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Thomas P. Weber

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Beschreibung

Thomas P. Weber ist Biologe und Zoologe und unterrichtet derzeit am Institut für Tierökologie der Universität Lund, Schweden. Zuletzt erschienen von ihm: »Darwin und die Anstifter. Die neuen Biowissenschaften« und »Schnellkurs Genforschung«. FISCHER KOMPAKT. Verlässliches Wissen kompetent, übersichtlich und bündig dargestellt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Thomas P. Weber

Darwinismus

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Inhalt

GrundrissDie Wissenschaften vom Leben vor DarwinDie Naturtheologie und der FunktionalismusArchetypen und RekapitulationTheorien des ArtenwandelsDarwins DarwinismusDarwin im Umfeld britischer WissenschaftskulturDarwins Weg zum Artenwandel und zur natürlichen AusleseDie Aufnahme von Darwins TheorieSpätere Arbeiten Charles DarwinsVon der evolutionären Morphologie zum genetischen DarwinismusDie »unmoderne« Synthese: Embryologie und EvolutionMendelismus und BiometrieDie »Moderne Synthese«: Genetik, Naturgeschichte und EvolutionDie molekulare RevolutionGegenwart und Zukunft des DarwinismusZufall und NotwendigkeitEntwicklungsbiologie und Evolution  – eine neue Synthese?VertiefungenWissenschaft und Religion im 19. JahrhundertDie romantische NaturwissenschaftPolitikVererbungstheorien vor MendelGenetischer Atomismus und EpistasieSoziobiologie und evolutionäre PsychologieDer neue LamarckismusDie neuen Naturtheologen – »intelligent design«Kulturelle EvolutionAlternativen zur GenausleseMolekulare und evolutionäre GeneDie Theorie der EntwicklungssystemeAnhangGlossarLiteraturhinweiseAbbildungsnachweise:[Bildteil]

Grundriss

Die Wissenschaften vom Leben vor Darwin

Auch in der Wissenschaftsgeschichte ist die Zeit der Helden vorüber. Galileo Galilei, Isaac Newton oder Charles Darwin werden heute weniger als Gestalten gesehen, welche die Wissenschaft der Zukunft genial vorausahnten und darauf hinarbeiteten, sondern die wie ihre Zeitgenossen in zeit- und ortsbedingte Kulturen des Wissens eingebettet waren. Allerdings machten diese Wissenschaftler einen derart ungewöhnlich kreativen Gebrauch von den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, befragten die Gültigkeit tradierten Wissens und verwarfen es wenn notwendig, so dass die Wissenschaft in der Folge völlig neue Wege zu beschreiten vermochte. Meist waren solche Umwälzungen auch keine reinen Einzelleistungen, sondern wurden begleitet von einer Vielzahl von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen des Wandels.

Das Denken dieser bahnbrechenden Personen hatte meist tiefe Wurzeln in den Wissenstraditionen der Zeit. Und im Falle Darwin befanden sich alle diese Traditionen keineswegs in einer derartig tiefen und dauerhaften Krise, dass sie nur darauf warten mussten, 1859 von der Theorie des Artenwandels endgültig hinweggefegt zu werden. Die Wandelbarkeit der Arten widersprach den vorherrschenden biologischen Theorien, doch der Widerstand gegen die Möglichkeit des Artenwandels konnte sich häufig auf respektable Argumente berufen und war nicht ausschließlich von religiösen Interessen geleitet – das Verhältnis von Wissenschaft und Religion im 19. Jahrhundert ist weitaus komplexer als gemeinhin angenommen wird. Wichtige Probleme, die auch heute noch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben, wurden in zum Teil heftigen Debatten identifiziert und mit unterschiedlichsten Lösungen behandelt. Darwin stand vor einer Reihe von Problemen, auf die er eine Antwort geben musste. Wie entstehen Anpassungen – wie ist zu erklären, dass Körperbau und Verhaltensweisen von Lebewesen und Anforderungen der Umwelt oft perfekt aufeinander abgestimmt erscheinen? Wie sind oft überraschende Ähnlichkeiten im Körperbau verschiedener Organismen zu erklären, die nicht einfach als parallele Anpassungen an ähnliche Lebensweisen gedeutet werden können? Wie kann es sein, dass die Knochen des Kiemendeckels von Fischen den schallübertragenden Knochen des Innenohres beim Menschen entsprechen? Und immer wieder tauchte die Frage auf, ob Arten nicht doch etwa wandelbar sind.

Das Denken in der Biologie im Hinblick auf diese Fragen wurde vor dem Auftritt Charles Darwins vom Konzept der Teleologie, der Ziel- und Zweckhaftigkeit des Lebens und der Natur bestimmt. Biologische Vorgänge, Körperstrukturen und Verhaltensweisen sind demnach erklärbar, wenn ein Ziel oder Zweck angegeben werden kann: Eine Flosse ist zum Schwimmen, ein Auge zum Sehen da, und der Nestbau eines Vogels dient der Fortpflanzung. Dieses teleologische Denken kam in zwei Spielarten vor, die nur recht wenig miteinander zu tun hatten, aber in manchen Theorien dennoch miteinander verbunden sein konnten. Auf der einen Seite steht die »äußere« Teleologie: Die Ziele und Zwecke des Lebens können von einem gestaltenden Bewusstsein festgelegt werden. So bestimmte beispielsweise ein wohltätiger Gott bei der Schöpfung des Lebens für jede Art einen Lebensraum und eine Lebensweise und stattete die Organismen mit dem bestmöglichen Körperbau für diese Lebensbedingungen aus. Auf der anderen Seite steht die »innere« Teleologie, die sich nicht auf einen allwissenden, göttlichen Gestalter beruft. Die Zweckhaftigkeit der Natur wird als ein erklärendes Prinzip verstanden. Um beispielsweise die Rolle eines Pflanzensamens oder eines Vogeleies im Lebenszyklus der Art zu verstehen, muss der erwachsene Organismus – das Ziel und der Zweck der Individualentwicklung – in Betracht gezogen werden. In diesem Denken geht es schwerpunktmäßig um die wechselseitige Abhängigkeit und Integration biologischer Vorgänge. In Anlehnung an die Philosophie Immanuel Kants geht es aber auch um die Fähigkeit des Menschen, Vorgänge in der belebten Natur verstehen zu können. Welche Prinzipien des Verstehens sind den wahrgenommenen Erscheinungen vom verstehenden Geist aufgeprägt? Bei der äußeren Teleologie sind weder die in der Welt wirksamen Ursachen noch die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ein ernstes Problem – Gott gestaltete die Natur, und mit ein wenig Mühe kann der Mensch die Ziele und Zwecke erkennen. In der Philosophie Immanuel Kants spielt hingegen das erkennende Subjekt eine zentrale Rolle und wird problematisiert – selbst wenn in der belebten Natur nur physikalische und chemische Ursachen wirken, so muss die Urteilskraft des Menschen doch immer davon ausgehen, dass Lebewesen zweckmäßig organisiert sind.

Die Naturtheologie und der Funktionalismus

In Großbritannien spielte seit dem 17. Jahrhundert die Naturtheologie eine bedeutende Rolle bei der Deutung natürlicher Erscheinungen, zunächst vor allem in der Astronomie. Vertreter dieser Theologie versuchten Beweise für die Existenz eines wohlwollenden und gestaltenden Gottes zu finden, indem sie das von Gott verfasste Buch der Natur lasen und sich nicht nur auf die Offenbarungen der Bibel stützen wollten. Diese wissenschaftlich begründete Religion sollte allen Menschen zugänglich sein und die alten Spaltungen innerhalb des Christentums überwinden helfen. Der schottische Philosoph David Hume zeigte bereits im frühen 18. Jahrhundert, dass die Naturtheologie sich auf zweifelhafte Argumente gründete, doch fand diese skeptische Einstellung nie viele Anhänger. Weitaus schädlicher für die Naturtheologie war die wachsende Fähigkeit der Physik, astronomische Erscheinungen auf das Wirken unpersönlicher Gesetze zurückzuführen, die die Annahme eines gestaltenden Eingreifens Gottes immer weniger notwendig machten. An der Wende zum 19. Jahrhundert erlebte die Naturtheologie aber einen neuen Höhepunkt, indem sie ihre Aufmerksamkeit weniger auf die Astronomie und mehr auf die belebte Natur richtete. Berühmt ist der Vergleich, mit dem William Paley (1743–1805) sein einflussreiches Werk Natural Theology (1802) einleitete. Genau wie eine Uhr mit ihrem komplizierten, zweckgebundenen Mechanismus auf das Wirken eines Uhrmachers hinweist, so muss auch beispielsweise die Betrachtung eines Auges zu dem Schluss führen, dass ein Gestalter am Werke war. Anpassungen von Organismen an ihre Lebensweise und Funktionen von Körperteilen standen im Mittelpunkt dieses Denkens. Artenwandel war für Naturtheologen eine Unmöglichkeit, da Zwischenformen weder für die eine noch die andere Lebensweise optimal angepasst wären. Paleys Naturtheologie war in Großbritannien ungemein einflussreich. Darwin lernte Paleys Natural Theology während seiner Studienzeit in Cambridge kennen, wo sie bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts Pflichtlektüre war. Diese Version der Naturtheologie sah sich aber immer wieder zum Teil heftiger Kritik ausgesetzt. Konnten imperfekte Menschen wirklich die Absichten Gottes erkennen? Warum herrscht so viel Grausamkeit in der Natur, wenn Gott doch so wohlwollend und gütig ist?

Wissenschaftlich respektabler war die so genannte »neoklassische« Biologie, die sich auf die biologischen Schriften des Aristoteles berufen konnte. Aristoteles unterschied vier Ursachen, die bei einer Erklärung zum Zuge kommen müssen: Form-, Material-, Bewegungs- und Zweckursache. Er erläuterte die vier Ursachen am Beispiel eines Bildhauers. Die Idee einer Skulptur ist die Formursache, der Marmor ist die Materialursache, die Tätigkeit des Bildhauers ist die Bewegungsursache und die Absicht, mit der Skulptur einen Tempel zu schmücken, ist die Zweckursache. In der Biologie betonte dieses Denken vor allem die funktionelle Integration von Organismen: Genutzte Materialien und Zwecke waren nicht voneinander trennbar. Zwecke waren bei Aristoteles nicht von außen vorgegeben, sondern ergaben sich aus dem Lebenszyklus des Organismus und den daraus folgenden Ansprüchen. Knochen müssen ein Wirbeltier stützen, und daher müssen sie aus festem Material sein. Ein Pflanzenfresser benötigt ein anderes Verdauungssystem als ein Fleischfresser. Die Biologie des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich auf aristotelische Ideen stützte, wird oft als »Funktionalismus« bezeichnet. Das Wirken eines Schöpfergottes war jedoch mit diesem Denkgebäude durchaus vereinbar. Gott konnte einem Organismus eine Lebensweise, zum Beispiel ein Leben als Raubtier, zuweisen und diese Lebensweise führt dann dazu, dass der Aufbau eines Organismus von damit gesetzten »inneren Zwecken« bestimmt wird. Um als Räuber erfolgreich zu sein, muss das Tier schnell sein, den Verdauungsapparat eines Fleischfressers haben und so weiter. Organe sind an Organismen angepasst und Organismen sind an die Umwelt angepasst.

Georges Cuvier (1769–1832), Stich von 1826

Der bedeutendste und einflussreichste Vertreter des kontinentaleuropäischen Funktionalismus war der französische Anatom Georges Cuvier (1769–1832). Cuvier führte die funktionelle Anatomie zur Perfektion: Die Funktion eines Körperteiles bestimmte seine Struktur und aus der Struktur eines Körperteiles ließ sich umgekehrt die Funktion eindeutig bestimmen. Cuvier beeindruckte die Öffentlichkeit mit der Rekonstruktion ausgestorbener Wirbeltiere. Angeblich konnte er aus nur wenigen Knochen die Lebensweise bestimmen und dann den gesamten Organismus rekonstruieren. Aristoteles hatte neun Gruppen von Lebewesen identifiziert, die ähnliche Lebensweisen teilten und daher einen ähnlichen Körperbau aufwiesen. Cuvier identifizierte hingegen nur vier Zweige, die so genannten »embranchements«: Wirbeltiere, Weichtiere, Gliedertiere und Radiata. Dies zeigt, dass Cuvier Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Organismen erkannte, doch führte er diese Ähnlichkeiten nicht auf eine historische Verwandtschaft, sondern auf ähnliche Lebensbedingungen zurück.

Archetypen und Rekapitulation

Die Naturtheologie und das funktionalistische Denken waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien fest verankert. Die Universitäten in Oxford und Cambridge – andere Universitäten auf der Britischen Insel gab es bis 1827 nur in Schottland – und die Staatskirche setzten alles daran, die Vorherrschaft dieser Denkweisen zu sichern. Ein Grund für diesen Eifer war nicht zuletzt die politisch stabilisierende Wirkung dieser Lehren, die Rechtfertigungen für eine hierarchisch aufgebaute Gesellschaft bieten konnte. Doch trotz dieser Anstrengungen wurde in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts dieses Denken immer stärker herausgefordert und unterminiert. Diese Herausforderungen wurden von Wissenschaftlern vorgebracht, die wissenschaftliche Strömungen aus Frankreich und den deutschsprachigen Ländern aufnahmen. Eine dieser »Irrlehren« – so mussten sie aus der Sicht des konservativen britischen Establishments bezeichnet werden – war der Lamarckismus. Aus Deutschland stammten Theorien, die weniger revolutionär und bedrohlich als der Lamarckismus waren. Sie waren aber ebenfalls nicht mit dem Funktionalismus vereinbar und konnten außerdem noch eine gute empirische Absicherung vorweisen. Die Vertreter dieser Denkschulen erkannten wie Cuvier auch anatomische Gemeinsamkeiten zwischen Organismengruppen. Diese Gemeinsamkeiten ließen sich jedoch in ihren Augen nicht als Anpassungen an die Anforderungen einer bestimmten Lebensweise deuten. So identifizierte Johann Wolfgang von Goethe 1787 eine »Urpflanze«. Diese Pflanze repräsentierte einen »Plan«, nach dem alle Pflanzen, unabhängig von ihrer Lebensweise, aufgebaut sind. Die Untersuchung der Individualentwicklung erwies sich als eine wichtige Quelle für Ähnlichkeiten, die nicht als Anpassungen gedeutet werden konnten – alle Wirbeltiere beispielsweise durchlaufen, ob nun Wasser- oder Landbewohner, ein Embryonalstadium mit Kiemenspalten.

Cuviers Rekonstruktion eines südamerikanischen Riesenfossils, des von ihm so genannten Megatheriums.

Am Ende des 18. Jahrhunderts wuchs die Unzufriedenheit mit den Methoden und Zielen der Naturgeschichte: Die Beschreibung von Lebewesen und ihre Einordnung in ein statisches System, so wie es beispielsweise von Carl von Linné praktiziert wurde, galt nicht mehr als wissenschaftlich. Genau wie in der Physik mit ihren Newton’schen Gesetzen, sollte auch die Biologie die Identifikation solcher Gesetzmäßigkeiten anstreben. Das Bestreben, solche Gesetze zu finden, war besonders in der so genannten »Göttinger Schule« ausgeprägt. Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), Carl Friedrich Kielmeyer (1765–1844) und Johann Christian Reil (1759–1813) waren die wichtigsten Vertreter dieser Schule. Diese Göttinger Gelehrten sahen in der Individualentwicklung und in der Abfolge der Organisationsformen im Tierreich Kräfte am Werk, die deterministischen, zweckgerichteten Gesetzen gehorchen. Newton konnte auch nicht sagen, was die Gravitationskraft eigentlich ist, daher fühlten sich Blumenbach, Kielmeyer und Reil auch nicht verpflichtet, die genaue Natur dieser organischen Kräfte anzugeben. Blumenbach nannte die den morphologischen Wandel verursachende Kraft den ›Bildungstrieb‹, Kielmeyer und Reil sprachen von ›Reproductions-‹ oder ›Lebenskraft‹. Diese Wissenschaftler benötigten nicht den gestaltenden Gott der Naturtheologie, sondern sie waren überzeugt davon, dass die Gesetze der organischen Natur Tiere und Pflanzen formen. Aus dieser Denkrichtung erwuchs auch die Idee der Rekapitulation, die erstmals von Carl Friedrich Kielmeyer formuliert wurde. Das Konzept der Rekapitulation besagt, dass in den embryonalen Stadien eines Individuums einige Charakteristika von Tieren niedrigerer Organisationsformen auftauchen.

Eine Erklärung für das parallele Auftauchen von Merkmalen und Fähigkeiten in der Individualentwicklung, den Organisationsformen der jetzt existierenden Lebewesen und in der Geschichte des Lebens auf der Erde fand Kielmeyer in vermuteten organischen Kräften, die in allen drei Entwicklungsreihen wirkten. Kielmeyer identifizierte fünf nacheinander auftretende Kräfte, die Organismen mit ebenso vielen Fähigkeiten ausstatteten: zunächst die Fähigkeit der Reproduktion, dann Irritabilität, Sekretion und Bewegungsfähigkeit und letztendlich die Sinneswahrnehmung. Das früheste Stadium der Individualentwicklung, die einfachste jetzt existierende Lebensform und die erste Lebensform in der Geschichte der Erde haben beispielsweise nur die Fähigkeit, sich durch Teilung zu vermehren, als Nächstes folgt die Fähigkeit, auf einfache Reize zu reagieren und so weiter.

Kielmeyer machte keine Aussagen darüber, ob Embryonalstadien tatsächlich existierenden Arten entsprachen – ein Säugetierembryo mit Kiemenspalten entspricht also nicht unbedingt einer existierenden oder ausgestorbenen Fischart –, sondern er betonte ausdrücklich nur, dass die Embryonalentwicklung und die Organisation des Tierreiches von den gleichen, gesetzmäßig wirkenden Kräften bestimmt wurden. Johann Friedrich Meckel (1781–1833) und Lorenz Oken (1779–1851) arbeiteten das Konzept der Rekapitulation weiter aus und zeigten, wie verschiedene Körperstrukturen während der Individualentwicklung und in der Hierarchie des Lebens nach und nach auftreten: so entwickelt beispielsweise der menschliche Embryo irgendwann ein Herz mit drei Kammern aus einem zweikammrigen Vorläufer, im Tierreich geschieht dieser Schritt beim Übergang von den Fischen zu den Reptilien. Oken war einer der wichtigsten Vertreter der romantischen Naturphilosophie, die weitaus spekulativer war als das vom nüchternen Immanuel Kant geprägte Denken der Göttinger Schule. Die Naturphilosophen gingen davon aus, dass die Embryonalentwicklung und die Organisationsformen des Lebens das Abbild eines idealen Planes waren. Die Natur konnte diesen Plan in unterschiedlichen Ausmaßen variieren, aber überall bleibt er im Prinzip sichtbar. Dieser Plan manifestierte sich in den tief reichenden Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen, die manchmal nur während der Individualentwicklung, manchmal aber auch im erwachsenen Organismus auffindbar waren. Für Oken gab es in der Zoologie nichts, was in der höchsten Lebensform, dem Menschen, nicht reflektiert wurde. Dieses Entwicklungsdenken wurde von Karl Ernst von Baer (1792–1876) einer harschen Kritik unterzogen. Von Baer schloss aus seinen Studien am Hühnerembryo, dass die Entwicklung vom undifferenzierten, homogenen Embryo zu spezialisierten, heterogenen späteren Stadien verlief. Ein entwickelndes Huhn zeigte zuerst die Merkmale eines Wirbeltieres, dann die Merkmale der Vögel, danach die Merkmale der Gattung der Hühner und erst dann die artspezifischen Merkmale. Wie Cuvier ordnete von Baer Tiere in vier großen Gruppen, und nicht in eine Linie aufsteigender Komplexität an. Jede dieser Gruppen gehorchte einem eigenen Bauplan.

Richard Owen (1804–1892), Lithographie von 1850

Die Morphologie und Anatomie kontinentaleuropäischer Prägung fand in Großbritannien in Richard Owen (1804–1892) einen gelehrigen und ungemein talentierten Schüler. Owen war zunächst dem Funktionalismus Cuviers verbunden, löste sich später aber von dieser Lehre. Viele der Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen waren einfach nicht als Anpassungen deutbar. Warum sollten die Flosse eines Delphins und der grabende Arm eines Maulwurfes die gleichen Knochenelemente aufweisen? Owens bedeutendste Leistungen waren die Einführung der Begriffe »Homologie« und »Analogie« sowie die Rekonstruktion eines Archetypus für die Wirbeltiere. Homolog sind Organe gleichen Aufbaus, die jedoch verschiedene Funktionen wahrnehmen. Die Brustflosse eines Delphins und die Vorderextremität eines Maulwurfes sind homolog. Analog sind Organe, die keine Strukturelemente gemeinsam haben, aber identischen Zwecken dienen. Die Flügel eines Schmetterlings und ein Vogelflügel sind analog. Richard Owen deutete homologe Organe nicht als Hinweis auf eine gemeinsame Abstammung, sondern als Ausarbeitungen eines überzeitlichen, grundlegenden »Planes«, des Archetypus.

Richard Owens Archetypus der Wirbeltiere aus seinem Buch On the archetype and homologies of the vertebrate skeleton, London 1848

Die romantische Naturphilosophie, die Idee der Rekapitulation und die idealistische Morphologie mit ihren Bauplänen erscheinen aus der heutigen Perspektive wie Denkgebäude, die fast notwendigerweise zu Ideen des Artenwandels und historischer Abstammung führen mussten. Doch die Vorstellung der Unwandelbarkeit der Arten war zu dieser Zeit so fest verankert, dass nur wenige Autoren wagten, die Wandelbarkeit von Arten ernsthaft vorzuschlagen.

Theorien des Artenwandels

Radikale Theorien zur Wandelbarkeit der Arten wurden von zwei Franzosen vorgeschlagen: Jean-Baptiste Lamarck (1744–1829) und dem heute fast vergessenen Etienne Geoffroy St. Hilaire (1772–1844). Lamarck schuf ein durch und durch dynamisches biologisches Weltbild. Einfache Lebensformen entstanden beständig und spontan aus unbelebter Materie. Lamarck erklärte, wie diese Lebensformen immer komplexer wurden, mit dem folgenden Mechanismus: Organismen passen ihr Verhalten an Veränderungen in der Umwelt und ihrem inneren Milieu an. Wenn Bedarf an einem neuen Organ entsteht, werden durch diesen Bedarf und die Bewegungen »unwägbarer« Flüssigkeiten, die durch neues Verhalten ausgelöst werden, neue Gewebe geschaffen. Der beständige Gebrauch führt zu einem immer stärkeren Wachstum und einer immer weitergehenden Entwicklung des neuen Organs. Solche neu erworbenen Organe werden dann an Nachkommen weitervererbt. Die Entwicklung in der Natur verläuft also vom einfachsten Lebewesen zu immer komplexeren Formen. Anders als später Darwin glaubte Lamarck nicht, dass alles Leben auf einen einzigen Ausgangspunkt zurückgeführt werden kann. Verschiedene einfache Lebensformen waren vorstellbar, die jeweils zu einer eigenen Entwicklungsreihe führen. Der Ursprung des Lebens liegt auch nicht weit in der Vergangenheit, sondern die Entstehung von Leben aus unbelebter Materie geschieht auch in der Gegenwart. Der Lamarckismus war eine biologische Theorie mit weitreichenden politischen Implikationen. Organismen konnten durch eigene Anstrengungen in der Hierarchie des Lebens nach oben steigen. Der Lamarckismus konnte offensichtlich dazu motivieren, auch Menschen soziale Mobilität zuzugestehen. Diese Theorie fand ihren Weg auch nach Großbritannien, so beispielsweise über Robert Grant (1793–1874), der in Edinburgh Darwin während dessen Studienzeit dort in die Meeresbiologie einführte. Doch außerhalb Frankreichs wurde der Lamarckismus oft nur in Verbindung mit der Lehre eines anderen französischen Naturkundlers wahrgenommen.

Lamarcks Darstellung der Abstammungsverhältnisse aus seiner Philosophie zoologique aus dem Jahr 1809

Etienne Geoffroy St. Hilaire (1772–1844)