Das andere Brot - Rosemarie Schulak - E-Book

Das andere Brot E-Book

Rosemarie Schulak

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Beschreibung

Mitte der 1930er Jahre wird unter den Erstklasslern eines abgelegenen Dorfes ein fremder schweigsamer Knabe entdeckt. Alter und Herkunft sind ungewiss. “Kostgeber”, so stellt sich heraus, haben ihn – nicht ganz freiwillig – aufgenommen. Dokumente seiner Herkunft fehlen, anscheinend auch jede Erinnerung des Kindes an frühere Begebenheiten. Alles bleibt rätselhaft. Doch der Knabe lernt sich ohne Zuspruch und emotionale Zuwendung in einer gefühlsarmen Umgebung zu behaupten und beginnt alles Nötige für ein gelungenes Leben zu lernen. Die Geschichte einer Selbstwerdung. Nach einer wahren Begebenheit.

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1. Auflage 2020

Printed in EU

ISBN: 978-3-903229-25-9

© Verlag: delta X, Wien | www.deltax.at

Korrektorat: Bettina Mertz, Dr. Eugen Schulak

Lektorat: Dr. Norbert Regitnig-Tillian

Satz & Umschlaggestaltung: Ing. Angelika Steck

Porträtfoto der Autorin: Bettina Mertz

Coverfotos: © BillionPhotos.com/stock.adobe.com,

© thongsee/stock.adobe.com

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages vervielfältigt oder verbreitet werden. Das gilt insbesondere für die gewerbliche Vervielfältigung per Kopie, Übersetzungen sowie die Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern.

Rosemarie Schulak

Das andere Brot

Die Geschichte einer Selbstwerdung

VORWORT

Es ist die Entwicklungsgeschichte eines nach der Geburt weggelegten, erst sehr spät identifizierten Kindes, das sich ohne elterlichen Schutz und Rat – mit dürftiger Grundschulbildung – alles Nötige für ein gelungenes Leben selbst erarbeitet. Die Frage ist, mit welchen Hilfen und Stützen sich ein von Kindheit an isolierter Mensch freiwillig für das Gute und Schöne entscheidet.

Zu fragen ist aber auch, durch welche Impulse psychische Schäden, die durch Zwang, Grausamkeit, Nichtachtung der Person und Ausnutzung kindlicher Arbeitskraft entstanden sind, überwunden werden. Wie und unter welchen Bedingungen destruktive Erfahrungen in der Kindheit, die ja kaum je vergessen werden, Anstoß sein können für Neues, Besseres: für die Überwindung des Bösen, ja sogar für die Überwindung der Angst davor.

INHALT

Cover

Titel

Impressum

I.Kindheit

1.Erwachen

2.Hören und sehen

3.Menschenmund

4.Geboren worden

5.Brot

6.Lesende

7.Was, wo und warum

8.Im Sturm

II.Jugend

9.Heimat ist anderswo

10.Wurzelgrund

11.Erblickte das Licht

12.Ein magischer Ort

13.Adams Apfel

14.Zauberhaft

15.Höhen und Tiefen

16.Schritt für Schritt

III.Reifezeit

17.Fatum und Sinfonia

18.Metamorphosen

19.Weg und Ziel

20.Ordnungen

21.O heiliger Anton!

22.Hohe Zeiten

23.Über die Jahre

24.In anderem Licht

I. Kindheit

1ERWACHEN

In einem Dorf, wo versteckt hinter Föhren und dicht bewachsenem Kalkgestein Fuchs und Hase einander selbst in ihren sanftesten Träumen nicht Gute Nacht wünschen wollten, stand eines kühlen Septembermorgens wie vom nahenden Herbstwetter hergeweht ein zartes Bürschchen unter den Kleinen, die zappelig, aufgeregt und vielleicht auch ein wenig ängstlich ihrem ersten Schultag entgegen sahen. Fremd und scheinbar unbewegt stand dieses eine unter den vielen, die einander kannten als Nachbarn, Freunde, Spielgefährten und zumindest vom Hörensagen erkennbar als zugehörig dem oder dem. Sie alle warteten vor dem Schultor, nur dieses eine blieb starr, wie versteinert, stumm geradeaus blickend.

Rundum hatten Erwachsene sich versammelt, Mütter und Großmütter, die wissen wollten, wer hier die Erwartungsfreude, den Trennungsschmerz mit ihren Lieblingen teilte. Der kleine Fremdling, der keinem der Umstehenden auch nur entfernt bekannt und zuzuordnen gewesen wäre, harrte verschlossenen Gesichts vor dem offenen Einlass, die dunklen Augen groß in ein Ungewisses gerichtet.

Auf Anrufe reagierte der Kleine nicht, auf Annäherungsversuche ließ er sich nicht ein. Versunken in sich selber oder im Nirgendwo wären Antworten aus seinem Mund vielleicht auch kaum aufschlussreich gewesen, denn weder seines Namens hätte er sich entsinnen können noch irgendeiner plausiblen Erklärung. Sein Eintritt in die Welt, so erzählte er Jahrzehnte später in einem jener raren Momente, in dem die vom Schicksal ihm zugewiesene Rolle wie von Geisterhand aufgespannt, so klar und geglättet vor seinem Gedächtnis lag; dieser Eintritt in eine Welt, die sich ihm nach und nach erst eröffnen sollte, habe ihn wie ein Anruf aus einer Geisterwelt aufgeschreckt, überwältigt und gefangen genommen. Es gab kein Vorher. Was vor jenem Tag geschehen war, existierte nicht mehr.

An jenem Septembermorgen schien ihn der Eintritt durch das geöffnete Schultor in besonderer Weise zu fordern, dieses jähe Hineingestelltsein in eine fremde, lärmende Welt; und in eine Kinderschar, der er nicht gewachsen sein würde in seiner Verlorenheit und Isolation.

Warum und woher er an jenem denkwürdigen Tag gekommen war, schien er vergessen zu haben oder wollte es den Neugierigen um ihn herum nicht kundtun. Kann sein, er wusste es tatsächlich nicht. In seinem Gedächtnis war das, was ihm bisher geschehen wie weggeschwemmt, versickert wie Wasser in einem Brunnen, der seinen Inhalt als tiefes Geheimnis verbarg, so dass er sich anfangs nicht einmal zu bewegen getraute in jenem Neuland, weil er nicht aus noch ein wusste bei sich selber. Nichts als Gegenwart war in ihm, und wie noch zu zeigen sein wird, blieb das so für lange Zeit. Was hätte er auf Fragen, die ihn aus einer so weiten Entfernung trafen, denn antworten sollen? Überhaupt sei das damals die erste bewusste Wahrnehmung seiner selbst gewesen, meinte er, ein erschrockenes Erwachen wie aus tiefem Schlaf. Er vermochte auch nicht alle Eindrücke der Ereignisse an jenem Tag zu behalten, noch weniger sie zu beantworten vor Ort, so überrumpelt und gelähmt wie er war vor Angst und Abwehr, vor Schmerz und unerwartetem Glück. Von irgendetwas fühlte er sich befreit, er wusste nur nicht wovon und wie damit umzugehen.

Behörden und Lehrer hätten den Fall vermutlich deuten können. Die Ankunft des Knaben war angekündigt, genauere Einzelheiten jedoch nicht mitgeteilt worden. Nach Hintergründen wurde vielleicht nicht gefragt; nicht nach dem Woher und Warum, so als schiene es ihnen egal. Die Lehrerin wartete Tag für Tag, dass der Knabe mit den großen Augen und diesem beharrlich verschlossenen Mund endlich zu sprechen begann. Sein sechstes Lebensjahr sei, so war von Amts wegen mitgeteilt worden, vielleicht noch gar nicht erreicht, doch ohne Papiere, die Alter und Herkunft hätten feststellen lassen, konnte es keine Gewissheit geben. Er hätte jünger sein können, so klein und so wenig angepasst wie er war; älter wohl kaum, doch wer weiß.

Die ersten Wochen im Klassenzimmer gingen so rasch vorüber, dass keine Zeit blieb, sich um einen Außenseiter zu kümmern, der in verbockter Weise schwieg, oder doch nur gezwungenermaßen, und dessen Stimme, wenn mit Tricks und Listen hervorgelockt, doch nur Angst und Abwehr verriet. Dennoch, das Gesichtchen des Kleinen, erst düster und scheinbar ausdruckslos, hellte sich auf mit der Zeit und zeigte Spannung beim Zuhören. Die Augen blieben, in erwachender Neugier, an Menschen und Gegenständen haften. Deutlich sichtbar gingen Impulse durch seinen Leib und eines Tages redete es ganz von selber aus ihm; erst leise verschämt, dann durchaus vernehmbar. Als ob eine Eisdecke allmählich zu knacken, zu knistern und sich zu bewegen begann, immer heftiger und artikulierter. Seine Rede schwoll an und manches war sogar zu verstehen was Aussage hätte sein sollen. Was ihn dazu bewog und worüber er mit sich redete, wurde aber nicht klar, schien es doch ohne jeden Zusammenhang zu sein, verständlicher erst mit der Zeit, ja unüberhörbar am Ende und beinah resolut. Ein Redestrom quoll schließlich aus diesem kleinen Mund. Geplapper! meinte die Lehrerin. Du sei jetzt still!

Ein Durcheinander war das, ein Tohuwabohu von Wörtern, Gefühlen und Eindrücken unvollständig wahrgenommener Begebenheiten aus einer anderen Welt. Jahrzehnte später nannte er selber es so in einem Gespräch. Und erzählte unter verhaltenem Schmunzeln, die Kameraden rundum hätten ihr Missfallen an seinem Gerede bald unmissverständlich kundgetan. Unzumutbar, alles in allem.

Wollte der Knabe nur auf sich aufmerksam machen oder hatte er tatsächlich plötzlich den dringenden Wunsch, etwas mitzuteilen von sich und andere an Redelust zu übertreffen? Derlei Mitsprache im Unterricht war in jedem Fall lästig, weil selbst eine geübte Lehrerin sich solch jäher kindlicher Wortkaskaden nur schwer zu erwehren weiß, wenn sie anderes zum berechtigten Ziel hat.

Das sprudelnde Selbstgespräch des Kleinen verstummte nicht auf ihr Geheiß und störte noch mehr, weil es deutlich an sie gerichtet war, bis kurzerhand ein kreuzweise über den Mund geklebtes Pflaster ihm diesen verschloss und endlich verstummen ließ. Ähnliches wiederholte sich an mehreren Tagen, bis einmal eines jener haftenden Mundverschlüsse dem erregten Kind nicht mehr erträglich war. Es zappelte, warf sich herum in ungehöriger Weise, so dass ihm sein Aufbegehren gefährlich den Atem nahm. Die strenge Frau stürzte sogleich auf ihn zu und befreite ihn unter vielstimmigem Kindergeschrei. Erschöpft, geschockt und wohl auch vorsichtig geworden, hörte der Kleine von da an zu wimmern auf und blieb lange Zeit still.

Die Sache war gut ausgegangen, die Wirkung erstaunlich, doch nicht lang von Dauer. Das Kind wollte reden. Warum hörte niemand ihm zu? Erst, als es alle Versuche sich bemerkbar zu machen fahren ließ, auch die Hoffnung, dürfte Ruhe eingekehrt sein so wie das erwünscht war.

Nur innerlich ruhig und gleichmäßig atmend bleibt ein Mensch in so einem Fall von totaler Erschöpfung verschont. Dies habe er damals gelernt, sagte Georg später, als er erwachsen war. Ansonsten nicht viel, habe er doch durch nahezu unerträglichen Seelenschmerz auf Grund seines Ausgeschlossenseins die Begebenheiten rundum nie genau genug mitbekommen. Ihm war eine Lehre erteilt worden, die nahm er sich zu Herzen. Doch hatte sich damit ein Riss zwischen ihm und dem Treiben der anderen aufgetan, vertiefte sich mit der Zeit und schloss sich nie ganz. Ein erzwungenes Schweigen.

Inzwischen wurden Buchstaben gelernt und Wörter. Der kleine Fremdling hatte genug zu tun den Boden unter den Füßen zu behalten und nicht zu verlieren, die Gestalt seiner Lehrerin mit tapferem Blick zu umfassen, die Worte aus ihrem Mund zu verstehen und das Gezänke der Kinder. Er beobachtete und nahm beunruhigt wahr, wie andere zum Sprechen ermuntert wurden. Ihn forderte niemand auf, war doch jederzeit zu befürchten, dass wieder ein Sturzbach von Wörtern aus seinem Mund kam um auszuufern und, falls überhaupt, äußerst langsam nur zu verebben. Unbeachtet von allen verlegte sich deshalb das Denken des Kindes meist auf sich selber.

Beim späteren Schreiben führte der Kleine den Griffel wie auch den Stift in steilen widersetzlichen Schwüngen immer höher nach oben als allgemein üblich war und erlaubt. Selbst als Herangewachsener – die Kinderschrift war längst abgelegt – formte er noch genüsslich Ober- und Unterlängen aus, weil er Steiles und Festes auf dem Papier haben wollte, so steil und fest wie er selber, damit ihm die Nichtbeachtung von außerhalb nicht allzu weh tat. Sein Mund, von der Gefahr des Pflasters endlich erlöst, nahm mit der Zeit einen gleichmütigen, manchmal gleichgültigen Ausdruck an. Gern widmete er sich der schönen Gewohnheit ein Fenster zu betrachten, hinter dem ab und zu ein Blatt oder ein Vogel vorbei flog; und vor welchem im Winter bei längerem Hinsehen manchmal ein Sonnenstrahl auf einen Eiszapfen fiel.

Schweren Herzens nahm er zur Kenntnis was um ihn herum vorging. Doch vieles ging an ihm vorbei. Beim Schreiben ließen die Fingerchen sich nicht so leicht zähmen. Die Buchstaben warfen auch sehr viel später noch ihre Schlingen hoch und immer höher hinauf. Er selbst fand ja angemessen was er da einsam vollbrachte und dennoch bei den Kindern rundum bestenfalls ein belustigtes Kichern hervorrief.

Georg war Kostkind der Familie B., nicht mehr und nicht weniger. Warum jedoch – ob für immer, oder vielleicht nur für kurze Zeit – war den Dorfleuten nicht bekannt, und die mehr davon wussten, äußerten sich nicht. Auch nicht, als sie, durch das Gittertor der Familie B. spähend, den Kleinen arbeiten sahen, mit schwerem Gartengerät hantieren oder draußen auf grünenden Feldern mit einem Jutesack über dem Rücken.

2HÖREN UND SEHEN

Angst und Scheu fielen von ihm ab, als er nach jenem ersten Jahr der Bedrängnis leichteren Herzens durch das Schultor ins Freie kam, gewöhnt an manches, das drinnen ihm kaum erträglich gewesen. Draußen fühlte er sich weniger fremd. Blies ihm der Wind auch heftig um die Ohren, blieb im Winter der Schnee auch in den zu großen Schuhen stecken und seinen klammen Zehen ein Extrabad nicht erspart, ertrug Georg doch derlei nach Kindesart beinahe heiter. Nun kannte er seinen täglichen Weg, auch die meisten anderen Wege im Ort, lief dahin und dorthin und landete nur im Haus seiner Kostgeber, wenn es allzu früh dunkel wurde oder Eiseskälte ihn vor sich hertrieb.

Am liebsten erinnerte er sich an die Ferienzeit. War der Sommer noch nicht zu Ende, lockten die warmen Tage ihn manchmal auch weiter fort. Leicht und frei liefen seine Füße dahin, denn Schuhe gab es nicht, die ihn gestört oder verärgert hätten. Es lebt sich ja leichter auf bloßen Sohlen. Dahintrottend durch die Gassen horchte er auf alle Geräusche, die aus Türen und Fenstern drangen, sah einem Vogelschwarm nach oder spielte mit jungen Kätzchen. Gerüche kamen von überall her und manches lag in der Luft, das er zu deuten noch nicht vermochte. Das weckte die Neugier.

Georgs eindrucksvollstes Erlebnis, das ihm aus jener Zeit in Erinnerung blieb, erzählte er freimütig und gern auch noch nach vielen Jahren. Eine Sensation, die nicht nur das Kind, sondern auch die erwachsenen Bewohner des abgelegenen Dorfes aus ihrem eintönigen Leben riss.

Eines Spätnachmittags war der Bub, allein gelassen in unwirtlicher Wohnstatt durch den Garten hinausgelaufen und um Zäune und Felder gestrichen. Zurück auf der Dorfstraße blieb er stehen. Er meinte, von irgendwoher leise Musik zu vernehmen, deutliche, zeitweise durchaus fröhliche Melodien, gefolgt von kaum hörbaren, plötzlich heftig aufrauschenden Tönen, die von schrillen Stimmen jäh unterbrochen, unerwartet wieder verschwanden. Das faszinierte den Kleinen, weil die Musik ja bald ebenso unerwartet wieder da war, so als seien Unterbrechungen nichts Besonderes. Das berührte ihn seltsam und erhöhte die Spannung. Blieb er stehen um genauer zu horchen, konnte es sein, dass plötzlich alles verstummte und erst nach längerer Zeit, wie von ferne langsam sich nähernd, mit erregender Heftigkeit wieder anhob.

Georg stand da wie verzaubert. Diesen Tönen musste er nachgehen, aber wohin? Er wanderte eine Häuserreihe entlang, lief zurück und in andere Gassen, solang bis er meinte, jetzt sei er auf der richtigen Spur. Die Gebäude standen nicht überall dicht beisammen. Er hatte das Dorf beinah hinter sich, der Himmel war düster geworden. Da erschrak er nicht wenig über den ungewohnten Anblick einer Menschenmenge, die aus einem breiten, weit geöffneten Tor ihm entgegenkam. Georg verbarg sich hinter einer Mauer, wo er im Gebüsch und dessen Schatten beinah verschwand. Das Getrappel kam näher und Georg fühlte sich überwältigt von der Vielzahl der Menschen. War denn das ganze Dorf unterwegs? Die Vorüberziehenden redeten miteinander, manche laut und erregt, andere leise, beinahe flüsternd. Manche gingen allein dahin. Einmal meinte das Kind, aus dem Gemurmel der vielen eine einzelne Stimme herauszuhören. Schön war’s, tönte hell eine Frauenstimme und eine andere fiel ein: Schön, ja, wirklich sehr schön! So zogen sie weiter, eine bemerkenswerte Schar sonntäglich gekleideter Dorfbewohner. Sie beachteten Georg nicht und verschwanden bald, einer nach dem anderen in ihren Häusern. Und stiller und dunkler wurde die anbrechende Nacht, so dass ihm bald unheimlich wurde, er hervor kroch aus seinem Versteck und schnell davonlief.

Dieser unbegreifliche Vorgang wiederholte sich mit einer Regelmäßigkeit, deren Sinn nicht zu erkennen war und beschäftigte ihn umso mehr, weil eine Frage an die Erwachsenen gewiss Ärger zur Folge gehabt hätte, vielleicht sogar Schlimmeres. Er behielt das Geheimnis daher bei sich, lief zu gewissen Tageszeiten hinaus und horchte auf das herrliche An- und Abschwellen der Musik, die sich in seinen Ohren festsetzen wollte. Er lauschte den geheimnisvollen Stimmen dazwischen und allen anderen Geräuschen, die er sich nicht erklären konnte. Wieder und wieder zog es ihn zu dem ihm nun wohlbekannten Versteck.

Eines Abends erkannte Georg in der Schar der heimwärts Wandernden seine Kostgeber, Herrn und Frau B. Erschrocken huschte er durch das nächste Gestrüpp und lief so schnell seine nackten Füße ihn trugen voraus, um vor ihnen im Haus zu sein und etwaigen Unmut über seine unerlaubte Abwesenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Die beiden B.s kamen gemächlich und gut gelaunt daher, sie redeten über etwas, das sie gesehen hatten. Ein Kino ist das, erklärte Frau B., als Georg gespannt und neugierig zu ihr aufsah. Aber du bist noch zu klein für solche Sachen. Kinder haben dort nichts zu suchen. Als sie das ängstliche Bubengesicht ans Licht zog, verblüfft, wie geschwind er ihr auswich und mit abgewandtem Blick in den Garten entschwand, ahnte sie nicht, was in ihm vorging. Georg redete wenig im Haus des Herrn B. und gefragt wurde er selten.

Doch ab nun gab es etwas, das er sich innig wünschte, alle nur möglichen Pläne wälzte und gefährliche Wege beschritt, um sein Ziel zu erreichen: das Kino und diese Musik. Seine ganze Aufmerksamkeit nahm es ein, sein ganzes Sinnen und Trachten. Gab es, so wie das manchmal der Fall war, eine Nachmittagsvorstellung, hielt Georg sich möglichst unbemerkt in der Nähe des Eingangs auf und wartete mit harmlos unverdächtiger Miene bis der Kinobetreiber ihm den Rücken kehrte und sich in dem dämmerigen Vorstellungsraum verlor. Dann warf er alle Bedenken von sich und kroch blitzschnell hinein in das Dunkel; lugte auf allen Vieren kriechend durch die Spalten zwischen den Sitzen und bewegte sich lautlos, um ganz sicher zu sein, dass ihn niemand bemerkte, weder der geschäftige Kinomann, noch die Besucher, die allmählich daherspaziert kamen und plaudernd sich auf ihre Plätze begaben. Kaum je fiel da ein Verdacht auf den blinden Passagier.

Georg, ein Leichtgewicht, wendig und flink, kroch behände zu jenen Stellen, wo kein Auge seiner gewahr werden konnte. Der Kinoraum war nie zur Gänze besetzt, erklärte er später, ja manchmal so spärlich, dass er seitlich neben den Sitzreihen auf Knien oder Hosenboden rutschend in der Finsternis schließlich bequem den Platz wählen konnte, der ihm am besten geeignet schien. Die vorderen Reihen blieben ohnedies immer leer und Georg war klein. Selbst wenn er sich auf einen der hölzernen Sitze begab erblickte ihn niemand. Erst als er größer wurde mit den Jahren, sein eingezogener Hals, die erzwungene Krümmung und auch manches andere ihm unbequem wurde, wechselte er auf den Boden. Die wichtigsten Stunden seiner Kinderzeit habe er dort verbracht, und das über lange Zeit, erinnerte er sich; mit den Filmen, den Bildern, der wundersam sich ihm offenbarenden Welt, der Musik und den redenden, lachenden, manchmal auch weinenden Menschen auf der Leinwand. Aus ihrem Reden, im Ernst wie im Scherz, habe er manches gelernt.

Was hat denn der kleine Kerl davon, begann wer ihn in dem Dunkel erkannt und dennoch geschwiegen hatte, vermutlich zu fragen. Was kann so ein Kind, das noch gar nichts vom Leben weiß, ja nicht einmal das Nötigste über sich selber; was kann eines, das Handlungsabläufe noch nicht versteht; was könnte dieser versteckte, winzige Kinogast unter all den Erwachsenen denn dort gesucht und gefunden haben?

Nicht zu wenig, bedenkt man die mannigfachen Impulse, die Georg ohne Kinobesuche niemals gehabt hätte. Er begann von sich aus, ganz ohne Zwang, gleich mehrere Tugenden auf einmal einzuüben; seine Aufmerksamkeit auf ein Ziel zu richten statt planlos die Zeit zu vergeuden; rasche Erledigung seiner Schulaufgaben und sonstigen Pflichten um immer pünktlich vor Ort zu sein; und Genauigkeit, denn er durfte sich keineswegs nachlässig bei jenen Tätigkeiten zeigen, die ihm nun einmal zugeteilt waren. Georg lernte, seinen Tag einzuteilen, pünktlich auf die Küchenuhr der Frau B. zu schauen, um rechtzeitig fortzuhuschen. Er lernte penible Ordnung, Zeitgefühl und Genauigkeit in seinem Alltag.

Dadurch ging ihm die Arbeit, zu der man ihn mit Strenge anhielt, viel flinker vonstatten. Er gewann Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, wenn er schneller war als die Kostgeber das erwarten konnten und lernte Verschwiegenheit nebenbei, weil die nun einmal nötig war. Von seiner verbotenen Leidenschaft durfte ja niemand wissen. Das erforderte Selbstbeherrschung, bei genauerer Betrachtung sogar Selbsterziehung, die ihm später in anderen Bereichen gut anstand.

Beim Hinhören und Schauen lernte er Aufmerksamkeit und Konzentration. Natürlich reichte das nicht, um Zusammenhänge einer komplexen Handlung zu erfassen, doch bemühte er sich darum sehr, es schärfte sich sein Verstand. Georg gewann eine Menge nur scheinbar nutzloser Kenntnisse, die ihm im späteren Leben dienlich sein konnten und Vorteile ermöglichen würden.

Den Kleinen faszinierte das Neue, das völlig Unbekannte an diesen Bildern. Das waren damals – es ist ja schon lange her – meist sorgfältig gekleidete Menschen, gefällig frisiert und sauber; Menschen, die Schuhe trugen und freundlich lächeln konnten, Männer und Frauen. Interessant waren auch ihre Reden, Bewegungen, ihr ganzes emsiges Tun. Menschen waren das, wie Georg sie nie erlebt hatte, die ihm zu fehlen begannen, wenn er an den alltäglichen Orten ankam, in der Schule, im Haus, im Garten. Die freundlichen Gesichter fehlten ihm, ohne dass er Näheres von ihnen wusste. Im Film redeten alle meist ohne Scheu und sichtbaren Hinterhalt. Sie lächelten, lachten, was Georg gern nachzuahmen versuchte. Durch Nachahmung lernte er schließlich auch das, was man vielleicht sogar Charme hätte nennen können, der sonst wohl keinem aus seiner Umgebung je abzuschauen war.

Die Unbeschwertheit, mit der die Menschen im Film einander begegneten bezauberte ihn. Auch ihre Gewohnheit höflich zu grüßen, zu bitten, zu danken. Wie sie, die Herren, den liebenswürdigen Damen Blumen schenkten, oder den Vortritt ließen! Das alles erschien Georg ganz wunderbar, schön und nachahmenswert. Man saß bei Tisch, speiste mit Messer und Gabel, während Georg meist nur mit dem Löffel die Dinge in sich hineinstopfte. Bald begann er zu ahnen was heiteres Geplauder war und nahm sich vor, das einmal auszuprobieren, auf andere zu schauen und auch zu hören, was sie von ihm wissen wollten. Ihnen würde er antworten wie einer der freundlichen Herren auf der Kinoleinwand. Er betrachtete deren Kleidung und nahm sich vor, eines Tages auch so einen feinen Anzug zu tragen wie sie, aber jetzt schon, zumindest am Abend, seine Hosen vom Staub zu befreien, sie auszuschütteln und nicht achtlos auf den Boden zu werfen. Nie sah er einen dieser Männer barfuß gehen, die Frauen auch nicht. Sie trugen Socken oder Strümpfe. Georg beobachtete da sehr genau. Wenn, was er sich sehnlich wünschte, einmal ein Mädchen ihn ansprach, würde er in Schuhen vor ihr stehen, ihr zuhören und auf ihre Freundlichkeit freundlich antworten. Dass es solche Menschen wie in diesen Filmen überhaupt gab, grenzte beinah an ein Wunder, denn höchst selten reagierten sie mit Geschrei und Geschimpfe, und Ohrfeigen setzte es so gut wie nie.

Nach und nach wurde Georg ein anderer. Nie, das nahm er sich vor, würde er aufhören ins Kino zu gehen. Das Überraschende nämlich, sicherlich auch das Schönste an diesen Filmen war die Liebe. Und am allerschönsten ein Kuss. Daran dachte er wieder und wieder, weil er sich nicht erinnern konnte, jemals geküsst zu haben oder gar geküsst worden zu sein.

Was außerdem auffiel und ihn mächtig beeindruckte? Dass die Menschen im Film sich einer anderen Sprache bedienten. Bald unterschied er genau zwischen den Redegewohnheiten der Leute im Dorf und verglich sie mit denen der Schauspieler. Der Lautklang jener Frauen und Männer gefiel ihm. Ähnlich wie die seiner Lehrerin, dachte Georg, nur noch viel schöner. In der Schule hörte er dennoch bald aufmerksam auf die Stimme der strengen Frau, verlor langsam die Angst vor ihren Fragen und wusste nach und nach manchmal sogar eine passende Antwort darauf.

Was er nicht liebte, waren hässliche Szenen, die es ab und zu vor der Filmvorführung zu sehen gab. Unüberhörbar, besonders gegen Ende der Dreißigerjahre die Zeichen der Zeit. Die raueren Reden der Männer, die Menschenmengen und Furchterregendes jeglicher Art, das Georg bekannt vorkam und das er gern mied.

Es machte ihn glücklich, wenn in der warmen Jahreszeit die Türen des Kinosaals offen standen und sich ihm die Gelegenheit bot, erst gegen Ende einer lärmenden Vorschau, wenn die Kinogäste, vom Flugzeuggedröhn und dem Geschrei eines Einzelnen oder einer Menge überwältigt, unbemerkt in das schützende Dunkel zu tauchen. Dann konnte er nach Ablauf des Lärms wieder völlig gefahrlos auf allen Vieren sich den Wundern der Schönheit und manchmal doch auch der Liebe nähern.

Die geheime Herrlichkeit seines Bubenlebens war leider zu Ende, als Georg zu viele unvorsichtige Nachahmer fand. Den Kindern des Dorfes blieb nichts verborgen. Sie kamen in Scharen und wollten auch dieser Freuden teilhaftig werden. So wurde die Sache bald offenbar und äußerst schwierig für Georg. Als Frau B. davon erfuhr war sein Traum zu Ende, doch da glaubte er ja bereits zu wissen wie die Dinge des Lebens liefen, was davon nachahmenswert war und schön – und was verabscheuenswürdig und unangenehm. Das wollte er meiden.

Was Georg sonst noch aus jener Zeit im Gedächtnis blieb? Neben der Freude an Musik war es die nicht zu leugnende Tatsache, dass es völlig verschiedene Menschen gab, einer mit anderen keineswegs vergleichbar. Das zeigte nicht nur die Art und Weise wie sie sich gaben, wie sie miteinander sprachen, sich kleideten und bewegten. Hören konnte man das bereits an dem Tonfall der Stimmen, in den Gesichtern konnte man unterschiedliche Regungen sehen, so wie sie Georg ja auch manchmal packten und überwältigten. Wie schrecklich und Furcht erregend die einen, wie reizend und nett manch andere Menschen! Und wie sie sich zueinander verhielten, besonders, wenn einer verliebt war! So etwas hätte auch er gern erlebt, dass jemand so nett zu ihm gesprochen hätte. Mit sanfter Stimme, beruhigend, einfach lieb. Hier im Dorf gab es das nicht. Für vieles nicht einmal Wörter.

Doch käme Georg, einmal erwachsen, hinaus in die Welt der Großen – er stellte sich das ganz wunderbar vor – würde er manches, was er hier in den Filmen bewunderte, wiederfinden: die guten, die unguten und die schrecklichen Menschen. Die Freundlichsten, Liebenswürdigsten von allen würde er sich aussuchen. Er selber aber wollte wie sie, mit Schuhen, Hut und sauberem Anzug, gern einer von ihnen sein.

3MENSCHENMUND

Vom Anfang an war es Neugier die ihn in jener Gegend umgab. Damals, als das Kuckuckskind Georg vor dem Schultor aufgetaucht war, wusste keiner woher, warum und wer ihn dahergebracht. Umso mehr wurde geredet unter vorgehaltener Hand. Einfache Leute waren die B.s, Zieheltern wider Willen, denen angeblich nach schwierigem Hin und Her und trotz vehement vorgebrachter Proteste ein Kostkind aufgehalst worden war, an dessen Entstehung sie jede Beteiligung leugneten. Nach anfänglichem Unmut und einiger Ratlosigkeit sollen die B.s Resignation gezeigt haben, am Ende dann Gleichgültigkeit. Vor allem bezüglich diverser Erziehungsmethoden im Schulhaus.

Es wurde geredet. Wieso denn die Leute so plötzlich ein Kind bekommen hätten, die Bedauernswerten, ein jeder hätte sich doch dagegen gewehrt. Einige wussten es anders und hatten Mitleid mit dem Kleinen. Schließlich kam Frau B. ins Gerede. Hatte die denn nicht ohnehin einst ein Kind mit in die Ehe gebracht? Jetzt waren es also zwei, von denen Herr B. nicht der Vater war? Die Kinder erzählten daheim was sie mit dem Kostkind der B.s in der Klasse erlebten. Was im Schulzimmer vor sich ging war also bald allen klar. Doch niemand im Dorf schien zu wissen wie auf andere Weise der manchmal überbordenden Redelust des kleinen Bankerts beizukommen gewesen wäre. Also stimmten auch sie in der Sache Mundverklebung der Lehrerin zu. Herr B. und Frau B. erklärten, bei ihnen sei Georg vom Anfang an selten zum Sprechen bereit gewesen. Auch jetzt sei er immer noch ziemlich stur und verbockt. Da sei es bisher noch nicht nötig gewesen ihm den Mund zu verkleben.

Ja, zwei vom Schicksal Überrumpelte waren die B.s, die sowohl das Kostkind als auch einander voll Missmut betrachteten, unfroh des kleinen Hausgenossen, den sie nicht nur zu nähren sondern auch noch zu kleiden hatten. Da sei es praktisch, ihm die zu klein gewordenen alten Sachen des größeren Buben zu geben, des Sohns der Frau B. Die Schuhe, die Wäsche, die Jacke auch.

Die einzige Erleichterung ihres Loses war sein Schweigen. Nun auch noch das Gegenteil fürchten zu müssen, das fehlte gerade noch! Außerdem sei ihnen wichtig, dass alles was dieses Kind zu lernen habe ohne Ärgernis und zur Gänze im Schulhaus erledigt werden müsse. Das sei wohl das Selbstverständlichste der Welt, auch wegen ihres anderen, nur um wenige Jahre älteren Buben, der als leiblicher Spross der Frau B. natürlich ein Anrecht auf Beachtung der Hausaufgaben, auf Frage und Antwort hätte; ein zwangshalber in die Familie Gekommener verständlicher Weise weit weniger. Im gegebenen Fall sei es völlig richtig dem ungezogenen Vielredner – so Georg denn tatsächlich einer sei – kreuzweise den Mund zu verschließen. So verwahrten sich die B.s vor neugierigen Fragern. Sie hatten Kost zu geben, einen Schlafplatz, sonst nichts. Auch er, der Herr B., sei nämlich keineswegs der Vater.

Georg war von Natur aus ein sanftes, ein stilles Kind. Dennoch, wie in der Schule so war auch im Haus der Kostleute sein Schweigen nicht von sehr langer Dauer. Hatte er die Freude am Reden doch vermutlich überhaupt erst in diesem Dorf entdeckt und lustige Einfälle der Kinder mit Staunen auch als Möglichkeit für sich selber verstanden. Deshalb kam Herrn B. der nahe liegende Gedanke, für sich und die Seinen die häusliche Ruhe zugleich mit einem nützlichem Vorteil zu sichern; das fremde Kind, so gut es ging, durch Aufgaben außerhalb der familiären Begebenheiten zu beschäftigen. Das sei gut für alle, aber besonders für Georg, denn nur durch Arbeit würde er lernen sich später im Leben allein zu behaupten. Das hieß allemal, sein Brot sich mit der Zeit selbst zu verdienen. Außerdem: War einer weniger brauchbar in der Schule, musste er zeitgerecht lernen, anderen zu Diensten zu sein und möglichst früh sich daran zu gewöhnen.

In diesem Sinne versorgte Georg bald schon die sonntäglichen Fleischlieferanten des Hauses B., die Kaninchen. Er lernte, im Garten und draußen zwischen Feldern so wie am Wegrand nach deren Lieblingsspeisen zu suchen und ihre Ställe zu säubern. Nach kurzer Zeit bereits hoppelten sie ihm in ihren engen Behältnissen entgegen und wurden seine Gefährten. Der Kleine war traurig, wenn wieder einer von ihnen in der Bratpfanne brutzeln musste und sonntags dann ausgerechnet auf seinem Teller der Kopf des lieben Tierchens lag. Der ist dir sicher am liebsten meinte Frau B. Hast ihn ja immer gestreichelt. Georg saß dann davor und nahm nur wenig davon, weil die hübschen Ohren ja nicht mehr dran waren, auch nicht die Augen; und außerdem, weil zu viele Gedanken in seinem eigenen Kopf sich drängten, mit Not zurückgehalten, um nur ja nicht durch den geschwätzigen Mund nach draußen zu rutschen, denn das durften sie nicht. Georg sagte also nichts und war froh, vom Tisch weg und gleich wieder hinaus zu kommen, um allein zu sein.

An anderen Tagen klaubte er Fallobst in Körbe, schied faule von guten Äpfeln und Birnen und brachte die schönsten Frau B. ins Haus. Als er acht Jahre alt war führte er geschickt die Sichel durchs Gras ohne sich zu verletzen und wurde beim Jäten, beim Gießen und Ernten ein verlässlicher Helfer. Auch mit der Säge wurde er bald vertraut, sammelte Heizholz für den Winter und trug es, gebündelt über den Rücken geschwungen vom nahe gelegenen Wald auf den häuslichen Holzstoß. Die Belohnung war Schmalzbrot, falls genug davon da war, was aber nicht immer erwartet werden durfte in den kargen Zwischenkriegszeiten des vergangenen Jahrhunderts, einer Zeit der Arbeitslosen.

Georg erledigte seine Pflichten flink und genau. Die Kaninchen gediehen unter seinen Händen, sie waren seine Freunde geworden und tappten lustig ans Gitter wenn er, den Futtersack über der Schulter bei ihnen ankam. Er goss Wasser in ihre Schälchen und reinigte zeitgerecht ihre Ställe. Er sichelte und rechte das Gras im Garten. Frau B. kochte aus dem von Georg geernteten Obst Marmelade und hütete im Herbst streng die Nüsse vor ihm. Vorrat für den Winter, rief sie ihm nach, bevor er hinausging, um sie in Körbe zu sammeln und in die Vorratskammer zu tragen. Was für ein hübsches, bewegliches Bürschchen, sagten die Leute. Spindeldürr, gelenkig und voller Kraft in den Armen und Beinen; turnt, wenn einmal keiner ihn für eine Arbeit braucht, auf den Bäumen herum, ganz oben.

Nur sehr wenige seiner Schulkameraden kletterten ihm dorthin nach, was Georg sichtlich Freude bereitete. Den Mitgekommenen aber führte er seine Künste vor, und nicht selten endete so ein Spiel mit einem Wettlauf von Ast zu Ast und von Baum zu Baum, meist in der Allee, wo sie einander nahe standen. Georg blieb immer Sieger dabei.

Die erwachsenen Zuschauer neideten ihm das nicht. Armer Kerl, sagten sie, das wenigstens hat er den anderen voraus. Ähnliche Worte fanden auch zwei alte Leute, die dem Haus des Herrn B. gegenüber wohnten und Georg durch ihre Fensterscheiben beobachteten. Das waren die Eltern des Herrn B., aber Herr B. hörte nicht auf ihr Gejammer. Wenn du ihm nicht genug zu essen gibst, dann lass ihn zu uns herüber, meinten sie beide. Da hätte er es besser und hätte auch Zeit etwas Ordentliches zu lernen. Gib ihn uns, bat die Mutter des Herrn B. ganz ernsthaft, und der alte Herr stimmte ihr zu. Wir adoptieren das Kind. Wird uns ein besserer Sohn sein als du.

Das hörte Herr B. nicht gern. Als kundiger Mann beim Hausbau, Polier und rechte Hand seines Baumeisters, hatte er wohl das Seine geleistet und war beleidigt, eigentlich bitterböse. Es waren schlechte Zeiten, und arbeitslos zu sein kein Honiglecken. Die Alten bewohnten ein sauberes Häuschen, das ihm, nur ihm allein von Rechts wegen zustand. Sollte der kleine Nichtsnutz es ihm denn wegnehmen?

Herr B. redete kein Wort mehr mit seinen Alten und erzählte alles am selben Abend noch seiner Frau als sie von einem Gasthausbesuch nach Hause kamen und in der Speisekammer nach ihrem Nachtmahl suchten. Dabei stellte es sich heraus, dass die gehütete Rein mit den Nudelresten völlig leer und von dem Aufbewahrten kein Bröselchen mehr vorhanden war, in der Nachtmahlrein sich also keine einzige Grießnudel mehr befand; und dass – weder der ältere Sohn noch sonst ein Mensch war an jenem Tag im Haus – einzig Georg als Täter in Frage kam. Infam, weil widerrechtlich hatte er alles was an Grießnudeln von dem Mittagsmahl übrig geblieben war, in sich hineingestopft, so dass es den Anschein hatte, Herr B. hätte im eigenen Haus nicht nur seinen künftigen Erbschleicher zu ernähren. Georg sei jetzt schon, das sei ja nun zur Genüge bewiesen ein ausgefeimter Dieb, der kaltblütig seine Wohltäter um ihr bescheidenes Nachtmahl betrog. Brauchte das noch einen anderen Beweis? Auch hatte die Bäckersfrau Georg unlängst erst vor dem Semmelkorb beobachtet. Allzu lang sei er davor gestanden, und wer weiß, ob er dabei nicht – diebisch wie im gegenwärtigen Fall – eine verschlungen hat?

Sie suchten nach Georg und fanden ihn schluchzend im Keller bei den Kaninchen, wo er meistens zu finden war und sie hätten ihn windelweich geschlagen, wäre Georg nicht flink wie ein Pfeil unter der wütend erhobenen Hand des Herrn B. hinausgeschlüpft ins Freie und seiner wohlverdienten Strafe entronnen. Die beiden zeterten in schrillen Tönen, was weithin zu hören war, aber der Bub war längst über das froststarre Gras und durchs Gartentor in den Nebel getaucht, der sich wie ein schützender Vorhang über die Schreckensszene gebreitet hatte. Nach Hasenart lief er, Haken schlagend, in die kalte Novembernacht hinaus. Im Wald dachte Georg, wäre er sicher. Aber er hatte keinen Mantel dabei, keine Mütze, rein gar nichts.

Die Tür, vor der Georg nach blitzschneller Kehrtwendung angerannt kam, stand bereits offen. Die Mutter des Herrn B. nahm ihn in ihre Arme, bevor sie wieder drinnen im Haus den Riegel vorschob. Der Kleine war damals kaum mehr als acht Jahre alt. Als seine Tränen endlich versiegten, alles erzählt und das Schmalzbrot verzehrt war, das sie ihm vorgesetzt, sah er sich in dem schönen Raum um. Da hingen Geweihe an den Wänden, dort glänzten Gläser in einem Regal, und über den Tisch war ein sauberes Tuch gebreitet. So etwas hatte das Kind nie gesehen. Der alte Herr fasste ihn an der Hand und führte ihn vor eine verschlossene Kredenz. Sagst halt Großvater zu mir, meinte er begütigend und öffnete die gläserne, mit Blumenmustern verzierte Tür. Da gab es drei Reihen voll Bücher, große und kleine, mit dicken und dünnen, hellen und dunklen, grünen und braunledernen Rücken. Manche hatten goldene Buchstaben darauf und Georg durfte mit der Hand berühren was der alte Herr für ihn aus der Kredenz hob. Zwar kann man Bücher nicht essen, meinte der Vater des Herrn B. mit einem Lächeln, doch eigentlich schmecken sie besser als Grießnudeln, glaube mir. Manchmal sogar noch besser als Brot, und einmal wirst du es wissen. Natürlich nur wenn du lernst, sie richtig zu lesen. Das und Ähnliches murmelte er in seinen schlohweißen Bart hinein. Dann, so meinte er zu Georg gewendet, gehören sie dir.

Besser als Brot? Georg konnte das Wunder nicht fassen. Ein anderes Brot, ergänzte freundlich der alte Mann und Georg sah zu ihm auf und wusste nicht, wie ihm geschah. Aber er konnte ja lesen! Warum wusste das niemand, warum hörte ihm nie einer zu? Selbst die Lehrerin nicht, vor der er sich fürchtete, weil er jeden Tag und immer noch an dieses kreuzweise Pflaster über dem Mund denken musste. Durch Tränenschleier betrachtete er den alten Herrn, der sein Großvater nicht war, wie Herr B. ihm eingeschärft hatte. Und trotzdem durfte er Großvater zu ihm sagen? Wie war denn das möglich? Herrn B. durfte er nie anders als mit „Herr B.“ ansprechen, zu Frau B. nichts anderes sagen als eben „Frau B“. Und natürlich galt jederzeit nur die Anrede „Sie“. Georg war an anderes nicht gewöhnt, doch wusste er sehr genau, dass der Bertl, der Sohn der Familie, „Vater“ und „Mutter“ sagen durfte und natürlich auch „du“. Den Bertl lobten sie wegen seiner Tüchtigkeit, während sie Georg zu den Hasen schickten, wenn sie dem eigenen Kind bei den Aufgaben halfen. Wie sehr hätte Georg sich gewünscht, dass ihm wenigstens einmal einer beim Lesen zugehört oder beim Schreiben zugeschaut hätte. Wenigstens einmal! Aber Herr B. wollte das nicht. Du musst lernen, alles selber zu machen, sagte er gern, im Leben hilft dir auch keiner weiter. Und ich bin nicht dein Vater! Noch schmerzvoller fand Georg das Verbot, zum Bertl „Bruder“ zu sagen. Als ihn die anderen Buben verspottet hatten, ihm wieder einmal einer ein Bein stellen wollte, rief Georg in seiner Empörung: Ich sag’s meinem großen Bruder! Der Bertl aber hatte darauf nur gelacht und Georg nicht einmal angeschaut. Der ist nicht mein Bruder, hatte Bertl gemeint. Der? Der ist doch nicht mein Bruder!

Nein, Georg würde das Wort „Großvater“ nicht über die Lippen bringen. Wie er ganz sicher wusste, war das verboten. Jetzt getraute er sich kaum zu atmen vor Verlegenheit und Glück. Später erinnerte er sich oft an den alten Mann und seine Worte, an diese einzigartige Szene vor der Kredenz mit den drei Bücherreihen darin; dass eine unbeschreibliche Faszination davon ausgegangen war und dass er das alles nie hätte vergessen wollen. Wie gern hätte er einen Großvater gehabt! Die wenigen Tage, die er in dessen Haus verbringen durfte, versprachen ein neues, nie empfundenes Lebensgefühl. Von den Speisen, die Georg auf seinen Teller bekam, stieg ein Duft auf wie er ihn noch nie genossen hatte. Er durfte essen so viel er wollte. Menschen kamen in dieses Haus, die nie zu Herrn B. gekommen wären. Am Sonntag erschien der Herr Oberförster mit Frau zu einer Jause. Georg durfte ein Stück Gugelhupf nehmen und bekam sogar noch ein zweites. Dann sah er beim Kartenspiel zu. Dabei waren alle fröhlich und niemand wies ihm, Georg, die Tür.

Das alles zeigte sich jedoch bald als ein Traum. Es kam zum Wettstreit zwischen Vater und Sohn. Dem betagten Ehepaar wurde das Adoptionsrecht nicht zuerkannt. Zu alt, war das Urteil; auch liege eine Notwendigkeit für ihr Ansinnen nicht vor. Herr B. aber hatte wenig Verständnis für seine Eltern, noch weniger allerdings für jenes gefräßige Kücken, das ihm – wer das gewesen, brauchte ja niemand zu wissen – ins warme Nest gelegt worden war. Er sei nicht der Vater, ein für allemal! sagte er laut. Und wer freiwillig für die Ernährung dieses unersättlichen Bengels zahlen wolle, könne das jederzeit tun.

Der Entscheid sprach für Herrn B. und Georg musste wieder zurück in dessen Haus. Verboten war ihm von da an jeder Kontakt mit den alten Leuten. Würde er zuwiderhandeln, dürfe er in seinem warmen Nest nicht mehr bleiben. Georg weinte nach den beiden Alten, wusste er doch außer dem ihren kein anderes Nest. Und bei Herrn und Frau B. war es ja nie besonders warm gewesen.

Die Eltern des Herrn B. starben bereits nach wenigen Jahren, erst der Mann und bald danach seine Frau. Herr B. aber war ab dem Zeitpunkt oft außer Haus und kam manchmal tagelang nicht heim. Frau B. sagte nichts. Sie besorgte sich wöchentlich Liebesromane aus der Sammlung des Trafikanten, und Georg hatte sie, wenn alles gelesen war, pünktlich zurückzubringen um neue zu holen.

4GEBOREN WORDEN

Zwar ist es ganz sicher, dass, zuweilen jedoch höchst unsicher, wo, wie und wann ein Mensch in diese Welt kam. So mancher fragt sich ja auch, warum überhaupt. Wenn Georg derlei Fragen zu hören vermeinte, um sie danach im Stillen sich selbst zu stellen, wusste er darauf keine Antwort. Reden von einem Storch, der ein Kind einfach fallen ließ, irgendwohin, hatten ihm immer schon Abscheu und tiefstes Grauen bereitet. Er misstraute den riesigen Schnäbeln der Vögel, ihrem fremden, spannweiten Gefieder, vor allem aber der Art, wie Störche zu gewissen Zeiten im Tiefflug über Dächer und Felder zogen. Im Herbst pfeilten sie quer durch die Gegend über den Berg, im Frühjahr aber zu einem nicht weit entfernt liegenden See, weil es dort Frösche, Schilf und auf Bäumen und Dächern allerlei Nistplätze gab. Georg fürchtete jene Stellen, an welchen sie landeten, scheute das braune Wasser wie auch den breiten, träg dahin rinnenden Bach mit Büschen rundum und Wäldern, so wie alle feuchtdunklen Landschaften und die Au, wohin ihn manchmal, wie auch an den See, einer mitnahm.

Ein Findelkind bist du gewesen, sagten die Leute. Was ist das? hatte er prompt gefragt, doch das fragte er später nicht mehr. Gefunden war er worden, doch nicht von Storchenvögeln und von solchen auch keineswegs fallen gelassen. Von wem also fallen gelassen? Wieso und wo war er schließlich gelandet? Wäre er an einem Bachrand gefunden worden, an einem von Sonne beschienenem hellklaren Wasser, in ein reinliches Körbchen gesteckt, das sich leicht einhaken konnte zwischen Wurzeln und moosigem Stein, mit Butterblumen an seiner Seite, die sich hin- und herbewegten im Wind, er hätte es gerne herum erzählen wollen. Dann wäre auch er gewesen was jeder andere war, nämlich einer, der eine Herkunft hatte; zwar seltsam und geheimnisvoll, doch immerhin; er hätte benennen können was war, so wie das alle anderen taten, die morgens munter aus dem Tor ihrer Elternhäuser schlüpften und abends dahin zurückkehrten mit einigem Recht, weil das ihr Zuhause war.

Wie schön wäre es gewesen, hätte es auch von ihm irgendwelche Geschichten gegeben, die man hören und hätte erzählen dürfen; eine wie die, welche einmal im Bäckergeschäft von Leuten erzählt worden war; dort hätte er auch die seine zum besten geben können. Wären die baff gewesen, diese Neugierigen, die ihre Fragen immer nur aus dem Hinterhalt stellten, damit sie sich lustig machen konnten über einen, der sich schämte, das Wort „Vater“ oder „Mutter“ nie ausgesprochen zu haben, weil mutterseelenallein auf der Welt. Oder weil er kein Recht hatte, einfach zu sagen was Wirklichkeit war. Frau B. nämlich, die manche seine „Ziehmutter“ nannten, obwohl sie das sicher nicht war, die hätte solche Anrede gleich abgewehrt, hätte sie diese gehört. Für Scherze hatte Frau B. weder Zeit noch ein Ohr. Nein, Ziehmutter war sie wirklich nicht, das hätte Georg ganz sicher bemerkt. Auch war ihr bereits dieses Wort zuwider, und von Georg sprach sie, wenn überhaupt, höchstens als von einem „Kostkind“ ihres Mannes, wenn einer dumme Fragen stellte.

In seinem Kostquartier redete der Bub daher wenig, er war meist nur da, wenn zur Mahlzeit gerufen. Aß was ihm vorgesetzt wurde und lief wieder weg, wenn alles verzehrt und nichts mehr zu verteilen war. Am Abend schlich er zu seinem Eisenbett in die Kammer, die eigentlich Vorratskammer war und recht eng. Seinem Eisenbett gegenüber stand noch ein schmales Sofa, auf dem früher die alte Tante des Herrn B. logiert hatte, die hatte auch nicht sehr viel geredet. Eines Morgens war sie nicht aufgewacht und Leute kamen daher, die hoben sie auf eine Bahre und trugen sie fort. Danach erschien sie nie wieder und das Kostkind war mit dem Speckgeruch, der dem Raum die Atmosphäre einer Selchkammer gab samt Regalen mit Marmeladen- und Gurkengläsern, Winteräpfeln und Nüssen allein.

Einmal fischte er aus dem seitlichen Loch eines Jutesacks eine Nuss heraus, die so herrlich roch, dass er sie mit Zunge und Zähnen zu befühlen und, weil die mit der Zeit recht kräftig geworden waren, zu knacken begann; so wie man Nüsse eben knackt, wenn die zweiten, also die Erwachsenenzähne groß genug und so brauchbar geworden waren wie die seinen. Wenn einmal draußen am Straßenrand ein voller Nussbaum etwas von seiner Fracht abwarf, so dass jeder, der wollte, aufklauben durfte was auf dem Weg lag, freute sich Georg und hütete seinen Schatz in einem geheimen Winkel des Gartens, den Eichkätzchen gleich, um genauso wie Frau B. etwas vorrätig zu haben für spätere Zeiten.

In der Kammer freilich, in der Georg schlief, durfte keiner sich an derlei Köstlichkeiten laben. Er wusste das längst und hielt sich daran, aber die eine Nuss wäre vielleicht auch von selber durch das Loch aus dem Jutesack gefallen und was auf dem Boden lag, durfte man nehmen. Oder? Das Krachen und Splittern zwischen seinen Zähnen drang bald verräterisch durch die Tür und Herr B. und seine Frau stürzten gleichzeitig in ihren Nachthemden und mit großem Geschrei herein. Nein, nie mehr wieder dürfe er so etwas wagen. Fiel eine Nuss durch ein Loch, sei sie sofort in den schleißigen Sack zurückzubefördern.

Durch die Schlafzimmertür hörte Georg sie schimpfen. Und Bertl, der rechtmäßige Sohn der Frau B. durfte mit einstimmen, war er doch wohlgelitten und sicher bei Vater und Mutter. Durch die Tür horchte Georg was sie ihm vorzuwerfen hatten, verstand aber nicht alles.