Face-Time. - Thomas O. H. Kaiser - E-Book

Face-Time. E-Book

Thomas O. H. Kaiser

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Beschreibung

Das Buch "Face-Time. 25 Predigten aus Deutschlands südlicher Ecke 2017 - 2018 " versammelt Predigten, die Pfarrer Dr. Thomas O. H. Kaiser im Klettgau und in Kadelburg bei verschiedenen Anlässen gehalten hat.

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Meinen

Predigthörerinnen und Predigthörern

gewidmet

„Wer die Hand an den Pflug legt

und sieht zurück,

der ist nicht geschickt

für das Reich Gottes.“

(Lk 9,62)

Inhalt

Vorwort

„… ein neues Herz…“ (Ez 36,26) Zur Jahreslosung 2017

„… der Vorhang des Tempels riss…“ (Lk 23,45) Zur Kreuzigung Jesu

„Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,10) Wider die Angst

„Es ist der Herr!“ (Joh 21,7) Im Reformationsjahr 2017

„… sie hatten sonst keinen Raum…“ (Lk 2,7) Über Gaststätten

„… stärkt euren Verstand…“ (1. Petr 1,13) Paris

„… zur Rettung…“ (Hebr 9,28) Stephen Hawking und Kardinal Lehmann

Vom Wandel der Zeiten Zur Konfirmation

„… wahrhaftig sein in der Liebe…“ (Eph 4,15) Über Harry, Meghan und die Liebe

„Strebt nach der Liebe!“ (1. Kor 14,1) Vom Reden in Zungen

„… iss dein Brot mit Freuden…“ (Koh 9,7) Über Brot

„… Wächter über deine Mauern…“ (Jes 62,6) Über Jerusalem

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit…“ (Gal 5,1) Über Huldrych Zwingli

„Gott lässt sich nicht spotten.“ (Gal 6,7) Wieder unterwegs

„… dass sie dich behüten…“ (Ps 91,11) Zur Einschulung

„Ich bin der Weinstock…“ (Joh 15,5) Zum Wein

„… Gott ist meine Stärke…“ (Jes 49, 5) Der Graben

„Die Zeit ist kurz.“ (1. Kor 7,29) Von der Zeit

„… ich tue nicht, was ich will…“ (Röm 7,14) Vom Bösen

„Sei getreu bis an den Tod…“ (Offb 2,10) Für Stan Lee

„… einen neuen Himmel…“ (Jes 65,17) Vom Totengedenken

„Geht hin in das Dorf…“ (Mt 21,2) Vom Warten

„… an die Gebildeten…“ Schleiermacher zum Gedächtnis

Gott ist Freiheit und Liebe Über Karl Barth

„Im Anfang war das Wort…“ (Joh 1,1) Vom Messias

Über den Autor

Zur Künstlerin und zum Bild

Vorwort

Das vorliegende Buch trägt den Titel „Face-Time. 25 Predigten von Angesicht zu Angesicht aus Deutschlands südlichster Ecke“. Es ist eine Sammlung meiner Predigten, die in den Jahren 2017 und 2018 entstanden und im Klettgau und in Kadelburg von mir gehalten worden sind.

Der Titel nimmt Anleihen an Apples kostenlosen Chat-Dienst. Dahinter steht die Idee, dass die Zeit, in der die Predigten gehalten und gehört wurden, `Face-Time´ war: eine Zeit der persönlichen Begegnung von Angesicht zu Angesicht, direkt und ohne technisches Medium. Das gilt sowohl für den Prediger als auch für die Predigthörerinnen und -hörer untereinander. Wo sonst als in der Kirche gibt es heute diese `Face-Time´ – bewusst verbrachte, qualifizierte Zeit, in der man ohne weitere Leistung zu erbringen in einem mehr oder weniger dafür erschaffenen Raum zusammenkommt, auf antike christliche Texte und ihre moderne Auslegung hört und davor oder danach in ein persönliches Gespräch tritt? `Face-Time´ ist auch die Zeit, in der man nach dem Gottesdienst zwanglos zusammenkommt, sich über das Gehörte oder über Gott und die Welt bei Kaffee oder Tee austauscht oder auch einfach so wieder geht.

`Face-Time´ versammelt Predigten aus Deutschlands südlichster Ecke: Gemeint ist die Grenze zur Schweiz, an der ich seit 24 Jahren lebe und arbeite. Die Nähe zu den Eidgenossen ist seit Jahrhunderten für die Gegend hier prägend. Das liegt daran, dass das gemütliche Basel und das pulsierende Zürich in unmittelbarer Nähe des Klettgaus und des Hochrheins liegen. Man arbeitet als Deutscher nicht nur als Grenzgänger in der Schweiz oder begegnet als Schweizer den deutschen Nachbarn beim Einkaufen in den grenznahen Discountern, sondern man ist selbstverständlich mit reformierten Gemeindegliedern und reformierten Kolleginnen und Kollegen in Kontakt und im Gedankenaustausch. Genauso selbstverständlich wird in den zwanzig Dörfern, die zu den beiden evangelischen Kirchengemeinden Kadelburg und Klettgau gehören, die Ökumene mit der römisch-katholischen Kirche gepflegt. Die Gegend hier ist alles andere als provinziell.

Obwohl mir meine Texte beim Predigen ausformuliert vorlagen, habe ich sie nicht einfach nur abgelesen, sondern bin um der Lebendigkeit des Vortrags willen häufig auch vom Skript abgewichen. Die Fußnoten fanden dabei keine Berücksichtigung.

Ich danke allen Predigthörerinnen und -hörern, die diesen Predigten ein Gesicht gegeben haben. Ich danke allen, die hin und wieder nach dem Gottesdienst auf mich zukamen und mich fragten, ob ich ihnen meine Predigt zur Verfügung stellen würde, weil sie das Gehörte gerne nachlesen wollten. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Mein besonderer Dank gilt Barbara Dammenhayn-Scott, Mitglied des Kirchengemeinderates der Evangelischen Kirchengemeinde Kadelburg, die das druckfertige Manuskript in bewährter Weise Korrektur gelesen hat.

Kadelburg, Neujahr 2019 Thomas O. H. Kaiser

1. „… ein neues Herz…“ (Ez 36,26) Zur Jahreslosung 20171

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Liebe Gemeinde! Ich habe mir gedacht: Meine erste Predigt in diesem Jahr hier in der Lukaskirche möchte ich zur Jahreslosung für das Jahr 2017 halten. Sie lautet „Gott spricht: `Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben.´“ (Ez 36,26, nach Luther 2017)

Hören wir einmal, wie sich dieses biblische Wort in anderen Sprachen anhört. Beginnen wir mit Englisch: „God says: `I will give you a new heart and put a new spirit in you.´“ Auf Französisch klingt es so: „Dieu dit: `Je vous donnerai un coeur nouveau et je mettrai en vous un esprit nouveau.´“ Auf Italienisch: „Dio dice: `Vi darò un cuore nuovo, metterò dentro di voi uno spirito nuovo.´“ Und hören wir auf die antiken Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein:

So klingt die Jahreslosung, ein Wort des Propheten Hesekiel – so klingt sie in verschiedenen modernen und antiken Sprachen. In diesem Jahr wird uns die Losung des Propheten Hesekiel begleiten. „Gott spricht: `Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben.´“ (Ez 36,26) Das Herz: Zentralorgan, traditionell Sitz der Gefühle. Werfen wir einmal aus medizinischen Gesichtspunkten einen Blick aufs Herz. Das Herz ist im Grunde genommen nichts weiteres als eine Muskelpumpe: zwei Kammern, ein paar Zuflüsse, zwei große Abflüsse, vier Klappen, durch die das Blut unablässig durch den Körper gejagt wird.2 Kein kompliziertes Organ, nicht zu vergleichen mit dem Gehirn, bei einem Erwachsenen ca. 300 Gramm schwer.3 Die Arbeit des Herzens lässt uns leben und sie lässt uns am Leben bleiben.

Wussten Sie, dass im vergangenen Jahr die Zahl der Todesfälle in Deutschland um 6,5% gestiegen ist? 925000 Verstorbene hatte es in Deutschland 2015 gegeben. Die Hälfte der verstorbenen Frauen und ein Viertel der Männer sind 85 Jahre und älter gewesen. Häufigste Todesursache: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, nämlich 39%. Es waren 92%, die mit über 65 Jahren an deren Folgen gestorben sind. 51000 Frauen und Männer starben an den Folgen eines Herzinfarkts, 57% der Männer und 43% der Frauen.4 Darauf folgte, das können wir uns denken, gleich der Krebs.5 Es ist bedauerlich, dass es noch immer kein zentrales Krebsregister gibt, nicht einmal für den Landkreis Waldshut. Aber ist es nicht vielleicht auch gut so? Stellen Sie sich vor: Würden nicht dann, wenn bekannt ist, wo die höchste Krebsrate ist, alle dorthin flüchten, wo die Krebsrate am niedrigsten ist?

„Gott spricht: `Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben.´“ (Ez 36,26) Es beginnt meist ohne Vorwarnung. Beim Aufstehen kaum Kraft in den Beinen, Schwindel, rasender Puls, Herzklopfen, unregelmäßiger Herzschlag. Schmerzen im linken Arm, Schmerzen in der Brust, ein Engegefühl, Übelkeit, Brennen, Kaliummangel, Herzrhythmusstörungen, Tachykardie genannt, Vorhofflimmern – sichere Vorboten für einen Herzinfarkt. Hatte ein Elternteil Herzrhythmusstörungen, verdoppelt sich beim Kind das Risiko. Auch Bluthochdruck, Diabetes, Schilddrüsen-Überfunktion oder Schlafapnoe wirken sich negativ aufs Herz aus. 50000 Schlaganfälle, die dritthäufigste Todesursache in Deutschland, lassen sich auf Herz-Vorhofflimmern zurückführen. Tendenz mit zunehmendem Alter: steigend. Viele sterben, einige überleben auch. Der wichtigste ist der Zeitfaktor, damit das Gehirn am Leben bleibt. Drei Minuten ohne Sauerstoff und es bleiben, im Falle des Überlebens, irreparable Schäden zurück, Schwerstpflegefälle.6 Übrigens: Wir haben für die Kirchengemeinde einen Defibrillator bestellt. Wir hoffen, dass er auch geliefert wird. Dann werden wir ihn für alle erreichbar irgendwo im Kirchenvorraum befestigen. So ein `Defi´ kann im Ernstfall lebensrettend sein – wenn jemand einen Herzinfarkt erleidet, muss alles schnell gehen. Der Defibrillator ist computergesteuert und leicht zu bedienen. Er wird über Spenden finanziert.

Im Falle eines Überlebens kann alles gut verlaufen: Kathetertherapie, Stents, eine neue Herzklappe, Reha-Aufenthalte in Bad Krozingen oder an einem anderen Ort. Medizinisch-technisch ist heute viel drin.7 Das Herz sollte also immer schön im Takt laufen, auch eine regelmäßige Kontrolle beim Kardiologen ist nicht schlecht.8 Aber niemand ist vor einem Herzinfarkt gefeit, er kann in jedem Alter auftreten, bei Jungen und bei Alten, bei Sportlern und bei Couchpotatoes.9 Wir wissen allerdings: Stress wirkt sich negativ auf das Herz aus; besonders Manager, die Gewinnertypen, trifft der Herzinfarkt plötzlich aus heiterem Himmel. Drei Ärzte habe ich durch Herzinfarkt in

den Pausen, im Urlaub und beim Tennis, verloren – genau dann, wenn der Stress bei ihnen nachgelassen hatte. Bei Frauen sind es soziale Konflikte und es ist oft auch die Mehrfachbelastung durch Beruf und Familie, die Herzinfarkt fördernd ist.10

Das Herz, auch Sitz der Gefühle, Sitz der Seele, der Persönlichkeit – also viel mehr als nur eine Muskelpumpe.11 Wer aufgeregt ist, dem schlägt das Herz. Wenn man sich freut, dann pocht es, dann schlägt das Herz schneller; wenn man verliebt ist, sowieso. Wenn man Angst hat, rast das Herz: Es gibt das Hasenherz und das Löwenherz, auch das kalte Herz12, man spricht von einem herzlosen, kalten Menschen. Nicht nur in den Kulturen des alten Orients13 spielt das Herz eine besondere Rolle, sondern auch in unserem Kulturkreis. Der deutsche Adel, beispielsweise die Habsburger, hat oft das Herz getrennt von anderen Organen und Teilen des Körpers bestattet.14

Nach dem Tod wurde der Leichnam seziert und Herz und Eingeweide wurden entnommen. Es bildete sich die Tradition, die Herzen in Silberbehältern, sog. Herzurnen, in Herzgrüften zu bestatten.15 So liegt das bestattete Herz von König Ferdinand IV. (1663-1654) in der Loretokapelle der Augustinerkirche und die Eingeweide in den Katakomben des Stephansdoms in Wien. Das Herz von König Karl I. von Österreich-Ungarn (1887-1922), letzter Kaiser von Österreich, wird hinter dem Altar in der Loretokapelle des aargauischen Klosters Muri aufbewahrt, nachdem es seine Frau Zita fünfzig Jahre lang auf ihren Reisen begleitet hatte. Auch das Herz von Kaiserin Zita, die im Frühjahr 1989 im Alter von fast 97 Jahren starb, wurde vor der Einbalsamierung ihrem Körper entnommen. Wer die Herzbestattung für eine heute überkommene Tradition hält, der irrt: Noch vor wenigen Jahren, nach dem Tode Otto von Habsburgs (1912-2011), dem Sohn des letzten Kaisers von Österreich, wurde dessen Sarg nach der Messe in die Wiener Kapuzinergruft16, die traditionelle Grablege der Habsburger, gebracht und dort beigesetzt. Aber „sein Herz wurde am nächsten Tag in der ungarischen Benediktinerabtei Pannonhalma beigesetzt.“17

Heute wissen wir: Die Psyche spielt bei Erkrankungen des Herzens eine wichtige Rolle. Das Herz ist der direkte Draht zur Seele.18 Eine glückliche Partnerschaft ist nicht nur für das seelische Wohlbefinden entscheidend, sondern auch für das herzliche. Eine glückliche Partnerschaft kann sich auf das Herz schützend auswirken. Sie senkt das Risiko für die Erkrankung der Herzkranzgefäße und damit auch das Risiko für einen Herzinfarkt. Umgekehrt gilt natürlich auch: Ist die Beziehung gestört, kann sich das auch ungünstig aufs Herz auswirken. Stirbt die Partnerin oder der Partner an einem Herzinfarkt, so können sich die Symptome übertragen und die oder der Hinterbliebene leidet an Herzrhythmusstörungen oder unter depressiven Verstimmungen. Das Risiko für einen Herzinfarkt erhöht sich übrigens im ersten Monat nach dem Verlust des Partners für den Zurückbleibenden um das bis zu 20-fache!

Depressionen und Ängste erhöhen das Risiko für einen Herzinfarkt ähnlich wie Rauchen oder zu fettes Essen. Auslöser dafür können auch soziale Isolation und Einsamkeit sein. Deutlich wird übrigens die Verbindung von Herz und Seele vor einer Operation: Ist ein Patient psychisch angeschlagen und sieht die Welt und sein Schicksal negativ, so hat sie oder er nach der OP mit mehr Komplikationen zu kämpfen als jemand, der optimistisch in die Zukunft blickt. Aber es kommt auch vor: Wer vor einer Herz-OP seelisch gesund war, kann danach von Ängsten und Depressionen geplagt werden. Viele, auch Männer, sind danach sehr gefühlsbetont. Nicht wenige sind nach einem überstandenen Herzinfarkt nahe am Wasser gebaut.19 Seelische und soziale Faktoren wirken also auf die Herzgesundheit, so viel ist erwiesen.

„Gott spricht: `Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben.´“ (Ez 36,26)

Das Herz ist die Triebkraft unseres Lebens. Wenn hier beim Propheten Hesekiel oder Ezechiel von einem neuen Herz und einem neuen Geist die Rede ist, dann klingt das wie ein Versprechen: Angesichts des alten Lebens, angesichts alter und vielleicht auch verkorkster Verhältnisse will uns Gott ein neues Herz und einen neuen Geist geben – eine Verjüngungskur gewissermaßen, körperlich und geistig. Unser müdes und kraftloses Herz soll erneuert werden, und dazu soll auch ein neuer Geist kommen. Das Versprechen des Propheten Ezechiel zielt auf Veränderung. Im günstigen Fall ist diese Veränderung mit einer Verbesserung verbunden – auf jeden Fall, wenn von einem neuen Herzen die Rede ist. Denn ein neues Herz ist unverbraucht und kann besser und länger schlagen. Wenn dann hier von einem neuen Geist die Rede ist, dürfte klar sein, dass dieser Geist auf Veränderung zum Besseren zielt.20 Wir wissen: Herz, Geist und Psyche bilden eine Einheit, Körper und Seele stehen in einer aktiven Wechselwirkung zueinander. Mit dem Herzen glauben wir.21

So wünsche ich Ihnen und auch mir für das Jahr 2017, dass auch uns Gott, der Herr ein neues Herz und einen neuen Geist geben möge, wie es uns die Jahreslosung verspricht. Bleiben Sie das neue Jahr behütet vor allem Bösen und von allem Unheil verschont! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

1 Predigt zur Jahreslosung Ez 36,26, gehalten im Gottesdienst in der Lukaskirche in Grießen am 22. Januar 2017, 10.00 Uhr (3. Sonntag nach Epiphanias).

2 Vgl. weiterführend Christian Staas, Das entzauberte Herz. Wie William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs die Medizin revolutionierte, in: DIE ZEIT Geschichte Nr. 2/2008: Die Geburt der modernen Medizin. Wie Europas Heilkunst ein neues Bild vom Menschen entwarf, 52-55.

3 Vgl. Die Zeit Doctor. Alles, was der Gesundheit hilft, in: DIE ZEIT Nr. 46 v. November 2016, 4.

4 Vgl. SÜDKURIER v. 20.1.2017, 2.

5 Vgl. weiterführend Siddhartha Mukherjee, Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie (amerik.: The Emperor of all Maladies: A Biography of Cancer, New York 2010), Köln 2015. Der Autor, der für sein Buch den begehrten Pulitzer-Preis erhielt, ist Krebsforscher und praktizierender Onkologe in New York.

6 Zur Bekämpfung des schnellen Todes finden regelmäßig Aufklärungswochen der Deutschen Herzstiftung statt, in deren Rahmen Vorträge von Ärztinnen und Ärzten zu Bluthochdruck, Diabetes, Cholesterin u. a. gehalten und Herz-Seminare sowie Telefon- und Onlineaktionen veranstaltet werden. Etwa 20 Millionen Bundesbürger leiden an Bluthochdruck, etwa 4,6 Millionen an Diabetes. Viele wissen nicht einmal etwas von ihrer Erkrankung, weil sie sich fit fühlen. Vgl. weiterführend http://www.herzstiftung.de/ (aufgerufen am 21.1.2017).

7 Zu neuen medizinischen Erkenntnissen im Blick auf Herz-OPs vgl. DIE ZEIT Nr. 39 v. 15.9.2016, 38.

8 Empfehlenswert ist die iPhone-App `Heartbeats´, erhältlich im App-Store.

9 Vgl. SÜDKURIER v. 18.1.2017, 14+15.

10 Vgl. dazu Focus Nr. 47 v. 15. November 2004: Der große Herz-Check, 80100 (mit einem Ranking von deutschen Kardiologen).

11 Viele Lieder handeln deshalb vermutlich vom Herzen, vgl. beispielsweise `My heart will go on´, die Titelmelodie aus dem bekannten Titanic-Film, gesungen von der kanadischen Popsängerin Celine Dion (geb. 1968), oder `You´ll be in my heart` aus dem Tarzan-Film, gesungen von Phil Collins (geb. 1951): https://www.youtube.com/watch?v=DNyKDI9pn0Q und https://www.youtube.com/watch?v=JIVaUcE4kAM (aufgerufen am 20.1.2017).

12 Vgl. Wolfgang Schmidbauer, Das kalte Herz. Von der Macht des Geldes und dem Verlust der Gefühle, Hamburg 2011, 14ff.

13 Im Alten Ägypten etwa galt das Herz über die Gefühlswelt hinaus als Sitz des Verstandes und der Entscheidungen.

14 Auch bei Napoleon Bonaparte (1821), seinem Sohn Napoleon Franz (1832) und dessen Mutter Marie-Louise (1847) wurden Herz, Gehirn und Eingeweide entnommen und getrennt bestattet. Zur Herzbestattung vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Getrennte_Bestattung (aufgerufen am 21.1.2017).

15 Ein berühmtes Beispiel ist die Bestattung von Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa (um 1122-1190), der auf dem Dritten Kreuzzug im Fluss Saleph in Kleinasien, der heutigen Türkei, ertrank. Sein Herz und seine Eingeweide wurden in Tarsos beigesetzt, während sein durch das Verfahren des `mos teutonicus´ konserviertes Fleisch in der Peterskirche von Antiochia beigesetzt wurden. Seine Knochen wurden von seinem Sohn Friedrich V. von Schwaben bis nach Tyrus mitgeführt, um sie in Jerusalem zu bestatten. Ein anderes Beispiel ist Richard I. Löwenherz (1157-1199), dessen Körper zwar in der Ahnengruft der Anjou in der Abtei Fontevrault bestattet liegt, dessen Herz aber in die Kathedrale von Rouen und dessen Gehirn in die Abtei Charroux verbracht wurden.

16 In der im 17. Jahrhundert erbauten Kapuzinergruft am Wiener Neuen Markt unter dem Kapuzinerkloster liegen 138 Personen bestattet, darunter Franz I. Stephan (HRR, 1708-1765) mit weiteren 11 Kaisern und Maria Theresia (1717-1780) mit weiteren 18 Kaiserinnen. Außerdem ist sie Ruheort von vier Herzurnen. Während das gemeine Volk in Deutschland bis heute dem Friedhofszwang unterliegt, hat der Adel das Recht, seine Verstorbenen in Grüften, z. T. auf eigenem Grund und Boden, zu bestatten. Die Grablege erfolgt nach einem bestimmten Ritus, zu dem dreimaliges Anklopfen an die Pforte der Kapuzinergruft gehört.

17 zitiert nach: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Habsburg (aufgerufen am 21.1.2017). Das Herz seiner bereits 2010 verstorbenen Ehefrau, Regina von Sachsen-Meiningen, blieb nach der Überführung ihrer sterblichen Überreste in die Kapuzinergruft 2011, wo sie an der Seite ihres verstorbenen Mannes beigesetzt wurde, auf der Veste Heldburg.

18 Seelische Erkrankungen haben im Allgemeinen in den westlichen Industriegesellschaften, insbesondere bei Jugendlichen, in letzter Zeit zugenommen, vgl. dazu GEO Wissen Nr. 48: Was die Seele stark macht, Hamburg 2011.

19 In einigen Kliniken werden – weil man erkannt hat, dass Vorgespräche positive Auswirkungen auf die psychische und die körperliche Bewältigung einer Herzoperation haben – heute Psychologinnen und Psychokardiologen eingesetzt, die auf die Erforschung und Behandlung der Wechselwirkungen von Herz und Seele spezialisiert sind, vgl. Josephina Maier, Das schaffe ich!, in: DIE ZEIT Nr. 3 v. 12.1.2017, 35.

20 Für die Tatsache, dass ein neuer Geist nicht nur mit politischen Verbesserungen in Verbindung gebracht werden kann, steht die Wahl des Rechtspopulisten Donald Trump (geb. 1946), Mitglied der Republikanischen Partei, der in den USA zum 45. Präsidenten gewählt worden ist.

21 Vgl. Röm 10,10

2. „… der Vorhang des Tempels riss…“ (Lk 23,45) Zur Kreuzigung Jesu22

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Sohn Jesus Christus. Das vorgeschlagene Wort für die Predigt steht heute beim Evangelisten Lukas im 23. Kapitel, Verse 33-49:

„Es wurden aber auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit ihm hingerichtet würden. Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. (…) Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König. Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er. Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“ (Lk 23, 33-49)

Liebe Gemeinde! Am Anfang steht ein Kuss. Der Kuss des Verrats, der Kuss des Verräters, der Judaskuss. Ein Kuss am Anfang.23 Am Ende steht Rot: Wunden, Blut, Schmerzen, Verlassenheit, der Tod. End-Rot, Rot-Ende. Jesus ist allein und stirbt am Kreuz. Am Anfang stand nur ein Kuss.24

Das Bild, das Sie heute in Händen halten, stammt von Andreas Richert aus Berlin. Der Künstler ist uns allen gut als Zauberkünstler und Akrobat und frecher Kinder- und Erwachsenenunterhalter Orlando von Godenhaven25 bekannt. Auf zwei Familien-Open-Airs hat er gespielt, uns damals blendend unterhalten. Andreas Richert ist aber in seinem bürgerlichen Beruf, wenn man denn bei einem Künstler von einem bürgerlichen Beruf überhaupt sprechen darf, Bildhauer und Maler. So hat er bei seinem Besuch bei uns in der Woche vom 3.-7. April 2017 eine der Reformationsbänke bemalt und uns ein Bild zu Thomas Müntzer dagelassen.26 Und dann, beim Abendessen bei uns zu Hause, drei weitere Bilder: Meine Tochter Gloria spielte ihm auf der Geige ihre Interpretation des Stücks `Nigun´ von Ernest Bloch27 vor, das sie gerade im Abitur gespielt hatte, und er malte dazu dieses Bild, das Sie in Händen halten.28 Deshalb stehen übrigens unten rechts im Bild die Worte „zu Gloria´s Geige 2017“. Das Stück `Nigun´ von Ernest Bloch ist ein sehr gefühlsbetontes Stück, es geht dramatisch über alle Saiten in alle Lagen, rauf und runter, die Geige schluchzt dabei. Nigun, diese eigentlich zwecklose Melodie der osteuropäischen Chassidim, wahrlich kein fröhliches Stück, vereint das Leid des gesamten jüdischen Volkes und es ruft Bilder in einem hervor, bei einem, der zuhört.

Dem Künstler Andreas Richert, der genau zuhörte, fiel die Hinrichtungsszene von Jesus von Nazareth ein. Ihm fiel Rot ein. Warum? Was bedeutet Rot in unserem Kulturkreis? Blut ist rot: jenes Elixier, dessen Anblick Leute in Panik versetzt, in ihnen Alarmstufe Rot hervorruft. Blut: das Element von Leben und Tod. Rot: die Farbe der Liebe und des Schmerzes. Blut ist ein Lebenselixier, jedoch mit einem denkbar schlechten Image. Es fließt in unseren Adern – und wehe, es tritt aus ihnen heraus ans Tageslicht! Verletzungen, Blutentnahmen, Blutproben, die Monatsregel – wir haben Respekt, wenn wir Blut sehen. Denn wir wissen: Schnell kann es dann mit uns auch vorbei sein, können wir eine Blutvergiftung bekommen. An der Sepsis, so heißt der lateinische Fachbegriff für die Blutvergiftung, sterben auch in unseren Zeiten trotz Medikamenten noch scharenweise Leute. „Blut ist ein ganz besondrer Saft“29, hat schon Mephisto in Goethes `Faust´ gesagt. Blut erinnert uns an unsere eigene Endlichkeit. Wenn Blut fließt, kann es mit uns ganz schnell vorbei sein. Das wissen wir und darum haben wir Respekt. Aber dieses schlechte Image hat Blut zu Unrecht, oder? Spätestens, wenn unsere Blutwerte okay sind nach der letzten Blutprobe beim Besuch beim Arzt, wenn wir nicht unter Bluthochdruck oder Hypotonie leiden, sind wir froh – wenn unser Blutdruck stimmt, wenn die roten und die weißen Blutkörperchen im Gleichgewicht sind. Wir sind froh, wenn unsere Herzfrequenz beim Joggen in Ordnung ist oder beim Skilanglauf, wenn wir uns ein Wettrennen mit dem sonnengegerbten achtzigjährigen Schweizer in Leggins auf der Loipe leisten – dann nämlich, wenn nach großer Anstrengung das Blut durch unsere geweiteten Adern rauscht. Unser Blut kommt in Wallung, wenn wir uns aufregen, oder unser Herz klopft, wenn wir den geliebten Menschen in unserer Nähe wissen. Dann ist uns wohl. Dann sorgt unser Blut dafür, dass uns wohlig warm zumute wird. Da hat sich das Image des Blutes dann schlagartig verbessert. Blut ist vermutlich neben unserem Herzen das wichtigste Organ des Körpers. Es versorgt unseren Organismus mit Sauerstoff. Es ist nicht sichtbar – ein stiller Riese in Sachen Leben.

Das Leben ist schnell vorbei, wenn ein massiver Blutverlust droht, bei inneren oder äußeren Verletzungen. Dann verbluten wir. Ist die Wunde offen, tritt das Blut aus den Arterien pulsierend aus, das Blut aus der Vene kontinuierlich. Es kommt dann zum Abfall des Blutdrucks, die Herzfrequenz erhöht sich, der Puls wird schwächer. Werden lebenswichtige Organe nicht mehr durchblutet, ist Kreislaufstillstand die Folge, dann der Tod. Kleben jedoch die Blutzellen zusammen und es bildet sich ein Blutpfropf – dann ist der Herzinfarkt oder der Schlaganfall die Folge dieser Durchblutungsprobleme.

Im jüdischen Glauben ist Blut der Sitz des Lebens. (vgl. 5. Mose 12) Gott, der das Leben einst gegeben hat, wacht darüber, dass es nicht angetastet wird, auch nicht das Blut von Tieren. Deshalb darf dem jüdischen Glauben zufolge kein Blut gegessen werden. Wer das Blut von Menschen vergießt, vergreift sich an Gott selbst und Gott wird sich folglich auch an ihm rächen. Blutschuld fällt auf ihn. Beim Apostel Paulus hängen das Blut und die Heilstat Jesu eng zusammen. Für Paulus steht der blutige Tod Jesu im Zentrum der Versöhnung. (vgl. 1. Kor 1) Brachte man in der Zeit vor Jesus Gott noch Opfer dar, so tritt nun an die Stelle der Opfertiere der Sohn Gottes.

Wirft man einen Blick auf die Kreuzigung, dann weiß man, dass das die Todesstrafe der Römer für Schwerverbrecher gewesen ist. Vermutlich ist die Kreuzigung von den Persern erfunden worden, vermutlich von Alexander dem Großen (356-323 v. Chr.) – Genaueres weiß man nicht. Über die Punischen Kriege kam sie im dritten Jahrhundert v. Chr. zu den Römern. Der Überlieferung zufolge säumten die antike Via Appia, die Haupteingangsstraße nach Rom, nach dem Spartakus-Aufstand über 6000 Kreuze bis nach Capua. Römische Bürger durften übrigens in der Regel nicht gekreuzigt werden. Gekreuzigt wurden alle anderen wegen Raubes, Mordes, Brandstiftung, Fahnenflucht, Hochverrat, Anstiftung zum Aufruhr, schweren Landesverrats und Majestätsbeleidigung. Letzteres soll übrigens auf Jesus zutreffend gewesen sein: Er wurde angeklagt, der König der Juden zu sein – INRI stand auf seinem Kreuz: Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum. Im Tod der Spott der Feinde und dazu noch der Schwamm mit Essig gegen den Durst – eine furchtbare Geschichte! Kaiser Konstantin hat dann im Jahr 315 die Kreuzigung endlich abgeschafft, nachdem er selbst Christ geworden war. Erst unter Kaiser Konstantin übrigens wird das Kreuz zum verbreiteten Symbol des Christentums – bis heute ist das Kreuz das Zeichen der Christenheit.

Das Bild von Andreas Richert ist rot, blutrot. Seine Farbe verdankt das Blut, wie wir alle wissen, den roten Blutkörperchen, genauer: dem eisenhaltigen Farbstoff Hämoglobin. Männer haben von den roten Blutzellen mehr als Frauen, zwischen 4,2 und 6,2 Millionen Zellen pro Kubikmillimeter! Durchschnittlich hat der Mensch 30000 Milliarden davon – würde man sie aneinanderreihen, so würden sie fünfmal um den Äquator reichen. 45 Prozent des Blutvolumens bestehen aus Blutzellen, 55 Prozent aus Plasma, dem flüssigen Anteil des Blutes. Leute, die unter Blutarmut leiden, unter Anämie, haben eine verringerte Zahl an roten Blutzellen im Körper und sehen entsprechen fahl im Gesicht aus.

Rot, nicht schwarz, ist die eigentliche Farbe des Karfreitags. Leiden und Tod stehen heute im Zentrum des Tages. Deshalb finden heute auch keine Tanzveranstaltungen statt, dürfen vom Gesetzgeber aus nicht stattfinden. Wir denken heute an die Orte, an denen Menschen gedemütigt und erniedrigt, ermordet und hingerichtet werden wie Jesus – unter anderem auch, weil sie sich zu ihm und dem christlichen Glauben bekennen. Jesus stirbt mit auf den elektrischen Stühlen in Texas. Jesus stirbt mit im Irak, wenn Bomben fallen. Jesus stirbt mit in Israel, wenn sich palästinensische Selbstmordkommandos in die Luft sprengen. Jesus stirbt mit, wenn in Saudi-Arabien im Jahr 2017 eine Ehebrecherin zu Tode gesteinigt wird.

Die Kreuzigung Jesu ist vor knapp 2000 Jahren geschehen. Sie ist gut bezeugt, es gibt viele historische Quellen auch außerhalb der Bibel, die davon berichten. Aber die Kreuzigung geht darüber hinaus. Sie ist heute noch aktuell in der Welt. Das Kolosseum in Rom, in dem so viele Christinnen und Christen unter Kaiser Nero gekreuzigt wurden, wird heute mehrere Tage beleuchtet, wenn wieder einmal ein Staat auf der Welt die Todesstrafe abgeschafft hat. Die Italiener und die Römer sind da heute eindeutig – ja, man kann sagen, sie haben sich im Vergleich zur Antike um 180 Grad gedreht! Wegen ihres Glaubens werden überall auf der Welt auch heute noch Christinnen und Christen verfolgt, gedemütigt, diskriminiert und umgebracht. An sie denken wir besonders an diesem heutigen Karfreitag 2017.

Am Anfang stand nur ein Kuss. Der Kuss des Verrats, der Kuss des Verräters – der Judaskuss. Ein Kuss am Anfang, am Ende war Rot: Wunden, Blut, Schmerzen, Verlassenheit, der Tod. End-Rot, Rot: Ende, Aus, Fertig. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

22 Predigt zu Lk 23, 33-49, gehalten im Gottesdienst in der Lukaskirche in Grießen am 14. April 2017, 10.00 Uhr (Karfreitag). Wichtige Anregungen erhielt ich durch chrismon. Das evangelische Magazin 04/2004, 13-20. Die Anwesenden erhielten jeweils ein Bild des Berliner Künstlers Andreas Richert ausgehändigt, auf das in der Predigt Bezug genommen wird.

23 Vgl. weiterführend Alain Montandon, Der Kuß. Eine kleine Kulturgeschichte, Berlin 2006, bes. 130.

24 Von maßlosen, irrtümlichen und innigen Küssen, sieben bedeutungsvollen Küssen der Literaturgeschichte von Marguerite Duras bis Heinrich von Kleist, handelt das Buch von Peter von Matt, Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur, München 2017.

25https://www.youtube.com/watch?v=NQ3pT0pRhrA&spfreload=10 (aufgerufen am 13.4.2017).

26 Vgl. dazu den Hintergrundbericht von Heidrun Glaser, Das letzte Abendmahl aus Künstlersicht, in: Hochrheinanzeiger v. 19.4.2017, 13.

27 Ernest Bloch (1880-1959) war ein schweizerisch-US-amerikanischer Komponist, dessen Werk von der Spätromantik und dem Impressionismus beeinflusst wurde.

28 Vgl. weiterführend: http://www.ernestbloch.com (aufgerufen am 13.4.2017).

29 So die Worte des Mephistopheles in Goethes `Faust I´, die er beim Abschluss des Teufelspakts dem Gelehrten Faust entgegnet. Der Teufel besteht darauf, dass Faust den Vertrag mit Blut unterschreibt. Nur dann ist er bereit, dem vom Leben frustrierten Faust zu einem neuen Leben zu verhelfen, vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, v1740, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 3: Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, München 1998, 58.

3. „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,10) Wider die Angst30

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Das vorgeschlagene Wort für den heutigen Ostersonntag steht beim Evangelisten Matthäus im 28. Kapitel. Dort geht es um `Jesu Auferstehung´:

„Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria Magdalena und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Erscheinung war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erbebten aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot. Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern: Er ist auferstanden von den Toten. Und siehe, er geht vor euch hin nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen. Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: Dort werden sie mich sehen.“ (Mt 28,1-10)

Liebe Gemeinde! Am Anfang stand ein Kuss.31 Der Kuss des Judas, der Kuss des Verräters.32 Am Anfang stand nur ein Kuss. Dann folgte die Gefangennahme Jesu, seine Verurteilung durch Pontius Pilatus und die Kreuzigung Jesu in Golgatha. Wir kennen die Geschichte, die uns die Evangelien erzählen. An jedem Karfreitag erinnern wir uns an diese Geschichte, in der ein Unschuldiger hingerichtet wird. In keiner mir bekannten Geschichte hat ein anfänglicher Kuss solche Folgen gehabt! Auch in diesem Jahr haben wir am Karfreitag an die Orte auf der Erde gedacht, an denen noch immer Unschuldige sterben müssen, bei uns und anderswo. Das Ende der biblischen Geschichte ist bekanntlich offen. Die Botschaft von Jesu Auferstehung, wie wir sie heute gehört haben, gibt dieser tragischen und brutalen Geschichte noch einmal einen anderen Schliff, auch eine andere Zielrichtung, sozusagen ein Happy End. Die Auferstehung verwandelt die Kreuzigungsgeschichte in eine Geschichte der Hoffnung, in eine Hoffnungsgeschichte.33 Dafür steht Ostern – für die Hoffnung!34 Am Anfang der Ostergeschichte stand ein Kuss.35 Immer wieder ist diese Hoffnungsgeschichte Gegenstand der Medien, so auch im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL von dieser Woche. Schon der Titel, der Aufmacher, verspricht Hoffnung. Dort heißt es reißerisch: „Ewiges Leben – demnächst für alle! Wie der Mensch den Tod besiegen will“.36 Und dann geht es um den Traum, der so alt ist wie die Menschheit selbst: das Altern zu verhindern, den Tod zu besiegen und Unsterblichkeit zu erlangen.37 Ich fand den Bericht bemerkenswert, obwohl es mich ein bisschen gegruselt hat, als ihn gelesen habe: Denn in dem Bericht werden neueste medizinische Versuche beschrieben, mit Blut den Alterungsprozess aufzuhalten. Mäuse und Nacktmulle müssen als Versuchstiere herhalten – Nacktmulle, weil sie, obwohl fast blind und hässlich, bis zu 30 Jahre alt werden und damit bei ähnlicher Größe zehnmal so alt wie Mäuse. Wegweisend ist heute in der Wissenschaft ein Verfahren, das Parabiose genannt wird. Dabei werden alte und neue Mäuse aneinandergenäht, natürlich mit Betäubung und mit den Mitteln der ärztlichen Kunst. Im Zuge der Wundheilung wachsen die Adern von beiden Mäusen zusammen, das Blut wird von zwei Herzen durch den Doppelkörper gepumpt, die miteinander verwachsenen Mäuse fressen zusammen, schlafen zusammen, bewegen sich zusammen. Die Frage ist nun: Altern sie auch zusammen? Die Gerontologen, die Altersforscher, haben entdeckt, dass, wenn man parabiotische Mäuse zusammennäht, die jüngeren Tiere auf die älteren wie eine Verjüngungskur wirken. Die alten Mäuse bekommen ein glänzendes Fell, straffe Muskeln, ein kräftiges Herz. Das Lernvermögen der Alten steigert sich. Im Blut der jungen Mäuse gibt es offensichtlich ein Wundermittel, das die Lebensuhr rückwärts laufen lässt. Stellen Sie sich also bitte vor: Sie werden mit jemandem jüngeren zusammengenäht und verjüngen sich! Schöne Vorstellung, oder? Was haltet Ihr Konfis davon? [Heiterkeit bei Jung und Alt!]

Schon gibt es in Amerika erste Tests mit Menschen: Alzheimer-Patienten wird das Blutplasma junger Spender injiziert in der Hoffnung, dass ihr Gedächtnis wiederkehrt. Besonders unter Computerexperten und Internetfreaks scheint die Sehnsucht nach Unsterblichkeit groß zu sein – weil dem Computer und dem Netz keinerlei Grenzen gesetzt sind, soll auch die Endlichkeit des Lebens aufgehoben werden. Silicon-Valley-Milliardäre wie Google-Mitbegründer Sergej Brin38, Paypal-Mitgründer Peter Thiel39 und Oracle-Gründer Larry Ellison40 sind bereits auf den Zug aufgesprungen und haben Milliarden dafür gespendet. Erste Menschen haben sich bereits nach ihrem Tod in flüssigem Stickstoff verwahren lassen, mit der Bestrebung, sich wieder auftauen zu lassen, nachdem das Altern von der Wissenschaft besiegt worden ist. Kryonik nennt man dieses Verfahren, das mit der Hoffnung spielt, später wieder auferstehen zu können. Allerdings nicht ganz billig: 28000 USD lassen sich Anhänger dieses Verfahrens kosten. `Mind uploading´ ist ein weiterer Versuch, sich der Unsterblichkeit mit Hilfe der IT-Branche anzunähern: Damit soll angesichts des Sterbens des menschlichen Ichs der Inhalt des Gehirns hochgeladen werden – ein Aufstieg der Seele in den digitalen Himmel. Der 69jährige Cheffuturist von Google, Ray Kurzweil41, schwört darauf und hofft, dass er diesen technischen Fortschritt noch erleben wird. Es stimmt allerdings nicht, wenn der SPIEGEL schreibt, dass Christen ins Reich Gottes aufgenommen würden, um am Tag des Jüngsten Gerichts, gekleidet in ihren alten Körper, wieder aufzuerstehen und damit die Endlichkeit des Lebens mit dem Tod geleugnet werde. In unserem christlichen Glauben ist eines klar, im Unterschied zum Buddhismus oder zum Hinduismus: Wir leben nur einmal auf Erden! Und wenn es um die Auferstehung der Toten geht, so ist das unsere Hoffnung! Es ist das Versprechen gegen die Angst, im Nichts zu enden und es ist in erster Linie eine kulturelle Verortung!42 Das scheint der SPIEGEL-Journalist nicht ganz verstanden zu haben, wenn er einen künstlichen Graben aufreißt zwischen der modernen, aufgeklärten Wissenschaft und Technik und einem angeblich antiquierten christlichen Glauben – als wären wir Christinnen und Christen Doofe!43

Für mich ist die zentrale Botschaft des Evangeliums, der Evangelien überhaupt dieses „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,10) Habt keine Angst!44 Diese Botschaft kommt auch in unserem biblischen Wort für heute im Matthäusevangelium vor: „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,10)

Die meisten von uns sprechen in der Regel immer – unkritisch – vom Mittelalter als einem Zeitalter der Angst. Aber leben wir heute nicht in einem Angst-Zeitalter? Sind wir alle nicht angstbesetzt?45 Haben wir nicht Angst davor, dass das Atomkraftwerk in die Luft fliegt wie einst in Tschernobyl oder in Fukushima und die Heimat dann verstrahlt wird und unbewohnbar ist? Haben wir nicht Angst davor, dass wir den Strahlen des Mobilfunks ausgesetzt sind und von unserem WLAN oder von dem des Nachbarn gegrillt werden?46 Haben wir nicht Angst, dass wir plötzlich von Informationen abgehängt sind, dass wir plötzlich nicht mehr googeln können?47 Sind nicht die Ängste vor einer unüberschaubar scheinenden Technik allgegenwärtig in unserem Alltag?48 Ist nicht demgegenüber das Mittelalter ein Zeitalter des Gottvertrauens gewesen – in dem Kathedralen erbaut wurden, obwohl die Erbauer wussten, dass die Bauzeit so lang werden würde, dass sie ihr Ende nicht erleben würden – siehe zum Beispiel das Freiburger Münster? Ich glaube, das Mittelalter war weniger ein Zeitalter der Angst, als vielmehr ein Zeitalter des Gottvertrauens.49 Neulich stand jemand vor meiner Haustür und meinte, die WLAN-Antenne auf dem Kirchendach der Bergkirche sei dafür verantwortlich, dass so viele Menschen in Küssaberg an Krebs erkrankt seien und die Blätter der Bäume braun würden und er würde jetzt einen Anwalt einschalten und die Kirchengemeinde verklagen. Ich habe ihn erstmal hineingebeten und mir dann im Pfarrbüro genügend Zeit genommen, um ihm zuzuhören. Er war selbst an Krebs erkrankt und suchte jemanden, mit dem er sich über seine Krankheit austauschen konnte. Wir unterhielten uns über seine Sorgen und Ängste und das Verstrahlungsproblem trat im Verlauf des Gesprächs immer mehr in den Hintergrund. Manchmal sind die Probleme nur vorgeschoben und die Ängste arbeiten verdeckt im Hintergrund… Denn: Wenn das nur alles so einfach wäre! Es ist leider wie mit dem Rauchen: Manch einer, der raucht, lebt, bis er 90 ist, und ein anderer stirbt mit 30, obwohl er immer gesund gelebt hat. Ursache/Wirkung ist leider beim Funk nicht ganz eindeutig. Aber wenn das so wäre, dann hätten wir ein weiteres Problem: Denn mal ganz ehrlich – wer von uns möchte schon gerne aufs Smartphone oder aufs Internet verzichten? Viele von uns sind gesteuert durch Angst, nicht nur durch vage Ängste, sondern durch heftige Angstattacken! Einige von uns sind irgendwie durch irgendetwas traumatisiert worden50, andere von uns stehen permanent unter Leistungsdruck, haben einen unausgeglichenen Seelenhaushalt, wieder andere stehen andauernd unter Stress.51 Stress ist oft ein Auslöser für Ängste. Mir sind einige bekannt, die unter Angstattacken leiden und die sich wegen einer Angststörung in psychiatrische Behandlung begeben mussten, weil es anders nicht mehr gegangen ist, und die Tabletten dagegen einnehmen.52 Ich kenne Berufsmusikerinnen, die plötzlich Panikattacken bekamen, bevor sie spielen mussten, und ihre Herzen sich mit einem Mal in Panikherzen53 verwandelten. Mir sind Pfarrerkollegen persönlich bekannt, die kirchliche Räume nicht mehr betreten konnten, weil sie plötzlich panische Angst vor Menschenansammlungen hatten und in Angstzustände gerieten.54 Darauf warte ich dann noch! [Heiterkeit!] Burnout war nur eine der Folgen.55 Zwanghaftigkeit gehörte ebenso dazu.56 Sie mussten etwas dagegen tun. Die Verhaltenstherapie erzielt bis heute anscheinend die meisten Erfolge gegen eine Angststörung.57

Martin Luther – wir denken in diesem Jahr besonders an ihn, weil sich die Veröffentlichung seiner 95 Thesen in diesem Jahr zum 500. Mal jährt und sich damit die Reformation verbindet – ist Zeit seines Lebens ein von Ängsten geplagter Mann gewesen.58 Heute geht man davon aus, dass er zeitweise manisch-depressiv war, also an einer massiven Persönlichkeitsstörung gelitten hat. Ob die bekannte Geschichte mit dem Teufel dazu gehörte, ist nicht ganz klar – Sie wissen, er soll auf der Wartburg mit dem Tintenfass nach dem Teufel59 geworfen haben –, also ob er auch unter Halluzinationen litt.60 Dabei hat er eigentlich nur gesagt, er habe den Teufel mit der Tinte vertrieben. Und gegen seine Ängste hat er mit weißer Kreide groß auf den Tisch geschrieben: `Ich bin getauft!´

Ostern ist das Fest der Hoffnung. Ostern ist das Fest gegen die Angst.61 „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,5) sagt der Engel zu den Frauen, die als erstes am leeren Grab erschienen sind. „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,5) „Fürchtet euch nicht!“ ist übrigens auch die Botschaft der Engel, die den Hirten auf den Feldern begegnet sind an Weihnachten.62 Ostern und Weihnachten, die beiden zentralen Feste im Christentum, haben also dieselbe Botschaft, nämlich: Habt keine Angst!

An Palmsonntag und an Karfreitag habe ich jeweils ein Bild von Andreas Richert dabeigehabt. Andreas Richert ist ein bildender Künstler aus Berlin. Er ist bereits zweimal als Gaukler `Orlando von Godenhaven´ bei uns zu Gast gewesen, auf dem Familien-Open-Air in Reckingen und in Geißlingen. Aber eigentlich ist Andreas Richert Bildhauer und Maler. Der Zauberkünstler und Akrobat sorgt nur dafür, dass es für den Lebensunterhalt reicht, dass er leben kann. Wir haben ihm mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Kirchengemeinden vor ein paar Jahren einen Besuch abgestattet in seinem Atelier in Bad Mergentheim, wo er lange Zeit gearbeitet hat. Inzwischen ist er mit seiner Familie nach Berlin gezogen, und als er jetzt, Anfang April, bei uns war, hat er eine der Reformationsbänke bemalt, zum Thema Abendmahl, und er hat eine Auftragsarbeit zu Thomas Müntzer für die Lukaskirche in Grießen angefertigt. Daneben hat er uns drei weitere Bilder dagelassen. Ein Bild hatte ich am Palmsonntag dabei, eines am Karfreitag und ein drittes Bild habe ich Ihnen heute mitgebracht. Es spiegelt für mich etwas von der Lebensfreude, die Ostern als Fest gegen die Angst und als Fest des Frühlings für mich hat. Zu sehen sind drei Musikanten, ein Gitarrist und zwei Geiger, und man kann sich gut vorstellen, wie die Musik klingt, die die drei machen. Musik gehört zum Leben dazu, Musik macht unser Leben schöner, Musik macht uns Menschen froh und gibt uns auch ein Stückweit Hoffnung. Nehmen Sie das Bild mit, behalten Sie´s, geben Sie´s weiter, verschenken Sie´s, machen Sie jemandem eine Freude damit. Ich wünsche Ihnen allen ein frohes Osterfest: Frohe Ostern! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

30 Predigt zu Mt 28, 1-10, gehalten im Gottesdienst mit Taufe und Abendmahl in der Matthäuskirche in Erzingen am 16. April 2017, 10.00 Uhr (Ostersonntag).

31 Zu den einzelnen Spielarten des Kusses bei den alten Römern (basium, osculum und suavium) vgl. den französischen Philosophen Alexandre Lacroix, Kleiner Versuch über das Küssen, Berlin 2013, 31f. (mit Lit. auf 174f.) und zur kulturgeschichtlichen Bedeutung des Kusses im Allgemeinen ders., „Als wäre es das letzte Geheimnis zwischen den Menschen“, in: SZ Magazin, Heft 18/2013. Zu neueren Erkenntnissen im Blick auf die medizinische Wirkung des Kusses, vgl. DIE ZEIT Doctor. Alles, was der Gesundheit hilft, Nr. 4 (DIE ZEIT Nr. 38) v. September 2016, 9ff.

32 „Heinrich Heine hat gedichtet: `Der heil´ge Gott, er ist im Licht/Wie in den Finsternissen;/Und Gott ist alles, was da ist;/Er ist in unsern Küssen´“ (Heinrich Heine, zitiert nach Heinz Zahrnt, Wie kann Gott das zulassen? Hiob - der Mensch im Leid, München 72000, 17).

33 Immer wieder wird versucht, die Jesusgeschichte auch mit filmischen Mitteln ins Bild zu setzen, zuletzt vielleicht durch den Film `Auferstehung´ aus dem Jahr 2016 mit Joseph Fiennes (geb. 1970) in der Hauptrolle. In der Inhaltsangabe heißt es: „Obwohl die römischen Machthaber hofften, mit der Hinrichtung von Jesus die Aufstände der jüdischen Bevölkerung in Jerusalem im Keim zu ersticken, hatte die Tat eher den gegenteiligen Effekt. Um die aufbegehrenden Bürger, die sich auf Jesus berufen, endlich zum Verstummen zu bringen, und den Mythos um die Göttlichkeit des Messias zu entkräften, bekommt der Militärtribun Clavius (Joseph Fiennes) den Auftrag, die Wahrheit über Jesu´s [sic!] Tod und seine vermeintliche Auferstehung aufzudecken. Mit seinem Gehilfen Lucius (Tom Felton) macht sich Clavius auf die Suche nach der verschwundenen Leiche und setzt dabei die Puzzleteile zur Aufklärung des mysteriösen Falls nach und nach zusammen. Je tiefer Clavius in seine Nachforschungen abtaucht, desto mehr stellt er indes auch seinen eigenen Glauben infrage.“ (Info-Text)

34 Vgl. dazu das interessante Interview mit Jürgen Moltmann, „Gott ist die große Barmherzigkeit“, in: SÜDKURIER v. 24. März 2016, 14f. Auf die Frage, wie sich der renommierte Tübinger Theologieprofessor, Träger vielfacher Ehrendoktorwürden, das Leben nach dem Tode vorstelle, antwortet er: „Für meinen Fall denke ich, dass die Seele aufersteht. Aber nicht nur als unsichtbare Figur, sondern sie wird eine genau umrissene Gestalt annehmen. Der große Theologe Thomas von Aquin nannte die Seele etwas, was dem Körper erst Gestalt und Umriss verleiht. Also kann man sie gar nicht davon trennen.“ (14) Nach seiner persönlichen Lieblingsstelle in der Bibel gefragt, antwortet er: „Die steht im Buch Hiob, 36,16: `Auch dich lockt er aus dem Rachen der Angst in weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr ist.“ (15)

35 Einer der berühmtesten Küsse der Nachkriegsgeschichte ist vermutlich der, der von Alfred Eisenstaedt (1898-1995) auf einem Foto festgehalten wurde – jener Augenblick, als ein fremder Matrose Greta Friedman auf dem New Yorker Time Square angesichts der Kapitulation von Japan und des damit eingeläuteten Ende des Zweiten Weltkrieges küsst, vgl. DIE ZEIT v. 15.9.2016. Wie sehr dem Kuss die Dimensionen der Ehrlichkeit, des Verrats und auch der Vergebung und der Befreiung innewohnen, zeigt das Lied der Punkband `Die Toten Hosen´, Der letzte Kuss: https://www.youtube.com/watch?v=UpOylXUbkZo (aufgerufen am 15.4.2017).

36 Vgl. DER SPIEGEL Nr. 16 v. 15.4.2017.

37 Vgl. dazu schon Frank Schirrmacher zum `Methusalem-Komplex´, in: ders., Ungeheuerliche Neuigkeiten. Texte aus den Jahren 1990 bis 2014, hg. und mit einem Vorwort von Jakob Augstein, München 2014, 47-74, bes. 59f.

38 Der US-amerikanische Informatiker und Unternehmer russisch-jüdischer Herkunft, Sergej Brin (geb. 1973), ist zusammen mit Larry Page (geb. 1973) einer der Entwickler der Suchmaschine Google. Beide gehören zu den reichsten Menschen der Welt.

39 Peter Thiel (geb. 1967) ist ein US-amerikanischer Unternehmer mit deutschen Wurzeln und einer der Mitbegründer des Online-Bezahldienstes PayPal (wörtlich: `Bezahlfreund´).

40 Lawrence `Larry´ Joseph Ellison (geb. 1944) steht auf der Forbes-Liste der reichsten Milliardäre auf einem der vorderen Plätze. 2010 spendete er 95% seines Vermögens für wohltätige Zwecke. Er schloss sich damit der philanthropischen Kampagne `The Giving Pledge´ der Milliardäre Bill Gates (geb. 1955) und Warren Buffett (geb. 1930) an.

41 Der US-Amerikaner Ray Kurzweil (geb. 1948) ist Autor, Erfinder, Futurist und Leiter der technischen Entwicklung bei Google. Der vielfach ausgezeichnete Visionär der künstlichen Intelligenz ist u. a. Träger von 20 Ehrendoktortiteln.

42 Vgl. Johann Christoph Arnold, Hab´ keine Angst. Erlebnisse und Gedanken zu Krankheit, Tod und Ewigkeit, Robertsbridge 2012, 9ff. und 24-33.

43 Dem Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Bayern und EKD-Ratsvorsitzenden Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm (geb. 1960) ist zuzustimmen, wenn er sagt: „…die Wahrheitsfrage im Hinblick auf das Nichts ist genauso offen wie im Hinblick auf das Leben nach dem Tod.“ (Zitat im selben SPIEGEL) Humorvoll hat sich der chrismon-Chefredakteur dieser Frage gestellt, vgl. Arnd Brummer, Im Himmel sind die Allerletzten! Notizen aus dem Leben (edition chrismon), FfM 2015, bes. 39-41.

45 Vgl. dazu weiterführend den Klassiker von Fritz Riemann, Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, München-Basel 121975, bes. 7-19.

46 Vgl. dazu weiterführend Werner Thiede, Mythos Mobilfunk. Kritik der strahlenden Vernunft, München 2012, bes. 224ff. (Lit. auf 235-242). Thiede (geb. 1955) ist Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche in Bayern und seit 2007 apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er hat sein kritisches Buch zum `Mythos Mobilfunk´ der Mobilfunk-Kritikerin und auf die Gefahren des Elektrosmogs hinweisenden langjährigen grünen Bamberger Stadträtin Dr. med. Cornelia Waldmann-Selsam (geb. 1951) gewidmet.

47 Vgl. Frank Schirrmacher, Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München 2011, 13ff.

48 Vgl. weiterführend Werner Thiede, Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, München 2015 (mit seinen teils nachdenkenswerten, teils überzogen-provokanten „95 Thesen“ zur Digitalisierung auf 149-162 und einem weiterführenden Literaturverzeichnis auf 163-170).

49 Vgl. dazu das Buch Faszination Mittelalter. Rätsel und Geheimnisse einer Epoche, Köln 2007, 12ff.

50 Vgl. dazu weiterführend den Video-Mitschnitt der Zürcher Traumatage 2016: Angst zwischen Geschenk und Bedrohung. Peter Levine, George Kohlrieser, Bessel van der Kolk, 3 DVDs, Müllheim/Baden 2016.

51 Vgl. weiterführend Christoph M. Bamberger, Stress-Intelligenz. So finden Sie Ihren optimalen Stress-Level und gewinnen Lebensenergie, München 2007, 67ff., und Peter Wild, Wer langsam geht, geht weit. Alternativen zur Überholspur, Ostfildern 2006, 22007, 22ff.

52 Schon früher wurden Mittel gegen die Angst verabreicht. Im Zweiten Weltkrieg erhielten die deutschen Soldaten zum Abbau ihrer Ängste und zu deren Dämpfung die Droge Pervitin, die als `Panzerschokolade´ oder `Stuka-Tabletten´ bekannt wurde und zur Leistungssteigerung führte. Die 1937 patentierte, euphorisierende und stimulierende berüchtigte Droge besteht aus Methamphetamin, das in den letzten Jahren verstärkt als `Crystal Meth´, Meth, Ice oder Crystral auf den deutschen Markt kam und sich wegen seiner Preisgünstigkeit verbreitet.

53 So der Titel des Bestsellers von Benjamin von Stuckrad-Barre, Panikherz, Köln 32016. Der Autor (geb. 1975) schildert darin die Auswüchse seiner Drogensucht und seine körperliche wie seelische Selbstzerstörung.

54 Umfragen zufolge leiden in Deutschland 30 Millionen Menschen an einer Angststörung, wobei unter den Betroffenen doppelt so viele Frauen wie Männer sind, vgl. GEO Wissen. Den Menschen verstehen, Nr. 57, Hamburg 2016, 54-59, bes. 57. In dem Heft befinden sich Krankheitsbilder (60ff.), Porträts von Betroffenen (80-87), Ausführungen zum Verhältnis von Religion und Angst (118-123) und Strategien zur Bewältigung von Angst, z. B. durch Hypnosetherapie (124-133 und 149-151).

55 Vgl. dazu weiterführend Andreas von Heyl, Das Anti-Burnout-Buch für Pfarrerinnen und Pfarrer, Freiburg im Breisgau 2011, bes. 20ff. und 34ff. Hier wird ein Zusammenhang von Burnout und Panikattacken hergestellt (vgl. 37). Dr. theol. Andreas von Heyl (1952-2016) war Gemeinde- und Krankenhauspfarrer sowie außerplanmäßiger Professor für Praktische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau.

56 Vgl. weiterführend David Adam, Zwanghaft. Wenn obsessive Gedanken unseren Alltag bestimmen, München 2014, bes. 110-127.

57 Vgl. Ines von Witzleben/Aljoscha A. Schwarz, Endlich frei von Angst, München 2004, 72011 (hier werden praktische Tipps gegeben, um Denkmuster zu erkennen, mit den eigenen Ängsten umzugehen, zu trainieren und Selbstvertrauen zu gewinnen); Doris Wolf, Ängste verstehen und überwinden. Wie Sie sich von Angst, Panik und Phobien befreien, Mannheim 292014 (mit weiterführenden Internet-links auf 226); Margaret Wehrenberg, Die 10 besten Strategien gegen Angst und Panik. Wie das Gehirn uns Stress macht und was wir dagegen tun können, Weinheim-Basel 2012 (Lit: 286-290).

58 Vgl. Friedrich Schorlemmer, Hier stehe ich: Martin Luther, Berlin 2003, 18-29.

59 Natürlich ist der mittelalterliche Teufelsglaube in der modernen Welt nicht mehr mehrheitsfähig. Die Aufklärung hat den Teufel entmythologisiert. Dennoch ist das Böse aus dieser Welt nicht verschwunden. Mit dem Bösen und mit dem Teufel beschäftigt sich die Zeitschrift `du 760 – Der Teufel. Das Antlitz des Bösen´, Zeitschrift für Kultur: Nr. 9, Oktober 2005.

60 Ein Filmklassiker, bei dem es um Halluzinationen geht, ist die Komödie `Mein Freund Harvey´ von Henry Koster (1905-1988) mit James Stewart (1908-1997) in der Hauptrolle aus dem Jahr 1950. Vgl. zum Thema über Luther hinausgehend auch Oliver Sacks, Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen, Reinbek bei Hamburg 2013, 22015, bes. 71ff. (Lit.: 329-341).

61 „Glaube, Hoffnung und Liebe sind die Summe der christlichen Existenz. Wer glaubt, lässt sich von Zuversicht bestimmen; wer hofft, überlässt der Sorge nicht das letzte Wort; wer liebt, gibt keinen Menschen auf. Das ist der Geist von Ostern. Von Anfang an ist Ostern deshalb das wichtigste Fest der Christenheit. Dieses Fest feiert die Auferweckung des Gekreuzigten, den Triumph des Lebens über den Tod, den Sieg der Hoffnung über die Angst.“ (Wolfgang Huber, Sieg über die Angst, in: Badische Zeitung v. 11.4.2009)

62 Vgl. Lk 2,10

4. „Es ist der Herr!“ (Joh 21,7) Im Reformationsjahr 201763

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Das vorgeschlagene Wort für die heutige Predigt steht beim Evangelisten Johannes im 21. Kapitel. Das Kapitel, das ich vorlese, ist überschrieben mit den Worten „Der Auferstandene am See von Tiberias“:

„Danach offenbarte sich Jesus abermals den Jüngern am See von Tiberias. Er offenbarte sich aber so: Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger. Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sprechen zu ihm: Wir kommen mit dir. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot, und in dieser Nacht fingen sie nichts. Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes, so werdet ihr finden. Da warfen sie es aus und konnten´s nicht mehr ziehen wegen der Menge der Fische. Da spricht der Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte: `Es ist der Herr´, da gürtete er sich das Obergewand um, denn er war nackt, und warf sich in den See. Die andern Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht fern vom Land, nur etwa zweihundert Ellen, und zogen das Netz mit den Fischen. Als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot. Spricht Jesus zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg herauf und zog das Netz an Land, voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und obwohl es so viele waren, zerriss doch das Netz nicht. Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten: Es ist der Herr. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt's ihnen, desgleichen auch den Fisch. Das ist nun das dritte Mal, dass sich Jesus den Jüngern offenbarte, nachdem er von den Toten auferstanden war.“ (Joh 21, 1-14)

Liebe Gemeinde! Das Osterfest war dieses Jahr kaum vorüber und schon brachen wir mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden nach Wittenberg auf: Vom Dienstag nach Ostern bis Samstagmorgen sind wir mit Klettgauer und Kadelburger Jugendlichen auf Reisen in Ostdeutschland unterwegs gewesen, gewissermaßen auf Luthers Spuren.64 So komme ich also heute morgen fast direkt aus Wittenberg zu Ihnen, aus dem sog. `Rom des Nordens´65, besser gesagt über Eisenach und die Wartburg, Schloss Heldrungen, Bad Frankenhausen, Allstedt, Mühlhausen66 und zuletzt aus Erfurt, denn das ist die letzte Station auf unserer weiten Reise gewesen. In diesem Jahr sind wir besonders hart am Wind gesegelt, denn 2017 ist bekanntlich Reformationsjahr: Wir feiern 500 Jahre Thesenanschlag! Und so sind die ostdeutschen Lande nach wie vor vollauf beschäftigt mit Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum.67 Überall wird noch immer gebaut, auf der Wartburg zahlt man deshalb reduzierten Eintritt; Das Lutherhaus in Wittenberg ist komplett umgekrempelt, im Garten walzen die Planierraupen, es herrscht geschäftiges Treiben. Luther vorne, Luther hinten, Luther oben, Luther unten. Falls die deutschen Protestanten den römischen Katholiken je Reliquienkult vorgeworfen haben sollten, dann spottet es jeglicher Beschreibung, wofür hier der `evangelische Heilige´ Martin alles herhalten muss. Luther wird kommerzialisiert, dass es kracht! Auffallend viele US-Amerikaner und Japaner haben wir in Wittenberg bei unserem Kurzbesuch zu Gesicht bekommen, die Preise sind derzeit oben, das Merchandising boomt ohne Ende. Die Reformationsjahr-Werbekampagne scheint also die Evangelischen in `Overseas´ tatsächlich erreicht und seine Wirkung nicht verfehlt zu haben!

Die Reformation: Es ist ja schön, dass wir sie dieses Jahr ins Zentrum unseres intellektuellen und spirituellen Interesses gerückt haben! Wir wissen: Nicht nur die Kirche, sondern auch der Staat hat ein Interesse daran, der Reformation und damit auch der Reformatoren zu gedenken. Schließlich gilt: Ohne Luther und ohne seine Ideen, ohne die Unterstützung der deutschen Fürsten und ohne die Loslösung von Rom wäre es vermutlich nicht zu dem deutschen Staat gekommen, der uns heute vertraut ist, auch nicht zu einer einheitlichen deutschen Sprache. Aber es geht weiter: Aus einer deutschen Bewegung ist eine europäische Bewegung geworden und schließlich darüber hinaus sogar eine weltweite Bewegung. Aber was sind die Ursachen für diese Freiheitsbewegung gewesen?

Ich denke, ohne die Missstände in der römischkatholischen Kirche und in der gesamten Gesellschaft in Deutschland kann man diese Zeit nicht verstehen. Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist für uns heute ohnehin nur schwer verständlich. Vom Mittelalter und von der Reformation, als es weder Dampfmaschine noch Eisenbahn noch Auto, weder Radio noch Fernsehen, weder Computer noch Internet noch WLAN noch iPhones gab, trennt uns zu viel. Aber gerade im Osten Deutschlands gibt es zahlreiche öffentliche Spuren davon, und zwar u. a. in Form der alten Kirchen. Die gotischen Kirchen, im Mittelalter entstanden, waren einst katholische Kirchen und wurden mit der Reformation dann meist evangelisch.68 Die Zeit, in der Martin Luther lebte, ist ohne die Missstände in der römischen Kirche und in der Gesellschaft nicht verständlich. Um es kurz zu machen: An der Spitze der Gesellschaft standen der Adel und die Geistlichkeit. Dann kam eine Weile erstmal nichts. Und dann kam immer noch nichts. Und zum Schluss dann kam das gemeine Volk, das einfache Volk, in der Mehrheit bestand es aus Bauern. Arm und Reich klafften auseinander. Und als den Bauern dann noch ihre wenigen Rechte genommen wurden, da fing es an, in Deutschland zu brodeln, zu kochen und überzuschäumen und schließlich kochte der Kessel ganz und gar über. Die Bauernaufstände 1524/25, die bekanntlich auch hier in Grießen statt fanden, waren dann die gewaltsame Reaktion auf die vorherige jahrzehntelange gewaltsame Ausbeutung durch Fürsten und hohe Geistlichkeit – eine Art Quittung auf nicht mehr zu ertragene Ungerechtigkeit. Gegen was haben sich die Reformatoren, die zum Teil diese gesellschaftlichen Bestrebungen mit unterstützten, aber zum Teil auch gegen sie waren, genau gerichtet? Schließlich wollten Luther und seine fortschrittlichen Kollegen doch keine neue Kirche gründen, sondern ihre eigene katholische Kirche reformieren?! Wir wissen: Das Haupt der katholischen Kirche war damals und ist bis heute der Papst, zugleich Bischof von Rom, der Nachfolger jenes schwachen, großmäuligen und nackten Petrus. Von Petrus haben wir in unserem biblischen Wort für heute gehört, dass er sich ankleidet und in den See Genezareth springt und badet. Dieser Papst, der Nachfolger Petri, bestimmt die römisch-katholische Kirche top-down, bis heute. Der Papst setzt die Priester ein, bestimmt die Bischöfe und die Kardinäle und regiert die Welt von Rom aus. Mal ist er etwas konservativer wie Benedikt XVI.69, mal ist er etwas progressiver wie Franziskus70. Aber der Papst bleibt der Papst. Im Mittelalter lebte der Papst statt in Armut in großem Luxus. Dafür brauchte er Geld, viel, viel Geld. Von Papst Leo X.71 beispielsweise wird behauptet, dass er sogar seine eigene Mutter verkauft hätte, wenn diese Aktion ein bisschen Geld in die leeren Kassen des Vatikans gespült hätte.72 Geldmangel war damals der Grund dafür, dass Ablass verlangt wurde. Unter Ablass versteht man den Nachlass zeitlicher Sündenstrafen: Nach mittelalterlicher Vorstellung kommt die Seele nach dem Tod in das Purgatorium, das Vorzimmer zur Hölle. Die Gebete