Das Andersmädchen - Thomas Wolfer - E-Book

Das Andersmädchen E-Book

Thomas Wolfer

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Beschreibung

Die dreizehnjährigen Teenager Thomas und Anja sind neu mit ihrer Mutter in ein kleines Schweizer Dorf gezogen, wo sie sich allerlei Feindschaften zuziehen und sich mit der Aussenseiterin der Schule anfreunden, dem Andersmädchen, das als Hexe verhasst und gefürchtet wird. Halten die beiden das zunächst für Aberglauben, müssen sie schon bald feststellen, dass das Andersmädchen tatsächlich übernatürliche Kräfte besitzt. Als die Angriffe ihrer Mitschüler, angeführt von Klassenschläger René, immer heftiger werden, riskieren Anja und Thomas zusammen mit ihrer Nachbarin Michelle, Anjas Intimfeindin und heimlicher Schwarm von Thomas, Kopf und Kragen, denn man will dem Andersmädchen sogar das Leben nehmen. Und dann sind da noch die anonymen Drohbriefe, die Michelle vor ihrem Vater versteckt und dadurch sich und ihre Familie in grösste Gefahr bringt. Kann das Andersmädchen helfen?

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Seitenzahl: 922

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Ein schwieriger Neubeginn

Die Arme siegreich zum Himmel erhoben, überquerte Anja die Ziellinie. Schon stürzten ihre Freunde von der Seite auf sie zu und umringten sie, hoben sie auf ihre Schultern und trugen sie durch das Stadionrund.

Anja seufzte und legte ihren Stift auf dem Terrassentisch ab, wo sie gerade ihre letzten Hausaufgaben erledigte. Diese wunderbaren Erinnerungen lagen nun einige Wochen zurück und sie würde so etwas wohl nicht wieder erleben. Mitten während der Sommerferien waren sie nach Waldfelden umgezogen, einem kleinen Nest in der Schweiz. Dort wohnten sie seit etwa vier Wochen in einer Reihenhaussiedlung. Nach Abschluss des Umzugs waren Sie für eine Woche in den Urlaub gefahren, um sich von den Strapazen zu erholen. Erst einen Tag vor Schulbeginn waren sie zurückgekommen. Der letzte schöne Tag in ihrem Leben.

Mittlerweile ging Anja knapp zwei Wochen auf ihre neue Schule und schon hatten sich ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

„Mama?“, wandte sie sich an ihre Mutter, die neben ihr saß und nach einem langen Arbeitstag die Post durchsah. „Können wir nicht zurück nach Deutschland? In der Schule sind sie alle so gemein zu mir. Sie machen sich sogar über mich lustig, weil ich kein Schweizerdeutsch sprechen kann. Die mit ihrem komischen Ch-Kehllaut anstelle des K, das kann doch kein Mensch. Und ganz besonders schlimm ist meine Tischnachbarin, diese Michelle.“

Anjas Mutter, Annika Kraft, seufzte. Dieses Gespräch führte sie mit ihrer Tochter, seit sie in die Schweiz gezogen waren, jeden Tag aufs Neue. Nichts passte ihr hier. Die Sprache, die Leute, insbesondere die Mitschüler und Mitschülerinnen, das Dorf, in dem sie wohnten, und, und, und … Dennoch versuchte sie ein weiteres Mal, ihrer Tochter die neue Umgebung schmackhaft zu machen.

„Ach, Anja, das geht nicht. Das weißt du doch. Ich bin nun einmal befördert und hierher versetzt worden. Und ich verdiene hier viel besser als früher. Du hast dein eigenes Zimmer und musst es dir nicht mehr mit deinem Bruder teilen. Und ich habe sogar ein Arbeitszimmer und dann ist da noch der kleine Vorgarten vor dem Haus und dahinter diese wunderbare Terrasse und der herrliche Garten. Das ist doch viel schöner, als wie früher in einer winzigen Dreizimmerwohnung zu leben. Nicht zuletzt könnt ihr hier laut sein, weil unsere Nachbarn ebenfalls Kinder haben.“

„Schon gut. Trotzdem wäre ich lieber zu Hause in Stuttgart und würde mir mit dem Bommel das Zimmer teilen.“

„Anja! Du weißt genau, ich kann diese Bezeichnung für deinen Bruder nicht leiden“, rügte Frau Kraft ihre Tochter.

„Schon gut. Jedenfalls, meine Freundinnen sind auch alle dort und in diesem Kaff hier kann man nicht mal shoppen gehen, es hat ja nichts.“

„Du übertreibst. Davon abgesehen, das konntest du früher auch nicht, wenn auch aus anderen Gründen“, erinnerte sie ihre Mutter.

„Ja, ja, schon gut“, wiegelte Anja mit ihrer Lieblingsformulierung ab.

„Und was die Sprache angeht, du wirst sehen, in ein paar Monaten wird dir dieser Dialekt keine große Mühe mehr bereiten“, fuhr ihre Mutter fort. „Und wenn du erst Freunde gefunden hast …“

Anja hörte nicht mehr zu. „Ich will diesen doofen Dialekt gar nicht lernen“, murmelte sie vor sich hin, aber so leise, dass ihre Mutter es nicht hörte. Und Freunde? Die würde sie hier niemals finden, wo sie doch total verhasst war. Gestern hatte jemand ihr nagelneues Mäppchen mit den Stiften in den Mülleimer geworfen. Leider auch noch geöffnet, sodass sie fast zehn Minuten gebraucht hatte, um alles aus dem Müll herauszusuchen. Eine eklige Angelegenheit angesichts der vielen gebrauchten Kaugummis und anderer unappetitlicher Sachen, die sich darin befunden hatten.

Während Anja mit den Gedanken abschweifte, führte ihre Mutter ihre Ansprache unverdrossen fort. Nach einigen Minuten drang sie sogar erneut zu ihrer Tochter durch.

„Du musst das sportlich nehmen. Stell dir vor, es wäre ein Wettkampf, ein Rennen. Achtung! Fertig! Los! Dann rennst du und kämpfst dich durch, egal was ist. So musst du das auch in der Schule machen. Du wirst sehen, bald gewöhnst du dich an alles, was jetzt fremd erscheint, und deine Mitschülerinnen und Mitschüler gewöhnen sich an dich und alles wird gut.“

„Da wird gar nichts gut“, brummte Anja verdrossen. „Und da du es selbst ansprichst: Es gibt hier nicht mal einen Leichtathletikverein. Wie soll ich denn meinen Sport machen und trainieren?“

„Das wird sich schon finden. Wenn wir uns erst ein wenig auskennen … Und was deine neuen Schulkameraden angeht: Sei einfach nett, dann wird man auch zu dir nett sein.“

‘Anjas Mutter hatte gut reden’, dachte ich. Sie musste ja nicht in die neue Schule gehen, sondern Anja – und natürlich ich, Thomas Würmling. Ja, so lautet mein Name. Nicht lachen. Ich kann nichts dafür, dass mein Vater Würmling hieß. Und die Witze darüber kenne ich alle. Die muss ich mir seit … ach, eigentlich schon mein ganzes Leben anhören, und das dauert mittlerweile immerhin mehr als dreizehneinhalb Jahre. Nein, ich bin kein Wurm und auch nichts Wurmähnliches, wie manche behaupten.

Wir waren während der Sommerferien aus Deutschland hierher nach Waldfelden gezogen, meine Mutter, meine Schwester und ich. Anja und ich gehen in dieselbe Klasse.

Zu Beginn des Schuljahres vor zwei Wochen wurden wir von der Klassenlehrerin Frau Lindenmann vorgestellt. Anja Kraft, ein hübsches, blondes, schlankes und sehr sportliches Mädchen mit blauen Augen. Und ich, Thomas Würmling, ein grünäugiger Junge mit dunkelbraunen Haaren, nicht besonders groß gewachsen, mit Durchschnittsgesicht und vollen Lippen. Als besonderes Merkmal kann man nur meinen teilweise abgebrochenen Schneidezahn – aufgrund der unfreiwilligen Bekanntschaft mit einer Wand – sowie eine Narbe in der rechten Augenbraue nennen. Letzteres ist die Folge eines Zusammenpralls mit einem anderen Kind, bei dem vor einigen Jahren meine Brille zu Bruch ging. Seitdem kann ich mich nur selten dazu überwinden, Augengläser zu tragen, was nicht sonderlich vorteilhaft ist, wenn man nicht allzu gut sieht und Kontaktlinsen nicht verträgt. Darüber hinaus bin ich alles andere als sportlich, was man mir auch ansieht. Bisher hat mich das nie besonders gestört. Meine Einstellung zu körperlicher Betätigung geht in Richtung Sport ist Mord, zumindest wenn ich derjenige sein soll, der sich bewegt.

Als mein Name fiel, brandete ein Kichern durch die Klasse und ich wünschte mir wieder einmal, anders zu heißen, zumindest für ein paar Sekunden, denn aufgeben würde ich meinen Namen niemals. Schließlich war es der Name meines Vaters. Warum musste Frau Lindenmann auch meinen Nachnamen nennen? Thomas hätte doch gereicht.

Sie rügte die Klasse wegen ihres Kicherns und forderte uns auf, uns einen Platz zu suchen. Ich ließ meinen Blick durch die Klasse schweifen. In der vorletzten Reihe waren zwei Plätze frei und dann noch einer in der letzten Reihe, die nur aus einem einzigen Tisch bestand. Ich musterte meine potenziellen Tischnachbarn und erstarrte.

Dort saß sie, ein Traum, ein Engel, mit wunderschönem, langem, goldenem – okay, weißblondem – lockigem Haar, und lächelte mich mit ihren blauen Augen an – obwohl ich in ihrem Gesicht kein Lächeln erkennen konnte, sondern eher einen mürrischen Ausdruck.

Mein Herz dröhnte in meinen Ohren, sein Takt schien sich vervielfacht zu haben. Ich hatte nur noch Augen für sie. Unfähig, mich zu rühren, stand ich da und starrte sie an. Anja hat mir später erzählt, ich hätte ausgesehen wie ein Kamel.

Den Gedanken hatte ich einige Sekunden später selbst. Ich Kamel! Ich Riesenrindvieh! Ich Hornochse! Anstatt mir schleunigst den Platz neben diesem himmlischen Wesen zu sichern, stand ich stocksteif da und hielt Maulaffen feil – wie mein Vater immer gesagt hatte, wenn ich bewegungslos vor mich hingestarrt hatte. Ich benutze gerne solche alten Redewendungen. Von meinem Vater habe ich viele gelernt. Anja nutzte meine Starre, setzte sich in Bewegung und nahm neben meiner großen Liebe Platz, ehe ich fähig war, in irgendeiner Form zu reagieren. Zugegebenermaßen war ich in dem Moment ohnehin sprachlos. Etwas, was meine Schwester für unmöglich hält.

Nachdem Anja mir den Platz bei meiner großen Liebe Michelle abgejagt hatte, sah ich mich gezwungen, mich den beiden anderen freien Plätzen zuzuwenden. Ganz außen in Michelles Reihe, jenseits des Zwischengangs an der Wand, breitete sich ein Junge allein über den ganzen Tisch und beide Stühle aus. Ein Blick genügte, um ihn einzuschätzen: groß, bullig, obwohl er eigentlich durchtrainiert aussah, also Muskeln, nicht Fett, dazu ein brummiges, kantiges Gesicht. Einer, von dem sich Leute wie ich besser fernhielten.

An dem einzelnen Tisch, der die letzte Reihe bildete, saß ein Mädchen, bei dem man vorsichtshalber zweimal gucken musste, weil man seinen Augen sonst nicht traute. Sie war komplett schwarz, nicht von der Hautfarbe, sondern der Kleidung. Sie steckte in einem dunklen Rüschenkleid. Wer zog denn bitte so was an? Dazu trug sie schwarze Seidenhandschuhe. Ihre Haare waren schwarz mit einer Art Blauschimmer und fielen in langen Wellen auf ihren Rücken hinab. Wie meine Schwester mir später erklärt hat, waren sie gefärbt. Ich kann so was nie feststellen, außer vielleicht, wenn sie jetzt lilablassblau-kariert gewesen wären. Ihre Augen waren hinter einer schwarzen Sonnenbrille verborgen und daher nicht zu erkennen. Dennoch war ich sicher, sie beobachtete mich. Na ja, eigentlich waren in diesem Moment die Augen aller auf mich gerichtet. Lippenstift benutzte das seltsame Mädchen auch, schwarzen natürlich. Dazu hatte sie sich schwarze Lidschatten unter die Augen gemalt.

Neben dem Tisch des Mädchens befand sich kein weiterer, sondern zu meinem Befremden eine Art Matratzenlager, Kuschelecke, oder was auch immer. Jedenfalls lagen da zwei Matratzen, ein paar Decken und Kissen.

Einen Moment war ich unschlüssig. Wohin sollte ich mich setzen? Schläger gegen – ja, was eigentlich? War das ein Gothic-Girl oder was sollte das sein?

Meine Entscheidung fiel kurz darauf zugunsten des Gothic-Girls aus, oder was immer dieses Mädchen war. Auf alle Fälle war sie anders. Ausschlaggebend war dabei die Tatsache, dass ihr linker Platz frei war und ich dadurch schräg hinter Michelle sitzen würde. Ein hervorragender Platz, um sie zu beobachten, und nahe war ich ihr obendrein.

Doch erneut hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht und der hieß in diesem Fall Frau Lindenmann. Sie sagte: „Setz dich neben René, Thomas.“

Da ich das schwarze Mädchen beim besten Willen nicht mit dem Namen René in Einklang bringen konnte, nahm ich etwas widerwillig neben dem Jungen Platz. Von dem wurde ich, während er meine Seite freigab, gleich aufs Freundlichste, wenn auch leise, sodass ihn die Klassenlehrerin nicht hörte, empfangen: „Jetzt schau sich einer den Pommespanzer an. Mann, Fatty, was isst du täglich zum Frühstück? Einen Elefanten?“

„Nein, Nilpferde wie dich“, rutschte es mir heraus.

Einen Augenblick war nicht nur er sprachlos, sondern die ganze Meute der Mitschüler und Mitschülerinnen, die eben noch gekichert hatte. Lediglich ein unterdrückter Lacher war aus der letzten Reihe zu hören.

Im Gesicht von René arbeitete es. Dann gelang ihm tatsächlich ein Lächeln – oder zumindest das, was er wohl dafür hielt. Ich hätte es eher als wölfisches Grinsen bezeichnet. Er winkte mir einladend zu und sagte laut: „Komm nur her, ich glaube, wir werden viel Spaß miteinander haben.“

„Das finde ich schön, dass du dich so deines neuen Klassenkameraden annimmst“, freute sich Frau Lindenmann.

Ich kann versichern, diese Freude war ganz aufseiten von Frau Lindenmann und René. Ich teilte sie nicht im Geringsten.

In den nächsten Tagen und Wochen lernte ich eines der Hobbys meines neuen Tischnachbarn kennen: das Sandsackboxen. Dummerweise musste ich beziehungsweise mein Oberarm als Sandsack herhalten.

Ich schüttelte mich und kehrte in die Gegenwart zurück, in der ich das Gespräch zwischen Anja und ihrer Mutter unfreiwillig belauscht hatte, als ich auf dem Weg hinter der Hecke, der an Anjas Terrasse vorbeiführte, vorbeischlenderte, und um die Ecke bog. Anja war mit ihrer Tischnachbarin Michelle nicht glücklich geworden. Dies war ein kleiner Trost für mich, nachdem sie mir den Platz neben meiner großen Liebe weggeschnappt hatte. Ständig keiften die beiden Mädchen einander an. Tatsächlich hatte Anja mittlerweile mit so ziemlich jeder und jedem in der Klasse Probleme, abgesehen von vielleicht ein oder zwei Ausnahmen, und eine davon war ich, obwohl wir uns durchaus heftig streiten konnten.

Wie sehr Michelle umgekehrt Anja liebte, konnte ich feststellen, als ich am Haus daneben vorbeilief. War die Hecke an der rückwärtigen Seite von Anjas Grundstück mehr als mannshoch, war sie hier an der Straße deutlich niedriger, sodass sie mir nur bis zur Brust reichte. Dadurch konnte ich einen Blick in den Vorgarten werfen. Ich blieb stehen und richtete meine Augen auf die drei Personen, die sich in der geräumigen Küche befanden, in die ich durch das offene Fenster hineinsehen konnte. Michelle und ihre kleine Schwester Denise bereiteten das Abendessen zu, während ihr Vater, der örtliche Kinderarzt Dr. Angehrn, soeben das Bügeleisen aussteckte.

„Sie ist so eine arrogante und doofe Nuss, was sag ich, eine Zicke, eine Tussi!“ Zornig stampfte Michelle mit dem Fuß auf.

„Kleines, von wem sprichst du denn?“, erkundigte sich ihr Vater, ohne aufzusehen.

„Von wem werde ich wohl sprechen, Papi?“, ereiferte sich Michelle. „Von meiner neuen Mitschülerin, meiner Tischnachbarin, dieser blöden Anja! Ich habe schon Frau Lindenmann gefragt, ob ich nicht woanders sitzen darf. Aber die will nichts davon wissen. Sie meint, ich müsse ihr helfen. Helfen, der!“

„Für sie wird es nicht leicht sein, neu in der Klasse und in unserem Land. Da braucht sie sicher Hilfe“, entgegnete ihr Vater, während er die frisch gebügelte Wäsche zusammenlegte.

„Die will keine Hilfe! Alles kann sie besser, alles weiß sie besser, sie ist so eine richtige Besserwissi. Wenn ich was ins Heft schreibe, kommt ständig: Das schreibt man mit H, das mit zwei M.“

„Das ist doch nett“, meinte ihr Vater wenig hilfreich.

„Nett? Die hält uns alle für Idioten, meint, wir Schweizer seien zu blöd, um richtig Deutsch zu können.“

Michelle kochte, in doppelter Hinsicht – vor Wut und das Essen. Soeben pfefferte sie, reichlich.

„Aber der hab ich‘s gezeigt“, fuhr sie fort. „Ich habe ihr Federmäppchen in den Mülleimer geworfen.“ Michelle stockte kurz. „Okay, dass es offen war, habe ich nicht bemerkt. Sie musste ihre ganzen Stifte einzeln aus dem Müll heraussuchen, das wollte ich gar nicht.“

Damit hatte sie die volle Aufmerksamkeit ihres Vaters. „Michelle!“, sagte er in strengem Ton. „Das geht so nicht. Du wirst dich gleich morgen bei dieser Anja entschuldigen. So etwas darf nicht noch einmal vorkommen! Haben wir uns verstanden, junge Dame?“

„Aber die ist so was von nervtötend“, verteidigte sich Michelle. „In Mathe verbessert sie mich auch die ganze Zeit, dabei bin ich darin richtig gut. Doch seit sie neben mir sitzt, kann ich nicht einmal mehr zwei und zwei zusammenzählen.“

„Vier“, ertönte es da hilfreich von ihrem Vater.

Ich musste grinsen. Dabei konnte ich Michelle verstehen. Anja konnte einen verrückt machen mit ihrer ewigen Besserwisserei. Das wusste ich aus eigener Erfahrung. Aber eine Tussi war sie nicht. Die Tussi hätte viel eher zu Michelle gepasst.

Michelle jedenfalls war not amused. „Papa! Du machst dich über mich lustig!“, protestierte sie verärgert und verzog schmollend das Gesicht.

„Tut mir leid, Kleines“, entschuldigte sich ihr Vater. Sehr schuldbewusst sah er meiner Meinung nach allerdings nicht aus.

„Dabei kann sie kein Wort Französisch, im nächsten Test kriegt sie da bestimmt ‘ne Zwei, so schlecht wie die ist.“

Anja hatte genau wie ich bisher kaum Französisch gehabt. Unsere Fremdsprachen waren Englisch und Latein gewesen. Letzteres wurde hier an unserer neuen Schule gar nicht gelehrt. Das weitgehende Fehlen von Französisch-Kenntnissen war ein Grund für meine Mutter gewesen, meine kleine Schwester und mich nicht wie in Deutschland in ein Gymnasium zu stecken, sondern zunächst auf die Sekundarschule zu schicken. Dort sollten wir die Rückstände, die wir in einigen Fächern wegen des veränderten Lehrplans hatten, so rasch wie möglich aufholen, um dann später aufs Gymnasium zurückzukehren.

Fast hätte ich beim Nachdenken darüber die Antwort ihres Vaters verpasst.

„Das ist doch ein Ansatz. Du hilfst ihr in Französisch und sie dir in Deutsch. Da profitiert ihr beide von.“

„Mit der werde ich niemals gemeinsam lernen!“, stellte Michelle klar.

Eine Antwort, die mich, zugegebenermaßen, erfreute. Dann blieb sie nämlich frei, um mit mir zu lernen. Ich könnte die Unterstützung in Französisch weiß Gott gebrauchen, noch viel mehr als Anja. Schon wegen der Aussprache, zum Beispiel wegen des stimmhaften und des stimmlosen S. Da gab es anscheinend einen Unterschied. Mein Problem: Ich konnte diesen Unterschied nicht hören. Wie aber soll man etwas auf unterschiedliche Weise aussprechen, wenn man nicht einmal hört, dass es unterschiedlich ausgesprochen wird?

Und dann war da noch das Schweizer Ch, dieser Kehllaut. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man den erzeugte, sehr zum Vergnügen meiner neuen Mitschüler und Mitschülerinnen, die mich ständig vor unlösbare Aufgaben stellten, indem sie mich beispielsweise aufforderten, Chuchechästli oder so ähnlich zu sagen. Zwar wusste ich mittlerweile, was das bedeutete, nämlich Küchenkasten, doch das half mir bei meinen vergeblichen Ausspracheversuchen auch nicht weiter. Wieso interessierten sich Jugendliche überhaupt für Küchenkästen? Mir war schnurzegal, wie man das Zeug nannte.

„Warum denn nicht?“, fragte Michelles Vater. „Da hättet ihr doch beide etwas von.“

‘Weil Michelle mit mir lernen wird’, hätte ich beinahe laut gesagt, konnte mich aber gerade noch zurückhalten, da ich glaubte, dass die beiden über eine Einmischung meinerseits nicht sehr erbaut gewesen wären.

So bekam ich Michelles erboste Antwort mit. „Die ist so ‘ne Angeberin! Ständig faselt sie davon, wie schnell sie sei und dass sie ganz viele Rennen gewonnen habe.“

„Da passt sie doch wunderbar zu dir, du bist auch gut in Sport“, versuchte ihr Vater, noch einmal zu vermitteln. Ohne Erfolg, wie mir Michelles Antwort verriet.

„Ich spiele Fußball!“, kam es bestimmt von ihr. Leichtathletik und Fußball schienen sich offenbar auszuschließen.

In diesem Augenblick überlegte ich mir ernsthaft, Michelles Fußballklub beizutreten, obwohl ich dem Kicken nicht viel abgewinnen kann. Andererseits, würde Michelle nicht in einer reinen Mädchenmannschaft spielen? Dann würde es mir nichts nützen.

Aber wie konnte ich ihr dann nahe sein? In Amerika gab es Cheerleader, die die Mannschaften anfeuerten. Ob es so was auch bei der Fußballmannschaft von Michelle hatte? Das kam mir unwahrscheinlich vor. Davon abgesehen, als männlichen Cheerleader konnte ich mir mich nur schwer vorstellen. Eine gute Figur würde ich dabei kaum machen.

Michelles Gesicht war anzusehen, dass sie darüber nachdachte, wie sie es Anja so richtig zeigen konnte, und anscheinend hatte sie eine Idee, denn ihre finstere Miene hellte sich zusehends auf.

Den letzten Rat ihres Vaters hörte sie bestimmt nicht mehr: „Sei einfach nett zu ihr, dann ist sie auch nett zu dir.“

Was Michelle vorhatte, interessierte mich nicht die Bohne. Anja konnte auf sich selber aufpassen, dazu brauchte sie nicht mich. Ich überlegte vielmehr, wie ich sie zum gemeinsamen Lernen bewegen könnte, natürlich in erster Linie, um möglichst viel Zeit mit ihr zu verbringen. Hätte ich das doch zu Hause getan und nicht direkt vor ihrem Küchenfenster.

Während ich so überlegte, schaute ich Michelle unverwandt an, bis ich plötzlich ruckartig an meinem Polo-Shirt gezogen wurde.

„Mann, musst du in meine Schwester verknallt sein! Du stehst jetzt bestimmt schon ‘ne Viertelstunde da und gaffst sie an, als sei sie ein Wesen von einem anderen Stern.“

Verwirrt blickte ich neben mir hinab. Da stand Michelles kleine Schwester und schaute mich neugierig an.

„Ich … ich …“, stammelte ich und wusste nicht, was ich sagen sollte.

Denise wandte sich dem geöffneten Küchenfenster zu. „Michi! Du, ich glaube, der Nachbarsjunge ist total in dich verknallt. Er steht jetzt schon ‘ne Ewigkeit da und starrt dich an.“

‘Herzlichen Dank’, konnte ich da nur denken und fühlte, wie mir das Blut zu Kopf stieg und es in meinen Ohren zu rauschen begann. Mein Gesicht dürfte in kürzester Zeit einer überreifen Tomate geglichen haben. Auch Michelle wurde rot vor Scham und leider auch vor Wut.

„Was … was machst du da? Du belauschst uns? Du …, du Spanner!“ Jetzt kochte Michelle nicht mehr vor Wut wegen Anja, sondern wegen mir.

„Willst du mir deinen Freund nicht vorstellen, Kleines?“, fragte Michelles Vater, während er neugierig und freundlich zu mir nach draußen sah.

„Das ist nicht mein Freund, das …, das ist …“

‘Eine Krankheit’, hätte ich ergänzen können, wenn ich ihren Blick richtig deutete. ‘Würmling’ schien mir jedenfalls nicht auszureichen.

„Das ist der Nachbarsjunge von nebenan, der während der Sommerferien eingezogen ist. Ich glaube, er heißt Thomas. Er geht mit Michelle in die Klasse“, antwortete stattdessen Denise für ihre Schwester.

„Der ist schlimmer als diese Anja. Die lauert wenigstens nicht vor meinem Fenster. Die muss ich nur in der Schule aushalten! Mann, verpiss dich!“

„Michelle! Das will ich nicht gehört haben! Sofort entschuldigst du dich bei dem Jungen!“, forderte Michelles verärgerter Vater.

„Ich denk nicht dran!“, tobte Michelle.

„Ich find ihn nett“, meinte Michelles Schwester und strahlte mich an. „Bestimmt will er mit dir gehen.“

Die Bemerkung ihrer Schwester kam meinen Absichten keineswegs entgegen, wie Michelles Antwort verriet: „Wenn du ihn nett findest, kannst du ja mit ihm gehen. Ich muss kotzen, wenn ich den noch länger sehen muss.“

Da ich Letzteres nicht wollte und auch der Möglichkeit, mit einer Achtjährigen mit Sommersprossen und gleich mehreren Zahnlücken zu gehen, nur wenig abgewinnen konnte, zog ich es vor, Michelles Wunsch nachzukommen und mich zu verziehen.

Weit kam ich allerdings nicht. In meinem Bestreben, Michelle schnellstmöglich aus den Augen zu kommen, übersah ich ein Mädchen, das aus dem Vorgartentor des Nachbarhauses trat, und rannte es um. Es gibt Tage, da bleibt man am besten zu Hause, und heute schien mal wieder ein solcher Tag zu sein.

Ich stammelte eine Entschuldigung, während ich dem Mädchen die rechte Hand entgegenhielt, um ihr aufzuhelfen.

„Mann, pass doch auf!“, schimpfte sie. „Du machst ja Franzi und Zicki Angst. Was, wenn sie nun abgehauen wären?“

Ihre Beschwerden hinderten sie nicht, meine Hand zu ergreifen und sich von mir hochziehen zu lassen. Dabei zuckte ich vor Schmerz zusammen und rieb mir danach verstohlen den Oberarm.

„Renés liebevolle Behandlung?“, fragte das Mädchen.

Ich nickte.

„Du hättest dich nicht neben ihn setzen sollen.“

Das wusste ich selbst. Hätte ich mich bloß neben das seltsame Mädchen gesetzt, das nun vor mir stand. Aber dazu hätte ich die Lehrerin fragen müssen und das wollte ich nicht.

Sie hatte das gleiche an wie an jenem Montagmorgen, das schwarze Rüschenkleid. Überhaupt hatte ich sie bisher nur in schwarzen Sachen gesehen. Nicht das kleinste Stück Farbe war an ihrer Kleidung und an ihrem sonstigen Outfit auszumachen, einschließlich Lippenstift, Lidschatten und schwarz lackierter Fingernägel. Selbst ihre Schultasche war rabenschwarz. Auch die Sonnenbrille hatte sie immer aufgehabt, genau wie jetzt. Zusätzlich trug sie nun allerdings einen schwarzen Sonnenschirm. Verwundert sah ich noch einmal hin, doch ich war mir ganz sicher, dass es kein Regenschirm war. Dafür hatte sie nicht den Hut auf, den sie sonst im Freien getragen hatte. Ebenso fehlten die schwarzen Handschuhe, aber die hatte sie nur selten an. Etwas allerdings war heute anders, als damals, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Heute trug sie ihre Haare in einem Pferdeschwanz, damals offen. Sie wechselte öfter mal hin und her.

„Wer sind Franzi und Zicki?“, fragte ich verwirrt, indem ich ihre Worte vom Beginn unseres Treffens aufgriff.

„Meine Taggeckos“, erwiderte das Mädchen.

„Deine was?“

„Meine Taggeckos“, wiederholte das Mädchen, als wäre das selbstverständlich.

Wie aufs Stichwort erschien eine kleine grüne Echse mit roten Punkten auf ihrer Schulter.

„Das da ist Zicki“, erklärte das Mädchen. „Und das da“, sie griff in eine Tasche, die sich auf Hüfthöhe an ihrem Rüschenkleid befand wie eine Hosentasche, „ist Franzi. Sie ist ein wenig ängstlich.“ In der Hand hielt sie nun eine weitere Echse der gleichen Art. „Sie sind beide Weibchen. Zu Hause gibt es noch Rambo René, ein Männchen, ein richtig dicker Brummer.“

„Franzi, René, Zicki?“

René kannte ich besser, als mir lieb war, Franziska war die beste Freundin von Michelle, die an ihrer rechten Seite saß, und Zicki … Mir schwante Böses.

„Du nennst sie nach deinen Schulkollegen?“

„Weißt du, irgendwie erinnern sie mich an sie“, erwiderte das Mädchen und lächelte vergnügt.

Mein Blick wurde finster. „Zicki? So nennst du doch Michelle, oder?“

„Erraten. Sie ist mir die Liebste, sie zickt genauso rum wie Michelle.“

„Michelle zickt nicht!“

„Ach, wirklich? Ich glaube, deine Anja sieht das ganz anders.“

„Sie ist nicht meine Anja, sie ist … Ach, vergiss es! Haben denn deine Eltern nichts dagegen, wenn du solche Tiere hältst?“, wechselte ich absichtlich das für mich unangenehme Thema.

„Die Geckos? Nein“, antwortete sie, ehe sie nach kurzem Zögern ein „Glaube ich wenigstens“ hinzufügte. Das Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens war erloschen. Plötzlich wirkte sie traurig. Mir ging ein Licht auf.

„Ist das dein Bruder, der hier mit dir wohnt?“, fragte ich weiter und deutete auf das Wohnhaus hinter ihr.

Sie sah mich ernst an. „Du bist ein kluger Junge, Thomas Würmling.“

„Mein Vater ist auch … Wie sind deine Eltern …?“

„Ich wünsche dir einen schönen Abend, Thomas.“ Sie drehte sich um und trat zurück in den Vorgarten.

Ich wollte sie nicht gehen lassen. Bisher wusste ich kaum etwas über sie. Deshalb stellte ich ihr eine weitere Frage: „Warum trägst du eigentlich so komische Kleidung?“

„Weil sie mir gefällt.“

„Sie ist ganz schwarz.“

„Ach wirklich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen“, erwiderte sie ironisch.

„Ich bin halt ein kluger Junge“, antwortete ich im gleichen Tonfall.

Als sie sich zu mir umdrehte, lag wieder ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „Was du nicht sagst.“

„Du hast was mit den Augen, nicht wahr? Du verträgst kein Sonnenlicht.“

„Nein?“, erwiderte sie sarkastisch „Wie kommst du denn darauf?“

„Na, die Schule“, erwiderte ich. Schließlich durfte sie die Sonnenbrille im Unterricht tragen und dafür konnte es nur diese Erklärung geben. Ich hatte aber eine weitere Frage, die Frage, die mich schon seit dem ersten Schultag beschäftigte. „Wieso nennt dich in der Schule niemand bei deinem Namen?“

„Musst du sie fragen.“

„Kennen sie ihn denn überhaupt?“

Das Mädchen zögerte einen Moment, dann drehte sie sich weg und lief in Richtung Haustür.

„Nun sag schon!“, rief ich hinter ihr her.

„Steht doch an der Tür“, lautete ihre Antwort.

Ich strengte meine Augen an, aber natürlich war das Schild viel zu weit weg. Auf dem Briefkasten stand nur ein Name: Girsberger. Was war mit der Klingel? Am liebsten wäre ich hinterhergelaufen.

„Wie lautet dein Vorname?“, fragte ich auf gut Glück.

„Du weißt doch, wie sie mich nennen.“

„Das ist kein Vorname, das ist überhaupt kein Name. Kennen sie deinen Vornamen?“

Keine Antwort. Sie legte die letzten Schritte bis zum Hauseingang zurück. Da drehte sie sich noch einmal um. „Sie wissen ihn nicht.“

Damit verschwand sie im Haus und schloss die Tür hinter sich.

Was mich am meisten beschäftigte, war nicht ihre Antwort. Es war die Art und Weise, wie sie das Sie betont hatte.

„Sie wissen ihn nicht“, wiederholte ich leise vor mich im gleichen Tonfall hin. „Ich verstehe.“ Und das tat ich tatsächlich – ich verstand.

„Was war denn das für ein komisches Gespräch?“, fragte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah mich Anja gegenüber.

Ich zuckte mit den Achseln. „Hast du jemals ein normales Gespräch mit ihr geführt?“

„Genau genommen habe ich noch gar kein Gespräch mit ihr geführt“, erwiderte Anja.

„Na ja, eigentlich war es bei mir auch das erste richtige Gespräch. Sie spricht nicht viel.“

„Selbst wenn, käme sie bei dir eh kaum zu Wort. Wer tut das schon, so viel und so schnell, wie du sprichst?“ Anja lächelte mich mit gutmütigem Spott an.

„Wer es schafft, bei mir zu Wort zu kommen? Hm, lass mich mal nachdenken. Äh, du zum Beispiel!“

Als Antwort bekam ich von ihr einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Was sollte das eigentlich mit ‘Wir würden ihren Namen nicht kennen’?“

„Tun wir doch auch nicht“, erwiderte ich.

„Hallo!“, rief Anja und gab mir erneut einen Klaps auf den Hinterkopf. „Natürlich kennen wir ihren Namen. Du redest einen Stuss!“

„He, kannst du das mal lassen?“, schimpfte ich. „Was willst du überhaupt?“

„Malgorzata hat angerufen. Sie hat übermorgen Geburtstag. Sie darf ein paar Freunde einladen. Na ja. Jedenfalls hat sie mich eingeladen.“

„Und?“

„Und dich auch. Als ich dich gesehen habe, dachte ich, ich sag’s dir gleich.“

„Freunde? Und da lädt sie uns ein? Wir kennen sie doch kaum“, wunderte ich mich.

„Ich glaube, sie hat nicht so viele“, meinte Anja.

Damit dürfte sie recht haben. Malgorzata stand in der Pause meist alleine herum.

„Ich glaube, sie mag dich“, eröffnete mir Anja.

„Blödsinn!“, erwiderte ich.

„Doch, wirklich. Ein Mädchen spürt das. Und bei ihr hast du sicherlich bessere Chancen als bei Michelle.“

Ich wurde rot im Gesicht. Konnte man vor Anja denn gar nichts verbergen?

„Na, immerhin komme ich bei ihr besser an als du“, flunkerte ich. „Dich kann sie nämlich nicht ausstehen.“

„Beruht ganz auf Gegenseitigkeit. Aber ob das bei dir anders aussieht? Ich dachte, ich hätte da etwas gehört. Wie war das? Sie findet dich zum Kotzen oder so ähnlich?“

Ich verzichtete auf eine Antwort. So schlagfertig meine Antworten sonst ausfielen, bei Anja war es besser, sich zurückzuhalten. Sie konnte ganz schön austeilen, nicht nur mit dem Mund.

Anja hingegen fuhr fort: „Aber bei ihrer kleinen Schwester könntest du vielleicht landen. Wär sie was für dich?“

Das war eins zu viel. Also zahlte ich mit gleicher Münze zurück. „Ihr Vater will, dass ihr beide, du und Michelle, miteinander lernt. Wäre das was für dich? Au!“

Schon wieder hatte sie mir einen Klaps gegen den Hinterkopf versetzt, dieses Mal stärker als zuvor.

„Noch so ein Spruch und du kriegst wirklich Ärger.“

„Ja, ja, ist ja gut“, brummte ich verärgert. Für wen hielt die sich eigentlich? Für Special Agent Gibbs aus Navy CIS, der in den ersten Staffeln Special Agent DiNozzo solche Klapse auf den Hinterkopf gegeben hatte? Ich würde mal ein ernstes Wort mit ihrer Mutter reden müssen. Solche Krimiserien waren offensichtlich nichts für kleine Mädchen.

„Also ich geh heim, es gibt gleich Essen“, sagte Anja.

Ich beschloss, es ihr gleich zu tun. Ich hatte Hunger.

Hexe

Die zweite Schulwoche endete mit dem, womit die meisten Schulwochen enden: einem Freitag. Ich hatte in der Nacht vorher einen schönen Traum von Michelle und mir. Wir hatten mindestens einmal Händchen gehalten. Daher war ich am Morgen beim Aufstehen bester Laune, sodass ich meiner Schwester einen Kuss auf die Wange drückte, als sie endlich aus dem Badezimmer herauskam, obwohl sie wieder zehn Minuten länger drinnen war als abgesprochen. Ihrer Antwort, einer Ohrfeige, entging ich, indem ich unter ihrer Hand hinweg tauchte, ins Badezimmer huschte und die Tür hinter mir zusperrte.

Leider dachte ich nicht mehr daran, als ich etwa zwanzig Minuten später zum Frühstück hinunterging. Da bekam ich einen kräftigen Schlag von meiner Schwester gegen die Schulter, ausgerechnet die rechte, die mein Tischnachbar schon die ganzen zwei Wochen über mit einem Sandsack verwechselt hatte. Da ich nicht darauf vorbereitet war, zuckte ich vor Schmerz zusammen. „Au!“

„Was ist denn mit deinem Arm?“, fragte meine Schwester nun plötzlich besorgt.

„Nichts“, antwortete ich, doch strafte mich mein schmerzverzerrtes Gesicht Lügen.

Daher glaubte mir meine Schwester auch nicht und ehe ich‘s mich versah, krempelte sie den Ärmel meines Poloshirts hoch, mit dem ich die mittlerweile in verschiedenen Farben schimmernden Blutergüsse verdeckte.

Mit einer steilen Falte auf der Stirn betrachtete meine Schwester das Malheur. „Ich wusste ja, dass du einiges abkriegst, aber dass es so schlimm ist … Warum hast du mir nichts gesagt? Ich hätte mir den Mistkerl längst vorgeknöpft.“

Ich warf ihr einen scheelen Blick zu. Also mal ehrlich, hättet ihr es gern, wenn eure kleine Schwester euch gegen jemanden zu Hilfe kommen möchte, der euch Tag für Tag vermöbelt, um ihn ihrerseits aufzumischen? Wenn es ein großer Bruder wäre … Aber eine kleine Schwester? Dementsprechend lautete meine Antwort: „Nicht nötig, das schaffe ich schon allein.“

„Sieht aber nicht so aus“, antwortete sie.

„Es gibt Dinge, die ein Mann allein regeln muss“, verkündete ich daraufhin von oben herab.

Meine Schwester zuckte mit den Achseln. „Wie du meinst. Aber melde dich, wenn du es dir anders überlegst. Und warte nicht zu lang damit. Das hier sieht übel aus.“

Dann frühstückten wir beide – allein, denn wie jeden Morgen war unsere Mutter schon zur Arbeit gefahren und würde erst heute Abend zurückkommen. Anschließend machten wir uns auf den Weg zur Schule.

René saß schon an seinem Platz und empfing mich mit seiner üblichen freundlichen Art: „Morgen, Speckschwarte.“

„Morgen, Walross“, lautete meine nicht sonderlich kluge Antwort.

Sein Blick verhieß mir denn auch nichts Gutes. Trotzdem wagte ich es, eine Bitte zu äußern: „Können wir heute die Plätze tauschen?“

Verdattert sah er mich an. „Warum denn das?“

„Mein rechter Arm braucht eine Pause.“

„Ha!“, lachte René höhnisch auf. „Und warum sollte ich das tun?“

„Ganz einfach. Da mein Arm schon so mitgenommen ist, werde ich jedes Mal, wenn du auch nur leicht dagegen stößt, laut aufschreien. Und was glaubst du, wie lange du dann noch dein Boxtraining fortsetzen kannst, ohne dass Frau Lindenmann es spitzkriegt und du gewaltigen Ärger bekommst?“

„So groß wird der Ärger schon nicht sein. Mein Vater und der Schulleiter sind gute Kumpel“, lautete Renés unbeeindruckte Antwort. „Und außerdem ist mein Onkel der Gemeindepräsident.“

„Bitte, dein Risiko“, sagte ich scheinbar gleichgültig und fragte mich, was mit Gemeindepräsident gemeint war? Sicher irgendein hohes Tier.

René runzelte die Stirn, schob seine oberen Schneidezähne vor und knetete seine Unterlippe mit den Zähnen durch, womit er mich immer an das Foto eines Nacktmulls erinnerte, das ich in unserem Tierlexikon gesehen hatte. So intelligent wie der aus Kim Possible sah René nicht aus. Wie erwartet, dauerte das Denken geraume Zeit. Nach gefühlten drei Stunden – zumindest kam mir die halbe Minute so lang vor – glättete sich seine Stirn.

„Okay“, meinte er großzügig. „Wir tauschen.“ Bereitwillig räumte er seinen Platz.

Ich schien Eindruck auf ihn gemacht zu haben, denn obwohl er nun meine andere Schulter bearbeitete, tat er das längst nicht so ausgiebig wie in den Tagen zuvor.

Zu Beginn eines Schuljahrs ist vieles neu. Und so gab es nicht nur eine neue Schülerin und einen neuen Schüler in der Klasse, nämlich Anja und mich, sondern auch eine neue Lehrerin, Frau Rickenbach. Sie war Mitte vierzig, also uralt, ungefähr so groß wie ich und ihr Gesicht erinnerte mich an eine Kaulquappe. An diesem Freitag hatten wir zum ersten Mal Unterricht bei ihr, da sie zu Beginn des Schuljahrs krank gewesen war. Nachdem sie uns dazu aufgefordert hatte, ein Namensschild aufzustellen, als ob wir kleine Kinder wären, musterte sie uns kühl. Sie verzog missbilligend ihr Gesicht, als ihre Augen auf meine geheimnisvolle Beinahe-Nachbarin im schwarzen Look fielen, die erneut ein Rüschenkleid anhatte, aber ein anderes als am Abend zuvor.

„Du da, Mädchen ganz hinten, wie heißt du?“, blaffte sie sie an.

„Meinen Sie mich, Frau Rickenbach?“, fragte das Mädchen in Schwarz höflich.

„Genau, dich. Also, wie heißt du?“

„Die anderen Schüler nennen mich Andersmädchen. Deswegen habe ich das auf mein Namensschild geschrieben.“

Wieder einmal breitete sich Gekicher im Klassenraum aus.

„Andersmädchen? Das ist doch kein Name! Wieso nennen sie dich so?“

Das Andersmädchen zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht, fragen Sie sie doch selbst.“

„Wieso nennt ihr sie nicht bei ihrem Namen? Wieso nennt ihr sie Andersmädchen?“, herrschte sie uns an.

Es folgte betretenes Schweigen.

„Was ist?“, fragte Frau Rickenbach. „Warum nennt ihr sie Andersmädchen? Heraus mit der Sprache!“

René neben mir räusperte sich. „Nun, vielleicht weil sie anders ist?“

Die ganze Klasse lachte los. Urs und Nick, Renés Freunde, besonders laut.

„Also das ist doch …! Ruhe! Sofort! In Zukunft redet ihr sie mit ihrem Namen an!“

„Oh, mir macht das nichts aus“, meldete sich das Andersmädchen wieder zu Wort.

„Aber mich!“

„Aber mir!“, verbesserte Anja.

„Was?“ Frau Rickenbach sah Anja verwirrt an.

„Es heißt aber mir, Dativ.“ Anja lächelte freundlich.

Die Reaktion bestand wieder aus verhaltenem Kichern.

„Ich brauche deine Verbesserungen nicht. Ich werde ja wohl besser Deutsch können als eine dumme kleine Schülerin!“, fuhr sie Anja an.

„Ich wollte nur helfen“, antwortete Anja äußerlich ruhig, aber ihre Augen blitzten vor Zorn.

„Übertreib es nicht. Du würdest es bereuen“, drohte Frau Rickenbach. Dann drehte sie sich wieder zu dem Andersmädchen. „Aber mich“, wiederholte sie, wobei sie das mich demonstrativ betonte, „stört es. Also sag mir bitte, wie du heißt.“

„Ihre Kollegen nennen mich Elle“, erwiderte daraufhin das Mädchen.

„Elle? Na also. Dann nennt sie gefälligst Elle. Und du schreibst das auf dein Namensschild.“

Alles in mir sträubte sich, sie Elle zu nennen. Sie war keine Elle, ganz sicher nicht. Das murmelte ich auch vor mich hin. Das Andersmädchen musste Ohren wie ein Luchs haben, denn sofort wendete sie sich mir zu und musterte mich mit ausdruckslosem Gesicht. Zumindest kam es mir so vor. In Wahrheit war es schwer zu sagen, was sie musterte, da ich ihre Augen aufgrund der dunklen Sonnenbrille nicht sehen konnte. Und noch jemand schien über ausgezeichnete Ohren zu verfügen: Auch Michelle sah zu mir herüber.

„Nun, Elle, ich wäre dir sehr verbunden, wenn du dich in Zukunft für die Schule anders kleiden würdest“, fuhr Frau Rickenbach fort.

„Wieso? Was ist mit meiner Kleidung nicht in Ordnung?“

„Nun, sie ist so seltsam, so düster, so …“

„Anders?“, half René aus und die ganze Klasse brüllte los.

Obwohl, nicht die ganze Klasse, die vier Mädchen im Mittelteil meiner Reihe, also Anja, Michelle, ihre beste Freundin Franziska und das Mädchen neben ihr, Malgorzata, lachten nicht und ich natürlich auch nicht.

Es dauerte ein Weilchen, bis Frau Rickenbach für Ruhe gesorgt hatte. Seltsamerweise rügte sie René nicht für seinen Einwurf.

Frau Rickenbach wandte sich erneut dem Andersmädchen zu. „Zieh doch etwas anderes an, etwas Farbiges, vielleicht etwas Rotes oder Gelbes. Das würde gut zu deinem schwarzen Haar passen.“

„Ich ziehe aber Schwarz vor. Und Sie können mir das nicht verbieten. Meine Kleidung muss nur anständig sein, und das ist sie.“

„Anständig?“ Die Lehrerin musterte zweifelnd das altmodisch wirkende Rüschenkleid. „Nun gut. Bei der Kleidung kann ich vielleicht nichts machen. Allerdings, wenn du bei mir im Unterricht bist, möchte ich deine Augen sehen. Also nimm deine Sonnenbrille ab. Die brauchst du hier nicht.“

„Das werde ich nicht tun“, erwiderte das Andersmädchen entschlossen.

„Oh doch, das wirst du!“ Der Ton von Frau Rickenbach wurde schärfer.

„Sie können mich dazu nicht zwingen!“, sagte das Andersmädchen zunehmend aggressiv.

„Und ob ich das kann. Wenn du nicht eine Stunde nachsitzen willst, nimmst du sie jetzt ab.“

In der Klasse war es auf einmal mucksmäuschenstill geworden. Alle hielten den Atem an und fragten sich, wer sich durchsetzen würde. Das war eine klare Machtprobe und Frau Rickenbach schien fest entschlossen, sie zu gewinnen.

„Sie können mir das nicht vorschreiben. Sie dürfen es nicht.“ Das Andersmädchen war offensichtlich nicht bereit, nachzugeben.

„Das hast nicht du zu bestimmen, was ich kann oder darf. Ich bin hier die Lehrerin!“

„Ich habe die Erlaubnis, diese Brille zu tragen. Sehen Sie nach! Auf der Klassenliste ist es ausdrücklich vermerkt.“

„Rede keinen Unsinn und nimm endlich die Brille ab! So langsam verliere ich die Geduld mit dir.“

„Sehen Sie nach!“, verlangte das Andersmädchen noch einmal.

„Also gut, aber dort wird nichts stehen, ich …“ Sie stockte, den Blick auf die Liste gerichtet, die sie soeben ergriffen hatte. „Wie…, wieso?“, fragte sie fassungslos.

„Das brauchen Sie nicht zu wissen. Es ist jedenfalls so und es gibt Gründe“, war alles, was das Andersmädchen darauf antwortete.

Die Klasse drehte sich neugierig zu ihr um, mit einer Ausnahme: Michelle schaute stur geradeaus.

„Ich hab es doch gesagt!“, meldete sich René zu Wort. „Sie ist anders!“

„And…“ Frau Rickenbach schüttelte sich. „Das ist Unsinn! Sie ist nicht anders! Vielleicht leidet sie unter einer Augenkrankheit.“

„Nein, Frau Rickenbach. Sie ist anders! Sie ist mehr als das! Sie ist böse!“, rief Michelles beste Freundin Franziska. Erstaunt schaute ich zu ihr.

„Was redest du denn da? Was soll das? Sie ist doch nicht böse.“

Frau Rickenbach war nun völlig verwirrt. Ich ebenfalls und wohl auch Anja. Die anderen allerdings nicht. Zwar schauten alle zu Franziska, aber aus den Gesichtern, die ich sehen konnte, las ich … Zustimmung.

„Sie hat den bösen Blick. Wenn sie einen böse ansieht, passieren schlimme Dinge“, legte Franziska nach. Einige andere nickten dazu.

„Das ist vollkommener Unsinn. Was redest du denn da?“

„Sie hat wirklich den bösen Blick! Das müssen Sie mir glauben.“ Bei diesen Worten war Franziska aufgestanden.

Ausgerechnet Michelle stellte sich daraufhin gegen sie. „Hör auf, Franzi! Du redest Blödsinn! Sie hat keinen bösen …“

Aber Franziska ließ sie nicht ausreden. „Nein, das tue ich nicht! Es muss endlich einmal gesagt werden. Offen! Wir wissen es doch eh alle. Sie ist böse und“, bei diesen Worten drehte sich Franziska um, deutete mit dem Finger auf das Andersmädchen und rief mit einer hasserfüllten Fratze: „sie ist eine Hexe!“

An Franziska vorbei traf mein entsetzter Blick auf den von Anja. Wo waren wir da nur hingeraten?

„Wo sind wir da nur hingeraten?“, fragte meine Schwester beim Mittagessen, einem Gemüseeintopf. Unsere Mutter hatte ihn am Abend vorher vorbereitet, sodass wir ihn nur aufzuwärmen brauchten. Franziskas Auftritt war in den Pausen Schulgespräch. Nicht nur das. Von allen Seiten hatte man uns zugetextet, um uns davon zu überzeugen, dass das Andersmädchen eine Hexe war.

Ich schüttelte zur Antwort den Kopf.

„Es ist nicht zu fassen“, meinte meine kleine Schwester. „Da stolpert jemand und die meinen, Elle sei dafür verantwortlich, weil der oder die Betreffende sie mal schief angeguckt hat. Wahrscheinlich geben sie ihr auch die Schuld, wenn die Milch sauer wird.“

„Lach nicht, das tun sie. Das hat diese Corinna, ein Bauernmädchen aus der ersten Oberstufe, behauptet.“

„Oh Gott, das ist ja krank. Das ist Aberglaube pur, finsterstes Mittelalter.“ Meine Schwester schüttelte sich. „Obwohl, eigentlich erlebte die Hexenverfolgung erst danach ihren Höhepunkt.“

„Hat nicht die letzte Hexenverbrennung in der Schweiz stattgefunden? Ich habe da mal so was gehört.“ Ich schnappte mir mein Smartphone und gab als Suchbegriff ‘letzte Hexe’ ein. Wenige Sekunden später las ich die Antwort laut vor. „Da haben wir‘s ja schon. Der letzten legalen Hexenhinrichtung fiel eine Anna Göldi zum Opfer, das war am 13. Juni 1782 in Glarus. Aber verbrannt haben sie die nicht, sondern mit dem Schwert geköpft.“1

„Na, das ist ja ein großer Unterschied“, brummte meine Schwester.

„Sind die in der Schweiz alle so rückständig und abergläubisch?“, fragte Anja am nächsten Tag auf Malgorzatas Geburtstagsparty.

„Quatsch!“, antwortete Kevin. „Natürlich nicht.“

Kevin, neben Malgorzata der Klassenbeste, stellte das Glas Limo zurück auf den Schreibtisch. Zu fünft hatten wir uns auf den verschiedenen Sitzmöglichkeiten in Malgorzatas Zimmer verteilt. Meine Schwester und ich hatten dabei zusammen mit Malgorzata auf ihrem Bett Platz genommen. Kevin und Ben saßen auf Stühlen.

„Hier bei uns glauben die Menschen ebenso wenig an Hexen wie in Deutschland“, fuhr Kevin fort. „Gut, ein paar Spinner gibts immer, die andere oder sogar sich selbst dafür halten.“

„Welche, die sich selbst dafür halten? Das sind ja noch größere Idioten.“ Anja tippte sich gegen die Stirn.

„In Afrika ist der Hexenglaube gerade in ländlichen Gebieten noch sehr verbreitet“, warf Ben, ein gut aussehender dunkelhäutiger Junge aus unserer Klasse, ein. Ich tat mich immer schwer, mir zu merken, aus welchem Land er stammte. Ach ja, aus Gabun, wie Aubameyang, der Superstürmer, der lange Jahre in Dortmund gespielt hatte. Nicht, dass ich mich besonders für Fußball interessierte, aber da sich meine Schwester für alles, was mit Sport zu tun hatte, begeisterte, kam ich gar nicht umhin, da so einiges aufzuschnappen.

„Ich dachte eigentlich, wir wären hier in der Schweiz und nicht in Afrika“, wandte ich ein.

„Für die meisten Menschen allerdings ist der ganze Hexenglaube nur Humbug“, dozierte Kevin weiter.

„Da hatte ich heute einen ganz anderen Eindruck“, meldete sich Anja wieder zu Wort.

„Ausnahmen bestätigen die Regel. Wobei es hier schon krass ist“, gab Kevin zu.

„Das kannst du laut sagen. Die ganze Klasse scheint zu glauben, Elle sei eine Hexe. Die reden vom bösen Blick, als ob es so etwas wirklich geben würde.“ Anja konnte es noch immer nicht fassen.

Malgorzata schüttelte den Kopf und schaute uns durch ihre dicke Brille an. „Es ist nicht die ganze Klasse. So was verbreiten vor allem Franziska und ihr Freundeskreis, der leider groß und einflussreich ist. Ich meine, die haben hier das Sagen. Die sind halt hip und so. Aber wie viele daran ernsthaft glauben, kann ich nicht einschätzen.“

„Der Freundeskreis von Franziska? Was laberst du denn für einen Mist? Das kann ja wohl nicht sein. Michelle hat ihr doch widersprochen“, verteidigte ich meine große Liebe.

„Mann, wir wissen ja, du stehst voll auf sie“, mischte sich Ben ein. „Aber so unschuldig, wie du meinst, ist deine Michelle nicht an der ganzen Schei…“ Ben warf einen verunsicherten Blick in Richtung offener Tür. Offenbar wollte er nicht von Malgorzatas Mutter beim Aussprechen solcher Worte gehört werden und verbesserte sich daher: „Äh, ich meine, an der unglücklichen Lage.“

„Quatsch mit Soße. Ich steh doch gar nicht auf Michelle“, wehrte ich ab, während sich mein Gesicht in Sekundenschnelle einer überreifen Tomate anglich.

Die anderen lächelten mich nachsichtig an und Anja, die neben mir saß, tätschelte mir die Schulter. „Thomas, die ganze Klasse weiß, dass du in Michelle verschossen bist.“

„Was? Woher? Hat Michelle das gesagt?“

„Hat sie nicht. Niemand hat was gesagt. Aber um das zu wissen, muss man nur sehen, mit welch verklärtem Blick du Michelle anstarrst. Man könnte meinen, du hättest eine Erscheinung.“ Malgorzata lächelte mich wehmütig an.

„Ich hätte da eher von Stielaugen gesprochen“, meinte meine Schwester.

Das wurde jetzt zu gefährlich. Ich wollte mich hier nicht vor versammelter Mannschaft über meine Gefühle für Michelle auslassen. „Das ist Unsinn!“, rief ich, ehe ich mich wieder unserem ursprünglichen Thema zuwandte, das allerdings auch mit Michelle zu tun hatte. „Was hast du eben gemeint, Kevin?“

„Eigentlich hat sie mit dem ganzen Hexenquatsch angefangen, besser gesagt, alle beide, also Michelle und Elle“, berichtete Kevin. „Die beiden hatten vor etwas mehr als einem Jahr, am Ende der 6. Klasse, einen Riesenkrach miteinander.“

„Sie heißt nicht Elle“, widersprach ich leise.

Meine Schwester gab mir einen Stoß zwischen die Rippen, damit ich still war. Dann fragte sie: „Hat Elle schon damals ihr, sagen wir mal, etwas spezielles Outfit getragen?“

Malgorzata nickte: „Ja, ich kenn sie nur so. Immer ganz in Schwarz, mit Sonnenbrille und all dem anderen.“

„Wobei der Krach nichts Besonderes war. Damals hatten die beiden sich ständig in der Wolle. Das war schon so, als sie zu uns in die Klasse kamen“, ergänzte Kevin.

„Wann war das denn??“, wollte Anja wissen.

„Das war noch in der Primarschule, vor eineinhalb Jahren, in der 6. Klasse“, erwiderte Kevin.

„Nicht zu Schuljahresbeginn wie ihr, sondern nach den Weihnachtsferien“, fügte Ben hinzu.

„Beide gleichzeitig?“, fragte ich erstaunt.

„Beide gleichzeitig“, bestätigte Ben.

„Dass es nicht zu Schuljahresbeginn sein konnte, war doch klar, sonst hätte Kevin nicht gesagt, dass es vor eineinhalb Jahren war.“

Mit einem Verdrehen der Augen reagierten die anderen auf Anjas Worte. Von Bens Seite hörte ich ein leise gemurmeltes „Besserwissi“.

Ich dagegen fasste es laut in Worte: „Anja, nerv nicht!“

„Wenn hier einer ständig nervt, bist das ja wohl du!“, lautete die wenig freundliche Antwort Anjas.

Malgorzata unterbrach unseren Streit: „Dürfen wir bitte weitererzählen, oder interessiert es euch nicht mehr?“

Wir verstummten.

„Worum es bei dem Streit eigentlich ging, wissen wir nicht. Kevin, ich und ein paar weitere aus unserer Klasse waren auf dem Heimweg vom Sportplatz. Dort hatte ein Kinderfest stattgefunden“, erzählte Malgorzata. „Dabei sind wir an Elles Haus vorbeigekommen. Plötzlich hat sich die Tür geöffnet und Michelle kam herausgestürzt. Elle folgte ihr auf dem Fuß und wollte sie von irgendetwas abhalten. Da hat Michelle sich noch auf dem Vorgartenweg umgedreht und geschrien: ‘Was willst du dagegen tun?! Willst du mich jetzt verhexen oder was?!’“

„Ich denk noch, wie ist die denn drauf“, fuhr Kevin fort, „als Elle auch schon zurückbrüllt: ‘Das kannst du gerne haben, wenn du willst.’“

„Sie heißt nicht Elle“, sagte ich nun lauter als zuvor.

Kevin sah mich irritiert an, ließ sich aber nicht ablenken. „Franziska war auch dabei und die war schon immer ‘ne abergläubische Tante. Jedenfalls hat sie Michelle gefragt, wie sie denn das meine, und die brüllt immer noch voll wütend: ‘Wie soll ich das schon meinen! Das ist ‘ne ganz miese Hexe. Pass bloß auf, sonst verhext sie dich auch.’ Elle hat daraufhin geschrien: ‘Ich bin mies?! Und was ist mit dir?! Du gibst mir die Schuld an …’ Aber da ist ihr Michelle ins Wort gefallen und hat noch viel lauter gebrüllt: ‘Du bist schuld!’“

„Schuld? Woran?“, wollte Anja wissen.

„Keine Ahnung“, gab Malgorzata zu. „Wir haben sie später gefragt, alle beide, aber sie wollten nicht mit der Sprache rausrücken.“

„Elle hat sie jedenfalls ganz böse angesehen“, fuhr Kevin fort. „Mann, ich kann dir sagen, wenn Blicke töten könnten, wäre Michelle auf der Stelle tot umgefallen. Und dann ist was Merkwürdiges passiert: Plötzlich macht es Platsch, Michelle kreischt auf und fährt sich mit den Händen in die Haare. Und da hatte sie Vogelscheiße dran.“

„Echt? Iiih!“ Anja schüttelte sich.

„Da ist Michelle erst richtig ausgetickt. Sie hat Elle rüde beschimpft und gedroht, dass sie es ihrem Vater erzähle und dass ihre Mistviecher Geschichte seien. Elle war ganz erschrocken: ‘Das war ich nicht. Du kannst doch nicht glauben, dass ich …’ Aber Michelle hat sie gleich unterbrochen: ‘Hör endlich auf zu lügen! Habt ihr gesehen, was diese bösartige Hexe gemacht hat? Die gehört doch glatt verbrannt!’“

Ich war entsetzt. Meine süße Michelle sollte so etwas Schlimmes gesagt haben?

„Elle wurde daraufhin ganz weiß im Gesicht. ‚Gehör ich das?!‘, hat sie geschrien. ‚Dann für etwas, das ich wirklich getan habe.‘ Und dann macht sie so ‘ne schnelle Handbewegung und Michelle stolpert und fällt in den Dornenbusch, der vor Elles Haus wächst, sodass sie total zerkratzt ist. Sie hat geschrien wie am Spieß und Elle ist wutentbrannt ins Haus zurück und hat die Tür hinter sich zugeknallt“, beendete Kevin seine Geschichte.

„Das erfindest du jetzt“, vermutete Anja.

„Das war genauso, wie ich es gesagt habe“, widersprach ihr Kevin.

„Ihr wollt doch nicht sagen, Elle kann wirklich zaubern?“

„Das nicht, obwohl, damals waren wir schon … Na, es ist ja gespenstisch, dass das genau in dem Moment passiert ist.“ Malgorzata schauderte.

„Zufall“, meinte meine Schwester.

„Vielleicht“, antwortete Malgorzata. Auf Anjas verärgerten Blick hin verbesserte sie sich: „Wahrscheinlich. Für Franziska und ihre Freundinnen jedenfalls war klar: Elle ist eine böse Hexe.“

„Und Michelle?“, fragte ich nun.

„Das war merkwürdig. Man hätt ja denken können, dass sie das mit der Hexe nun erst recht anbringt, aber sie hat von da an nie wieder etwas davon gesagt. Sie hat zwar meistens nicht widersprochen, wenn andere sie so genannt haben, aber sie selbst hat Elle nie wieder als Hexe bezeichnet. Und seitdem haben sich die beiden auch nicht mehr richtig gezofft“, fuhr Kevin fort.

„Na, Freundinnen scheinen sie ja nicht gerade zu sein“, warf Anja ein.

„Oh, sie können sich nicht riechen. Daraus machen sie auch keinen Hehl. Aber sie streiten sich nicht mehr, nicht so wie damals.“

Das alles war mehr als seltsam, das musste ich zugeben.

„Äh, woher wisst ihr das eigentlich noch so genau?“, fragte da meine Schwester. „So, wie ihr das gerade erzählt habt, könnte man meinen, ihr hättet die Auseinandersetzung Wort für Wort wiedergegeben.“

Malgorzata und Kevin sahen sich an.

„Haben wir auch mehr oder weniger“, meinte dann Malgorzata. „Kevin wollte uns damals gerade die Kamerafunktion seines neuen Smartphones vorführen. Und so hat er das Ganze als Film aufgenommen und auf seinem Computer gespeichert. Wir haben es vorhin erst noch einmal angesehen. Kevin hat einen USB-Stick dabei.“

Ich überlegte, ob ich sie bitten sollte, mir diesen USB-Stick zu leihen. Darüber hinaus fragte ich mich, woran Michelle dem Andersmädchen die Schuld gab. Ich hatte das Gefühl, da steckte eine ernste Sache dahinter, wenn die beiden Mädchen tatsächlich so heftig gestritten hatten. Aber was?

Meine Gedanken wurden durch ein Türklingeln unterbrochen. Malgorzata stand auf und wollte aus ihrem Zimmer gehen, um zu öffnen. Aber ihre Mutter war offenbar schneller gewesen, denn schon hörten wir Stimmen, zwei dunkle und mehrere helle, die Begrüßungsworte austauschten.

„Oh Freude“, sagte ich laut.

„Oh ja, unsere besondere Freundin ist auch dabei“, meinte Anja zynisch, denn soeben ertönte Michelles Stimme.

Das war die gute Nachricht – aus meiner Sicht, nicht aus ihrer. Die schlechte Nachricht von meiner Warte aus bestand darin, dass eine dunkle Stimme René gehörte.

Malgorzata sah Anja und mich von der Tür her entschuldigend an. „Na ja, Franziska sitzt ja neben mir, da dachte ich, ich müsste auch sie einladen. Und sie wollte nicht ohne Michelle.“

„Oh, wegen Michelle brauchst du dich bei Thomas bestimmt nicht zu entschuldigen“, trat Anja nach.

„Und wieso ist René dabei? Mit dem bist du doch wirklich nicht befreundet!“, fasste ich die allgemeine Begeisterung in Worte. Von uns gehörte keiner dem Freundeskreis von René an.

Malgorzata wirkte selbst unglücklich. „Der hat gehört, wie ich Franziska eingeladen habe, und sich quasi selbst eingeladen. Und ich habe mich nicht getraut, Nein zu sagen.“

„Das hätte ich mich auch nicht“, beruhigte Kevin sie. „Wir überleben ihn ja in der Schule, da werden wir ihn auch hier überstehen. Wenigstens sind seine Freunde Urs und Nick nicht dabei.“

Ich seufzte stumm. Der hatte leicht reden, der musste in der Schule ja nicht neben ihm sitzen. Um mir zuzusetzen, brauchte er seine Freunde jedenfalls nicht, die durften mit ihm zusammen nur andere Mitschüler wie Kevin und Ben quälen.

In diesem Augenblick kam Malgorzatas Mutter mit einem etwa fünfzehnjährigen Jungen herein.

„Hallo, ich bin Marek“, sagte er mit einer tiefen Stimme. Das Reden fiel ihm nicht leicht. „Jetz gibs Kuchen und dann wollen wir spielen.“

Überrascht sahen wir ihn an. Da lief er auf Anja zu, fasste sie an der Hand und sagte: „Du bis schön, du darf neben mir sitzen.“

„Marek“, sagte Malgorzatas Mutter und lächelte entschuldigend. „Du weißt doch gar nicht, ob das Mädchen das will.“

„Oh, kein Problem“, antwortete da Anja und lächelte Marek an. „Ich setze mich gern neben dich. Mein Name ist Anja.“

„Fein. Ich bin Marek“, antwortete der Junge und zog Anja, die sich mittlerweile erhoben hatte, hinter sich her.

Wir folgten langsamer. Malgorzata lächelte uns nun ihrerseits entschuldigend an. „Marek ist mein Bruder.“

„Das ist ja ein Mongo“, sagte eine Stimme verächtlich vor uns.

Wir alle schauten Franziska vorwurfsvoll an.

Meine Befürchtungen wegen René waren unbegründet. Er ließ mich in Ruhe. Ehe es jemand von uns hätte verhindern können, setzte er sich am großen Wohnzimmertisch auf die andere Seite von Marek. Da ich neben Anja Platz nahm, war ich weit genug von ihm entfernt. Gegenüber von Anja kam ausgerechnet Michelle zum Sitzen. Ich musste beide dafür bewundern, wie sie es schafften, sich während des Essens nicht ein einziges Mal anzusehen. Zu mir sah Michelle ebenfalls nicht. Alle Versuche meinerseits, ein Gespräch mit ihr anzufangen, ignorierte sie. Sie unterhielt sich anfangs vor allem mit Franziska, aber die hatte nichts Besseres zu tun, als zu mosern und zu stänkern.

„Wir hätten nicht kommen sollen. Das sind ja alles nur Omegas!“ Dazu machte sie abfällige Bemerkungen über Malgorzatas behinderten Bruder.

Daraufhin wandte sich Michelle schon bald von ihr ab und redete mit ihrer anderen Tischnachbarin, dem Geburtstagskind Malgorzata. Auch wir anderen hatten keine große Lust auf ein Gespräch mit Franziska. Daher blieb sie bald sich selbst überlassen, was ihre Miene immer missmutiger werden ließ. Ich unterhielt mich hauptsächlich mit Anja und ein wenig mit Marek, dessen sonniges Gemüt einem das Herz aufgehen ließ, wenn man nicht so mies drauf war wie Franziska.

An diesem Tag musste ich erstmals feststellen, mein Feind René hatte auch positive Seiten. Er benahm sich Marek gegenüber ausgesprochen nett, schon bald redeten die beiden miteinander, als seien sie seit Jahren die besten Kumpel. Ich konnte mich nur wundern.

Das Essen zog sich hin, weil Malgorzatas Mutter nicht nur eine Unmenge der verschiedensten Kuchen und Torten aufgetischt hatte, sondern auch noch eine ausgezeichnete Bäckerin war.

Mein Erstaunen kannte keine Grenzen mehr, als es zu den Spielen nach dem Kuchenessen ging. Marek wollte unbedingt Blinde Kuh spielen. Abgesehen von Franziska machten wir alle mit. Entgegen meiner Erwartung, das würde voll öde sein – wir waren schließlich keine kleinen Kinder mehr –, hatten wir alle Riesenspaß. Das lag vor allem an Marek und – so ungern ich es zugebe – René, der sich als Stimmungskanone erwies und jedes noch so kindische Spiel in eine Mordsgaudi verwandelte. Nur Franziska muffelte schlecht gelaunt in einer Ecke vor sich hin und beschäftigte sich mit ihrem Smartphone. Wahrscheinlich chattete sie mit ihren Freundinnen.

Als es nach zwei Stunden noch einmal klingelte, achteten wir nicht weiter darauf. Wenige Augenblicke später führte Malgorzatas Mutter den verspäteten Gast herein. Schlagartig war das Spiel vergessen und wir starrten alle den Neuankömmling an. Nur Marek verstand nicht, was los war.

Dann entdeckte er den späten Gast, lief lächelnd auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich. „Wer bis du denn? Ich bin Marek.“

Sie lächelte ihn freundlich an. „Hallo Marek, ich bin …“

In diesem Augenblick ertönte ein schriller Schrei. „Was macht die denn hier?! Du hast doch nicht etwa auch noch die eingeladen?! Als ob es nicht schon schlimm genug wäre mit all den Losern und deinem Mongobruder. Aber diese miese Hexe, das ist ja wirklich das Letzte!“

Entgeistert sahen wir alle Franziska an.

Das Gesicht des Andersmädchens war blass geworden. Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um, drückte der entsetzten Mutter von Malgorzata ein Geschenkpaket in die Hand und verließ die Wohnung.

Keiner von uns sagte ein Wort. Franziska öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, als sie unsere Blicke bemerkte. Nach kurzer Zeit kam ein verunsichertes „Was ist denn? Warum schaut ihr mich so an?“

Es war ausgerechnet Michelle, die das Schweigen brach. „Weißt du was? Wenn dich hier alles so anwidert, warum gehst du dann nicht einfach?“

„Was? Ich soll gehen? Warum denn?“, fragte Franziska verständnislos.

„Geh einfach!“, forderte Michelle drängend.

„Okay. Gehen wir. Hier ist es eh voll öde.“ Sie schnappte sich ihre Jacke und ihr Handtäschchen und drehte sich zu Michelle um. Erstaunt merkte sie, dass ihre Freundin keinerlei Anstalten machte, ebenfalls ihre Sachen zu holen. Nach einer kurzen Pause fragte sie verunsichert: „Was ist? Kommst du nicht mit?“

„Nein, und jetzt verschwinde!“

„Aber was ist denn los? Was hast du denn?“ Franziska verstand offenbar die Welt nicht mehr.

„Verschwinde einfach!“ Als Franziska immer noch nicht reagierte, fügte sie hinzu: „Wir können morgen miteinander chatten.“

„Aber wir können doch nachher …“

„Ich sagte, morgen!“, unterbrach sie Michelle scharf.

Franziska schien endlich zu begreifen und zog ohne Gruß ab. Michelle sah uns an und lächelte gezwungen. „Kommt, machen wir weiter. Wer war dran?“

Leider kam keine rechte Stimmung mehr auf, daher endete die Party vorzeitig. Eine halbe Stunde später gingen die meisten in kurzen Abständen nach Hause, nachdem sie sich herzlich von Malgorzata und ihrer Familie verabschiedet hatten. Auch meine Schwester zog es heim, aber ich wollte unbedingt die Gelegenheit nutzen, mit Michelle nach Hause zu gehen, und so blieb ich, denn sie wollte nicht gehen. Und da ich blieb, blieb Anja ebenfalls. Bald wurde klar, warum Michelle sich nicht entschließen konnte, aufzubrechen. Sie wollte sich bei Malgorzata und ihrer Familie für den Eklat entschuldigen, den es gegeben hatte. Ich fand das mehr als anständig von ihr, denn schließlich konnte sie nichts für das Verhalten ihrer Freundin. Und ich konnte verstehen, dass sie diese Entschuldigung nicht vor der versammelten Mannschaft abgeben wollte.

„Nimm es nicht persönlich, Malgorzata. Du weißt doch selbst, Franziska hat einfach wahnsinnige Angst, ich meine, du weißt schon, vor ihr. Sie ist besessen von dieser Hexensache und schiebt Panik, wenn sie sie nur sieht.“

Das war meiner Meinung nach kein Grund, so auszurasten, denn Panik, das konnte sie ihrer Oma erzählen, aber nicht uns. Das war abgrundtiefer Hass und nichts anderes. Und für den Mongo und die Loser und ihr abweisendes und beleidigendes Verhalten vorher war das erst recht keine Entschuldigung.

Ich flüsterte Anja zu: „Siehst du? Michelle nennt sie auch nicht Elle, sie nennt sie auch nicht Andersmädchen, aber sie nennt sie nicht Elle. Sie gibt ihr überhaupt keinen Namen.“