Wesen. Schopenhauer sah nicht die Vernunft, sondern die Triebe – wir würden heute vielleicht eher von Affekten sprechen – als entscheidende Kraft an, die unsere Gedanken, Sehnsüchte und Handlungen prägt. Später sprach Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, von der archaischen Triebstruktur im Es, die weitgehend unbewusst ist. Das Ich als Vermittler zur Realität – unterstützt durch das Über-Ich (die Gewissensinstanz) – steht hier auf schwachen Füßen und ist nicht Herr im eigenen Haus.

Sowohl Schopenhauer als auch Freud kamen zu ihren Kenntnissen aufgrund genauer Beobachtung von Menschen und deren Verhalten – und das unabhängig von den in jener Zeit vorherrschenden Dogmen und Idealisierungen des Menschen und seiner Natur. Schopenhauer gab seinen Lesern einen praktischen Rat mit auf den Weg: Man solle versuchen, die unvernünftigen Triebe möglichst mit dem Verstand zu kontrollieren. Friedrich Nietzsche kehrte das später um. Er sah in den gängigen Idealen von Enthaltsamkeit, Askese, Liebe und Mitmenschlichkeit verlogenes Pathos, das es über Bord zu werfen gelte. Anstatt auf diese Werte setzte er auf den Willen zur Macht, der auf der egoistischen Selbstbehauptung beruht. Wir werden hierauf noch zu sprechen kommen (Kap. 9.4).

Es ist jedenfalls das große Verdienst der experimentellen Wahrnehmungspsychologie, neben einer allgemeinen Skepsis gegenüber Wahrnehmung und Urteilsvermögen spezifische Konstruktionsschwächen – quasi in ihrer Mechanik – herausgearbeitet zu haben.

Nachfolgend werden einige Beispiele für typische Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unserer Beurteilungen dargestellt.

2.1Schläger und Ball

Es handelt sich um ein klassisches, von Kahneman angeführtes Experiment, um die Arbeitsweise des intuitiven Systems zu demonstrieren. Es arbeitet schnell und schaltet sich unwillkürlich im Hintergrund ein. Das Ergebnis wird uns subjektiv auf angenehme Weise dargeboten, es fühlt sich leicht an.

Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Euro. Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?

Viele Menschen, denen man diese Frage stellt, antworten: 10 Cent. Das ist natürlich falsch. Denn wenn der Ball 10 Cent kostet und der Schläger einen Euro mehr, dann kostet der Schläger 1,10 Euro. Beides zusammen würde dann zusammen 1,20 Euro kosten.

Richtig ist: Der Ball kostet 5 Cent. Um das zu erkennen bzw. nachzuvollziehen, braucht es unser analytisches Denken. Sie merken vielleicht, dass man das Ergebnis nicht so bequem bekommt wie die erste Lösung. Analytisches Nachdenken (nach Kahneman System 2) wird subjektiv als mühsamer empfunden. [4, S. 61]

2.2Rückschaufehler

Wir tendieren dazu, Ereignisse als zwangsläufige Folge von Gründen zu interpretieren, die dem Ereignis aber erst im Nachhinein in dieser Weise zugeordnet werden. Das ist vergleichbar mit jemanden, der uns, nachdem die Lottozahlen gezogen wurden, die Gründe dafür erklärt, dass es so und gar nicht anders kommen musste.

Der Rückschaufehler führt zu einem Fehlurteil. Denn die Zwangsläufigkeit, die er suggeriert, ist eine Illusion. Sie zeigt aber, wie gerne wir abschließende Kausalketten mit einem klaren Ergebnis haben. Psychologisch ist das attraktiv. Wir fühlen uns kompetent, Dinge durchschauen und verstehen zu können. Das reduziert Unsicherheit. Wir haben im Gegenteil das Gefühl, in einer berechenbaren Umwelt zu leben, in der man nicht von Ereignissen überrascht wird. Denn wir wissen, was warum geschehen ist.

Das Phänomen lässt sich häufig bei Sportereignissen beobachten. Ein Fußballspiel wurde gewonnen oder verloren. Jemand wurde überraschend Weltmeister oder gerade nicht. Sofort erklären uns Experten, warum es genau so kommen musste, wie es kam. Überlegene sportliche Technik, mentale Stärke, der richtige Trainer, mannschaftliche Geschlossenheit und viele andere Gründe werden in einer differenzierten Analyse angeführt. Nun muss das eine oder andere gar nicht falsch sein. Oft ist aber die suggerierte Zwangsläufigkeit falsch. Denn fast immer handelt es sich im Sport nicht um ein vollständig determiniertes Ereignis. Das heißt, es gibt vor dem Ereignis meist keine 100-prozentige Wahrscheinlichkeit für einen Sieg oder eine Niederlage. Die Siegeswahrscheinlichkeit ist vor dem Ereignis vielleicht 90 Prozent oder 40 Prozent oder nur 0,2 Prozent. Häufig werden Zufälligkeiten oder die Tagesform ausschlaggebend sein oder das Ergebnis entspricht schlicht der statistischen Wahrscheinlichkeit für eine Niederlage oder einen Sieg. Besteht eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dann sind Sieg bzw. Niederlage bei beiden Mannschaften gleich wahrscheinlich. Bei einem Sieg würden uns im Nachhinein aber klare Gründe für diesen Sieg präsentiert, die sich völlig von denen unterscheiden, die im umgekehrten Fall als Gründe für die Niederlage vertreten würden.

Der Rückschaufehler spielt eine große Rolle bei der Prognose zukünftiger Ereignisse und insbesondere bei der Einschätzung von Risiken. Wird z. B. ein Risiko, das 1 Prozent beträgt, zutreffend als gering bezeichnet, dann bedeutet das, dass sich dieses Risiko in 100 Fällen einmal realisiert und 99 Mal nicht. Kommt es aber dann zu diesem Fall, dann wird dieser nicht zu den 99 Fällen, die gut gegangen sind, in Beziehung gesetzt. In der Logik des Rückschaufehlers heißt es, die Einschätzung war falsch. Denn, wenn das Risiko tatsächlich gering war, dann hätte es ja nicht zu diesem Fall kommen dürfen.

Kahneman demonstriert den Rückschaufehler anhand von Prognoseeinschätzungen bei Ärzten, Finanzberatern, Trainern, Topmanagern, Sozialarbeitern, Diplomaten, Politikern. Demnach neigen wir dazu, »Entscheidungsträger für gute Entscheidungen, die einen negativen Ausgang nehmen, zu tadeln und für erfolgreiche Maßnahmen, die erst im Nachhinein naheliegend erscheinen, nicht genug zu loben.« [4, S. 252] Allgemein sei es so, dass Rückschaufehler zu einer erhöhten Scheu vor Risiken – insbesondere bei Entscheidungsträgern – führten. Allerdings »bringen sie unverantwortlichen Hasardeuren auch unverdiente Belohnungen, wie etwa einem General oder einem Unternehmer, die ein aberwitziges Risiko eingingen, das sich auszahlte. Führungspersonen, die Glück haben, werden nicht dafür bestraft, dass sie zu hohe Risiken eingegangen sind.« [4, S. 253]

Der Rückschaufehler begegnet uns in der Politik, in der Wissenschaft, aber auch in unserem täglichen Leben an vielen Stellen. Die Kontrollfrage, die man sich stets selbst stellen kann, lautet: Wären vor dem Ereignis, ohne Kenntnis des Ausgangs des Ereignisses, die gleichen Argumente in der gleichen Weise angeführt worden?

2.3Halo-Effekt

Der Halo-Effekt ist ein Klassiker der Psychologie. Wenn wir glauben, eine Eigenschaft einer Person oder einer Sache erkannt zu haben, dann besteht die starke Tendenz, dieser Person oder Sache weitere ähnliche Eigenschaften zuzuordnen, ohne dass es hierfür eine Grundlage gibt. Für dieses weitverbreitete Phänomen gibt es zahlreiche Beispiele. Wenn eine Person in einem bestimmten Bereich eine gute Leistung bringt, dann werden ihr auch in anderen Bereichen überdurchschnittliche Kompetenzen zugetraut. Wirkt eine Person sympathisch auf uns, dann vermuten wir eine Fülle weiterer positiver Eigenschaften bei ihr. Von einem Politiker, der unser Vertrauen genießt, nehmen wir an, dass er ein ausgeglichenes Familienleben hat und von bestimmten Sexualpraktiken Abstand hält, die wir selber unangemessen finden. Man ist überrascht, wenn man erfährt, dass ein als seriös geltender Finanzminister sadomasochistische Sexualpraktiken auslebt.

Häufig hat der Halo-Effekt auch eine absichtsvoll finalistische Qualität. Das heißt, ein bestimmtes Ergebnis, eine bestimmte Sichtweise auf eine Person oder auf eine Sache ist uns angenehm. Dann werden wir bereitwillig nach Aufhängern suchen, die uns dieses Bild bestätigen. Man kann das bisweilen im Urlaub beobachten. Die meisten Menschen wollen ein positives Urlaubserlebnis. Sie stellen dann in der Ferne plötzlich eine Fülle von Dingen fest, die besser sind als zu Hause (die Menschen sind viel freundlicher, hilfsbereiter, das Essen schmeckt besser, es herrscht allgemein eine größere Zufriedenheit, der Zusammenhalt zwischen den hiesigen Familien ist besser etc.). Es gibt im Übrigen auch das Gegenteil, das einem subjektiv bestätigt, dass zu Hause alles besser ist. Auch hier wird es – wie bei den vorangegangenen Beispielen – häufig so sein, dass insgesamt eigentlich ein gemischtes Bild vorliegt, das aber einseitig interpretiert wird.

Es sei an dieser Stelle schon festgehalten, dass für uns gemischte Bilder, also Sichtweisen, die Ambivalentes zutage fördern, generell unbequem sind. Der Halo-Effekt ist daher Ausdruck eines Bedürfnisses nach eindimensionaler Klarheit, die keine Verwirrung auslöst. Wir wollen klare, einfache, eindeutige, lineare und einheitliche Verhältnisse haben. Wir bevorzugen klare Polaritäten (schwarz/weiß, Freund/Feind, gut/schlecht). Eigentlich wissen wir, dass es häufig komplizierter ist. Unsere Sehnsucht ist aber auf klare Polarität gerichtet. Diese Sehnsucht wird in Politik, Werbung und der Wirtschaft ausgiebig bedient. Man kann sich hier wiederum vorstellen, dass die Tendenz zu klaren, linear harmonisierten Beurteilungen evolutionär Vorteile hatte. Die Wirklichkeit differenziert erfassen? Nein, denn Geschwindigkeit und Klarheit sind wichtiger als der Inhalt. Das ist der Sinn der Generalisierungstendenz des Halo-Effekts. Homogene Beurteilungen bieten eine bessere Grundlage dafür, rasch und eindeutig zu handeln, als differenzierte Sichtweisen, deren Einzelaspekte nicht alle in der gleichen Richtung angeordnet sind. Wie beim paranoiden Urzeitmenschen begünstigt die Evolution falsche Sichtweisen, wenn dafür ein Gewinn in der Handlungskompetenz erreicht werden kann (rasches und eindeutiges Handeln).

2.4What you see is all there is (WYSIATI-Regel)

Wir haben eine außerordentlich hohe Bereitschaft, uns aus wenigen, oft zufälligen und unvollständigen Informationen eine Geschichte zu zimmern, die subjektiv passt. Dabei leisten uns der Halo-Effekt, der Rückschaufehler und viele weitere verzerrungsanfällige Mechanismen gute Dienste. Die subjektiv passende und angenehme Geschichte glauben wir gerne, halten sie für wahr, und das mit einem hohen Maß an innerer Überzeugung. Unser intuitives System ist darauf ausgerichtet, möglichst schnell eine kohärente Geschichte parat zu haben. Die Kohärenz der Geschichte ist das entscheidende Kriterium. Auf wie vielen Informationen diese Kohärenz beruht, von welcher Qualität diese Informationen sind, welche Informationen fehlen, das alles spielt keine Rolle. Häufig verfügen wir zwar nur über sehr wenige Informationen. Das beeinträchtigt aber nicht unsere Überzeugung, die wir mit einer Geschichte verbinden. Hier spielt nur die höchst subjektiv empfundene Kohärenz der Geschichte eine Rolle. Das ist der Kern der WYSIATI-Regel: Was wir nicht sehen, was wir nicht wissen, das gibt es nicht.

Kahneman beschreibt, dass es nicht auf die Menge oder die Qualität von Informationen ankommt. Wie stark wir von etwas überzeugt sind, hänge vor allem »von der Qualität der Geschichte ab, die wir über das erzählen können, was wir sehen, auch wenn wir nur wenig sehen«. Ist die Geschichte stimmig, dann sind wir restlos überzeugt. Zweifel und mögliche Widersprüche werden unterdrückt, und uns fällt gar nicht auf, dass uns viele wichtige Informationen fehlen. [4, S. 115]

Ein anderes Beispiel für die WYSIATI-Regel ist der Framing-Effekt: Die 90-prozentige Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Operation zu überleben, wirkt beruhigender als die Aussage, dass ein 10-prozentiges Sterberisiko besteht. Dies, obwohl beide Aussagen inhaltlich genau das Gleiche bedeuten.

»In ähnlicher Weise ist Aufschnitt, der als ›90-prozentig fettfrei‹ beschrieben wird, anziehender als ›Aufschnitt mit 10 Prozent Fett‹. Die alternativen Formulierungen sind ganz offenkundig gleichbedeutend, aber eine Person sieht normalerweise nur eine Formulierung und ›nur was man sieht, zählt.‹« [4, S. 115]

Ein anderes Beispiel ist der Basisratenfehler. Er beschreibt, dass wir völlig unabhängig von der zugrunde liegenden statistischen Wahrscheinlichkeit einer Tatsache diese für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich halten, je nachdem, ob uns eine um sie herum konstruierte Geschichte subjektiv kohärent erscheint oder nicht. Einer Versuchsgruppe werden zum Beispiel zwei Eigenschaften einer Person präsentiert: sanftmütig und ordentlich. Dann werden die Probanden gefragt, welchen Beruf diese Person wohl habe. Die meisten entscheiden sich in der dargebotenen Auswahl für den Beruf des Bibliothekars und nicht des Landwirts. Denn das Bild eines ordentlichen und sanftmütigen Bibliothekars kreiert eine subjektiv kohärente Geschichte. Statistisch gibt es aber sehr viel mehr männliche Landwirte als Bibliothekare, sodass es ungleich wahrscheinlicher ist, dass eine zufällig ausgewählte Person Landwirt statt Bibliothekar ist. [4, S. 17–18, 115]

2.5Priming

Der Begriff Priming bezeichnet Phänomene, bei denen zufällig – zumeist unbewusst – eine Information aufgenommen wird, die dann später – ebenso zufällig – unsere Urteilsbildung oder unser Verhalten beeinflusst.

In einem Experiment erhielt die Hälfte einer Gruppe von Studenten Wörter, die mit älteren Menschen assoziiert werden. Sie sollten die ungeordneten Wörter durch eine Satzaufgabe ordnen. Dann wurden sie in ein anderes Büro geschickt. Der Fußweg zu diesem Büro war das eigentliche Experiment. Denn nun wurde gemessen, wie schnell sie diese Strecke bewältigten. Die Studenten, die Wörter bearbeitet hatten, die mit Alter zu tun haben (z. B.: vergesslich, grau, Florida oder Falte), bewältigten die Strecke erheblich langsamer als eine Gruppe, die andere Wörter erhalten hatte. Kahneman führt zu diesem Experiment aus: »Der ›Florida-Effekt‹ umfasst zwei Priming-Phasen. Zunächst primt die Menge der Wörter Gedanken an hohes Alter, obwohl das Wort ›alt‹ nie erwähnt wird; anschließend primen diese Gedanken ein Verhalten, langsames Gehen, das mit Betagtheit assoziiert ist. All dies geschieht unbewusst.« [4, S. 73]

Das Ganze funktioniert auch umgekehrt. Das heißt, motorische Aktionen beeinflussen die Tendenz unserer Wahrnehmungen: »In einem Experiment sollten die Versuchspersonen durch neue Kopfhörer Botschaften lauschen. Ihnen wurde gesagt, Zweck des Experiments sei es, die Qualität der Audiogeräte zu testen, und sie sollten ihre Köpfe wiederholt bewegen, um mögliche Klangverzerrungen festzustellen. Die Hälfte der Teilnehmer sollte mit dem Kopf nicken, während die anderen den Kopf schütteln sollten. Die Nachrichten, die ihnen vorgespielt wurden, waren Radiokommentare. Diejenigen, die nickten (eine bejahende Geste), stimmten der Nachricht, die Sie [sic] hörten, im Allgemeinen zu, während diejenigen, die den Kopf schüttelten, sie tendenziell ablehnten. Wieder waren sich die Probanden dessen nicht bewusst, vielmehr bestand nur eine gewohnheitsmäßige Beziehung zwischen einer ablehnenden oder zustimmenden Einstellung und ihrem üblichen mimischen Ausdruck.« [4, S. 74]

In verschiedenen Experimenten wurden Teilnehmer auf das Thema »Geld« geprimt. Sie sollten etwa zunächst Wörter zu einem Geldthema ordnen. Das Priming auf Geld funktioniert aber auch sehr viel subtiler, wie zum Beispiel durch scheinbar zufällig im Hintergrund herumliegendes Monopoly-Geld auf einem Tisch oder den Bildschirmschoner eines Computers, der scheinbar zufällig ein Dollarzeichen zeigt. All diese Stimuli reichten aus, um das Verhalten der entsprechend geprimten Personen zu verändern. Sie hielten zum Beispiel bei einem Experiment doppelt so lange durch wie andere Teilnehmer, zeigten sich auf der anderen Seite aber auch signifikant egoistischer. So waren sie weniger bereit, einem anderen Studenten zu helfen, der die Teilnehmer, als Teil des Experiments, um Hilfe bat. [4, S. 75–76]

2.6Ankereffekte

Studenten wurden aufgefordert, die Zahl aufzuschreiben, bei der ein rotierendes Glücksrad stehen blieb. Das Glücksrad war so eingestellt, dass es nur den Wert 10 oder 65 anzeigen konnte. Dann wurden den Studenten zwei Fragen gestellt: 1. Ist der Prozentsatz afrikanischer Staaten bei den Vereinten Nationen größer oder kleiner als die Zahl, die Sie notiert hatten? 2. Wie hoch schätzen Sie den konkreten Prozentsatz?