"Das Absolute ist der Geist." - Thomas O. H. Kaiser - E-Book

"Das Absolute ist der Geist." E-Book

Thomas O. H. Kaiser

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Beschreibung

"Das Absolute ist der Geist": Geprägt von der griechischen Philosophie und den Werken von Baruch Spinoza (1632-1677), Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Immanuel Kant (1724-1804), Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) versuchte Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Wirklichkeit mit seinem komplexen philosophischen System vollständig und als Ganzes zu erfassen. Er vertrat die Idee, dass das Absolute der sich selbst in einem dialektischen Entwicklungsprozess entfaltende reine Gedanke oder Geist war, der sich in der Geschichte manifestierte.

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Für

Salome

zum 17. Geburtstag

„Was vernünftig ist, das ist wirklich;

und was wirklich ist, das ist vernünftig.“1

(G. W. F. Hegel)

„Der Geist… ist nie in Ruhe, sondern

in immer fortschreitender Bewegung begriffen.“2

(G. W. F. Hegel)

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“3

(K. Marx)

„Anfang und Ende aller Dinge ist in Gott.“4

(H. Heine)

„Nothing is real…“5

(The Beatles)

„…That God is one…“6

(B. Dylan)

1 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke Bd. 7), FfM 1972, 11.

2 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Werke Bd. 3), Vorrede, a. a. O., 18.

3 K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx-Engels Studienausgabe in 4 Bänden, hg. von I. Fetscher, Bd. 1: Philosophie, FfM 1966, 1976, 139-141, Zitat auf 141.

4 Heinrich Heine, Die romantische Schule. Erstes Buch [1834], in: ders., Sämtliche Werke in drei Bänden, a. a. O., Bd. 3, 5-116, Zitat auf 6).

5 J. Lennon/P. McCartney, Strawberry Fields Forever, in: The Beatles Complete, London-New York-Sidney, o. D., 170.

6 B. Dylan, RING THEM BELLS, in: ders., Lyrics 1962-2001. Sämtliche Songtexte. Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2004, 22004, 998.

INHALT

Vorwort

Einleitung

I. In Stuttgart und Tübingen

II. In Bern und Frankfurt

III. In Jena, Bamberg und Nürnberg

IV. In Heidelberg und Berlin

V. Wirkungsgeschichte

Nachwort

Personenverzeichnis

Zeittafel

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Über die Künstlerin

Anhang

Vorwort

Der Titel dieses Buches lautet: „`Das Absolute ist der Geist.´ Über Hegel. Werkbiographische Betrachtungen.“ Es entstand auf dem Hintergrund meiner schon länger andauernden Beschäftigung mit der Philosophie eines der einflussreichsten Philosophen aller Zeiten anlässlich der Wiederkehr seines 250. Geburtstages im Jahr 2020.7

Warum fand ich Georg Wilhelm Friedrich Hegel interessant?

Hegel zufolge war Gott Geist, reiner Geist – eine Bezeichnung für Gott, die nicht nur biblische Anklänge hatte8, sondern geradezu modern klang: Gott, von Hegel u. a. `das Absolute´9 genannt, war Geist – wie interessant!10 Aber was genau meinte Hegel damit? Hinzu kam Hegels monumentales wie rätselhaft-spekulatives Gesamtsystem11, das ich faszinierend fand: Hegel setzte das spekulative, unendliche Denken gegen das empirische, endliche Denken. Er erhob den ungeheuerlichen Anspruch, mit seiner Philosophie die gesamte Wirklichkeit – zu ihr gehörten auch der Zufall, die Sinnlichkeit, die bloße Erscheinung, der Schmerz und der Tod – zusammenhängend und systematisch zu erfassen und zu interpretieren.12 Wer jetzt meint, dass die Vorstellung eines gedanklichen Gesamtsystems eine antiquierte oder unrealistische Vorstellung ist, der sei verwiesen auf bestehende weltweite Systeme wie das Internet, auf die Computersysteme von Microsoft und Apple, auf das kapitalistische System, das in vielen Teilen der Welt herrscht, auf das kommunistische System in China und Nordkorea oder auf die Idee, die hinter einer ganzheitlichen Medizin steht. Die Beispiele, in denen Ideen Systeme hervorriefen und die Welt ganzheitlich zu erfassen versuchten, sind Legion. Der italienische Philosoph Vittorio Hösle, nach eigenem Bekunden am meisten fasziniert von Platon und Hegel, war 2012 der Meinung: „Ich glaube…, dass Philosophie, recht verstanden, den Versuch zu unternehmen hat, das Ganze der Wirklichkeit in den Blick zu bekommen.13

„Das Absolute ist der Geist.“14 Wann immer Hegel vom `Absoluten´ sprach, meinte er das von allem Losgelöste, das Unbedingte, etwas, das nicht durch Anderes, sondern nur durch sich selbst begriffen werden konnte, und beschrieb die ganze, immer gleiche Wirklichkeit mit ganz unterschiedlichen Begriffen wie `das Wahre´, `das Ganze´, `Gott´ oder `Geist´.15 Als einziger Weg, diese Wirklichkeit, dieses `Weltganze´16, zu erschließen, kam für Hegel allein `die Wissenschaft´17 mit ihrer Methodik in Frage: Nur mittels des Verstandes bzw. der Vernunft konnte Gott für Hegel vom Menschen erschlossen werden, keinesfalls durch Gefühl, Anschauung oder Intuition. „Dem Verstande“, so schrieb Hegel, musste „das Göttliche… das Unbegreiflichste“18 sein. Der evangelisch sozialisierte enzyklopädische Systemdenker 19 führte den geschichtlichen Prozess – in der Vernunft erblickte er die Triebkraft der Geschichte – zu einem metaphysischen System des absoluten Wissens zusammen, das absolute Gewissheit bieten, alles Widerständige ernst nehmen und nicht in einem verknöcherten System steckenbleiben sollte. 20 Der Widerspruch21, die Negation – Stichwort `Dialektik´22, und das fanden andere und ich immer faszinierend – gehörte für Hegel zum System, war bei der Wahrheitsfindung und bei der Interpretation von Wirklichkeit extrem wichtig – was das Studium Hegels zwar interessant, aber nicht gerade einfach macht.23 Will man die Texte Hegels erfassen, wird man, jahrelang auf schnelles Lesen und Verstehen trainiert, zu einem extrem langsamen Textstudium gezwungen – denn Hegel sagt in wenig Text viel, dadurch, dass er es sehr komprimiert sagt. 24 Der Anspruch Hegels, die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt als reine, vollkommene Darstellung des absoluten Geistes erfassen und definitiv erklären zu können sowie quasi die westliche philosophischtheologische Geistesgeschichte, in der der Geist in Form der Geisteswissenschaft zu sich selbst zurückkam, vollendet zu haben, sowie sein Anspruch auf systematische Vollständigkeit, also auf Totalität, forderte schon Theologen und Philosophen vor zweihundert Jahren zur kritischen Reflexion heraus und bleibt angesichts der Moderne auch gegenwärtig eine Herausforderung.

Erstmals bin ich Hegels Philosophie während meiner Schulzeit in der Reformierten Oberstufe des Gymnasiums Liebigstraße in Holzminden begegnet.25 Das ist jetzt etwa vierzig Jahre her. Ich habe mich mit Hegels philosophischem Entwurf im Grundkurs Philosophie beschäftigt, als ich mich mit dem Werk von Karl Marx und Friedrich Engels auseinandersetzte.26 Seit dieser Zeit habe ich immer wieder einmal, sofern es meine Zeit zuließ, Hegel studiert. In meinem Theologiestudium spielte Hegel nur eine marginale Rolle – was, denke ich, nicht nur an der formalen inhaltlichen Ausrichtung des Studiums und der Besetzung der Lehrstühle vornehmlich mit Barthianern, Bultmannianern und Lutheranern, sondern auch daran gelegen haben könnte, dass Hegel in der Bundesrepublik Deutschland nach einem Boom unter den Angehörigen der 68er-Generation und ihrer Epigonen in den 1980-er Jahren dann in den Sozialwissenschaften, der Theologie oder selbst der Philosophie nicht mehr so wichtig war wie in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs 1968ff.27

Zu einer persönlichen Wiederentdeckung Hegels kam es mit Beginn meines Philosophiestudiums in Heidelberg Anfang der neunziger Jahre: Während ich mich wie jede/jeder ordentliche Philosophiestudierende im philosophischen Grundstudium im `Logik´-Kurs pflichtbewusst zwecks Erfüllung der Studienauflagen vor allem mit den Gedanken Quines28 und der höheren Mathematik herumschlagen musste, konnte ich gottseidank parallel dazu Veranstaltungen belegen, in denen es nicht nur um die „Form des Schließens“29, sondern um Sprache, ums Verstehen von Texten (Hermeneutik) und ums eigenständige systematische philosophische Nachdenken ging. Zu den von mir ausgewählten Veranstaltungen zählte u. a. auch ein Hegel-Interpretationskurs: Er fand im Sommersemester 1989 im Philosophischen Seminar in Heidelberg im Hegel-Zimmer, in dem sich eine Büste des Philosophen befand, statt. Unter den steinernen Blicken Hegels und unter der Leitung des international renommierten Hegel-Experten Prof. Dr. Hans Friedrich Fulda studierte ich mit Kommiliton*innen aus ganz unterschiedlichen Fakultäten Hegels `Phänomenologie des Geistes´30 – Hegels erster großer Wurf, ein Kunstwerk der deutschen Sprache und einer der wohl kompliziertesten Texte überhaupt. Wöchentlich näherten wir uns dem eigenwillig komponierten Text des Großmeisters der Dialektik und wagten uns unter Hans Friedrich Fuldas Leitung, die einzelnen Textabschnitte minutiös lesend und vorsichtig sezierend, an den Versuch einer Interpretation. Wir lernten dabei, dass das Geheimnis der Auslegung der Hegelschen Zeilen darin bestand, sich durch systematische Fragestellungen den Text zu erschließen. Die Ergebnisse meiner Beschäftigung mit Hegel in diesem Hegel-Interpretationskurs bündelte ich damals in einer wissenschaftlichen schriftlichen Hausarbeit. Sie wird im Anhang dieses Buches erstmals veröffentlicht. Dieser Hegel-Interpretationskurs, das kann ich heute rückblickend sagen, gehörte zu den geistigen Höhepunkten meines Philosophiestudiums in Heidelberg. Neben der `Phänomenologie´ lernte ich im Zuge dieses Kurses noch die anderen maßgeblichen Werke Hegels kennen31, der in ihnen versuchte, den Stufengang des Geistes geschichtlich vermittelt darzustellen und dabei besonders den Prozesscharakter der Erkenntnis betonte, um damit zu demonstrieren, dass jedes Moment der Entwicklung einzig und allein aus seiner Position im Gesamtprozess verständlich war: Hegels zweibändige `Wissenschaft der Logik´ (1812-1816)32, seine dreiteilige `Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften´ (1817) 33 und seine `Grundlinien der Philosophie des Rechts´ (1820)34, einem Jahrhundertwerk, das die Welt veränderte; darüber hinaus seine Vorlesungen zur Ästhetik, zur Religionsgeschichte und zur Weltgeschichte.35 Einunddreißig Jahre später lege ich nun diese Ausführungen zur Person Hegels und Aspekten seines Werkes vor – daran kann man erkennen, wie mich der Deutsche Idealismus36 im Allgemeinen und Hegel, dieser `Konservative´, „der die Macht der Tradition verteidigte“37, im Besonderen nachhaltig in ihren Bann gezogen haben! Die Tatsache, dass ich mich persönlich mehr zur liberalen und gerechten Sache hingezogen fühle – getreu dem bekannten Diktum `Alles ist relativ´ – und denke, dass nicht nur das Ganze das Wahre ist, sondern `das Ganze auch das Unwahre´38 (Theodor W. Adorno) sein kann, ferner auch eine Teilmenge durchaus ihre Daseinsberechtigung hat und wahr sein kann sowie manchmal auch die Intuition39 eine wichtige Komponente im Leben spielt, zeigt, steht auf einem anderen Blatt und soll an dieser Stelle nicht Gegenstand der Erörterungen sein.

So sind diese `werkbiographische Betrachtungen´ über Hegel entstanden. Wohlgemerkt: Es sind Betrachtungen! Ich habe bei der Beschäftigung mit Hegel nie den Anspruch gehabt, sein Leben und vor allem sein Werk in irgendeiner Hinsicht vollständig zu erfassen – das geht auch gar nicht! Von mir berücksichtigt wurden aber der philosophische und politische Kontext, in denen Hegel sich bewegte. Hegel-Zitate wurden um den Umfang der Ausführungen und auch um die Lesbarkeit willen aufs Wesentliche beschränkt. Im Anmerkungsapparat, der der wissenschaftlichen Methodik und dem eigenen Anspruch geschuldet ist, befinden sich Quellenangaben und Erläuterungen zum Text; dieser ist jedoch auch ohne dessen Beachtung als flüssiger Text lesbar. Mittels eines Personenverzeichnisses, in dem am Schluss des Buches kurze Angaben zur Person gemacht werden, können sich Leser*innen einen schnellen Überblick über die im Text erwähnten Personen verschaffen: Personennamen im Text wurden daher von mir bei der erstmaligen Erwähnung kursiv gesetzt, so dass sie eindeutig in diesem Personenverzeichnis auffindbar sind. Eine Zeittafel im Anschluss daran informiert über wichtige Daten in Hegels Leben. Ins Literaturverzeichnis hat nicht nur in diesem Buch verwendete Literatur Eingang gefunden, sondern es sind dort u. a. auch ältere und jüngere Ausgaben der Werke Hegels mit eingeflossen, außerdem eine rein subjektive Auswahl der inzwischen unüberschaubaren Hegel-Sekundärliteratur, darunter natürlich auch neuere Werke.40

Im Anhang dann befindet sich a.) ein Scan meiner 24 Seiten starken Philosophischen Seminararbeit aus dem Sommersemester 1989, entstanden im Rahmen des Interpretationskurs von Hegels `Phänomenologie des Geistes´ unter Leitung von Hans Friedrich Fulda. Sie gibt einen guten Eindruck davon wieder, wie vor dreißig Jahren im Heidelberger Philosophischen Seminar Hegel gelehrt wurde, wie formal und inhaltlich schriftliche Hausarbeiten ausgesehen haben und davon, wie ich als 26jähriger junger Mann wissenschaftlich zu Hegel, dem Denker der geschichtlichen Bewegung, gearbeitet habe – allein mit Hilfe von Büchern, ohne Hilfsmittel wie das Internet zur Verfügung zu haben.

Kein Buch entsteht bekanntlich im Alleingang: Für Inhalt und Form zeichne ich allein verantwortlich.

Ich danke an dieser Stelle vielmals Barbara Dammenhayn-Scott, engagiertes Mitglied des Kirchengemeinderates der Evangelischen Kirchengemeinde Kadelburg, die wie schon bei anderen meiner Veröffentlichungen zuverlässig und mit genauem Blick die Aufgabe des Korrekturlesens des Manuskripts übernahm.

Ruth Rüttinger, Künstlerin aus Dogern, danke ich ganz herzlich für ihr Bild, das sie Ostern 2020 malte und das auf dem Titel dieses Buches zu sehen ist. Es steht für mich sinnbildlich im Hegelschen Sinne für die reine Idee, den absoluten Geist.

Gewidmet ist dieses Buch meiner Tochter Salome zu ihrem 17. Geburtstag am 27. Oktober 2020, verbunden mit den besten Wünschen für die Zukunft – vor allem dem Wunsch, dass ihr bei allem Nachdenken über die Religion der Glaube nicht abhandenkommen möge!

Kadelburg, 6. Januar 2021 Thomas O. H. Kaiser

7 Im Blick auf eine erste Orientierung zu Leben und Werk Hegels vgl. den umfangreichen Wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Wilhelm_Friedrich_Hegel (aufgerufen am 22.6.2020); ferner Peter Kunzmann/Franz-Peter Burkard/Franz Wiedmann, dtv-Atlas zur Philosophie. Tafeln und Texte. Mit 111 farbigen Abbildungsseiten, München 1991, 153ff., und Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Bd. 2, FfM 1980, 123-135, bes. 124ff. Zu meinen Studienzeiten kursierte noch die erste preisgünstige Erstauflage der im Suhrkamp-Verlag erschienenen Theorie-Werkausgabe, herausgegeben von dem Ehepaar Eva Moldenhauer (1934-2019) und Karl Markus Michel (1929-2000), damals beide im Lektorat des Suhrkamp-Verlags beschäftigt. Grundlage für ihre Ausgabe war die Hegel-Werkausgabe der Jahre 1832-1845, vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, FfM 1970. Inzwischen hat diese Aufgabe mehrere Neuauflagen erlebt und ist zur Hegel-Standardausgabe geworden, nach der auch ich, sofern nicht anders angegeben, zitiere.

8 Vgl. Joh 4, 24. Schon dem italienischen Philosophen Vittorio Hösle (geb. 1960) war aufgefallen, dass Hegel viele Anleihen aus dem Neuen Testament genommen bzw. seine späte Geist-Philosophie „ganz eindeutige neutestamentliche Wurzeln“ hatte (Vittorio Hösle, Zur Lage der Philosophie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft VI/2, Sommer 2012: Idealist – Kanaille – Rousseau, hg. v. Robert Norton & Ulrich Raulff, München 2012, 58-72, Zitat auf 61).

9 In Worten G. W. F. Hegels, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, a. a. O., 19, 79: „Das Absolute ist… das, was in einer Einheit endlich und unendlich ist.“

10 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, Dritter Teil, § 384 (Werke, Bd. 10), a. a. O., 29.

11 Vgl. zu Hegels Werk erhellend und weiterführend Hans Friedrich Fulda, Spekulatives Denken und Selbstbewußtsein, in: Theorie der Subjektivität, hg. von Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann, Ulrich Pothast (stw 862), FfM 1990, 444-479, und Walter Jaeschke/Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785-1845, München 2012, 547-691.

12 Vgl. Dina Emundts/Rolf-Peter Horstmann, G. W. F. Hegel. Eine Einführung, Ditzingen 2002, 32 (Lit.: 117-122). Aus diesem Gedanken heraus entstand der bekannte Hegel-Satz „Das Wahre ist das Ganze“ (G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 24). Auch später geht es um die Wahrheit, nämlich um „das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist“ (G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 63). Bei den letzten Worten des großen Soziologen Max Weber (1864-1920), der an den Folgen der Spanischen Grippe starb und dessen 100. Todestag wie Hegels 250. Geburtstag im Jahr 2020 begangen wurde, handelt es sich um eine Tautologie: `Das Wahre ist die Wahrheit´.

13 Vittorio Hösle, Zur Lage der Philosophie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft VI/2, a. a. O., 58-72, Zitat auf 69; vgl. weiterführend Vittorio Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1998. Hegel-Experte Michael Theunissen hatte schon 1976 festgehalten: „…das Bedürfnis des Menschen nach Totalitätserkenntnis ist so elementar, daß es, wenn Philosophie und Theologie es nicht stillen, seine Befriedigung andernorts sucht“ (Michael Theunissen, Das Denken im Widerstreit von Glaube und Vernunft, in: Herder-Korrespondenz 30, 1976, 449-456, Zitat auf 452).

14 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie Dritter Teil, § 384 (Werke Bd. 10), a. a. O., 29.

15 Vgl. dazu Michael Theunissen, Begriff und Realität, in: Denken im Schatten des Nihilismus, a. a. O., 164-195, bes. 178.

16 Mit seinem `Weltganzen´ vertrat Hegel nicht wie Baruch de Spinoza (1632-1677) einen Gottesbegriff, der Gott mit der Natur gleichsetzte (`Pantheismus´) – das Weltganze oder Gott war nicht die Natur, sondern die gesamte Natur war Geist und allein das Geistige war das Wirkliche. Ernst Cassirer (1874-1945) zufolge ist Hegel nie Spinozist gewesen; die Natur hatte „in Hegels System kein unabhängiges Sein“ (Ernst Cassirer, Vom Mythos des Staates, a. a. O., 341) und war nicht das Absolute. Karl Löwith (1897-1973) zufolge war das Ganze bis zu Hegel eine Dreiheit – Gott, Mensch und Welt, vgl. das Interview mit Karl Löwith im SPIEGEL v. 20.10.1969, online zugänglich unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45520624.html (aufgerufen am 13.6.2020).

17 In der Vorrede zur `Phänomenologie des Geistes´ schreibt Hegel: „Der Geist, der sich so entwickelt als Geist weiß, ist die Wissenschaft“ (G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 29). Zur Einführung und näheren Erläuterung des Geist-Begriffs in Hegels Philosophie vgl. Walter Jaeschke, Hegels Philosophie, a. a. O.,153-170.

18 Herman Nohl (Hg.), Hegels theologische Jugendschriften. Nach den Handschriften der Königlichen Bibliothek in Berlin. Unveränderter Nachdruck der Originalauflage Tübingen 1907, FfM 1991, 22006, 315.

19 Hegel verstand sich zeitlebens als Lutheraner. Er ließ seine Kinder taufen und selbstverständlich konfirmieren, heiratete kirchlich und ließ sich kirchlich bestatten; seine Frau betätigte sich nach seinem Tod karitativ bei der Armenfürsorge in ihrer Kirchengemeinde.

20 Schon der Tübinger Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) hatte vom `Werden´ als dem Passwort, das Hegel von Anfang an verwendete, gesprochen, vgl. Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Erweiterte Ausgabe, Gesamtausgabe Bd. 8, FfM 1977, 226.

21 Dietmar Dath zufolge war Hegel „der größte Widerspruchslehrer der Philosophiegeschichte“ (Dietmar Dath, Hegel. 100 Seiten, Ditzingen 2020, 32). Vgl. dazu auch Hans-Georg Gadamers Vortrag „Hegel. Der Idealismus der Freiheit“, auf YouTube zugänglich unter: https://www.youtube.com/watch?v=3FPjSZ0o8s4 (aufgerufen am 17.9.2020), in dem Gadamer u. a. in der für ihn typischen Weise Hegels im schwäbischen Dialekt gesprochenes `Ha noi´ mit dessen Dialektik in Verbindung setzt; vgl. dazu auch https://www.y-outube.com/watch?v=ePvk6lDas0U (aufgerufen am 17.9.2020).

22 Ernst Bloch schreibt erhellend (vgl. Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, a. a. O., 121-150), die Dialektik habe bei Hegel insgesamt drei Stufen: Sie „ist 1. unmittelbare Einheit des Begriffs, 2. Entgegensetzung des Begriffs gegen sich selbst, 3. Wiedereinheit des Begriffs mit sich durch die Aufhebung des Gegensatzes. Anders gesagt: sie ist 1. Stufe des abstrakten Verstandes oder der einfach gesetzten Thesis, 2. Stufe der negativ vernünftigen Reflexion oder der Antithesis, von Hegel auch mit krisenhaftem Ausdruck Stufe der Negation, des Konflikts, der Kollision, der Differenz genannt, 3. Stufe der positiv vernünftigen Vermittlung, das heißt, Negation der Negation oder Synthesis. Keine dieser drei Bestimmungen darf selbständig gegen die anderen gehalten werden, sie müssen sich vielmehr durchdringen und in ihrer Endlichkeit immer wieder aufheben, immer wieder im Fluß halten, worin sie sind“ (Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, a. a. O., 122). Ihm zufolge korrigiert die Dialektik „den abstrakten Glauben an feste Tatsachen und angeblich unveränderliche Gesetze über ihnen…“ (Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, a. a. O., 145). Andernorts schreibt Bloch über Hegels Dialektik, sie sei „nicht nur… Einheit der Widersprüche, sondern Einheit der Einheit und der Widersprüche“ (Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe [Gesamtausgabe 4], FfM 1977, 125). Vgl. dazu auch, die unterschiedlichen Facetten der Dialektik beleuchtend, das Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hg. und eingeleitet von Rolf-Peter Horstmann (stw 234), FfM 32016.

23 Der Philosoph und Arzt Wolfgang Wieland (1933-2015), der im Alter von 22 Jahren bei Hans-Georg Gadamer (1900-2002) in Heidelberg mit einer Arbeit über Friedrich Wilhelm Schelling promovierte, sich mit 27 Jahren habilitierte und von 1983 bis zu seiner Emeritierung 1998 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Heidelberg war, schrieb: „Dieses Denken in Zusammenhängen, das den Widerspruch, der ein Moment der Wirklichkeit selbst ist, ernst nimmt und jeden Gegenstand unter mannigfachen Gesichtspunkten zugleich betrachtet, ist der Grund für die beträchtlichen Schwierigkeiten, die sich bei jedem ernsthaften Studium der Werke H[egel]s ergeben“ (Wolfgang Wieland, Art. `Hegel´, in: RGG3, Dritter Band, Tübingen 1959, Sp. 115-119, Zitat auf 116). Vg. dazu auch Christoph Helferich, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Stuttgart 1979: „Im Bereich großer Philosophie ist Hegel wohl der einzige, bei dem man buchstäblich zuweilen nicht weiß und nicht bündig entscheiden kann, wovon überhaupt geredet wird“ (326).

24 Schon Ernst Bloch hatte daran erinnert: „Hegel ist schwer, daran besteht kein Zweifel, er ist einer der unbequemen unter den großen Denkern“ (Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, a. a. O., 18). Bloch ermutigt aber dazu, Hegel zu lesen, denn: „Der gute Leser wird sich, was unglatte Schönheit angeht, in Hegels Deutsch so wohnlich fühlen wie in einer alten Stadt, mit gebogenen Gassen, deutlichem Zentrum. Viel Schwäbisches ist in der Sprache…“ (a. a. O., 20). Kern der Hegelschen Lehre war Bloch zufolge in nuce „die dialektische Subjekt-Objekt-Vermittlung…“ (a. a. O., 36).

25 Das nach der Straße, an der es lag, benannte neusprachliche Gymnasium Liebigstraße in Holzminden wurde 1990, acht Jahre, nachdem ich dort Abitur gemacht hatte, mit dem ehemaligen Gymnasium Wilhelmstraße unter dem Namen `Campe-Gymnasium´ vereinigt. Seine Vorläuferin war die 1569 gegründete Klosterschule Amelungsborn, eine auf das Jahr 1135 zurückgehende Zisterzienser-Abtei. Namensgeber ist der im Landkreis geborene Johann Heinrich Campe (1746-1818), Theologe, Feldprediger, Buchhändler, Schriftsteller und Erzieher Alexanders (1769-1859) und Wilhelms von Humboldt (1767-1835), und einer der Begründer des modernen Genres der Kinder- und Jugendliteratur. Als Freimaurer, Aufklärer und Sympathisant der Französischen Revolution erhielt Campe 1792 wie Friedrich Schiller (1759-1805), George Washington (1732-1799) und anderen Nicht-Franzosen, die sich um die französische Demokratie verdient gemacht hatten, den Ehrenbürgerbrief der Republik Frankreich.

26 Damals begegneten mir erstmals die Bücher von Paul-Heinz Koesters und Wilhelm Weischedel, die eine hilfreiche Einführung in Hegels System boten, vgl. Paul-Heinz Koesters, Deutschland, deine Denker. Geschichten von Philosophen und Ideen, die unsre Welt bewegten, Hamburg 31980, 120-143, und Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen in Alltag und Denken, München 1985, 209-220.

27 Vgl. dazu weiterführend Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte (1960-1990), FfM 22018. In der Kultur- und Geistesgeschichte des deutschen Historikers und Kulturwissenschaftlers Philipp Felsch (geb. 1972) geht es um die Hoffnungen der Angehörigen der Generationen der 68er- und der frühen 1970er-Jahre, die sich ins Studium schwieriger Texte stürzten, sich mit linken Theorien auseinandersetzten, um die bleierne bundesdeutsche Gesellschaft jener Zeit zu verändern und eine geistige Revolte herbeizuführen. Felsch verknüpft die Rezeption linker Theorie mit der Geschichte eines kleinen Berliner Verlags und des Verlagsmitbegründers und entführt Leserinnen und Leser in die Zeit der 1970er Jahre, in der diskutieren `in´ war. „Auf Marcuse folgte Marx, und auf Marx folgte Hegel: Wer mitdiskutieren wollte, legte sich die zwanzigbändige Suhrkamp-Gesamtausgabe zu.“ (13) Vgl. dazu auch Rudi Dutschke, Die Revolte. Wurzeln und Spuren eines Aufbruchs, hg. v. Gretchen Dutschke-Klotz, Jürgen Miermeister und Jürgen Treulieb, Reinbek 1991; Jürgen Miermeister, Rudi Dutschke. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1986, und Ulrich Chaussy, Rudi Dutschke. Die Biographie, München 2018. Melancholisch bemerkt Felsch schon zu Beginn seines Buches, dass heute „die intellektuellen Energien von `68 in schwach glimmende Substanzen zerfallen sind…“ (12).

28 Vgl. W. V. O. Quine, Grundzüge der Logik (stw 65), FfM 1969, 1974.

29 Theodor Bucher, Einführung in die angewandte Logik, Berlin-New York 1987, 13.

30 Für eine erste Sichtung vgl. den Wikipedia-Artikel auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Phänomenolo-gie_des_Geistes (aufgerufen am 29.4.2020).

31 Vgl. weiterführend Günter Zöller, Hegels Philosophie. Eine Einführung, München 2020, 27-119, und Walter Jaeschke, Hegels Philosophie, Hamburg 2020, der in der inhaltlichen Darstellung von Hegels Philosophie thematisch vorgeht (Lit: 417-431).

32https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaft_der_Logik (aufgerufen am 29.5.2020).

33https://de.wikipedia.org/wiki/Enzyklopädie_der_philosophischen_Wissenschaften (aufgerufen am 30.5.2020).

34https://de.wikipedia.org/wiki/Grundlinien_der_Philosophie_des_Rechts (aufgerufen am 30.5.2020).

35 In der Hegel-Forschung wird zwischen drei verschiedenen Textsorten Hegels unterschieden: Es gibt von Hegel verfasste und zu Lebzeiten publizierte Texte; von ihm verfasste, aber erst posthum veröffentlichte Texte wie Vorlesungsnotizen, Briefe und Tagebucheinträgen; und weder von Hegel verfasste noch zu Lebzeiten publizierte Texte wie Mit- und Nachschriften der Studenten in seinen Vorlesungen und Briefe an Hegel. Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen (1968-1995: Rheinisch-Westfälischen) Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968ff. Die sog. `Akademieausgabe´ veröffentlichte im Unterschied zur ersten, nach Hegels Tod von 1832-1845 herausgegebenen Ausgabe seiner `Werke´, die u. a. stark überarbeitete Vorlesungsmitschriften und Notizen beinhaltete (vgl. G. W. F. Hegel, Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 18 Bände Berlin 1832-1845), unbearbeitete Vorlesungsmitschriften und Notizen. Vgl. dazu ferner Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hauptschriften. Sonderausgabe auf der Grundlage der `Gesammelten Werke´, 6 Bde., Hamburg 2014; und: Hegel, Die Hauptwerke, Berlin 2020. Hegels Werke sind im übrigen leicht online zugänglich unter: https://hegel.de, http://www.zeno.org/Philoso-phie/M/Hegel,+Georg+Wilhelm+Friedrich und https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/hegel.html und https://hegel.net/hegelwerke/ (alle vier Links aufgerufen am 28.5.2020).

36 Die Epoche der deutschen Philosophie, die von Kants `Kritik der reinen Vernunft´ bis zu Hegels Tod reicht, gilt heute als Blütezeit der deutschen Philosophie, vgl. zu einer ersten Orientierung: https://de.wikipe-dia.org/wiki/Deutscher_Idealismus. Vgl. sodann weiter Curt Friedlein, Geschichte der Philosophie. Lehr- und Lernbuch, Berlin 141984, 261-275; Peter Kunzmann/Franz-Peter Burkard/Franz Wiedmann, dtv-Atlas zur Philosophie, a. a. O., 134f., und Stefan Jordan/Christian Nimtz (Hg.), Lexikon Philosophie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2009, 2011, 129-132. Jürgen Kaube, Hegels Welt, Berlin 2020, wählte für das Frontispiz seines Hegel-Buches eine Illustration, die einen Heißluftballon zeigte: Kaube verglich metaphorisch die Heißluftballon-Fahrt der Brüder Montgolfier im Jahre 1783 mit dem Idealismus: Mittels erhitzter Luft die Höhe zu erklimmen, um die Welt von oben zu sehen, zeugte von Idealismus; analog zur erhitzten Luft stand bei Hegel das Selbstbewusstsein des Menschen, vgl. dazu detailliert Axel Honneth, Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, FfM 42017, 15-32, und Pothast, Ulrich, Etwas über `Bewußtsein´, in: Theorie der Subjektivität, hg. von Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann, Ulrich Pothast (stw 862), FfM 1990, 15-43. Das philosophische Gegenmodell zum Idealismus ist übrigens der philosophische Materialismus, vgl. weiterführend Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Handbuch Deutscher Idealismus, Stuttgart/Weimar 2005. Der Freiburger Philosoph Sandkühler (geb. 1940), der über Schelling promoviert hatte und viele Jahre in Bremen lehrte, ist seit 2005 emeritiert. Vgl. dazu auch die Einleitung von Dr. Arthur F. Holmes (1924-2011), britischer Philosophieprofessor am Wheaton College, Illinois, USA: https://www.y-outube.com/watch?v=DNA0mrEeHXY (aufgerufen am 15.8.2020), sowie die Übersicht von Michael Reitz, Was wir sehen, ist was wir denken: Die Welt des Idealismus, online zugänglich unter: https://www.y-outube.com/watch?v=SdYXY1KRHSQ&list=PL6cI1_8BvV-YT5FgyP57nvsTEjsDKmD8M (aufgerufen am 20.8.2020).

37 So Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates (Philosophische Bibliothek 541), Hamburg 2002, 22016, 326. „Konservativismus ist daher eine der charakteristischsten Züge in Hegels ethischer Theorie“ (327). Cassirer beschreibt Hegel als einen Nationalisten, der sich auf das Bestehende verließ und deshalb im preußischen Staat die Verwirklichung seiner politischen und philosophischen Ideale sieht, und darüber hinaus als Patrioten, Partikularisten und Provinzialisten. Er war weder ein lupenreiner Demokrat noch ein konservativer Sozialdemokrat, zu dem ihn mancher Biograph heute machen möchte, sondern Hegel plädiert für die konstitutionelle Monarchie, d. h. für eine Staatsordnung mit einem von Gott durch Erbfolge legitimierten König an der Spitze, als ausgezeichnete Gestalt von vernünftiger nationaler Staatlichkeit und hält – etwa in seinen `Grundlinien´ – am Privateigentum fest. Er ahnt aber auch die Auswüchse neoliberaler Deregulierung und lässt Ansätze wohlfahrtsstaatlicher Institutionen erahnen. Der alte Hegel „nimmt die gegebene Ordnung der Dinge hin… Er versucht nicht, die Übel, das Unglück und die Verbrechen aus der historischen Welt wegzuschaffen. All dies wird als gegeben hingenommen“ (Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates, a. a. O., 335).

38 Dieses Antonym findet man bei Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (= GS 4), FfM 122019, 55. Adorno ist mit seiner `Bemerkung zu Hegel´ von 1956 hier zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=aL3rCpzz_x4 (aufgerufen am 22.8.2020).

39 Die Tatsache, dass man die Intuition nicht unterschätzen sollte, zeigt das berühmte Beispiel des Apple-Gründers Steve Jobs. Jobs machte sich für die Intuition stark, vgl. dazu meinen Beitrag über Steve Jobs und Apple, online zugänglich unter: https://www.theomag.de/102/tka01.htm (aufgerufen am 24.6.2020).

40 Ralf Ludwig hat dafür eine überzeugende Erklärung geliefert: „Die Uneinheitlichkeit der ersten Hegel-Interpretationen mündet in eine noch weiter ausufernde Uneinheitlichkeit der auseinanderlaufenden Hegel-Schulen“ (Hegel für Anfänger. Phänomenologie des Geistes. Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig, München 1997, 102017, 189).

Einleitung

„Hegel gehört zu den bedeutendsten, am wirksamsten gewordenen Philosophen der Neuzeit. Er ist aber auch derjenige, dessen zentrale Gedanken am schwersten zu begreifen sind und über den die Meinungen am weitesten auseinandergehen. Angeblich sagte er selbst einmal: von seinen Schülern habe ihn keiner verstanden außer einem, aber der habe ihn mißverstanden.“41

Bei der Abfassung dieser Darstellung von Hegels Leben habe ich mich von maßgeblich zwei Gesichtspunkten leiten lassen: Sie sollte, soweit es geht, verständlich geschrieben sein und in Hegels Leben einführen, wobei sein philosophisches Werk nur leicht gestreift werden sollte; ich wollte das Rad nicht neu erfinden. Sie sollte sich ferner auf das Wesentliche beschränken, d. h. einen Überblick geben. Es ist bekannt, dass sich das Wesentliche häufig auch im Detail verbirgt, und so galt es der Versuchung zu widerstehen, Nebenthemen zu erörtern. Ferner habe ich mich bemüht, dem neusten Stand der Hegel-Forschung gerecht zu werden. Und: Auch Hegel selbst sollte in seiner unverwechselbaren Sprache hier und dort zu Wort kommen. Etliche Autor*innen haben in den letzten 250 Jahren versucht, das Leben des großen Philosophen zu erzählen, auch sein Werk zu erläutern, und einige ihrer Erkenntnisse sind natürlich in dieses Buch mit eingeflossen.68

Ich habe mich dazu entschlossen, anhand von Hegels Lebensstationen sein Leben zu beschreiben; entsprechend habe ich meine Ausführungen nach den wichtigsten Orten in Hegels Leben gegliedert.69 Dieses Buch ist folglich keine wissenschaftliche Abhandlung, bei der ich mit weißen Handschuhen nach akribischer Sichtung von Originalmanuskripten Hegels in den staatlichen und kirchlichen Archiven das Archivmaterial sezierte und Hegels philosophische Gedankengänge minutiös freilegte.70 Nein, das überlasse ich getrost den Fachleuten an den Universitäten, an denen Hegels Philosophie vermittelt wird. Schließlich gibt es Hegel-Experten, die über sein Leben seit Jahren forschen, sein Werk seit Jahrzehnten studieren, es auslegen und auf Kongressen das Erarbeitete zur Diskussion stellen. Ich halte es vielmehr mit Ernst Bloch, der 1951, also vor fast siebzig Jahren, im Vorwort seines berühmten Hegel-Buches schrieb: „Vorliegende Schrift erhebt nicht den Anspruch, ein Buch über Hegel zu sein, sie ist eher eines zu ihm, mit ihm und durch ihn hindurch.“71 So versucht also auch dieses Buch ein Buch zu Hegel zu sein, mit Hegel und durch Hegel hindurch. Es will informieren, aufklären, bei Leserinnen und Lesern Neugier wecken und sie mit einem außergewöhnlichen Denker und einer fernen Zeit etwas vertrauter machen.

Ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass das Eigentliche im Leben eines Philosophen sein Denken und sein Werk sind – doch wie für alle und jeden gilt auch für Hegel, dass Biographie und Denken eng zusammengehören und die Lebensumstände das Ihre dazu beitragen, wie ein Werk entsteht.72 Je mehr ich mich mit Hegel in den vergangenen Jahren beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass sich nicht nur Hegels `Phänomenologie des Geistes´ und seine `Wissenschaft der Logik´ jeglicher zusammenfassenden Interpretation entziehen73, sondern dass darüber hinaus auch andere Teile seines Werkes, die für seine komplizierten Gedankengänge charakteristisch sind, nur sehr schwer zugänglich sind.74 Mein Tipp bzw. meine Anregung ist daher, nicht nur Kommentare über Hegel zu lesen, sondern wegen der Hermetik seines Denkens und der Schönheit seiner Sprache Hegel im Original zu lesen – vielleicht einmal mit, vielleicht einmal ohne Lektürehilfe.75

Doch jetzt: Wer war Georg Wilhelm Friedrich Hegel? Wie war sein Leben? Was hat er gedacht? Warum hat seine Philosophie, die sich in `Logik´, `Naturphilosophie´ und `Philosophie des Geistes´ gliedern lässt, bis heute so viele Anhänger*innen? Wie ist die Wirkungsgeschichte seiner Philosophie und was bleibt von seinem philosophischen Ansatz? Ausgehend von den einzelnen Stationen in Hegels Leben lasse ich, wie gesagt, Gedanken seines philosophischen Werkes mit einfließen und versuche, diese und andere Fragen, die sich beim Studium Hegels ergeben, zu beantworten.

41 Hans Friedrich Fulda, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, a. a. O., Vorwort, 13. Ich habe mir erlaubt, den Druckfehler „mißvertanden“ (13) hier zu korrigieren. Der Heidelberger Hegelexperte bezieht sich auf die bekannte Anekdote von Heinrich Heine (1797-1856) über Hegels angeblich letzte Sätze auf dem Totenbette, vgl. Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834), in: ders., Sämtliche Werke in drei Bänden (Vollständige Ausgabe nach dem Text der J. G. Cottaschen Gesamtausgabe in 12 Bänden), Essen 1985, Bd. 2, 518-624, bes. 594.

42 Einen digitalen Geburtstagsgruß anlässlich Hegels 250. Geburtstages – Hegel war von 1818 bis 1831 an der Berliner Universität als Professor, Dekan und Rektor tätig –, versandt von Thomas Meyer & Tobias Rosefeldt (Humboldt-Universität zu Berlin) in Zusammenarbeit mit Dina Emundts (Freie Universität Berlin), findet man hier: https://5minutenhegel.de/ (aufgerufen am 27.8.2020). Insgesamt ist aus den Beiträgen internationaler Hegel-Forscher*innen, die in fünf Minuten ihre persönlichen Stellen aus Hegels Werk vorstellten, 250 Minuten Filmmaterial zusammengekommen.

43 Dabei erging es Hegel ähnlich wie seinem berühmten Zeitgenossen Ludwig van Beethoven, dessen Jubiläum eigentlich im Jahr 2020 auch im großen Stil gefeiert werden sollte. Obwohl Hegel und Beethoven im selben Jahr geboren worden waren, ergaben sich für beide in ihrem Leben keinerlei Berührungspunkte: Martin Geck (1936-2019), Matthias Henke (geb. 1953) und Jan Caeyers (geb. 1953) erwähnten Hegel deshalb nicht ein einziges Mal in ihren Beethoven-Biographien, vgl. Martin Geck, Ludwig van Beethoven (rm 50645), Reinbek 1996, 92020; Matthias Henke, Beethoven. Akkord der Welt. Biografie, München 2020, und Jan Caeyers, Beethoven. Der einsame Revolutionär, München 2020. Vgl. aus einer philosophischen Perspektive das Reclam-Büchlein von Nikil Mukerji/Adriano Mannino, Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, Ditzingen 2020, 42020, bes. 23-62, und die Ausführungen von Klaus Vieweg in einem Beitrag des Deutschlandfunks anlässlich Hegels 250. Geburtstages, in dem u. a. die Zeit Hegels, in der die Pocken, die Pest und Fleckfieber grassierten, mit der Zeit der Corona-Pandemie verglichen wird: https://www.deutschlandfunkkultur.de/mit-hegel-durch-die-coronakrise-freiheit-heisst-nicht-dass.1008.de.html?dram:article_id=474037 (aufgerufen am 5.4.2020), sowie Wolfgang Huber, Freiheit nur bei aufrechtem Gewissen: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/feiertagsgespraech/wolfgang-huber-110.html (aufgerufen am 6.4.2020).

44 Vgl. dazu Reinhard Hiltscher, Einführung in die Philosophie des deutschen Idealismus (Philosophie kompakt) Darmstadt 2016, der Immanuel Kant in seine Darstellung aufgenommen hat (12ff.) und ihn den philosophischen Systemen Fichtes (56ff.), Schellings (92ff.) und Hegels (108ff.) voranstellt. Hiltscher kritisiert schon in seiner Einleitung (9ff.) die Unschärfe des Begriffs `Deutscher Idealismus´. Vgl. ferner Gerhard Gamm, Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Ditzingen 2019, bes. 77-178, und Volker Steenblock, Geschichte der Philosophie, Ditzingen 2002, 2019, 32020, bes. 225-248. Reinhard Hiltscher (geb. 1959) ist seit 2009 außerplanmäßiger Professor am Institut für Philosophie an der TU Dresden. Gerhard Gamm (geb. 1947) war von 1997 bis 2014 Professor für Praktische Philosophie an der TU Darmstadt. Volker Steenblock (1958-2018) hatte eine Professur für Philosophie und ihre Didaktik und Kulturphilosophie an der Ruhr-Uni Bochum inne.

45 Übersetzt man Hegels `Geist´ ins Englische, dann ergeben sich einige Probleme: Übersetzt man ihn mit `mind´, reduziert man ihn auf den subjektiven Geist und verliert die Dimension des objektiven, absoluten Geistes aus den Augen. Übersetzt man `Geist´ mit `spirit´, so schwingt eine theologische Komponente mit, die jedoch nicht unbedingt gemeint ist. Naheliegender wäre der Begriff `νους´, den Platon (427/428-348/347 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) verwenden. Hegel definiert an einer Stelle in seiner `Religionsphilosophie´ seinen Begriff des `Geistes´ wie folgt: „Der Geist ist nur, wozu er sich macht; er ist Tätigkeit, sich zu produzieren, sich zu erfassen“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 2013, 266). Andernorts heißt es: „Ohne… Bestimmung der Dreieinigkeit wäre Gott nicht Geist und Geist ein leeres Wort (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Werke 17, 38).

46 Zu Leben und Werk Immanuel Kants vgl. weiterführend Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie, München 52004, und Gerd Irrlitz, Kant Handbuch. Leben und Werk, 3. überarbeitete und ergänzte Auflage, Stuttgart 2015, sowie Georg Römpp, Kant leicht gemacht. Eine Einführung in seine Philosophie, Köln-Weimar-Wien 2005, 2007. Kant, der seine Heimatstadt Königsberg nie verließ, wurde einer der meistdiskutierten Autoren Europas – bis in die Gegenwart hinein. Dabei ist vermutlich sein bekanntestes Diktum der `Kategorische Imperativ´: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 4: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, 7-102, Zitat auf 51).

47 Vgl. dazu weiterführend und kenntnisreich Dina Emundts, Erfahren und Erkennen. Hegels Theorie der Wirklichkeit (Philosophische Abhandlungen, ab Bd. 118, hg. von Dina Emundts, Holmer Steinfath und Tobias Rosefeldt; Bd. 106), FfM 2012. Dina Emundts (geb. 1972) ist seit Wintersemester 2016/17 Professorin für die Geschichte der Philosophie am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Sie gibt u. a. in den folgenden YouTube-Videos kritisch Auskunft über den Deutschen Idealismus und über spezifische Fragen zur Philosophie Hegels, zum Beispiel zu Hegels Freiheitsbegriff: https://www.y-outube.com/watch?v=WZ487AW18CU und zu Hegels Philosophie https://www.y-outube.com/watch?v=SXidEQGvvsg (beide links aufgerufen am 10.8.2020).

48 Vgl. Günter Zöller, Hegels Philosophie, a. a. O., 7.

49 Vgl. dazu kritisch und weiterführend Georg Sans SJ, Hegels philosophische Theologie nach Kant, in: ThPh 91 (2016), 386-401.

50 Dina Emundts/Rolf Peter Horstmann, G. W. F. Hegel, a. a. O., 10.

51 Ich folge an dieser Stelle der erhellenden Darstellung von Hegels Philosophie durch Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd. 1, 283-389. Vgl. dazu kritisch Helmut Gollwitzer, `Der Gott der Philosophen´ und die Theologie, in: Denken im Schatten des Nihilismus, a. a. O., 375-401, bes. 384ff.

52 G. W. F. Hegel, hier zitiert nach Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd. 1, 286.

53 G. W. F. Hegel, hier zitiert nach Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd. 1, ebda.

54 G. W. F. Hegel, hier zitiert nach Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd. 1, ebda.

55 Unter `Geist´ verstand Hegel die Voraussetzung menschlichen Erkennens und darüber hinaus die menschliche Bedeutungsgemeinschaft, `das allgemeine Individuum´ (vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke 3], FfM 1986, 31). Michael Quante und Hans Friedrich Fulda haben klar gemacht, dass Hegel keine prägnante Definition für den Geist, für dieses zentrale Konzept seiner Philosophie, hatte, vgl. Michael Quante, Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel. Mit einem Vorwort von Robert Pippin (stw 1939), Berlin 2011, 234, und Hans Friedrich Fulda, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003, 162ff., 183ff. und 242ff. Für den US-amerikanischen Philosophen und Hegel-Experten Robert B. Brandom war bei Hegel der Geist u. a. „das Reich des Normativen“ (Robert B. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus [stw 2104], Berlin 2015, 290), der Geist war u. a. ein selbstbewusstes Selbst und hatte kein Gegenüber, außerhalb von ihm gab es nichts, vgl. Robert B. Brandom, Wiedererinnerter Idealismus, a. a. O., 303.

56 Eine Zusammenstellung von Hegels Vorlesungen findet man online hier: https://www.ruhr-uni-bo-chum.de/philosophy/hegeledition_de/lectures/lectures.html (aufgerufen am 3.9.2020).

57 Es ist u. a. deswegen, dass Karl Barth den Begriff der Religion auch im Blick auf das Christentum ablehnte und stattdessen lieber vom `christlichen Glauben´ sprach.

58 Für Hegel ist das Absolute gleichbedeutend mit dem Ausdruck Gott. Alle Trennungen, die für das Endliche bestimmend sind, fallen im Absoluten zusammen – Denken und Sein sind absolut identisch, Subjekt und Objekt aufgehoben und zugleich bestehend. Das Absolute ist Hegel zufolge Wesen und Erscheinung zugleich.

59 Für Hegel sind „Gegenstände wahr, wenn sie das sind, was sie sein sollen, d. h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. (…) Gott ist allein das Wahre“ (G. W. F. Hegel, hier aus zwei Quellen zitiert nach Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd. 1, 294).

60 Indem Hegel Gott als `Begriff´ bezeichnet, scheint der Gottesgedanke abstrakt zu werden. Doch Hegel legt wert darauf, dass bei ihm der `Begriff´ ganz konkret ist – womit er sich im Gegensatz zur traditionellen Sichtweise befindet, die den Begriff in der Regel der Abstraktheit zuordnet (im Unterschied zur vorfindlichen Welt, der empirischen Wirklichkeit). Der Begriff – unterschieden in subjektiven und objektiven Begriff – verleiht allem Wirklichen Wirklichkeit; der Begriff ist das eigentlich Wirkliche, der „reine Begriff“ ist „das wahrhafte Sein“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, hg. v. G. Lasson, 2 Bde, Leipzig 1923, Bd. 1, 42). Als `absoluten Begriff´ bezeichnet Hegel Gott.

61 Dabei schreckte er auch vor ungewöhnlichen Vergleichen nicht zurück. So verglich er laut der Vorlesungsmitschrift Heimann 23/11 den Geist mit einem unruhigen Maulwurf, der in der Ruhe unter der Erde arbeitet.

62 Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd.1, 299. An einer anderen Stelle dachte Hegel den Geist und die Gemeinde zusammen, etwa, wenn er schrieb, dass die Gemeinde „der existierende Geist, der Geist in seiner Existenz, Gott als Gemeinde existierend“ G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, a. a. O., IV, 198). Dieser Satz erinnerte mich an Dietrich Bonhoeffers bekanntes Diktum von `Christus als Gemeinde existierend´, vgl. dazu detailliert schon Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit, a. a. O., 173, Anm. 12.

63 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie Dritter Teil, § 384 (Werke Bd. 10), a. a. O., 29.

64 Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd.1, 302.

65 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Werke Bd. 3), a. a. O., 28.

66 Vgl. dazu weiterführend Emil Angehrn, Das Denken der Geschichte. Hegels Theorie des Geistes zwischen Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism, hg. v./ed. by Fred Rush/Jürgen Stolzenberg, Berlin-Boston 2014, 198-215. Zum Widerspruch, der sich zwischen endlicher Zeit und zeitloser Ewigkeit ergibt, sowie zum Verhältnis zu Kant, der die Zeit rein subjektiv fasst, vgl. Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd. 1, 305ff. Es gibt einige Hinweise bei Hegel, dass die Ewigkeit selber zeitlich ist bzw. die Zeit selbst ewig ist (z. B. in Hegels `Enzyklopädie´, § 258, Zusatz), so dass der Satz `Die Zeit vergeht´ falsch ist. Die Ewigkeit der Zeit verweist Hegel zufolge auf die Ewigkeit des Geistes.

67 Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates, a. a. O., 342.

68 Es gibt einige empfehlenswerte neuere Biographien zu Hegel. Ihre Informationen flossen in meine Ausführungen mit ein, vgl. Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben, Darmstadt 1977 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1844); Kuno Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre, Berlin 1911, Neudruck Nendeln 1973; Arsenij Gulyga, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Leipzig 1974; Christoph Helferich, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Stuttgart 1979; Martin Gessmann, Hegel, Freiburg-Basel-Wien 1999; und Thomas Sören Hoffmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 32015; Franz Wiedmann, Hegel (rm bildmonographien 110), Reinbek 1965, 91978; Walter Jaeschke, Hegel Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart 32016; Klaus Vieweg, Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie, München 2019; sowie, wie bereits erwähnt, Sebastian Ostritsch, Hegel. Der Weltphilosoph, Berlin 2020, und Jürgen Kaube, Hegels Welt, Reinbek 2020. In allen genannten Werken befinden sich weiterführende bibliographische Angaben.

69 Hans Friedrich Fulda wählt einen anderen Weg: Er folgt zwar auch den „Lebens-Stadien“ (19), wie er es nennt, gliedert aber ganz klar nach den beiden Hälften von Hegels Leben: „Die Zeit bis zur Ausbildung einer eigenen Idee von Philosophie (1770-1800) und die Zeit der akademischen Lehrtätigkeit (1801-1831)…“ (Hans Friedrich Fulda, Hegel, a. a. O., 19).

70 Seit 1889 wird der – unvollständige – Nachlass Hegels in der Berliner Königlichen Bibliothek aufbewahrt. Er befand sich nach Hegels Tod lange im Eigentum seiner Erben, also seiner Witwe Marie Hegel (1791-1855) und seiner Söhne Karl (1813-1901) und Immanuel (1814-1891) Hegel. 1889, 58 Jahre nach dem Tod ihres Vaters, vermachten die beiden Hegel-Söhne den Nachlass ihres Vaters der Königlichen Bibliothek zu Berlin als Geschenk. Allerdings vernichteten sie auch einige seiner Manuskripte und behielten andere Teile, wie das Tagebuch Hegels aus seiner Gymnasialzeit (1785-1787), als Andenken (es wurde im Jahre 2000 von der Staatsbibliothek zu Berlin in einer Auktion ersteigert). Vgl. dazu Eva Ziesche, Der handschriftliche Nachlass Georg Wilhelm Friedrich Hegels und die Hegel-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Teil 1 (Katalog), Wiesbaden 1995, 7-13, und weiterführend Eef Overgaauw/Michael Matthiesen, Der Nachlass und die verlorenen Briefe, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XIV/2, a. a. O., 57-72. In Auktionen tauchen immer wieder einmal Originalbriefe von Hegel auf, die zu nicht unerheblichen Beträgen im Internet angeboten werden: https://www.kotte-autographs.com/en/autograph/hegel-georg-wil-helm-friedrich/#74612 (aufgerufen am 20.10.2020).

71 Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, a. a. O., 11.

72 Vgl. dazu auch Konrad Paul Liessmann, Die großen Philosophen und ihre Probleme. Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie, Stuttgart 42003, 9 und 83-97.

73 Vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik (stw 314), Ffm 1980, 32016, 9: „Es ist bisher noch nie gelungen, Hegels Wissenschaft der Logik in einer Weise zu durchdringen, die ihre schier unermeßliche Komplexität unverkürzt zur Geltung brächte.“ Nur wenige haben es dennoch mehr oder weniger erfolgreich versucht, beispielsweise der französische Hegel-Fachmann Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur `Phänomenologie des Geistes´. Anhang, hg. v. Iring Fetscher. Erweiterte Ausgabe (stw 97), FfM 1975, 48-89 („Zusammenfassender Kommentar zu den ersten sechs Kapitel der `Phänomenologie des Geistes´“).

74 Vgl. dazu Herbert Schnädelbach (Hg.), Hegels Philosophie. Kommentare zu den Hauptwerken, 3 Bde., FfM 2000, und ders., Hegel zur Einführung, Hamburg 1999, 62017. Herbert Schnädelbach (geb. 1936), von 1993 bis 2002 Philosophieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität u. a. mit dem Schwerpunkt Diskurs- und Sozialphilosophie, der u. a. auch zahlreiche Arbeiten zu Hegel veröffentlichte, verstand die Philosophie als fortlaufendes Gespräch im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Wissenschaft. Er rechnete sich selbst zu den Atheisten.

75 Diesen Rat findet man auch hier: https://bersarin.wordpress.com/2020/08/27/der-bacchantische-taumel-hegel-zum-250-geburtstag-1/ (aufgerufen am 30.8.2020). Empfehlenswert sind beispielsweise Werner Becker, Hegels `Phänomenologie des Geistes´. Eine Interpretation, Stuttgart 1971; Frank-Peter Hansen, Georg W. F. Hegel, `Phänomenologie des Geistes´, Paderborn 1994; Pirmin Stekeler-Weithofer, Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie (stw 1749), Frankfurt/M. 2005; Otto Pöggeler/Dietmar Köhler (Hg.), G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Berlin 2006, und Pirmin Stekeler-Weithofer, Hegels `Phänomenologie des Geistes´. Ein dialogischer Kommentar, 2 Bde., Hamburg 2014, sowie Eberhard Braun, Die Rose am Kreuz der Gegenwart: Ein Gang durch Hegels Phänomenologie des Geistes, hg. v. Matthias Mayer, Christian Palmizi, unter Mitarbeit v. Irene Scherer, Mössingen-Talheim 2014. Zu neueren Perspektiven vgl. dazu auch Michael Gerten (Hg.), Hegel und die Phänomenologie des Geistes. Neue Perspektiven und Interpretationsansätze, Würzburg 2013. Zahlreiche Anregungen findet man auch bei Hans Friedrich Fulda/Dieter Henrich (Hg.), Materialien zu Hegels `Phänomenologie des Geistes´ (stw 9), FfM 1973, und in H. F. Fuldas Hegel-Buch, vgl. Hans Friedrich Fulda, Hegel, a. a. O., 62-302.

I. In Stuttgart und Tübingen

Seine Kindheit und Jugend verbrachte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Stuttgart und Tübingen, wobei die ersten Lebensjahre des schwäbischen Philosophen unbestimmt bleiben, fast im Dunkel liegen.76 Zur Zeit der Gegenreformation, so viel ist bekannt, war im 16. Jahrhundert mit protestantischen Glaubensflüchtlingen einer seiner Vorfahren aus Kärnten, ein Kannengießer, in den schwäbischen Weinort Großbottwar gekommen.77 Dessen Nachkommen wurden dann in der Umgebung Pfarrer78 und Dekane sowie Angehörige der württembergischen `Ehrbarkeit79. Hegels Großvater, das lässt sich in den Kirchenbüchern gut nachvollziehen, war Oberamtmann zu Altensteig im Schwarzwald.80 Sein Sohn, Georg Ludwig Hegel, wurde herzoglicher Finanzbeamter – Rentkammersekretär, wie es damals hieß –, und später Expeditionsrat:81 Er heiratete am 29. September 1769 in Stuttgart Maria Magdalena Fromm, die Tochter eines renommierten Kanzlei- und Hofgerichtsadvokaten; dieser war bei der Eheschließung seiner Tochter allerdings nicht mehr am Leben.82 Stuttgart war damals, in der Epoche der Aufklärung, jener „Bewegung in der europäischen Geistesgeschichte, die nach dem `finsteren Mittelalter´ die menschlichen Beziehungen auf individueller, sozialer und staatlicher Ebene auf Grundlage des kritischen Verstandes (Rationalismus) neu gestalten und ordnen wollte“,83 die Residenz des Herzogtums Württemberg, „ein irdisches Paradies, bevölkert von harten Schwabenschädeln“84. In Stuttgart residierte und regierte bis 1793 der berüchtigte Herzog Karl Eugen.85 Die Stadt, von Weinbergen umrankt, hatte in jener Zeit ungefähr 22000 Einwohner*innen – für damalige Verhältnisse groß. In der Gegend dominierten die Textilindustrie und der Handel, ansonsten war sie eher landwirtschaftlich geprägt. Das kulturelle Leben in der Stadt blühte: Es gab einige Theater und eine Oper, ferner Kunstmuseen, Konzerte, Bibliotheken und Verlage.86

Am 27. August 1770 also erblickte in diesem Stuttgart Georg Wilhelm Friedrich das Licht der Welt, in einer bürgerlichen Familie, die für den Herzog arbeitete und keineswegs republikanisch, sondern monarchisch gesinnt war87, in einem Haus in einer Straße der Dichter und Denker.88 Sein Rufname war Wilhelm. 89 Von den insgesamt drei Kindern, die das Paar bekam und die gemeinsam aufwuchsen, wurde Wilhelm als der Älteste besonders gefördert. Von seiner als ehrgeizig beschriebenen Mutter, die eine für ihre Zeit ungewöhnlich gebildete Frau war, wurde das fleißige, hellwache und überdurchschnittlich begabte Kind im Lateinischen unterrichtet, bevor es in die Lateinschule geschickt und im Alter von sechs Jahren eingeschult wurde.90 Hegels jüngerer Bruder Georg Ludwig Hegel, benannt nach dem Vater, starb früh, nach der Teilnahme als Offizier im Russischen Feldzug; seine Schwester, Christiane Luise Hegel91 , die `Heglin´92 , wie sie von Hegels Freund Friedrich Hölderlin93 später genannt wurde, war wie ihr Bruder hochbegabt. Sie stand als Gouvernante, als Lehrerin von dessen fünf Töchtern dreizehn Jahre lang in den Diensten des Freiherrn Joseph Friedrich Anton von Berlichingen zu Jagsthausen bei Heilbronn, bevor sie an einem Nervenleiden erkrankte.94 In Aalen hatte sie Handarbeit und Französisch, das sie ebenso gut wie ihr älterer Bruder Wilhelm beherrschte, unterrichtet, wurde dann aber in die Zwiefaltener Psychiatrie, der `Staatsirrenanstalt´, wie sie damals hieß, eingewiesen.95 Die Ärzte attestierten ihr `stillen melancholischen Wahnsinn´ und entließen sie 1821 als geheilt. In Bad Teinach setzte Christiane Hegel im Februar 1832 durch einen Sprung in die Nagold ihrem Leben selbst ein Ende.96 Zuvor hatte sie in einem Brief vom 7. Januar 1832 an Hegels Witwe Erinnerungen an ihren berühmten Bruder festgehalten, der sie in der Zeit ihrer Krankheit aus Berlin mit Geldzuwendungen unterstützt hatte: „… Was ich in meinem traurigen körperlichen und geistigen Zustand aus Kinderjahren von meinem Bruder zusammenbringen kann, will ich Dir (gemeint ist Hegels Witwe, TOHK) mitteilen: Als Knabe von 3 Jahren wurde er in die Deutsche und im 5. Jahr in die Lateinische Schule geschickt, in welchem Alter er schon die erste Deklination und die dahin gehörigen lateinischen Wörter kannte, die ihm unsere sel. Mutter lehrte, die für die damalige Zeit eine Frau von Bildung war und darum vielen Einfluß auf sein erstes Lernen hatte. In allen Klassen erhielt er jedes Jahr einen Preis, da er immer unter den 5 ersten war; und vom 10ten Jahr an bis ins 18te war er der Erste in seiner Abteilung im Gymnasium. Im Alter von 8 Jahren schenkte ihm sein Lehrer Löffler, der viele Vorliebe für ihn hatte und Vieles zu seiner späteren Ausbildung beitrug, Shakespeare’s von Eschenburg übersetzte dramatische Werke, mit dem Beisatz: `Du verstehst sie jetzt noch nicht, aber du wirst sie bald verstehen lernen´; also dieser Lehrer bemerkte schon die Tiefe, die in dem Knaben steckte, und wohl erinnere ich mich noch, daß die lustigen Weiber von Windsor ihn zuerst ansprachen. Frühe schon hielt ihm der Vater Privatlehrer…“97

Hegel und seine Geschwister wuchsen in der Stuttgarter Innenstadt, in der `Röderschen Gasse´, auf, in die die Familie nach einem zweijährigen Intermezzo in der Rotebühlstraße 12 umgezogen war und wo sie ein Haus gekauft hatte. Es liegt ganz in der Nähe der Königsstraße – in einer Gegend, die heute von Banken und Kaufhäusern durchzogen ist.98 Hegels Kindheit und Jugend waren geprägt vom schier allgegenwärtigen, im `Ländle´ dominanten Protestantismus. Man war selbstverständlich evangelisch! Eine besondere Spielart des Evangelischen war die Form des württembergischen Pietismus’, wie es ihn zum Teil noch heute in Schwaben und in Stuttgart gibt99. Hegel war von daher gleichermaßen mit dem Ideengut der lutherischen Orthodoxie und dem Pietismus vertraut. Es war der Wunsch der Mutter, dass ihr Erstgeborener Pfarrer werden sollte, und, wie in vielen Familien damals üblich – beispielsweise auch in denen von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 100 und von Friedrich Hölderlin 101 – auf diese Weise dem Herrn übergeben werde. Wie schon Hegels Schwester bemerkte, war ihr Bruder in der Schule über Jahre hinweg der Klassenprimus102 – fleißig, wissbegierig, interessiert: Am Stuttgarter Gymnasium `Illustre´103, das er seit 1776 besuchte, gehörte er zu den fünf besten Schülern.104 In seinem Stundenplan nahm die Beschäftigung mit der griechisch-römischen Antike105 und den sog. antiken Sprachen Latein und Griechisch eine Vorrangstellung ein, hinzu kamen Hebräisch, Geschichte, Mathematik, Philosophie, klassische Literatur, auch Französischunterricht. Es war eine Zeit, in der die Prügelstrafe für Schüler noch gang und gäbe war.106 Doch Hegel, so wurde überliefert, hatte anscheinend ein gutes Verhältnis zu seinen Lehrern. Er wurde von ihnen gefördert, wie beispielsweise durch seinen Klassenlehrer Johann Jakob Löffler, der Hegel, wie von seiner Schwester erwähnt, eine Ausgabe der Werke Shakespeares schenkte, oder durch den Theologen und Philosophen Jakob Friedrich von Abel, der an der Karlsschule auch der Lehrer Friedrich Schillers war.107 Hegels Lehrer waren Privatlehrer, Diskussionspartner und Ratgeber ihres gelehrigen Schülers, sie gingen mit ihm spazieren, befragten und förderten ihn, und er wiederum kommunizierte mit ihnen willig über Metaphysik108, Theologie und Philosophie.109 Konfirmationsunterricht hatte er beim Konsistorialrat Georg Friedrich Griesinger, einem der wichtigsten Vertreter der rationalistisch-liberalen Aufklärungstheologie110; er war mit den Kenntnissen des Konfirmanden in Religion äußerst zufrieden und mochte ihn so sehr, dass er ihm einen Zugang zu seiner Privatbibliothek einräumte. Zusammen mit anderen wurde Hegel dann am 21. November 1784 von ihm in der Kirche St. Leonhard konfirmiert.

Es gehörte zum damaligen Schulsystem, dass sich Hegel und andere Schüler permanent Examina zu unterziehen hatten; mit ihnen sollte generell der Zugang zu den begehrten Klosterschulen des Landes verknappt werden. Er bestand sie. Um einen Zugang zu den begehrten Plätzen der weiterführenden Schule zu erhalten, legte Hegel wie viele andere, u. a. auch Friedrich Schiller und Friedrich Hölderlin, einige Jahre später das sog. `Landexamen´ ab – Prüfungen, die über ein Stipendium für das Tübinger Stift entschieden, das allein der Garant für einen Zugang zu höherer Bildung war: „Auf Staatskosten – Studium, Unterkunft, Verpflegung und Arbeitsmaterialien waren kostenlos – lern(t)en sie die verschiedenen Gebiete des humanistischen Wissens kennen. Diesen Bildungsweg in despotischen Verhältnissen hat(te) auch Hegel zu gehen.“111

Im Herbst 1783 erkrankte die gesamte Familie Hegel schwer. Die Gelehrten sind sich heute noch immer nicht ganz einig, um was für eine Krankheit es sich handelte – Gallenruhr oder Gallenfieber, Spielarten von Cholera und Typhus; Hegels Mutter jedenfalls, so viel ist sicher, starb daran am 20. September 1783, im Alter von nur einundvierzig Jahren.112 Für den 13jährigen Wilhelm war das, wie man sich unschwer vorstellen kann, ein schwerer Schlag, zumal seine Mutter bis dato die wichtigste Bezugsperson in seinem Leben gewesen war.113 Hegel selbst genas vom Fieber.114 Seit dem Tod seiner Ehefrau erzog Hegels Vater seine drei Kinder allein. Im Alter von fünfzehn Jahren begann Hegel, auf Deutsch und auf Latein ein Tagebuch zu führen.115 Er verschaffte sich, wie dieses Tagebuch zeigt, in jungen Jahren nicht nur eine gründliche Kenntnis der griechischen und römischen Klassiker, sondern auch der Literatur des 18. Jahrhunderts.116 Nie wäre es dem jugendlichen Hegel in dieser Zeit in den Sinn gekommen, etwas anderes als Theologie studieren zu wollen. 117 Sein Abschlusszeugnis wurde von einem seiner Lehrer so kommentiert, dass ihm eine große Karriere bevorstehe.118

Georg Wilhelm Friedrich Hegel immatrikulierte sich im Alter von achtzehn Jahren am 27. Oktober 1788 zum Wintersemester an der damals kleinen, recht unbedeutenden, doch schon seit 300 Jahren bestehenden Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen. 119 Tübingen hatte damals ca. 6000 Einwohner*innen.120 In den eng bebauten, schmutzigen und stinkenden Gassen wurden die Kühe entlang getrieben, Misthaufen befanden sich vor den Häusern, abends war die Stadt nur schlecht beleuchtet. Die Leute arbeiteten mehrheitlich in der Landwirtschaft, einige wenige im Handel und in der Verwaltung.121 Studenten, Professoren und Mitarbeiter der Universität machten damals nur ca. acht Prozent der Einwohner*innen aus. Zu den Aufgaben der kleinen Landesuniversität, die immer mehr von Herzog Karl Eugen zugunsten der Hohen Karlsschule122 vernachlässigt wurde, gehörte die Ausbildung der Studenten für den Staats-, Kirchen- und Schuldienst.123 Mit Hegel zusammen studierten daher größtenteils Theologen und künftige Gymnasiallehrer – Frauen waren damals noch nicht zum Studium zugelassen.124 Als ein mit einem herzoglichen Stipendium ausgestatteter Student, der das sog. Landexamen bestanden hatte, wohnte Hegel privilegiert im 1536 gegründeten, übrigens noch heute bestehenden Evangelischen Seminar, dem `Tübinger Stift´.125 Das viele Jahre lang als evangelische geistig-geistliche Kaderschmiede bekannte Gebäude lag und liegt unter dem Schloss direkt am Neckarufer.126 Hegel unterzeichnete die übliche, im Geist des schwäbischen Pietismus gehaltene Verpflichtungserklärung, wodurch er die vollständige Subordination versprach und im Studium stets untertänigst, fromm, arbeitsam und gehorsam zu sein, und Vater Hegel bürgte dafür gegenüber dem Herzog mit seinem gesamten Hab und Gut.127