Das 13. Stockwerk - Dana Kilborne - E-Book
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Das 13. Stockwerk E-Book

DANA KILBORNE

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Beschreibung

 Das County General verfügte lediglich über zwölf Stockwerke. Wie konnte es dann sein, dass auf der Anzeige jetzt ganz deutlich die Zahl 13 stand? Und zwar nicht wie die anderen Zahlen als gewöhnliche Digitalanzeige, sondern in Form von flammenden Ziffern!  Imogen ist froh, als sie endlich einen Praktikumsplatz in einem Krankenhaus bekommen hat. Sie möchte nämlich später unbedingt einmal Ärztin werden und hofft nun, so schon einmal die ersten Erfahrungen in der Richtung sammeln zu können. Und die Zeit im Krankenhaus beginnt dann auch gleich aufregend: So flirtet nicht nur der süße Chase mit ihr, der mit einem gebrochenen Bein auf ihrer Station liegt – nein: Auch der geheimnisvolle Junge aus dem 13. Stockwerk hat es ihr angetan. Sein Name ist Maddox, und er hat etwas an sich, mit dem er sie in seinen Bann zieht. Doch dann erfährt sie, dass es im Krankenhaus nur zwölf Etagen gibt. Und angeblich ist Maddox vor Monaten gestorben!   

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Dana Kilborne

Das 13. Stockwerk

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1.

 

»Ich hab’s doch schon immer gewusst, Imogen, du hast echt den absoluten Vollschaden!« Danny schüttelte verständnislos den Kopf und räkelte sich mit einem süffisanten Grinsen auf der bequemen knallroten Sitzbank des Dollys Diner. »Wie man sich freiwillig die Sommerferien in einem Krankenhaus um die Ohren schlagen kann, ist mir wirklich ein Rätsel.«

Ich unterdrückte ein Seufzen. Aber ehrlich gesagt überraschte mich seine Reaktion nicht einmal. Mein neunzehnjähriger Bruder war nicht gerade bekannt dafür, dass er sich, wenn es um Arbeit ging, jemals ein Bein ausgerissen hätte. Und seinen unsterblichen Ruf an der Amberfield High hatte er sich auch nicht durch seine herausragenden schulischen Leistungen verdient.

»War mir schon klar, dass du das nicht verstehen würdest«, erwiderte ich mit einem Schulterzucken. »Aber ich will eines Tages Ärztin werden, und da kann es nicht schaden, wenn ich vorher schon mal ein paar Erfahrungen sammle.«

»Ja, ja, meine ehrgeizige kleine Schwester …« Er legte seiner bildhübschen Freundin Tammy einen Arm um die Schultern und erklärte ihr mit todernstem Gesichtsausdruck: »Echt, da ist es doch kein Wunder, dass unsere Eltern mich für das schwarze Schaf der Familie halten – so hoch, wie Madame hier die Messlatte gehängt hat.«

»Ach, armer Danny-Boy«, neckte ich ihn schmunzelnd und nahm einen Schluck von meiner Cherry Coke. »Aber ich fürchte, die Suppe hast du dir ganz allein eingebrockt, mein Lieber. Vielleicht hättest du deine Nase auf der Senior High lieber mal in die Bücher statt in den Ausschnitt von Daphne Wilkins Bluse stecken sollen.«

Tammy, die gerade einen Schluck von ihrem Erdbeer-Milchshake genommen hatte, konnte sich nur knapp zusammenreißen, um nicht loszuprusten und ihren Drink als rosa Sprühnebel durch das ganze Lokal zu verteilen. »Klasse Mo, gib’s dem alten Aufreißer!«, kicherte sie atemlos. »Der hat’s nicht anders verdient!«

»Toll, dass du dich jetzt auch noch auf die Seite meiner kleinen Schwester schlägst«, nörgelte Danny schmollend. Doch schon eine Sekunde später hatte er wieder sein übliches, spitzbübisches Lächeln im Gesicht, das ihn – von mir selbst vielleicht einmal abgesehen – für die gesamte weibliche Bevölkerung von Hazel Creek im Alter zwischen sechs und sechzig so unwiderstehlich machte. »Aber was soll’s, vielleicht hast du wirklich Dads Intelligenz geerbt«, sagte er. »Dafür habe ich Moms gutes Aussehen!«

Darüber musste dann sogar ich lachen. Es stimmte schon, Danny hatte eindeutig die Gene unserer Mutter abbekommen. Er sah wirklich ziemlich gut aus mit seinen goldblonden Locken und den strahlendblauen Augen – was ich von mir selbst nicht unbedingt behaupten konnte.

Mein voller Name lautet übrigens Imogen Phillippa Davis, und mein Haar ist straßenköterblond, störrisch und widersetzt sich vehement jedem Versuch, es zu einer einigermaßen vernünftigen Frisur zu bändigen. Zudem ist meine Haut so hell, dass ich schon einen Sonnenbrand bekomme, wenn ich nur an ein Sonnenbad denke, und zudem über und über mit Sommersprossen bedeckt. Ich bin also nicht gerade das, was man eine klassische Schönheit nennt, aber wenn ich morgens beim Zähneputzen in den Spiegel schaue, bin ich trotzdem ganz zufrieden – es hätte schlimmer kommen können.

»Und du wirst echt die ganzen Ferien über im County General arbeiten?«, fragte Tammy interessiert.

Ich nickte. »Yep, und gleich morgen geht’s auch schon los. Allerdings arbeite ich bloß sechs Stunden am Tag und in verschiedenen Schichten. Ganz so schlimm, wie mein lieber Bruder behauptet, wird es also nicht werden. Ein bisschen Freizeit bleibt mir dann doch noch.«

Ich musste mich ziemlich zügeln, so nüchtern darüber zu sprechen. In Wahrheit konnte ich es nämlich kaum erwarten, endlich mein Praktikum im County General Hospital anzutreten. Schon als kleines Kind hatte ich Ärztin werden wollen, das war immer mein größter Wunsch gewesen. Während Danny seine Berufswünsche häufiger wechselte als andere Leute ihre Unterwäsche – heute Müllmann, gestern Profifootballer und morgen Astronaut –, blieb ich in dieser Hinsicht beständig. Ich wollte anderen Menschen helfen, sie heilen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ich war echt happy, dass ich in diesem Sommer endlich die Gelegenheit bekam, zum ersten Mal ein bisschen in meinen Traumjob hinein zu schnuppern. Schon mit zwölf Jahren hatte ich mich das erste Mal um ein solches Praktikum beworben, aber aufgrund meines Alters eine Absage kassiert. So ging es auch die nächsten drei Jahre weiter. Doch jetzt, mit sechzehn, war mein großer Traum endlich in Erfüllung gegangen – und das würde ich mir auch ganz sicher von Danny nicht madig machen lassen.

»Für mich wäre das jedenfalls nichts«, schloss mein gutaussehender Bruder schließlich und rümpfte die Nase. »Mir würde sich schon aufgrund des Gestankes nach Desinfektionsmitteln nach spätestens fünf Minuten der Magen umdrehen.«

Ich grinste und schwieg, wohl wissend, dass Danny noch an jedem Job etwas auszusetzen gehabt hatte, seit er das College geschmissen hatte und nach Hause zurückgekehrt war. Oh ja, dachte ich, du hast wirklich Moms Gene geerbt. Lola Davis war ein engelsgleich schönes, herzliches und liebevolles Wesen, doch im Grunde ihres Herzens eher träge und bequem. Ganz anders als mein Dad also – und was das anging, war ich ganz froh, dass ich mehr nach ihm kam als nach meiner Mom.

 

*

 

»Imogen Davis.« Die Frau, die mir als Schwester Gillian vorgestellt worden war, ließ sich meinen Namen auf der Zunge zergehen wie Erdbeereis an einem heißen Sommertag. Schließlich lächelte sie. »Du bist das also, ich hab schon so einiges von dir gehört. Wie man sagt, hast du die Krankenhausleitung mit deiner Hartnäckigkeit schier zur Verzweiflung getrieben. Du bist die jüngste Praktikantin, die das County General jemals angenommen hat, weißt du das eigentlich?«

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Nein, das hatte ich nicht gewusst, und es machte mich verlegen. »Ich … ich möchte halt unbedingt später mal Ärztin werden«, erklärte ich und wechselte rasch das Thema. »Ist es hier auf der Station eigentlich immer so ruhig?«

Gillian schüttelte lachend den Kopf. »Ruhig? Warte mal ab, bis in einer knappen Viertelstunde die Mittagsruhe vorbei ist, dann wirst du sehen, wie ruhig es hier ist. Glaub mir, Kleines, hier geht es für gewöhnlich zu wie in einem Bienenstock. Gar nicht so leicht, da die Übersicht zu behalten.« Sie lächelte freundlich. »Am besten, du hängst dich erst mal für eine Weile an meinen Rockzipfel, einverstanden? Dabei lernst du dann die ganze Station kennen, auch ohne dass ich für dich eine extra Führung veranstalten muss.«

Zweifelnd blickte ich die langen, leeren Gänge hinunter. Irgendwie konnte ich mir nicht so recht vorstellen, dass hier schon bald die Post abgehen sollte, alles wirkte so ruhig und friedlich. Doch wie ich bald feststellen sollte, hatte Schwester Gillian keineswegs übertrieben, denn mit dem Ende der Mittagsruhe kehrte das Leben mit einem Paukenschlag auf die Station zurück. Ich hielt mich in ihrem Windschatten, so gut es eben ging, aber ich schätze, ich war ihr keine besonders große Hilfe. Mein größter Beitrag zu ihrer Arbeit bestand wohl darin, dass ich mich bemühte, ihr nicht ständig im Weg zu stehen.

Innerhalb kürzester Zeit lernte ich, Gillian zu bewundern. Ihre Art, mit den Patienten umzugehen, war schwer beeindruckend. Sie arbeitete routiniert und zügig, ohne dabei jemals unfreundlich oder hektisch zu werden. Im Gegenteil: Sie hatte für jede Klage, jedes Wehwehchen ein offenes Ohr und zögerte auch nicht, mal fünf Minuten länger am Bett eines Patienten zu verbringen, wenn sie spürte, dass er ein bisschen Gesellschaft brauchte.

Doch als wir Zimmer 243 betraten, wurden meine Gedanken schlagartig in eine andere Richtung gelenkt. Eigentlich ein Doppelzimmer, war es augenblicklich jedoch nur mit einem einzigen Patienten belegt, dessen dick eingegipstes Bein mittels einer Halterung, die an der Decke hing, in einer hoch liegenden Position fixiert worden war. Überall waren Blumen, Genesungskarten und Stofftiere verteilt, neben dem kleinen Nachttisch stand hochkant ein altes, ziemlich schäbig aussehendes Skateboard.

Davon bekam ich allerdings nur am Rande etwas mit, denn ich war wie gebannt von den Augen dieses Patienten. Sie waren so leuchtend grün, dass sie wie kostbare Smaragde funkelten. Ich konnte nicht aufhören, dieses Paar umwerfender Augen anzustarren.

»Hallo Chase, mein allerliebster Lieblingspatient«, riss mich Schwester Gillian aus meiner Trance – gerade noch rechtzeitig, bevor es peinlich für mich werden konnte (zumindest hoffte ich das). »Wie geht’s uns denn so an diesem strahlenden Montagnachmittag?«

»Meine liebste Schwester Gillian«, konterte er amüsiert. Seine Stimme klang warm und freundlich. »Wie würden Sie sich an meiner Stelle fühlen? Die Sommerferien haben begonnen, das Wetter ist fantastisch – und ich muss hier in einem öden Krankenhauszimmer vor mich hinvegetieren und kann nicht mal aus meinem Bett aufstehen.«

Schwester Gillian lachte. »Ach komm, so schlimm ist es doch auch nicht. Im Übrigen bin ich ganz froh, dass du eine Weile ruhig liegen musst. Wahrscheinlich ist es einfacher, einen Sack Flöhe zu hüten als dich, wenn der Doc dir endlich deinen Gips abgenommen hat.« Sie schien sich erst jetzt daran zu erinnern, dass ich auch noch mit von der Partie war – ich hegte den leisen Verdacht, dass sie Chase am liebsten für sich allein haben wollte, aber das ließ sich natürlich nur schwer nachweisen. Jedenfalls winkte sie mich zu sich heran. »Übrigens, Chase, Honey, das hier ist Imogen Davis. Sie wird über die Sommerferien bei uns im Krankenhaus als Praktikantin arbeiten.«

Er lächelte – und ich fiel beinahe in Ohnmacht. Mein Gott, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Sicher, auch ich hatte schon mal einen Typen getroffen, den ich cool fand – immerhin war ich inzwischen sechzehn! Aber meine Reaktion auf Chase war damit absolut nicht zu vergleichen. In seiner Nähe zu sein, raubte mir fast den Verstand.

»Hi Imogen«, sagte er und zwinkerte mir zu – ja, richtig gehört, dieser umwerfend gut aussehende Typ zwinkerte mir zu! »Bist du ab heute meine persönliche Assistentin, oder muss ich dich am Ende mit all den anderen Patienten teilen?«

Ich schluckte schwer. Meine Kehle fühlte sich an, als wäre sie mit Schmirgelpapier ausgelegt. Für gewöhnlich war ich nicht gerade schüchtern (böse Zungen behaupten sogar, ich hätte eine ziemlich große Klappe), doch in diesem Augenblick bekam ich kaum mehr als ein heiseres Krächzen heraus.

Zum Glück übernahm Gillian das Sprechen für mich. »Sorry, Chase, aber Imogen will schließlich sehen wie es so tagtäglich in einem Krankenhaus zugeht, bei dir lernt sie höchstens was über Skateboards und Halfpipes.«

Chases Augen begannen bei ihren Worten zu leuchten, und er warf einen sehnsüchtigen Blick zu seinem Skateboard herüber. »Oh Mann, was würde ich dafür geben, jetzt auf meinem Board stehen und richtig Gas geben zu können!«

»Das mit dem Gas geben solltest du in der nächsten Zeit lieber sein lassen«, mahnte Schwester Gillian ernst. »Bei deinem Sturz hast du dir einen komplizierten Splitterbruch zugezogen, du kannst froh sein, dass du überhaupt so glimpflich davongekommen bist.«

Im Gegensatz zu mir sah sie nicht, dass Chase hinter ihrem Rücken wild mit den Augen rollte, als sie zur Tür ging. Nur mit großer Willenskraft gelang es mir, einen heftigen Lachkrampf zu unterdrücken. Als ich noch einmal zurückblickte, bevor ich auf den Korridor hinaustrat, sah ich, dass Chase mir noch einmal zuzwinkerte.

Mein Herz machte einen ziemlichen Hüpfer.

 

*

 

In den nächsten Stunden kamen wir unglücklicherweise nicht dazu, Chase noch einmal einen Besuch abzustatten. Auf der Station war wirklich die Hölle los, Schwester Gillian hatte nicht zuviel versprochen. Ich musste drei Anläufe starten, um im Schwesternzimmer kurz mein Tunfisch-Käse-Sandwich herunterzuwürgen. Andauernd drückte irgendwo ein Patient auf seinen Rufknopf, und man konnte ja schließlich nie wissen, ob es sich nicht um einen Notfall handelte.

Als gegen sechs Uhr das Abendessen für die Patienten ausgeteilt wurde, war ich bereits vollkommen fertig. Meine Füße taten so weh, dass ich kaum mehr einen Schritt machen konnte, meine Arme waren vom ewigen Schleppen ganz ausgeleiert, und mir war richtig schlecht vor Hunger. Langsam begann ich mich zu fragen, wie man all diesen Stress bewältigen und trotzdem noch so cool drauf sein konnte wie Schwester Gillian und ihre Kolleginnen. Ich für meinen Teil hatte jetzt schon Bedenken, wie ich den nächsten Tag auf die Reihe kriegen sollte.

Schwester Gillian hatte gerade das letzte Tablett vom Wagen genommen, um es zum Patienten zu bringen, als das gedämpfte Klingeln des Aufzugs erklang, was bedeutete, dass die Küche einen neuen Wagen mit Patientenmahlzeiten zu uns hinaufgeschickt hatte. Sie wandte sich an mich. »Imogen, sei doch bitte so lieb und hol das Essen schon mal aus dem Aufzug, bevor jemand anderes den Rufknopf drückt, ja? Den leeren Wagen kannst du dann einfach hineinstellen und ins Untergeschoss zurückschicken.«

Ich nickte. »Klar, kein Problem.« Tatsächlich war ich froh, mich auch mal nützlich machen zu können.

Als ich vor dem Aufzug stand, wunderte ich mich schon ein bisschen, dass er sich noch nicht geöffnet hatte, doch ich dachte mir nichts dabei. Ich drückte auf den Rufknopf, und die beiden Türhälften glitten mit einem leisen Zischen auseinander.

Ich runzelte die Stirn, denn was ich im Fahrstuhl vorfand, war eindeutig nicht der Essenswagen aus der Küche. Es sah eher aus wie ein alter Bademantel, den jemand achtlos auf den Boden des Aufzugs geworfen hatte.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich wirklich begriff, dass in diesem Bademantel noch jemand drinsteckte. Mit weichen Knien betrat ich die Kabine und beugte mich nach unten. Meine Finger zitterten, als ich sie nach dem nackten Fußknöchel ausstreckte, der aus dem unteren Teil des Bademantels herausragte.

Ich berührte ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann zuckte ich zurück, als hätte ich mich verbrannt. Doch war Quatsch, denn die Haut unter meinen Fingern war nicht heiß gewesen, sondern kalt.

Eiskalt.

Sofort war mir klar, dass durch die Adern dieses Menschen kein Blut mehr floss.

Ich schrie.

 

 

 

2.

»Imogen? Imogen, kannst du mich hören?«

Ich kauerte in der Ecke des Aufzugs, fühlte die kalte Metallwand in meinem Rücken, sah Schwester Gillian, die sich über mich beugte, und spürte den Schmerz, wenn sie mir mit der flachen Hand gegen die Wange schlug. Das alles bekam ich schon mit – aber eher wie ein Zuschauer, der sich einen Film im Kino ansieht.

Ich wusste nicht, wie lange ich schon hier saß, doch das war mir auch völlig gleichgültig. Die Zeit spielte keine Rolle mehr für mich. Meine Gedanken wirbelten durcheinander, als ob gerade ein Hurrikan durch meinen Kopf tobte. Ich konnte nur an eines denken: Da lag ein Toter auf der anderen Seite des Fahrstuhls! Er war nicht bewusstlos, er lag auch nicht im Koma, er war tot.

TOT!

Gnädigerweise hatte jemand inzwischen ein weißes Bettlaken über dem reglosen Körper unter dem Bademantel ausgebreitet. Trotzdem konnte ich nicht anders tun als weiter dorthin zu starren und zum Himmel zu beten, dass sich das tote Etwas unter dem Laken nicht plötzlich zu bewegen begann …

Es reicht!, rief ich mich selbst zur Ordnung. Dieser Mensch ist tot, ja, aber wenn du später ernsthaft mal Ärztin werden willst, solltest du dich vielleicht schon mal an den Anblick von Leichen gewöhnen!

Ich blinzelte – es erschien mir wie eine unglaubliche Kraftanstrengung.

»Ich glaube, sie kommt wieder zu sich«, seufzte Gillian erleichtert. Sie und eine ihrer Kolleginnen packten mich sanft, aber bestimmt unter den Achseln, stellten mich auf und schoben mich aus dem Aufzug. Als ich den Boden des Korridors unter meinen Füßen spürte, schien eine tonnenschwere Last von mir abzufallen. Ich versuchte, tief durchzuatmen – es wurde ein Schluchzen daraus.

Schwester Gillian führte mich zu einer Bank, auf die ich mich fallen lassen konnte. Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Auf einmal kam ich mir ziemlich lächerlich vor. »Es tut mir leid«, stammelte ich verlegen. »Ich … Ich …«

Ein Lächeln huschte über Gillians Gesicht. »Nicht doch, Kleines, es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest.« Sie seufzte schwer. »Wenn ich gleich an meinem ersten Tag über einen Toten gestolpert wäre, hätte mich das wahrscheinlich auch ziemlich aus der Bahn geworfen.«

Ich rang mir ein Lächeln ab, das aber wahrscheinlich ziemlich misslang. »Wer … wer war der Tote denn eigentlich?«, fragte ich. »Ein Patient?«

Schwester Gillian nickte. »Ja, sein Name war Raymond Grant. Er ist vor ein paar Tagen mit Herzproblemen eingeliefert worden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mr. Grant war schon ziemlich alt. Wir dachten zwar, dass er wieder gesund wird, weil es ihm eigentlich schon viel besser ging, aber das Leben macht einem eben manchmal einen Strich durch die Rechnung.«

»Oder der Tod«, fügte ich leise hinzu.

Sie nickte. »Oder der Tod.«

*

»Na? Wie war dein erster Tag, Schwesterherz?« Danny grinste schief. »Oder muss ich jetzt schon Dr. Schwesterherz zu dir sagen?«

Ich verzog gequält das Gesicht. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, waren Dannys blöde Scherze.

»Was ist los?«, fragte Tammy, die wie immer mit von der Partie war. »Du siehst ja nicht gerade happy aus.«

»Stimmt«, stellte jetzt auch Danny fest und runzelte die Stirn. »Die Arbeit im Krankenhaus ist wohl doch nicht so toll, wie du dachtest, was?«

Ich schüttelte den Kopf – so wie ich meinen Bruder kannte, würde er eh keine Ruhe geben, bis ich ihm alles erzählt hatte. »Das ist es nicht«, sagte ich. »Die Arbeit im County General hat mir echt Spaß gemacht, auch wenn alles sehr anstrengend ist. Aber ich … Na ja, ich bin im Fahrstuhl quasi über einen Toten gestolpert. Das war schon ziemlich heavy.«

Danny starrte mich erschrocken an. »Jetzt noch mal langsam zum Mitschreiben: Du hast also einen Toten gesehen? Okay, das ist schließlich ein Krankenhaus, da stirbt auch schon mal jemand. Tragisch, aber nicht zu ändern. Im Fahrstuhl? Kann ich auch noch mit leben, auch Leichen müssen irgendwie transportiert werden.« Er schüttelte den Kopf. »Aber gestolpert? Wie, in Gottes Namen, soll ich mir das vorstellen?«

»Ich hab ihn im Aufzug gefunden, weil er dort gestorben ist.« Ich stocherte mit der Gabel lustlos in meiner Portion Pommes herum. Schließlich schob ich den Teller zur Seite. »Keiner weiß so genau, wie der alte Mann überhaupt in den Fahrstuhl gekommen ist, weil er eigentlich noch auf der Intensivstation lag.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer, ich habe ihn dann jedenfalls gefunden.«

»Wahnsinn!« Danny schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber irgendwie auch cool, oder nicht! Dein erster Arbeitstag, und du schließt gleich Freundschaft mit einer Leiche. Das nenn ich mal abgefahren!«

Tadelnd schüttelte Tammy den Kopf. »Also manchmal frage ich mich wirklich, was ich an dir finde, Danny Balthazar Davis!« Mein Bruder zuckte zusammen, als er seinen verhassten Mittelnamen hörte. »Sag mal, merkst du eigentlich noch was?«, fuhr sie fort. »Deine Schwester ist total runter mit den Nerven, und du findest das alles nur cool?«

Schuldbewusst ließ Danny die Schultern hängen. »Sorry, so hab ich das echt nicht gemeint. Ich dachte ja nur, weil … na ja … Ach, um ehrlich zu sein, ich weiß nicht mal, was ich mir dabei gedacht habe.«

»Schon gut.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Es war halt nur ein ziemlicher Schock für mich, weißt du?«

»Und sonst hast du nichts zu erzählen?«, fragte Tammy. »Keine süßen Pfleger auf deiner Station oder so was in der Richtung?«

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss, und fluchte leise in mich hinein. »Na ja, da war schon jemand, den ich ganz nett fand«, erwiderte ich vage.

»Nur nett?«, klinkte sich jetzt auch Danny wieder ein. Er schaute mich mit einer Mischung aus Stolz und Eifersucht an, die mich zum Lachen brachte.

»Vorerst nur nett. Aber ich werde dich natürlich auf dem Laufenden halten, Bruderherz«, spöttelte ich. »Sollte er mir irgendwelche unsittlichen Anträge machen, ohne zuvor bei Dad um meine Hand angehalten zu haben, erfährst du es als Erster.« Ich zwinkerte ihm zu. »Nur für den Fall, dass du Blutrache für meine verlorene Unschuld nehmen willst oder so …«

»Sehr witzig«, fauchte Danny, doch ich wusste genau, dass er mir nicht ernsthaft böse war. Im Grunde hatten Tammy und er mich wohl bloß von meinen trübsinnigen Gedanken ablenken wollen, und dafür war ich ihnen durchaus dankbar.

Trotzdem bekam ich mein schauriges Erlebnis auch später am Abend, als ich schon im Bett lag, einfach nicht aus dem Kopf. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, versuchte zu schlafen, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich etwas Wichtiges übersehen hatte.

Bloß was?

*

»Na? Wie geht’s dir heute Abend?« Chase lächelte, und ich spürte schon wieder, wie mir die Knie weich wurden. »Als du denn ganzen Tag lang hier nicht aufgetaucht bist, dachte ich schon, du hättest bereits das Handtuch geworfen.«