Das Apfelblütenfest - Carsten Henn - E-Book
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Das Apfelblütenfest E-Book

Carsten Henn

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Beschreibung

Eine ergreifende Liebesgeschichte vor der malerischen Kulisse der NormandieJules war neun Jahre alt, als er eine Stellenanzeige in den größten und schönsten Baum im Apfelhain der Familie ritzte. Er suchte damals eine Haushälterin für seinen Vater, dem nach dem Tod seiner Frau alles über den Kopf wuchs. Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen, Jules' Vater ist längst tot, und er selbst hat widerwillig den Hof übernommen, auf dem Calvados und Cidre produziert werden. Und plötzlich bewirbt Lilou sich um die längst vergessene Stelle, eine fröhliche, eigensinnige junge Frau, die in dem kleinen Ort an der französischen Küste als Heilpraktikerin arbeitet. Nach und nach öffnet sie Jules das Herz, für die Schönheit der Natur und auch für die Liebe. Doch allzu schnell müssen die beiden erkennen, wie zerbrechlich Liebe sein kann, wenn das Schicksal eingreift ... »Ideal für gemütliche Sommer-Abende.« Freundin »Eine schöne Liebesgeschichte« Westdeutsche Allgemeine Zeitung Vollständig überarbeitet und mit wunderschönem neuen Cover

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This one goes out to the one I love.

© Piper Verlag GmbH, München, 2016, 2022

Dieser Roman erschien erstmals 2016 im Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München, und wurde für die 2022 erscheinende Ausgabe vom Autor überarbeitet

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin

Covermotiv: Abbildungen von Lisa Audit licensed by Wild Apple und Nic Taylor/Getty Image

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Ich werde Dir …

Prolog

Der alte Apfelbaum …

Vierundzwanzig Jahre später

Apfelblüte

Der Hals wird warm …

Die Villa

Zuckersüß der Apfel …

Wellen

Sternschnuppen trinken …

Windstill

Die Sonne lacht im Mund …

Die Wärme der Blumenküste

Die Äpfel wachsen …

Der nächste Tag

Mademoiselle

Ein Schluck ist schnell fort …

Der erste Tag

Der Wind jagt den Vogel …

Strohmenschen

Der Schaum steigt auf …

Suchscheinwerfer

Die Blüten strecken …

Viereinhalb Wochen später

Der Duft deiner Küsse

Der Calvados zu jung …

Modell Charleston

Jahr um Jahr hinter Glas …

Vom Öffnen der Flasche

Die Blüte stirbt ab …

Drei Wochen später

Kleiner Vogel

Epilog

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Ich werde Dir Perlen aus Regen schenken,

die aus Ländern kommen,

in denen kein Regen fällt.

Ich werde in der Erde graben

bis ans Ende meines Lebens,

um Dich in Gold und Glanz zu hüllen.

Ich werde Dir ein Reich schaffen,

wo die Liebe regiert,

wo die Liebe Gesetz ist,

wo Du Königin bist.

Jacques Brel, »Ne me quitte pas«

Prolog

Er war der größte und mächtigste Baum im Apfelhain. Kein anderer rund um Beuvron-en-Auge streckte seine alten, knorrigen Äste so weit in den Himmel, keiner verzweigte sich so oft, keiner hatte ein Blätterdach, das es mit dem Kirchengewölbe von Saint-Étienne de Caen aufnehmen konnte. Die Blätter lagen so dicht an dicht, dass der Schatten darunter stets tief wie die Dämmerung war und dass man geborgen unter dieser Kuppel die Welt nur noch gedämpft wahrnahm. Äpfel trug er nur noch wenige, doch Jules Ligniers Vater brachte es nicht über das Herz, ihn zu fällen, denn sein Sohn liebte den Baum so sehr, weil er sich einst darin ein Baumhaus errichtet hatte, ganz oben, wo die Äste immer schmaler wurden, bis sie schließlich ganz verschwanden. Niemand wusste, wie alt der Baum war, doch alle kannten seinen Namen. Sie nannten ihn Louis XIV., weil keiner so viel Sonne abbekam wie er. Den alten Louis.

Jules rannte.

Er rannte, seit er an diesem Morgen ganz früh aus der Haustür des Gehöfts seiner Familie getreten war. Keinen Schritt war er gegangen, jeden gerannt. Er wollte zum alten Louis. So schnell wie möglich. Denn Jules war am Abend zuvor, beim Einschlafen, eine Idee gekommen.

Eine Idee, so glühend, so drängend, wie sie nur einem Neunjährigen kommen konnte. Eine Idee, die seine Welt wieder ins Lot setzen würde. Sie war ganz einfach, doch es war die richtige, das spürte er. Jules hatte nicht mehr schlafen können, nachdem sie ihm eingefallen war. Um die Stunden der Unruhe herumzubekommen, hatte er mit seiner kleinen roten Plastiktaschenlampe versucht, unter der Bettdecke zu lesen, Asterix und der Arvernerschild, bis die Batterien aufgebraucht waren. Jules hatte immer wieder die erste Seite gelesen, denn seine Gedanken waren längst beim alten Louis gewesen.

Nach dem Aufstehen hatte er als Erstes sein Schnitzmesser mit der ausklappbaren Klinge gesucht, das ganz unten in seiner Schatzkiste lag. Sie war im Kleiderschrank versteckt, hinter den alten Wintersachen, in die er schon lange nicht mehr hineinpasste.

Es lag in einer Zigarrenkiste seines Großvaters, einer kubanischen, das klang für Jules so verheißungsvoll nach Exotik und Abenteuer. Selbst jetzt, nach all den Jahren, duftete sie noch nach Ferne und nach Sonne. Er stellte sich immer vor, dass die Sonne in Kuba viel größer wäre als in der Normandie, ein riesiger Feuerball, der es das ganze Jahr Sommer sein ließ.

Unzählige Fußballsammelbilder seiner Lieblingsspieler hatte Jules auf die Kiste geklebt. Sie bewachten sie für ihn vor allen Angriffen. In ihr befanden sich ein paar Briefmarken, die er vorsichtig von Umschlägen gelöst hatte. Jules war sich ganz sicher, dass sie wertvoll waren, schließlich sahen sie wunderschön aus. Eine Feder vom Pfau im Jardin de Bagatelle in Rouen war darin. Sieben Steine, die er am Strand von Villers-sur-Mer gefunden hatte, beim Haus seiner Großeltern. Fünf besonders schöne Handschmeichler, darunter einen flachen, runden, der besonders gut titschen würde und den er sich für einen Wurf an seinem Geburtstag aufsparte, und schließlich einen, von dem Jules vermutete, dass darin Gold zutage trat, wenn man ihn aufschlagen würde.

Und ein Bild seiner Mutter war in der Kiste.

Jules hatte es gerettet. Es gab ansonsten keine Fotos seiner Mutter mehr im Haus. Sein Vater hatte sie alle verschwinden lassen, aber Jules nie gesagt, wohin. Er hatte den Anblick nicht mehr ertragen. Deshalb war das Foto Jules’ allergrößter Schatz. Es war das letzte Passbild von vieren, die sie einst hatte machen lassen. Jules hatte es in einer Schublade gefunden, neben dem Gedichtband von Rimbaud, in dem sie immer wieder gelesen hatte. Auf dem Foto saß sie kerzengerade, die Brust herausgestreckt, ihre Locken adrett in Form gelegt, ernst in die Linse der Kamera blickend. Doch Jules sah das Lachen dahinter, sah, wie albern sie sich vorkam, und wusste einfach, dass sie laut losgelacht hatte, nachdem der Fotograf ihr endlich gesagt hatte, dass das Bild im Kasten sei. Dieses Lachen war bereits in ihren Augenwinkeln zu sehen und auf ihren Wangen, es wartete nur darauf, losgelassen zu werden. Seine Mutter hatte lachen können wie keine andere Frau auf der Welt.

Jules strich zärtlich mit den Fingerspitzen über das Foto, dann griff er sich das Schnitzmesser und klappte die Schatzkiste zu, ganz sanft, als würde er eine Bettdecke über seine Mutter legen.

Das Messer durfte er gar nicht haben. Er hatte es mit einem Schulfreund getauscht – für eine Flasche Calvados, die er im Lager des Vaters gestohlen hatte. Jules’ Vater hatte sich als Junge beim Schnitzen den Zeigefinger der rechten Hand abgetrennt. Deshalb durfte Jules nicht schnitzen – und deshalb wollte er es unbedingt. Und heute gab es nichts, was er mehr brauchte als dieses Messer.

Er hielt es fest umklammert, als er zum alten Louis lief, er durfte es nicht verlieren.

Doch Jules war nicht der Einzige, der bereits wach und auf der Straße war. Auch Guillaume, der Sohn des Apothekers auf der Route des Forges de Clermont, und dessen beide Freunde fanden sich dort. Als sie ihn um die Ecke auf sich zulaufen sahen, grinsten sie, die Gesichter wie Fratzen, und sie bauten sich auf, um ihm den Weg zu versperren.

Sie durften das Messer nicht bekommen! Jules schob es sich in die Unterhose, ganz nach vorne.

»Guckt mal, wer da kommt. Der Junge ohne Mutter!« Guillaume tat, als wische er sich eine Träne fort. »Armer Jules, ist ganz allein. Armes Kind einer Selbstmörderin!« Die anderen folgten Guillaumes Vorbild und weinten ebenfalls theatralisch, dabei aber laut lachend.

Jules hatte sich damals im Kleiderschrank der Eltern versteckt. Sein Vater hatte ihn lange gesucht, doch er hatte nicht geantwortet. Jules hatte sie zuvor gefunden und bereute es. So hätte er sie niemals sehen sollen. Seine Mutter hatte am Fuß der Felsen gelegen, die man die Schwarzen Kühe nannte. Ihr Kopf wie eine Nuss gesplittert, die man geknackt hatte. Er hatte es vergessen wollen. Kein Wort darüber! Als sein Vater den Kleiderschrank öffnete, hatte er Jules in die Arme geschlossen und geweint. Es war das erste und einzige Mal, dass er seinen Vater hatte weinen sehen, das einzige Mal, dass er von ihm in die Arme geschlossen worden war. »Sag uns, Jules, warum ist sie denn gesprungen, deine Mutter?«

Jules wusste, was sie hören wollten, doch er presste die Lippen aufeinander.

»Ich sag dir, was alle im Dorf sagen, was jeder weiß: weil du so eine Enttäuschung für sie warst! Das hat sie nicht mehr ertragen. So einen erbärmlichen Sohn zu haben, über den alle lachen.«

Er spürte die Tränen, doch er hielt sie zurück. Diese Genugtuung wollte er ihnen nicht geben. Was sie sagten, konnte nicht wahr sein. Oder doch? Sein Vater hatte nie darüber gesprochen, warum sie gesprungen war. Und so gab es diesen Zweifel in Jules, der sich wie ein borstiges Insekt in sein Herz bohrte. Was, wenn sie recht hatten, was, wenn er nicht gut genug gewesen war? Nicht brav genug? Er hatte Widerworte gegeben, sich nicht immer die Hände vor dem Essen gewaschen, war häufig mit dreckiger Kleidung nach Hause gekommen, und auf dem Zeugnis hatten nicht nur gute Noten gestanden. Er hatte sie sogar einmal angeschrien, rund zwei Wochen bevor es passiert war. Jules war so wütend gewesen, weil sie ihm gesagt habe, er sei noch zu klein für ein eigenes Segelboot, das er sich so sehr wünschte, und dass er keines zum Geburtstag bekommen werde. Es sei auch sehr teuer. Heute wünschte er, er hätte sie damals umarmt, statt zu schreien. Nur eine Umarmung noch mit seiner Mutter, einmal noch ihre Geborgenheit spüren, nichts wollte er mehr.

Aber vielleicht war er schuld daran, und nur er allein, dass er diese nie wieder würde fühlen können.

Jules wollte zurück in den Kleiderschrank, wollte die Türen schließen und die Welt aussperren.

»Och, guckt, jetzt weint es, das Baby. Davon kommt deine Mutter auch nicht zurück! Hättest mal ein guter Sohn sein sollen!«

Jules rannte los, doch sie waren schnell, sie hielten ihn fest, die beiden Lakaien von Guillaume. Dieser krempelte seine Ärmel hoch und schlug ihn mit den Fäusten in den Bauch. »Das ist für deine Mutter.« Und dann trat er ihn ins Gemächt, das eingeklappte Messer bohrte sich in sein Fleisch, der Schmerz war unvorstellbar. Die Luft blieb ihm weg.

Doch sie ließen von ihm ab.

Jules versuchte zu laufen, doch er schaffte nur ein Humpeln, so sehr krümmte ihn der Schmerz zusammen.

»Muttermörder!«, rief Guillaume noch, dann rannten sie johlend Richtung Sportplatz.

Als er unter dem schützenden Blätterdach des alten Louis ankam, hatte die Luft wieder Platz in seinen Lungen gefunden und sein Rücken sich aufgerichtet. Jules’ Gesicht war nass vor Tränen. Die Welt war wie hinter einer Scheibe voll Regen gewesen, doch nun klärte sich sein Blick. Er stand vor dem Apfelbaum und klappte das Messer so andachtsvoll auf, als sei er ein Priester und hebe einen Kelch empor. Dann suchten seine Augen den Stamm ab, suchten die richtige Höhe und die schönste Stelle in der Rinde, ohne Unebenheiten, damit alles gut lesbar sein würde. Er nahm eine der wenigen, die von der Sonne beschienen wurden, damit jeder sie auch gleich sah. Wie eine Lichtreklame, so hell. Jules hatte den Text in der Nacht vorgeschrieben und bei jedem Wort überlegt, ob er es auch richtig schrieb. Es war wichtig, dass nichts falsch war, dass keiner es für einen Scherz hielt. Denn das war es nicht. Ganz im Gegenteil.

Suche nette Haushälterin für meinen Vater, dem alles über den Kopf wächst & der sein Glück verloren hat. Alter egal. Sie muss ihn nur wieder zum Lächeln bringen.

 

Jules Lignier

Le Lieu Joan (ganz am Ende)

Beuvron-en-Auge

(Sie können auch sonntags kommen, bin fast immer da)

 

Es dauerte lange, bis er alles eingeritzt hatte, und danach begutachtete er ganz genau, was er geschrieben hatte. Das »J« von seinem Namen war etwas lang geraten, weil er mit der Klinge abgerutscht war, aber ansonsten war alles perfekt.

Jetzt würde alles gut.

Für seinen Vater. Und auch für ihn.

Den alten Louis kannten doch alle. Bald würde jemand lesen, was er geschrieben hatte, und kurze Zeit später würde es bei ihnen klingeln.

Er würde jetzt jeden Tag warten und nicht mehr hinausgehen, um sie nicht zu verpassen.

Jules würde die Tür öffnen, und sie würde ihn anlächeln.

Er wusste es. Denn er hatte es die ganze Nacht hindurch vor sich gesehen.

Der alte Apfelbaum

Die Blätter fallen wieder

Auch ohne Wind gen Boden

Gustave Eiffel

Vierundzwanzig Jahre später

Apfelblüte

Der alte lederne Reisewecker klingelte seit etlichen Jahren umsonst. Denn Jules war stets vorher wach, manchmal nur wenige Sekunden, ein andermal Minuten. Insofern war dieser 27. Mai ein ganz normaler Morgen im kleinen Ort Villers-sur-Mer an der normannischen Atlantikküste. Andererseits war es ein ganz besonderer, denn der zart-süße Duft geöffneter Knospen verriet, dass der Tag der Apfelblüte gekommen war.

Schon als Jules die Augen geöffnet und seine runde Brille umständlich aufgesetzt hatte, wusste er, dass Tausende zartrosa Blüten sich vor den blauen Holzfensterläden seines Hauses geöffnet hatten. Jules konnte das Summen der Bienen hören, die auf diesen Tag genauso sehnlich gewartet hatten wie er. Seine Mutter hatte den Austrieb so geliebt, dass sie darauf bestanden hatte, in der Zeit der Apfelblüte jede Mahlzeit im Freien einzunehmen, auch wenn sie im Mantel draußen sitzen mussten, weil eine Kaltwetterfront vom Atlantik über sie zog. Jules hielt diese Tradition aufrecht, indem er mit der Kaffeetasse an jedem Morgen der Blüte in den Garten trat.

Nach einer kalten Dusche, noch mit nassen Haaren und mit einem angebissenen Croissant in der Hand, öffnete Jules die Tür zum kleinen Garten der alten Villa in der Rue Alfred Feine, die einst seinen Großeltern gehört hatte, und sog die dank der vier Apfelbäume duftgeschwängerte Luft tief ein. Er hob die warme Kaffeetasse zuprostend gen Himmel, nahm dann einen langen Schluck, trat zum nächststehenden Apfelbaum und fuhr mit den Fingerspitzen über eine der fragilen kleinen Blüten. Er würde sie nun jeden Morgen begutachten, sie überschlägig zählen, den Flug der Bienen und anderer Insekten beobachten und das Wetter. Jules holte dafür das bereits auf dem Küchentisch bereitliegende Klemmbrett und notierte alles, um später möglichst genaue Voraussagen über die kommende Apfelernte treffen zu können. Je mehr bestäubt wurde, desto mehr würde wachsen. Der Frühling musste warm sein. Doch das neben der Tür zwischen Efeuranken hängende kupferne Außenthermometer zeigte nicht mehr als siebzehn Grad an. Jules klopfte dagegen, doch das Quecksilber stieg nicht höher. Er klappte einen der Gartenstühle auf und nahm einen weiteren Schluck aus der großen Tasse. Gleich würde er im Dorf ein paar Besorgungen machen und dann zu seinen Apfelhainen um Beuvron-en-Auge fahren, um zu sehen, wie es ihnen ging. Und dann musste er ins Büro. Hoffentlich hatte sich Schweden gemeldet, es wäre der wichtigste Auftrag seit Jahren. Sie wollten Cidre, Calvados und Pommeau von ihm importieren.

Ein altes, klappriges Fahrrad hielt vor der Gartentür. Es war so klapprig, weil der General auf ihm saß, ein Mann, der an Charles de Gaulle erinnerte – inklusive der Leibesfülle. Wie bei einem Baum kamen jedes Jahr neue Ringe um seinen Bauch hinzu. Eigentlich hieß er Gilbert Delacroix und war einst Soldat im 152. Régiment d’Infanterie in Colmar gewesen, seine Uniform wie die perfekt über die Halbglatze gestrichenen Haare erinnerten daran. Mit sechzig war er ehrenhaft aus dem Dienst ausgeschieden, und es hatte ihn zurück in die Heimat nach Villers-sur-Mer gezogen. Zum Sterben, wie er immer wieder sagte, während er und sein Fahrrad eine Apfelblüte nach der anderen erlebten.

»Wann geht es heute Abend los mit dem Fest?«, fragte er und zog an seiner filterlosen Gitanes. »Wird es wieder Maries Soupe de saumon du Mont-Saint-Michel geben? Und Claudettes göttliche Terrinée normande? Ja, oder? Muss es doch!«

»Morgen, General«, begrüßte Jules ihn, obwohl Gilbert diesen Rang nie bekleidet hatte. »Kannst du noch an was anderes als Essen denken?«

»An die Liebe, Jules! An die denke ich oft. Aber Liebe und Essen, das gehört zusammen. Das eine macht immer Appetit auf das andere. Und bei beidem gilt: Wenn es gut ist, dann kann man nie genug haben!« Der General lachte und nahm Jules die Tasse aus der Hand, um einen Schluck zu trinken. »Hast du heute schon Nachrichten gehört? Krisengebiete, Morde und Sportergebnisse. Stade Malherbe Caen hat wieder einmal verloren, es wird langsam zur schlechten Angewohnheit. Immer wieder dasselbe. Und über die Apfelblüte kein Wort, dabei gibt es nichts Wichtigeres!« Er breitete die Arme aus. »Ah. Dieser Duft, wie das Parfüm einer Cancan-Tänzerin.«

»Als hättest du mal an einer gerochen.« Jules nahm sich seine Tasse zurück. Sie war leer.

»Nicht nur an einer! Und ich kann dir sogar sagen, an welcher Stelle sie wie riechen. Und die Mädchen vom Lido rochen immer anders als die vom Moulin Rouge, damals, als ich in Paris stationiert war. Was für ein Sommer!« Er hob entzückt die buschigen Augenbrauen. »Ich glaube, ich fahr mal zu Claudette, vielleicht braucht sie Hilfe.«

Jules schüttelte belustigt den Kopf. »Sie braucht bestimmt niemanden, der in der Küche nascht und ihr ständig auf den Hintern schaut.«

»Du kennst die Frauen nicht, Jules, kein bisschen kennst du sie. Sie sagen, dass sie es nicht mögen, wenn man ihre Rundungen bewundert, aber nur, um nicht unanständig zu wirken. Doch sie genießen es. Und Männer, die in der Küche naschen, sind Männer, die leidenschaftlich sind, die genießen können, also gute Liebhaber sind. Die hat man immer gerne um sich. Das lernst du schon noch!«

Der General stieg wieder auf sein Fahrrad und radelte los. Es war ein gutes Stück Weg bis zu Jules’ Cidre-und-Calvados-Hof, wo Claudette und ihre Mutter Marie für Essen und Sauberkeit sorgten. Er würde aber vor allem deshalb lange dorthin brauchen, weil vier Cafés und zwei Bars auf dem Weg lagen. Und in jeder musste er doch über die Liebe und die Frauen erzählen.

Das Landgut Saint-Ursules lag wie eine kleine Insel im Grün, das sich über die Hügel von Gonneville bei Beuvron-en-Auge erstreckte. Es war ein altes Gut, das mit jeder Generation Ligniers weiter angewachsen war. Das Ursprungshaus, kaum mehr als ein Schuppen, diente heute, neu isoliert, als Lager für jungen Calvados. Der neueste Anbau war ein gläserner Probierraum, durch dessen Fenster man Richtung Beuvron-en-Auge blicken konnte, viele Apfelhaine der Familie Lignier im Blick. Jeder sagte »Familie Lignier«, dabei gab es heute nur noch Jules, sonst niemanden. Aber »Familie Lignier« klang so viel besser und vollständiger. Insgesamt bildeten die Gebäude einen Vierkanthof mit nur drei Seiten. Vor der offenen befand sich nicht nur der größte Apfelhain der Familie, sondern auch ein kleiner Besucherparkplatz, auf dem eine ausrangierte hölzerne Apfelpresse unter einem schiefergedeckten Unterstand ein neues Zuhause gefunden hatte.

Alles wurde hier produziert, Cidre wie Calvados und Pommeau. Jules hatte darauf geachtet, dass alte wie neue Gebäude in einem Stil gehalten wurden, ein blaues Fachwerkmuster mit schwarzen Balken, Giebeldächer, Sprossenfenster mit Blumenkästen davor. Es sollte idyllisch wirken für die Besucher. Sie mussten nicht wissen, dass zur Rückseite des Westtrakts ein geteerter Weg führte, über den Lkw Äpfel und Birnen anliefern und Paletten mit Flaschen abholen konnten. Das Landgut Saint-Ursules wirkte so alt wie das bewusst vergilbt gestaltete und wie mit Füller von Hand geschriebene Etikett des Calvados »Petit Lion«, der hier erzeugt wurde. Diese Illusion wirkte nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Wer auf Saint-Ursules arbeitete, der tat es im Bewusstsein der Tradition und wollte diesem Etikett gerecht werden.

Jules stellte seinen Wagen hinter dem Südtrakt ab, auf dem Parkplatz für Mitarbeiter. In das Pflaster hatte er das Wappen des Landguts mit roten Steinen legen lassen: einen kleinen, auf zwei Beinen stehenden und die Zunge wie eine Flamme herausstreckenden Löwen, der eine rubinbesetzte Krone trug.

Er hatte gerade seinen Wagen abgeschlossen, als Marie vom Schuppen aus kommend an ihm vorbeiging. Sie trug vier Stühle und nickte ihm freundlich zu. Marie war siebenundachtzig Jahre alt und sprach nicht. Es war nicht, dass sie stumm war oder taub, nein, sie wollte nur nicht reden. Sie war der Meinung, es wurde schon genug überflüssiges Zeug geredet, da musste sie nicht auch noch dazu beitragen. Im Dorf erzählte man sich, dass sie beim Arzt redete und einmal auch beim Pfarrer der Kirche Saint-Martin gebeichtet hatte, 1973, aber ansonsten brauchte sie keine Worte. Doch manchmal summte Marie, kaum hörbar, wenn sie fröhlich war. Sie summte alte Chansons von Charles Aznavour und Edith Piaf, aber auch moderne Lieder, die sie in ihrem alten Radio hörte, das noch ein Weltempfänger war, von der Größe eines Ofens.

An diesem Morgen summte Marie etwas von Joe Cocker. Ihre Tochter Claudette hielt ihr die Tür auf, wischte sich dann die Hände an einem an ihrer Kittelschürze hängenden Tuch ab und begrüßte Jules mit einer langen Umarmung und drei Küssen auf die Wangen. Die Menschen in Villers-sur-Mer sagten, was die Mutter zu wenig rede, spreche die Tochter zu viel. Es gleiche sich in der Familie dadurch aufs Wunderbarste aus.

»Und? Bist du endlich beim Arzt gewesen?«, fragte Claudette, die mit ihrer Kleidung jeden Tag aufs Neue bewies, wie viele Schattierungen von Grau es gab. Claudette trug Grau nicht nur wie heute in Kleid und Kittelschürze, sondern auch in ihren Schals, Blusen, Strumpfhosen und Schuhen. Das höchste Eingeständnis an die Welt der Farben waren Graublau, Grüngrau sowie Gelbgrau. Mit einer Tendenz ins Graue. Jules wunderte sich immer wieder, dass die Frau mit der meisten Lebensfreude die freudloseste Kleidung trug. Claudette hatte nie geheiratet, doch obwohl viele es nicht glauben mochten, schien ihr nichts zu fehlen. Sie nannten sie im Dorf nur »die Nonne«. Claudette trug diesen Namen mittlerweile wie einen Ehrentitel.

»Es ist nichts«, sagte Jules und bemühte sich, die leichte Taubheit zu vergessen, die ihn daran erinnerte, dass etwas nicht stimmte in seinem linken Bein. »Ich muss doch nicht bei jedem Zwicken zum Arzt laufen.« Jules zog ein Tuch aus der Jackentasche und putzte sich seine Brille. »Wenn es schlimmer wird, gehe ich. Okay?«

»Versprochen?«

»Ja, Claudette, versprochen.«

»Hoch und heilig?«

»Alles, Claudette, ich verspreche dir alles.«

Claudette drückte ihm noch einen Kuss auf die Wange, einen festen Schmatzer, der sich wie ein Befehl anfühlte. Sie hatte ihr teures Rosenparfüm aufgelegt. Das Apfelblütenfest war immer ein ganz besonderer Tag für sie. »Und wehe, ich sehe dich abends mit dem Klemmbrett rumrennen und Bienen zählen! Heute wird gefeiert! Du putzt dich heraus und feierst!«

»Natürlich.«

»Ich habe auch die Töchter der Bauern eingeladen, die uns immer die Äpfel und Birnen liefern. Und die Erntehelferinnen. Da sind einige wunderschöne junge Damen dabei.«

»Nicht schon wieder, Claudette. Nicht heute! Bitte!«

»Doch, gerade heute. Ein so schöner Mann und keine Frau? Mit diesen blauen Augen? Das geht doch nicht. Wenn du heute bei keiner anbeißt, habe ich noch eine Cousine in der Bretagne. Ein Vollweib, die würde dich auf Trab bringen. Das sage ich dir! Und kochen kann die, Eintöpfe, köstlich!« Claudette zog ihm den Hemdkragen gerade. »Wenn ich jünger wäre, würde ich dich selbst nehmen! Ich würde dir keine Chance lassen!«

»Wie gut, dass du so schrecklich alt bist.« Jules streckte ihr die Zunge raus.

»Na warte, du frecher Hund!«

Sie wollte ihn in die Seite zwicken, doch Jules war bereits durch die Tür ins Innere von Saint-Ursules entschwunden. Durch die Glasfront auf der gegenüberliegenden Seite konnte er sehen, dass die nun hoch am Himmel stehende Sonne die Abertausenden von Apfelblüten wie kleine Lampen erscheinen ließ, die man Girlanden gleich über die Bäume gehängt hatte. Marie stellte zwischen ihnen die Stühle auf. Weiße gestärkte Tischdecken lagen bereit, um die festliche Tafel zu schmücken.

Um in sein Büro zu gelangen, musste Jules durch das kleine Calvados-und-Cidre-Museum, in dem sich unter anderem alte Flaschen fanden, ein Modell des Landguts, eine kupferne Destillationsblase, viele Fotos und allerlei goldene Auszeichnungen für die Erzeugnisse des Hauses. Dunkle Holzbalken stützten die Decke, auch der Boden war aus Holzbohlen, an einem Tresen konnten die Schätze des Hauses verkostet werden. Das letzte Stück seines Wegs schmückte die Ahnengalerie von »Calvados Jules Lignier – Domaine Petit Lion«. Fünf Generationen Jules Lignier, immer mit einem Glas Calvados in der Hand, die ersten zwei Porträts waren gemalt. Gleichermaßen streng und stolz schaute Jules Lignier der Erste. Der Blick wurde mit jedem Bild, mit jeder Generation etwas weicher, fast wie bei einem Daumenkino. Es endete bei einem Lächeln auf dem Gesicht des aktuellen Jules Lignier. Über eine Stunde hatte es gedauert, bis der Fotograf mit Jules’ Gesichtsausdruck zufrieden gewesen war. Am Tag danach hatte Jules Muskelkater im Gesicht gehabt.

Er ging schließlich durch eine Tür, die außen wie Holz aussah, aber sich nach dem Hindurchtreten als Plastik entpuppte – hier begann der angebaute Verwaltungstrakt. Jules begrüßte seine vier Angestellten in Buchhaltung sowie Vertrieb und auch die beiden aus der Produktion. Dann fuhr er seinen Rechner hoch, um sich mit dem zu beschäftigen, was die Herstellung von Cidre und Calvados wirklich ausmachte: Zahlen. Häufig in Kolonnen, die für nichts anderes Platz auf dem Bildschirm ließen. Seine Sekretärin brachte ihm einen Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Schnell ging er die Mails durch. Noch keine aus Schweden. Er schaute im Spam-Ordner nach. Nichts. Aber heute würde die Nachricht kommen. Schweden hatte gesagt, diese Woche, und es war Freitag. Jules öffnete ein weiteres Fenster auf dem Bildschirm. Es zeigte einen Online-Schwedischkurs. In der heutigen Lektion ging es um das Thema Kulinarik. Er sprach leise mit: Meeresfrüchte – havets frukter, Erfrischungsgetränk – läskedrycken, Toast – rostade brödet, Weinberg – vingården.

Sieben Stunden später konnte er alle Vokabeln auswendig, hatte mit einigen seiner Händler telefoniert, die Ablage erledigt, Angebote für eine neue Apfelbaumpflanzung eingeholt – und hundertzwölfmal die Seite mit seinen Mails aktualisiert. Irgendwann hatte er den Schweden sogar geschrieben, doch immer noch keine Antwort. Draußen war es bereits dunkel geworden, und die fröhlichen Geräusche der anschwellenden Feier drangen bis zu ihm, doch Jules war nicht danach zu feiern. Ihm war danach, den Bildschirm zu aktualisieren. Oder zu lernen, wie man Wassermelone auf Schwedisch sagte.

Die Musik wurde stetig lauter, es waren Lieder, die jedes Jahr zum Apfelblütenfest gespielt wurden, seit Jules ein kleines Kind gewesen war. Sie ließen all die Jahre wieder aufleben, wie Fotos aus vergangenen Tagen.

Mit einem Mal stand Claudette bei ihm im Büro, das nur vom kühlen blauen Licht des Computermonitors erhellt wurde.

»Gefalle ich dir?«

Claudette trug ein zartgraues knöchellanges Sommerkleid. Ihre langen grauen Haare hatte sie zu einem fast mädchenhaften Zopf geflochten.

»Ich weiß, was du mir sagen willst: dass ich rauskommen soll.«

»Gefalle ich dir?«, fragte Claudette nochmals mit Nachdruck.

»Ja, sehr, du siehst bezaubernd aus.«

»Danke.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »So, und jetzt sage ich dir, dass du rauskommen sollst. Du bist der Gastgeber, alle fragen nach dir, auch Babette Chalon aus Honfleur. Und du sitzt hier und arbeitest. Nie hast du etwas anderes im Kopf. Kannst du nicht einmal den Tag genießen? Schäm dich, Jules Lignier!«

»Schweden hat noch nicht geantwortet, aber Saarbrücken hat bestellt, und mit London habe ich heute ein Gespräch vereinbart. Denen kann ich nicht sagen, bei uns blühen die Bäume, und ich spiele Bienchen.«

Claudette spitzte die Lippen. »Ich denke, es wäre wirklich sehr an der Zeit, dass du mal wieder Bienchen spielst …«

»Ach, Claudette!«

»Ich sag ja nur. Heute Abend kommen auch einige hübsche Blüten.«

»Hörst du auf damit!«

»Nur, wenn du jetzt rauskommst. Zeig dich. Du giltst sowieso als noch mürrischer als dein Vater. Als unnahbarer Eigenbrötler, als der Grummler aus Villers-sur-Mer.«

Jules blickte auf. »Mürrischer als mein Vater?« Er schaltete den Monitor aus und stand auf. Es war ein Scherz von Claudette gewesen, und trotzdem hatte es ihm einen Stich versetzt. »Das war unfair.«

Claudette hakte sich bei ihm unter. »Es ging einfach nicht anders.«

Er griff sich sein dunkelbraunes Sakko vom Garderobenständer, und hinaus ging es zum Fest.

Eine lange Tafel war mitten im Apfelhain aufgebaut worden, sicher zwanzig Meter lang. Die gestärkten Tischdecken lagen darauf, jeder Platz war eingedeckt, zu Vasen umfunktionierte Gläser standen dazwischen, und in den Ästen der Bäume hingen bunte Lichterketten. Am Ende der Tafel hatte der General für sie Holzbretter zusammengehämmert und eine Tanzfläche geschaffen. In jedem der vergangenen Jahre hatte diese am Ende des Abends einem Sumpf geglichen. Aus hölzernen Cidrekisten hatte der General zudem ein kleines Podest gezimmert, auf dem nun ein Accordéon-Spieler aus Le Havre saß, der stets für die Musik sorgte und neben Musettes auch noch allerlei anderes beherrschte. Seit drei Jahren war auch sein Sohn dabei, der ihn auf einem Cajon, einer Art zum Schlagzeug umgewandelten Holzkiste, unterstützte.

Als Jules erschien, applaudierte die Gästeschar. Er hielt eine knappe Rede und tanzte zur verspäteten Eröffnung mit Marie, die während der ganzen Drehungen fröhlich mitsummte. Danach setzte er sich mitsamt einem Klappstuhl unter einen Baum und besah sich die Szenerie. Claudette brachte ihm ein großes Stück Tarte aux pommes und ein Glas Calvados Napoléon, strich ihm über den Kopf und ging schnellen Schrittes zurück auf die Tanzfläche. Der Kuchen war ebenso saftig-fruchtig wie in der Süße fein balanciert, doch so schnell wie Jules aß, bekam er davon nichts mit. Der Calvados öffnete das Trou normand, das normannische Loch, in seinem Magen, wie es kein anderer Brand fertigbrachte, sodass er noch mehr essen konnte. Doch selbst er vertrieb nicht die Gedanken an das Schweden-Geschäft. Hier tanzten sie fröhlich, doch wenn es platzte, was es nicht würde, dann würde im nächsten Jahr weniger gejohlt.

Babette kam und fragte, ob er mit ihr tanzen wolle. Sie war eine Schönheit und ihr Lächeln strahlend, doch Jules verneinte, sein Bein mache heute Mucken, und das stimmte. Die Taubheit schien einige Zentimeter emporgekrochen zu sein. Babette nickte enttäuscht und forderte ihre zweite Wahl, Nicolas aus Houlgate, zum Tanzen auf. Jules sah, wie Claudette auf der Tanzfläche enttäuscht den Kopf schüttelte.

Nach einiger Zeit fiel ihm auf, dass der General immer wieder zu dem Accordéon-Spieler ging. Und zwar immer dann, wenn Claudette eng mit einem Mann tanzte. Der Musiker wechselte nach dem Gespräch mit Gilbert dann elegant in ein Stück, das einen schnelleren Takt besaß und Abstand zwischen den Tanzenden verlangte. Der General hatte sein Herz verloren und eine Kriegstaktik ersonnen, um die Auserwählte zu erobern.

Das Fest wurde immer lauter und immer fröhlicher, und immer mehr Beine fanden auf die Tanzfläche, immer mehr Calvados und Cidre in die Kehlen, doch Jules hatte kein Vergnügen an den Produkten seines Guts; er nippte nur daran, weil es von ihm erwartet wurde, und hoffte auf eine Gelegenheit, zurück in sein Büro zu kommen. Die Schweden würden sich heute sicherlich noch melden.

Plötzlich erklang Claudettes Stimme nahe bei ihm, er hatte sie gar nicht wieder kommen hören.

»Herr Geschäftsführer, hier ist jemand für dich.«

Er drehte sich um, und da war sie. Wenige Meter hinter Claudette, bunt beschienen von den kleinen Lampen der in den Bäumen hängenden Lichterketten. Die großen Augen der fremden Frau schienen gleichermaßen traurig wie glücklich, und er fragte sich unwillkürlich, welches Geheimnis wohl dahinter lag.

Einige Stunden früher, am Nachmittag desselben Tages, hatte Lilou Leflaive so laut gebrüllt, dass es noch am Chemin du Rond de Beuvron zu hören gewesen war, dem Waldwanderweg, der etliche Hundert Meter entfernt von ihrem kleinen Haus verlief.

»Nein, nicht dahin! Geh verdammt noch mal auf die Fliesen, Mademoiselle!«

Bis zu diesem Augenblick hatte Lilou es für einen herrlichen Tag gehalten, denn endlich hatten sich die Apfelblüten geöffnet. Nur wegen diesen hatte sie einen Apfelbaum vor dem Fenster der kleinen Küche gepflanzt. Eine Art natürliche Uhr, die ihr sagte, wann der Frühling in der Normandie wirklich begann. Sofort nach dem Aufstehen hatte Lilou das Fenster geöffnet, um den Duft hereinzulassen, ja, sie hatte sogar auf ihren Kaffee verzichtet, um den zarten Geruch der Blüten nicht zu überdecken. Doch nun drohte Mademoiselle, die würgend auf dem Boden saß, genau das zu erledigen.

»Nur zwei Schritte zur Seite! Nur zwei kleine Schritte!«

Aber Mademoiselle hörte nicht und erbrach sich auf die Rechnungen und Steuerunterlagen, die Lilou gestern Abend noch auf dem Küchenboden in gut zwei Dutzend Stapel thematisch sortiert hatte. Genau gesagt, hatte Mademoiselle die Mahnungen für ihren Mageninhalt auserkoren, fraglos eine gute Wahl. Doch beglichen wurden sie dadurch leider nicht.

Nun setzte sich die kleine dreifarbige Katze, die trotz ihres Alters immer noch aussah wie ein Teenager mit weichen Knochen, als sei nichts gewesen auf den kleinsten Stapel mit den Einnahmebelegen und begann, sich ausgiebig zu putzen. Vor drei Jahren hatte eine streunende, halbwilde Katze in Lilous Schuppen Junge bekommen, und Mademoiselle war ihr von diesen geblieben.

Lilou griff sich Küchenkrepp, beförderte das Unglück in den Müll und fing an, die Unterlagen vorsichtig zu säubern. Mit einem Mal stand Mademoiselle neben ihr, den Schwanz gereckt, ihr Köpfchen an Lilous Bein reibend, und maunzte.

»Aha, jetzt hast du also Hunger! Hättest du dich nicht erbrochen, wäre dein Magen proppenvoll.«

Aber natürlich gab sie Mademoiselle etwas von dem Huhn, das sie gestern für die Brühe gekocht hatte. Der alte Depardieu bekam es mit und tapste ebenfalls zu ihr. Depardieu war ein Mastiff, halb taub und halb blind, aber das glücklichste Wesen, das Lilou auf dieser Erde kannte. Seit Mademoiselle bei ihnen war, fungierte er als deren Kuschelkissen. Die kleine Katze schmiegte sich nicht nur an Depardieu, sie legte sich häufig sogar der Länge nach auf ihn. Und er genoss es. Auch Depardieu bekam nun etwas aus dem Topf mit dem Huhn. Es machte Lilou immer froh, wenn sie sah, wie es ihren beiden Lieben schmeckte.

Nachdem sie die Mahnungen zum Trocknen auf die Leine im Garten gehängt hatte, stellte sie ihren verwitterten Lehnstuhl unter den Apfelbaum und schloss für einen Moment die Augen. Dies war ihr neunundzwanzigster Geburtstag, ihr letztes Jahr unter dreißig begann. Sie wollte es feierlich begehen – wozu sicher nicht gehörte, Mademoiselles Unfall wegzumachen. Lilou wollte sich etwas gönnen, mit dem Rest des Geldes in ihrem Portemonnaie. Für heute wäre es egal, ob morgen vielleicht nichts mehr drin war. Lilou öffnete die Augen und schaute zu Depardieu, der zu ihren Füßen lag.

»Komm, wir gehen nach Beuvron-en-Auge ins ›La Houssaye‹. Da wollte ich immer schon mal hin. In diesem Restaurant gibt es nämlich Essen mit zwei Sternen!«

Depardieu blickte sehnsuchtsvoll Richtung Küche und Topf, trottete Lilou aber trotzdem hinterher, als sie sich den Mantel überwarf und zur Haustür ging. Kurz kontrollierte sie ihr Aussehen in dem bodentiefen Spiegel, der in der Diele hing. Oben rechts steckte ein Schwarz-Weiß-Foto von Audrey Hepburn aus Frühstück bei Tiffany. Nie würde sie so schlank und elegant sein, aber Lilou fand, ein paar Pfunde zu viel und dafür fröhlich war gar nicht mal so schlecht. Sie prüfte kurz, ob das auf ihrer blassen Haut alles Sommersprossen oder doch Krümel vom morgendlichen Baguette waren, bändigte ihre leicht gewellten, dicken roten Haare mit einem Gummi, zog ihr geblümtes knielanges Kleid zurecht, das sie extra wegen ihres Geburtstags trug, und fand, dass die roten Chucks hervorragend dazu passten. Und weil sie jetzt chic essen ging, legte sie noch die Halskette aus grünen Aventurin-Steinen an, deren Farbe ihren Augen so glich.

Ihr kleines Haus, das sie selbst mit Freunden aus Marseille renoviert hatte, lag weit außerhalb Beuvron-en-Auges, mitten in den Feldern, selbst zur geteerten Straße führte nur ein kleiner grasbewachsener Weg. Genau so hatte sie es gewollt, was ihre Eltern nie verstanden und akzeptiert hatten. Vor allem, dass sie ihre Karriere fortwarf. Um Kräuterhexe zu werden, so hatte ihre Mutter es genannt. Eine einsame, verarmte Kräuterhexe. Und ihr Vater hatte geschwiegen und genickt, wie er es eigentlich immer tat, wenn Maman sprach, und sich eine Zigarette angezündet, um sich hinter dem Rauch zu verstecken.

Sie würden heute nicht anrufen. Wieder nicht. Irgendwo in Lilou glomm zwar immer noch etwas Hoffnung, doch diese verbat sie sich. Wenn sie nicht zu Hause war, würde sie weder merken, wenn ihre Mutter anrief, noch wenn sie es nicht tat. Also schnell fort.

Lilou nahm das alte schwarze Fahrrad, dessen Klingel nur noch mit Klebeband am Lenker hielt, und fuhr ganz langsam nach Beuvron-en-Auge, sodass Depardieu neben ihr hertrotten konnte. Am Ortseingang zögerte Lilou, welchen Weg sie nehmen sollte. Geradeaus wäre es am kürzesten, doch würde sie dann an der Praxis von Doktor Philippe Moreau vorbeikommen, diesem vielleicht sogar begegnen. Und darauf hatte sie gerade heute keine Lust. Es wäre sehr gut möglich, dass sie ihn nach allen Regeln der Kunst beleidigte. Moreau war vor einem Dreivierteljahr aus Paris nach Beuvron-en-Auge gezogen, der Mittfünfziger mit der bemerkenswert kartoffeligen Nase hatte beschlossen, die letzten Jahre seines Berufslebens auf dem Land zu praktizieren, wo er sich später auch zur Ruhe setzen wollte. Von alternativen Heilmethoden hielt er so viel wie Louis de Funès von unbeweglicher Mimik.

Lilou lenkte seufzend zum Umweg ein, doch dann entschied sie sich anders. An ihrem Geburtstag würde sie verdammt noch mal nicht klein beigeben! Fast fuhr sie über Depardieu, als sie entschlossen in die Pedale trat und das Lenkrad herumriss.

Schon von Weitem konnte sie sehen, dass Moreau nicht wie so oft vor seiner Praxis stand und eine Filterlose auf Lunge rauchte. Stattdessen trat Madame Eugenie Duval aus dem Haus, die schon seit Langem wegen ihrer Naturheilkunde zu Lilou kam und stets zufrieden ging. Eine Frau mit gesunder Bauernschläue, beide Beine fest auf dem Boden, die wusste, wie der wichtigste Satz der Medizin lautete: Wer heilt, hat recht. Und Lilou heilte. Mensch und Tier. Und einmal auch eine Pflanze. Auch wenn es nur ein Olivenbäumchen war, das nicht richtig angegangen war.

Lilou konnte nicht anders als lächeln. Denn dass sie nun Madame Duval traf, bedeutete, dass es der Geburtstag doch gut mit ihr meinte.

»Bonjour, Madame Duval! Ist es nicht ein schöner Tag!«, rief Lilou ihr zu, doch Madame Duval antwortete nicht, sondern wechselte die Straßenseite. »Madame Duval?« Lilou fuhr zu ihr. »Ist etwas los?«

Madame Duval blickte sie an. »Sie sind los!«

»Wollen wir uns setzen und einen Kaffee trinken? Heute ist mein Geburtstag, und ich lade Sie ein.«

»Doktor Moreau sagt, Sie haben mich die ganzen Jahre falsch therapiert. Dass Sie mir mehr geschadet als genützt haben. Das hat er gesagt. Und dass ich Sie verklagen sollte.«

»Wir setzen uns und reden darüber, ja? Bei einem schönen Stück Kuchen.«

»Kuchen? Das ist so typisch für Sie! Meine Cholesterinwerte sind bodenlos, sagt der Doktor. Ich müsste eigentlich schon tot sein.«

»Aber Kuchen tut der Seele gut.«

»Die Seele, wenn ich das schon höre, die Seele hilft mir nicht, wenn ich auf dem Friedhof liege.«

»Aber meine Arzneimittel …« Doch weiter kam Lilou nicht.

»Sprechen Sie nicht von Arzneimitteln bei dem Zeug, das Sie mir gegeben haben! Und sprechen Sie mich auch nie wieder an. Wir kennen uns nicht mehr. Und wenn Sie denken, ich werde niemandem davon erzählen, wie falsch Sie mich behandelt haben, dann irren Sie sich gewaltig. Jeder soll es erfahren! Jeder! Man muss die Leute vor Ihnen warnen, da hat der Doktor völlig recht.« Damit drehte sie sich um und ging.

Lilou blieb noch einige Zeit stehen und kämpfte mit den Tränen. Depardieu stellte sich neben sie und brummte. Er hatte großen Hunger, sonst tat er dies nie.

Lilou stieg auf und fuhr langsam weiter.

Das »La Houssaye« stand inmitten des zentralen Platzes von Beuvron-en-Auge und gab sich zugeknöpft statt einladend. Es logierte seit Ewigkeiten hier, war eine Institution, ein Tempel der klassischen französischen Kochkunst, in dem man Schnecken, Hummer, Langusten, Austern und Kaviar huldigte. Wo auf teurem Porzellan angerichtet und mit silbernem Besteck gegessen wurde, wo die Kellner livriert und so steif waren, dass es sich wie eine Theateraufführung anfühlte. Lilous Patienten hatten oft erzählt, wie es dort sei, wie dick die ledergebundene Weinkarte und wie dünn die großen Weinkelche. Sie stellte ihr Rad daneben ab und linste durch die dunklen Butzenscheiben hinein. Kerzen waren für das Mittagessen entzündet worden, es saßen bereits Gäste darin, die Männer in Anzügen, die Damen in Kleidern. Eine große Gesellschaft, viele davon kannte sie. Lilou wählte sich schon draußen ihren Platz, rechts hinten in der Ecke, ein kleiner Tisch wie für Verliebte, und daneben genug Platz für Depardieu, der sich gut benehmen würde. Natürlich wusste Lilou, dass Hunde in einem solchen Etablissement nicht erwünscht waren. Aber es war schließlich ihr Geburtstag, und Depardieu würde die ganze Zeit schlafen. Sie holte tief Luft und trat ein.

Lilou war kaum einen Meter drinnen, verlockende Düfte warmen Essens umspielten ihre Nase, da trat bereits einer der Kellner zu ihr, ein hochgewachsener Mann mit perfekt poliertem Schuhwerk. Er lächelte routiniert.

»Bonjour, Mademoiselle, haben Sie reserviert?«

»Heute ist mein Geburtstag«, antwortete Lilou.

»Und der verehrte Name?«

»Lilou Leflaive.«

Er blickte in das Reservierungsbuch, das auf einem hohen Tischchen am Eingang lag. »Leider kann ich Ihren Namen nicht finden.«

»Es war ein spontaner Entschluss. Wegen meines Geburtstags. Ich werde neunundzwanzig und will das feiern. Zusammen mit Depardieu.«

»Hunde sind bei uns leider nicht erlaubt.«

»Er ist auch ganz brav, keiner wird ihn bemerken.«

»Hunde sind bei uns leider nicht erlaubt.«

Lilou zeigte auf ihren Tisch. »Dahinten wird ihn nicht einmal jemand sehen.«

Jetzt wurde die Stimme des Kellners sehr fest. »Hunde sind bei uns nicht erlaubt. Bitte gehen Sie.«

Lilou blickte Depardieu an. »Dann mache ich ihn draußen fest.«

»Wir haben leider keinen Tisch mehr frei.«

»Aber …«

»Alle reserviert.« Der Kellner wurde vom Tisch der Gesellschaft gerufen. »Bitte entschuldigen Sie mich, der Bürgermeister. Verlassen Sie bitte mit Ihrem Köter unser Haus und beehren Sie uns nicht wieder.«

Er ließ sie stehen.

Was zu viel war, war zu viel. Lilou wusste, dass es keinen Sinn machte, den Deckel auf einen Kochtopf zu drücken, der drohte überzuschäumen. Und dieser hier brodelte, seit Mademoiselle sich auf die Mahnungen erbrochen hatte.

»Sie sind das arroganteste Arschloch, das mir je untergekommen ist! Ihren Scheißfraß können Sie sich in die gegelten Haare schmieren!« Die Gesellschaft blickte sie mit offenen Mündern an. Lilou senkte die Stimme zu einem Säuseln. »Allen anderen wünsche ich ein wundervolles Mahl!« Sie machte einen Knicks und verschwand.

Es ging ihr nur kurze Zeit besser. Schnell schwang sie sich auf ihr Fahrrad und radelte davon, falls der Kellner herausgeschossen kam, um sie zu beschimpfen. Sie wollte jetzt nicht beschimpft werden. Sie wollte nicht, dass jemand ihre Tränen sah, sie wollte so schnell fahren, dass sie trockneten, bevor sie ihre Wangen hinabfließen konnten. Depardieu kam kaum hinterher und bellte, doch Lilou radelte einfach weiter, bis sie weit aus Beuvron-en-Auge war und von der Straße in einen kleinen Feldweg abbog. Dort hielt sie an und ließ das Fahrrad auf den Boden fallen, um die Hände frei zu haben, in die sie weinen konnte. Dann stieß sie einen Schrei aus, dass die Vögel aus den Bäumen stoben und Depardieu hinter ihr erschöpft aufbellte. Sie drehte sich zu ihm um und ging in die Knie, wollte den großen, sabbernden Brocken von Hund in den Arm nehmen, doch dieser trottete an ihr vorbei und in einen Obstgarten voller Apfelbäume, der aufgrund der Blüte wirkte, als habe man überall überdimensionierte Blumensträuße in die Erde gesteckt. Depardieu ging es jedoch nicht um die Blüten und ihren Duft, Depardieu ging es einzig um den großen Baum in der Mitte, den er zielstrebig ansteuerte. Lilou wunderte sich über diesen Baum, denn in Obstgärten wurden die Bäume klein gehalten, damit die Kraft in die Äpfel ging und nicht in die Zweige und die Früchte leichter zu ernten waren. Dieser alte Apfelbaum machte keinen Sinn. Außer für Depardieu.

Lilou kamen schon wieder die Tränen, als sie begriff, dass es der schönste Moment des Tages war, ihren alten Hund zu sehen, der voller Glück das Beinchen an einem großen Baum hob.

»Das muss aufhören mit dem Weinen«, sagte sie zu Depardieu. »Sofort!« Und sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort.

Der Wind frischte auf, ließ die Zweige der Bäume tanzen und das Licht wie einen glühenden Schleier durch sie gleiten. Es wickelte sich um den Stamm des alten Apfelbaums, hob die Konturen seiner rauen Haut hervor.

Lilou ging darauf zu, streckte ihre Hand aus, und das Licht begann zu spielen, jagte wie ein übermütiges Kind über die Rinde. Ihre Fingerspitzen berührten den schroffen Stamm und fuhren über Einschnitte, ausgetrocknet und verschorft.

»Das sind Worte, Depardieu. Da steht …« Sie las es, ihre Lippen bewegten sich dabei, doch sie las es lautlos. Zweimal musste sie schmunzeln, weil etwas falsch geschrieben und verbessert war. Während sie las, wanderten ihre Fingerspitzen fast zärtlich über die Buchstaben in der Rinde. Zum Schluss strich sie über den ganzen Text wie einem Kind über den Kopf.

»Da gehen wir hin, Depardieu. Und zwar jetzt! Das muss doch ein Zeichen sein, oder? Irgendwas Gutes muss mir an diesem Geburtstag doch passieren.« Depardieu blickte zu ihr empor. »Aber eins musst du mir hoch und heilig versprechen: Wir verraten nicht, dass du an die Stellenausschreibung gemacht hast!«

Es war ein gutes Stück mit dem Rad, und als sie am Landgut Saint-Ursules ankamen, war Musik zu hören, die zum Tanz lockte. Und Lilou wollte tanzen, wollte sich drehen, bis sie alles vergaß, ihr schwindlig wurde, bis sie auf den Hosenboden fiel und sich die Welt immer weiter drehte wie auf einem Karussell. Sie stellte das Fahrrad am schmiedeeisernen Eingangstor ab, ordnete ihre vom Wind zerzausten Haare und zog die Kleidung zurecht.

»Sehe ich gut aus?«

Depardieu ließ sich auf die Seite fallen.

»Na, danke!« Sie kniete sich zu ihm und kraulte ihm den Bauch. Das mochte er sehr. »Und jetzt auf, du Faulpelz. Bewerbungsgespräch.«

Das Schwarz der Nacht mischte sich bereits wie starker Kaffee in den Himmel, und die bunten Lampionketten in den Baumkronen waren erleuchtet. Die Insekten hatten den Ball um sie herum genau wie die Menschen darunter bereits eröffnet. Ein alter Mann saß zusammengekrümmt auf einem Barhocker, sein Accordéon in den Händen, und spielte. Ein junger Mann schlug begleitend auf eine Art Teekiste ein. Dazu tanzten zwei ältere Damen zusammen Walzer, während andere Gäste dieser Feier sich wie Tanzbären im Kreis drehten.

Lilou stand einige Zeit beobachtend im Schatten, ihre Schulter ruhte an einem Baum. Depardieu legte sich zu ihren Füßen in das hohe, ungeschnittene Gras. Sie atmete das Lachen, das Singen, die Freude ein, den festlich gedeckten Tisch mit all seinen Speisen, das Flackern der Kerzen im leichten Abendwind, den kunterbunt gemischten Haufen Menschen.

Als sei es ihre eigene Feier und dies ihre Freundesschar.

Ginge sie jetzt einige Schritte weiter, würde die Illusion wie eine schillernde Seifenblase platzen. Und das wollte Lilou nicht. Denn genau so hätte sie sich ihr Fest gewünscht: Freunde, die laut und herzlich lachten, Kinder, die unter die Tische krochen, Hunde, die kläffend zwischen den Tanzenden hochsprangen, und Cidre und Calvados bis zum Abwinken. Der Mann am Accordéon wäre ihr Onkel Jean, Schifffahrtskapitän a. D., und er würde seltene Briefmarken aus der Karibik sammeln. Die beiden tanzenden alten Damen wären ihre verrückten Großcousinen aus Marseille, von denen jeder wusste, dass sie gar nicht verwandt waren, aber keiner etwas dazu sagte. Die Kichernden unter dem Tisch wären die Kinder ihrer Schwester, und den Cidre auf dem Tisch hätte ihr Mann, Marc, gekeltert, neueste Ernte, und er schmeckte allen. Ihre Eltern saßen am Rand der Tanzfläche, sich an den alten, knittrigen Händen haltend und stolz auf ihre sich wirbelnde Tochter blickend.

Alles war gut.

Dann plötzlich stand jemand neben ihr.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Das tun sie alle schon längst, wollte Lilou sagen, doch sie lächelte stattdessen wie ein beim unerlaubten Naschen ertapptes Kind. »Ich bin hier wegen einer Annonce von Jules Lignier. Ich weiß, die Uhrzeit ist sehr ungewöhnlich, aber das ist die Annonce ja auch, und ich war gerade in der Nähe. Also, ich und Depardieu.« Sie deutete auf den friedlich schlafenden Mastiff.

»Eine Annonce? Davon wusste ich gar nichts.« Die komplett in Grau gekleidete Frau musterte Lilou. »Für was denn?«

»Als Haushälterin für seinen Vater. Sie war ganz süß formuliert.«

Die fein gezupften Augenbrauen der Frau gingen weit nach oben und bildeten zwei ratlose Halbmonde. »Da sprechen Sie am besten … mit unserem Geschäftsführer. Wenn einer etwas weiß, dann sicher er.«

»Welcher ist er?«, fragte Lilou und blickte zu den Feiernden.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Er sitzt dahinten.«

Erst jetzt fiel Lilou auf, dass am Rande der Feier, genauso im Dunkeln wie sie selbst, ein Mann auf einem Klappstuhl saß. Das linke Bein hatte er lässig auf einen Cidre-Karton gelegt, das rechte wippte leicht im Takt. Er war groß, sicher über einen Meter achtzig, und trug sein dunkles Haar kurz, wie auch seinen Bart, alles ganz akkurat. Seine Züge waren kantig, seine Wangenknochen hoch. Das Brillengestell mit den runden Gläsern schien eher zu einem älteren Mann zu passen, doch es verlieh seinen Augen noch mehr Klugheit. Er war fraglos schön, und doch schien er dies nicht herausstellen zu wollen, vielleicht war es ihm nicht einmal bewusst. Obwohl der Weg über das Gras eben war, kam es Lilou vor, als ginge sie bergab, so leicht wirkten ihre Schritte zu ihm. Da der Vater des kleinen Jules vermutlich hier auf dem Landgut arbeitete, würde sie den Geschäftsführer sicher häufiger zu Gesicht bekommen.

»Herr Geschäftsführer, hier ist jemand für dich«, sagte die Frau zu ihm, und der Mann drehte sich zu ihr, schien wie aus einem Tagtraum zu erwachen. Er sah Lilou gleichermaßen überrascht wie interessiert an. »Kennen wir uns?« Die Stimme des Mannes war tief und sanft.

Lilou schüttelte den Kopf. »Ich suche den Vater des kleinen Jules.«

Der Mann stockte. »Tja«, setzte er an, doch Lilou unterbrach ihn, bevor er weiterreden konnte. Denn sie wollte ein Spiel mit ihm spielen.

»Ist es der am Accordéon?« Lilou zeigte hinüber.

»Philippe? Nein. Auch wenn das einiges erklären würde.«

»Dann der dort drüben mit dem Gehstock? Er hat schöne Augen. Auch im Alter noch sind sie schön. Er hat sie sicher an seinen Sohn vererbt.«

»Étienne?«

Nun sprach die Frau neben Lilou wieder. »Étienne hat tatsächlich schöne Augen. Damit hat er etliche Frauen rumgekriegt. Da hat sein Sohn Glück gehabt.«

»Aber jetzt hat er den grauen Star«, antwortete der Mann, dessen Augen, wie Lilou nun erkennen konnte, sie an dunkles Tropenholz erinnerten, aber nicht raues und unbehandeltes, sondern wie mit feinem Tuch zum Glänzen gebrachtes. »Sie haben mir noch gar nicht verraten, warum Sie Jules’ Vater suchen?«

»Wegen der Annonce.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, und ich bin gut informiert, was ihn angeht, sucht er niemanden. Es tut mir sehr leid, dass Sie sich umsonst die Mühe gemacht haben. Wenn Sie mögen, setzen Sie sich dazu und trinken etwas mit uns. Ich würde mich freuen!«

Sie würde sich nicht abspeisen lassen, nur weil dieser Geschäftsführer meinte zu wissen, was los war. Der kleine Jules hatte die Stellenanzeige ja aufgegeben, und was wusste ein Geschäftsführer schon von den Kindern seiner Angestellten? Nichts! »Bitte bringen Sie mich zu Jules oder zu seinem Vater. Sollen sie entscheiden.«

Die grauhaarige Frau stand immer noch zwischen ihnen, offensichtlich amüsiert, und blickte den Geschäftsführer erwartungsvoll an. Der stand nun auf.

»Sie haben recht, soll Jules’ Vater entscheiden. Kommen Sie, es ist nicht weit zu ihm.«

Der Mann humpelte leicht mit seinem linken Bein. Bei jedem Aufsetzen des Fußes zog sich sein Gesicht kurz zusammen, obwohl er viel Energie aufbrachte, dass es niemandem auffiel. Doch gerade dadurch stach es hervor. Lilou hätte ihn lieber gestützt, statt ihm tatenlos zu folgen. Die beiden gingen auf den Trakt des Landguts zu, in dem sich laut den hölzernen Hinweisschildern der Verkaufsraum und die Verwaltung befanden. Alles lag völlig im Dunkeln.

»Schläft er etwa hier?«, fragte Lilou. »Bitte wecken Sie ihn nicht wegen mir! Ich komme morgen wieder. Wie sähe das aus, wenn er meinetwegen aufstehen müsste! Er wäre zu Recht sauer. Und das wäre es dann mit der Anstellung.« Sie machte kehrt, doch die Hand des Mannes schloss sich um ihren Arm.

Ende der Leseprobe