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Um zu finden, was du verloren hast, musst du auf dein Herz hören. Der neue Roman von der Autorin des internationalen Bestsellers »Die Telefonzelle am Ende der Welt«
Im Südwesten Japans, in einem Meeresbecken, das sich die zwei Provinzen, Kagawa und Okayama, teilen, liegt eine einzigartige kleine Insel: Teshima. An der Ostspitze der Insel steht ein winziges Gebäude, in dem die Herzschläge von Zehntausenden von Menschen katalogisiert sind, lebenden und toten, die von den unterschiedlichsten Orten der Welt stammen. Es heißt Shinzō-on no Ākaibu, das Archiv der Herzschläge.
Shūichi ist ein bekannter Illustrator, vierzig Jahre alt – und hat eine Narbe in der Mitte seiner Brust. Er wird von seinem eigenen Herzschlag verfolgt, dem er jede Nacht lauscht, so als wolle er ihn an etwas erinnern, das teilweise im Dunkeln liegt. Als Shūichi nach dem Tod der Mutter in sein Elternhaus am Rande von Tokio zurückkehrt, macht er Bekanntschaft mit einem Jungen, der wie ein Schatten um das Haus schleicht. Shūichi und der achtjährige Kenta gehen eine außergewöhnliche Verbindung ein, die es ihnen ermöglicht, das Vergangene nicht länger zu verdrängen. Ihr Weg wird die beiden nach Teshima führen.
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2024
Im Südwesten Japans, in einem Meeresbecken, das sich die zwei Provinzen Kagawa und Okayama teilen, liegt eine einzigartige kleine Insel: Teshima. An der Ostspitze der Insel steht ein winziges Gebäude, in dem die Herzschläge von Tausenden Menschen – lebenden und toten – katalogisiert sind, von den unterschiedlichsten Orten der Welt. Es heißt Shinzō-on no Ākaibu, das Archiv der Herzschläge.
Shūichi ist ein bekannter Illustrator, vierzig Jahre alt – und hat eine Narbe in der Mitte seiner Brust. Er wird von seinem eigenen Herzschlag verfolgt, dem er jede Nacht lauscht, so als wolle er ihn an etwas erinnern, das teilweise im Dunkeln liegt. Als Shūichi nach dem Tod der Mutter in sein Elternhaus am Rande von Tokio zurückkehrt, macht er Bekanntschaft mit einem Jungen, der wie ein Schatten um das Haus schleicht. Shūichi und der achtjährige Kenta gehen eine außergewöhnliche Verbindung ein, die es ihnen ermöglicht, das Vergangene nicht länger zu verdrängen. Ihr Weg wird die beiden nach Teshima führen.
Laura Imai Messina wurde in Rom geboren. Mit dreiundzwanzig Jahren zog sie nach Japan. Ihr Studium an der University of Foreign Studies schloss sie mit dem Doktortitel ab, mittlerweile arbeitet sie als Dozentin an verschiedenen Universitäten. Laura Imai Messina lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Tokio. Ihr Roman »Die Telefonzelle am Ende der Welt« stand in Italien und Großbritannien wochenlang auf der Bestsellerliste und wurde in 25 Länder verkauft.
Laura Imai Messina
Roman
Aus dem Italienischen von Viktoria von Schirach
Die italienische Ausgabe erschien 2022 unter dem Titel »L’isola dei battiti del cuore« bei Piemme Editori, Mailand.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Die Übersetzung dieses Buchs erfolgte mit finanzieller Unterstützung des italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Zusammenarbeit. Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.
Copyright © 2022 by Piemme/Mondadori Libri Spa, Milano
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Published in agreement with MalaTesta Literary Agency, Milan
Covergestaltung: Semper Smile nach einem Entwurf und unter Verwendung eienr Illustration von Ale+Ale
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30711-0V002
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Für Francesca, die mein Leben verändert hat.Und für die eine Milliarde vierhunderttausend Herzschläge,die mich hierhergeführt haben.
Dieser Roman ist ein fiktionales Werk. Die Figuren und Situationen sind Erfindungen der Autorin und dienen dazu, der Erzählung Wahrhaftigkeit zu verleihen. Jegliche Ähnlichkeiten mit Fakten, Ereignissen, Orten und Personen, ob lebend oder tot, sind rein zufällig.
Hinweise zur Aussprache
Für die Transkription der japanischen Wörter wurde das Hepburn-System verwendet, das sie in lateinische Buchstaben umwandelt. Das Dehnungszeichen über den Vokalen kennzeichnet einen Doppelvokal.
Nach japanischer Konvention steht der Nachname vor dem Vornamen.
Im Südwesten Japans, in einem Meeresbecken, das sich die Provinzen Kagawa und Okayama teilen, schwimmt eine auf der ganzen Welt einzigartige Insel: Teshima.
Von der Hauptstadt aus muss man ein Flugzeug nehmen, dann ein Schiff, dann einen Bus, und fürs Umsteigen muss man eine Menge Schritte einplanen.
An der Ostspitze der Insel, an einer Stelle, die sich dem Blick entzieht, steht ein kleines Gebäude mit einem großen Fenster zum Meer hin. Es enthält ein Archiv mit den Herzschlägen von Zigtausend Personen aus allen Ecken der Welt, Lebende wie bereits Verstorbene.
ばくばくbaku baku
Die Lüge bringt das Leben in Ordnung und lässt es schöner erscheinen, und da man nicht weiß, was die Wirklichkeit ist, ist die Frage nach der Wirklichkeit auch nicht sehr wichtig.
CHRISTIAN BOLTANSKI
Hörst du das?«, fragt das Kind und dreht sich zu dem Mann um.
In dem Moment, in dem diese Frage gestellt wird, ist der Mann vierzig Jahre alt, und seine Herzklappen haben sich etwa eine Milliarde vierhundertsiebzig Millionen Mal geöffnet und geschlossen. Vor dreihundertdreiunddreißig Tagen hat er begonnen, die Dinge beim Namen zu nennen, es interessiert ihn wieder, was mit der Welt passiert, wer die Wahlen in Japan gewinnt, wie lange die Menschen brauchen werden, um die Meere mit Plastik zu füllen. Er hat wieder Angst vor dem Sterben.
»Hörst du es?«, fragt das Kind noch einmal. Und seine Frage klingt wie ein Gebet, denn wenn es auch ein Erwachsener hört, bedeutet das, dass es wahr ist.
»Noch nicht.«
Sie haben jetzt den Weg verlassen, der sich zwischen den kleinen Häusern aus Holz und Wellblech windet, sind an der Stelle angelangt, wo sich die Landschaft von Teshima in zwei Hälften spaltet und sich rechts und links grüne Reisfelder erstrecken. Hier fängt die Luft an, stärker zu vibrieren.
Das Kind wiederholt die Frage nicht noch einmal, aber es mustert den Mann aufmerksam.
Diesmal nickt der Mann. Jetzt hört er es.
Um seine Gefühle zu beherrschen, geht er in die Knie, nun ist er so groß wie der kleine Mensch vor ihm, ruhig wie Moses, der die Fluten vor sich teilt.
Zuvor hatten sie nichts gehört, doch nun übertönt das Geräusch alles andere. Pam-pam, bam-bam, doki-doki, thump-thump. Der ganze Hügel scheint davon zu beben.
Das Kind legt sich die Handflächen auf die Brust und schließt die Augen.
Doef-doef, boum boum, tu tump.
»Wir sind ganz nah.«
Diese Insel hat ein Herz. Es zieht sich im unregelmäßigen Rhythmus der Wellen zusammen. Die Gezeiten verlangsamen den Puls, manchmal setzt es einen oder zwei Schläge lang aus. Aber dann schlägt es unweigerlich weiter.
In den Monaten bis zu diesem Tag haben der Mann und der Junge gelernt, dass alle Geräusche, die den Menschen lieb sind – eine bestimmte Musik, der Schnitt eines Films, das Plätschern der Wellen –, dem inneren Rhythmus ihres Geistes entsprechen. Dieser wird als Fluktuation 1/f bezeichnet und ist derselbe, der den Herzschlag eines Menschen bestimmt. Er erscheint als etwas Konstantes, ist aber in Wirklichkeit leicht unregelmäßig.
Das Kind beugt sich über den Boden, presst sein Ohr auf den Pfad zwischen den Reisfeldern.
Der Mann lässt es gewähren: Er erinnert sich plötzlich wieder, wie er sich mit sechs Jahren auf die Straße gelegt hatte, um die Perspektive der Ameisen zu verstehen. Das vermeintliche Gefühl, keine Spuren zu hinterlassen. Alles müsste eigentlich – dachte er – mit diesem Blick von unten beginnen. Auch seine Mutter hatte ihn damals gewähren lassen. »Je mehr Geschöpfe man versteht, und seien sie noch so unterschiedlich, desto besser versteht man sich selbst«, pflegte sie zu sagen, und er rechtfertigte jeden seiner noch so verrückten Einfälle mit dem Hinweis, er müsse den Wahrheitsgehalt dieser Aussage überprüfen. Der Mann erinnert sich nun, wie er damals, mitten in der Stadt, zum ersten Mal einen starken Schwindel verspürte, eine Art Bestätigung für das rastlose Rotieren des Planeten, der ansonsten still zu stehen schien.
Es war genau dasselbe Gefühl, das jetzt der Junge empfindet, nur dass dieser die Luft pulsieren spürt.
Der Kleine steht auf. »Ich bin hungrig. Können wir etwas essen?«
»Ja, natürlich.« Der Mann nimmt zwei onigiri aus dem Rucksack. Sie lassen sich am Rand des Reisfelds nieder.
Nach einer Reihe von Schlägen bricht der Rhythmus ab. Es folgt eine längere Stille, dann geht es wieder los.
Es ist wie eine Stafette: Ein Herz überlässt einem anderen das Wort.
Es ist Oktober. Auf den Feldern zirpt der ganze lange Sommer, der in diesen zwei Tagen unerwarteter Hitze noch einmal in den Südwesten Japans zurückgekehrt zu sein scheint. Er hat sogar die Libellen überzeugt, die wieder fliegen; in Teshima haben sich die Grillen, ebenfalls von der Temperatur hervorgelockt, durch die Erde zurück an die Oberfläche gebohrt.
Immer wieder kniet sich der Junge hin und taucht seine Fingerspitzen in die Löcher.
»Wir sind fast da. Auf der Karte sind es nur noch ein paar hundert Meter Luftlinie.«
»Da drüben?« Das Kind deutet mit dem Finger in eine Richtung.
»Ja, lass uns gehen!«
Der Mann weiß noch nicht, was er hinter dem Hügel finden wird. Er hat eine Vermutung, aber eigentlich weiß er es nicht. So wie man nichts über die Zeit weiß, während man lebt. Auch das Kind weiß nichts, aber es ist daran gewöhnt, die Dinge nicht zu verstehen. Dafür verliebt es sich leichter – in diese unerwartete Reise, in die Fürsorge des Erwachsenen, in die Vorstellung, dass der Klang der Herzen der Menschen einen Ort in der Welt hat –, und das reicht aus, damit es glücklich ist.
Sie steigen die Anhöhe hinauf, die zum Karato-Hachiman-Tempel führt, dort biegen sie rechts ab, wie auf der Karte eingezeichnet; mit den Armen bahnen sie sich einen Weg durch die Zweige. Das Meer liegt zu ihrer Linken.
Je mehr sie sich dem Archiv nähern, desto stärker werden die Herztöne.
Der Mann und der Junge setzen ihre Schritte so vorsichtig, als liefen sie über ein Minenfeld: Beide haben den Eindruck, am Rand einer Bombe entlangzugehen, die jeden Moment explodieren kann.
»Da ist es!«, ruft der Mann, sobald er zwischen dem Türkisblau des Himmels und dem Kalkweiß des Sands ein niedriges, rechteckiges Gebäude aus schwarzem Zedernholz erspäht. Es sieht aus wie ein Legostein, den jemand am Strand vergessen hat.
Und jetzt wechselt der Herzschlag schon wieder, er vibriert in einem Rhythmus, den der Mann nicht erkennt.
Während sie die Tür zum Archiv aufmachen, überkommt den Erwachsenen das Gefühl, dass die ganze Zeit, die er in den letzten dreihundertdreiunddreißig Tagen damit zugebracht hat, sich selbst zu finden, und auch all die Jahre davor, die er damit verbrachte, sich selbst aus dem Weg zu gehen, allein dazu dienten, dass er jetzt hier angelangt ist.
Er wird es nie erfahren, aber genau in dem Moment, in dem er eine kleine Verbeugung vor dem jungen Mann im weißen Kittel macht, der sie am Eingang empfängt, verbreitet sich in der Luft ein Herzschlag, den er einst ganz genau kannte.
Der fünfjährige Shūichi umklammerte den Lenker seines Fahrrads, in der festen Überzeugung, er fahre direkt in ein großes Abenteuer. Er hatte die Flucht aus dem Blickfeld seiner Mutter so genau geplant, dass sie, falls sie sie bemerkte, daran seine außerordentliche Intelligenz würde erkennen können, und vor allem, wie genau er sie beobachtete.
Shūichis fünf Jahre wogen schwer auf dem Sattel eines roten Kinderrads ohne Pedale. Und er hatte ein einziges Ziel: sein Herz zum Bersten zu bringen.
Sie wohnten in Kamakura, auf einem Hügel, unter dem ein Tunnel mysteriösen Ursprungs die Stadtteile Ōmachi und Komachi verband. Er wurde von einigen »der Konkubinen-Tunnel« genannt, weil er einer Legende nach von einem wohlhabenden Mann gebaut worden war, der seine Geliebte auf der anderen Seite des Hügels besuchen wollte; andere wiederum hielten ihn für einen Luftschutzbunker, den das japanische Militär im Zweiten Weltkrieg für seine Fernmeldegeräte nutzte.
Die Straße hoch zum Tunnel war auf beiden Seiten so steil, dass man auf halber Strecke erschöpft innehalten musste, wenn man sie zu erklimmen versuchte. Es war unmöglich, sie mit dem Fahrrad zu bewältigen, und des Öfteren spielten Kinder dort und rannten hinab, der Preis eine Mandarine (oder Murmel). Ein Gymnasiast, der dort schon als Kind gespielt hatte, beschloss einst, die Schwerkraft zu berechnen, die Reichweite, die Modulation der Geschwindigkeit im Verhältnis zur Schwere des Geschosses (des Körpergewichts des jeweiligen Fahrers), und der Art, wie es losgeschickt wurde, ob nur auf die Bahn gelegt oder geworfen (dann brauchte man noch die Fallhöhe): Er kam zu dem Ergebnis, dass es herrlich gewesen war, nichts von all dem zu wissen und einfach zu spielen.
Die Wettrennen der Kinder erfolgten allerdings nur auf einer Seite des Tunnels; die andere war streng verboten, denn dort gab es scharfe Kurven, sofort eine nach links und dann eine nach rechts, und auch, weil man gleich hinter dem Tunnel die ersten Gräber des kleinen Friedhofs sah, der in die Felsfalten gebettet war.
Man erzählte, dass sich in den Sommernächten die Geister der Toten in lauter kleine Flammen verwandelten, die tagsüber als Schmetterlingsschwärme umherflatterten.
Shūichi hatte das richtige Alter, um sich vor Gespenstern zu fürchten, doch er tat es nicht. Die einzige Angst, die ihn quälte, war, dass sein Herz plötzlich in tausend Stücke zerbrechen könnte.
Bei seiner Geburt wurde ein Herzgeräusch festgestellt, eine leichte Arrhythmie. Diese Musik, der die Mutter jeden Morgen und jeden Abend konzentriert lauschte, machte ihn ungeduldig; als würde aus seiner Brust durch die Metallscheibe und zwei Ohrbügel irgendeine Prophezeiung dringen.
Es war ihm untersagt, mit den Zügen um die Wette zu rennen, und auch, in Yokohama in die Fahrgeschäfte am Rummelplatz zu steigen. Er durfte nicht einmal die Festivals im Sommer besuchen, weil es dort so viel Hektik und riesige Trommeln gab.
»Das hier ist dein Herz«, hatte ihm seine Mutter Dutzende Male erklärt, indem sie einen Umriss auf ein Blatt Papier zeichnete, »und hier ist das kleine Loch, und wenn du zu schnell läufst oder dich zu sehr anstrengst, dann wird es größer und größer, bis es irgendwann aufreißt.«
Jedes Mal, wenn sie es ihm erklärte, holte die Mutter ein neues Blatt aus der Schublade. Als brauchte es die ganze Vorgeschichte, damit er es mit der Angst zu tun bekäme.
Und genau deshalb umklammerte Shūichi jetzt den Lenker seines Fahrrads direkt über der Rampe.
Er wollte das Allergefährlichste tun und sehen, wie es ausging.
Er spürte die Schritte der Mutter hinter sich, hörte, wie ihre Stimme ihn rief.
Der Schrei, den sie ausstieß, als sie die Silhouette des Sohnes auf seinem Rad erkannte, war der Startschuss für ihn.
»Shūichi!!!«
Er stieß sich energisch mit den Füßen ab, die er dann zu einem V geformt in die Luft streckte. Der Himmel erschien ihm zum Greifen nah.
Während er mit einer ihm bisher unbekannten Geschwindigkeit losfuhr, stellte der Junge sich vor, dass er sich in einen Pfeil verwandelte, einen dieser Riesenpfeile, die er an Silvester unter dem Dach des Tsurugaoka-Hachiman-gū-Schreins gesehen hatte. Er war mindestens fünfmal so lang wie seine Mutter!
»Shūichi, bleib stehen! Shūichiiiii!«
Fünfunddreißig Jahre später erinnerte sich Shūichi noch ganz genau an den Tag des Unfalls. Vor allem an das ohrenbetäubende Getöse seines Herzschlags.
Und doch, obwohl er sich an das Gefühl erinnerte, wie er durch die Luft geschossen war, an seine Hände auf dem Lenker, an das Vorderteil eines weißen Autos, dem er um Haaresbreite entkommen war, den schrecklichen Schmerz am Arm und an der Schulter – er war gegen ein Mäuerchen geknallt wie ein kleiner Vogel, der zu früh versucht zu fliegen –, seine blutigen Knie und den ausgeschlagenen Zahn, der sein Lächeln für die nächsten zwei Jahre ein wenig beeinträchtigte, obwohl er jede Einzelheit dieses Tages wie bei einem Mosaik zusammensetzen konnte, leugnete seine Mutter, dass das Ganze je passiert sei.
»Du hast dir das wahrscheinlich nur eingebildet.«
Diese Antwort bekam Shūichi immer, etwa als sein geliebter Zeichenblock in den Nameri-Fluss gefallen war, als sein Vater vor Wut seinen Bogen zerbrach, als seine Katze bei einem Erdbeben von einem Haufen Gegenständen begraben wurde, und sogar als sie bei der tragischen Reise nach Kagoshima den Teddybären Loretto im Zug vergaßen.
Shūichi erzählte seiner Mutter schmerzliche Erinnerungen an Unfälle, langes Schluchzen, das sein kindliches Leid enthielt, aber sie wies sie jedes Mal von sich. Der Bär war zu Hause vergessen worden, und tatsächlich, als sie von der Reise zurückkamen, saß er ganz friedlich auf dem Bett, sogar etwas sauberer als vorher; der Zeichenblock war bestimmt in irgendeiner Ecke seines Zimmers, verrutscht; und der Bogen? Der lag unversehrt auf der Veranda!
»Du hast einfach alles noch einmal gekauft in den folgenden Tagen«, bezichtigte sie Shūichi, »und die Katze ist ja auch nicht mehr aufgetaucht.«
»Die hat bestimmt einen Schreck bekommen wegen des Erdbebens. Und da sie gern herumstreunte, ist sie einfach umgezogen.«
Und doch könnte er schwören, den geschundenen Körper des Tiers unter dem Werkzeugkasten im Schuppen gesehen zu haben. Er erinnerte sich, wie seine Mutter weinte, während sie Shūichi auf den Arm nahm und in die Küche trug. Sie schaltete den Fernseher ein, umarmte ihn und ging dann heimlich hinüber, um alles wegzuräumen.
»Aber ich habe es doch gesehen«, sagte er, sichtlich bewegt, »ich habe beobachtet, wie du sie im Garten vergraben hast.«
»Du siehst immer die unglaublichsten Dinge, Shūichi. Und das ist eine Gabe, die dich zu dem gemacht hat, der du bist.«
Er konnte nicht fassen, wie ungerührt sie die Dinge leugnete. Wie war es möglich, dass Shūichi niemals geweint hatte, dass er jedes Mal, wenn er liebte, zurückgeliebt wurde? Die Welt schien ein Wunder gewesen zu sein, solange er ein Kind war.
»Und woher stammen dann diese Narben auf meiner Schulter und meinen Knien?«
»Das habe ich doch schon gesagt, die hast du dir als Erwachsener zugezogen. Wie, das weiß ich auch nicht. Da hast du schon allein gelebt.«
»Aber ich erinnere mich doch genau, wie ich mich mit dem Rad in die Tiefe gestürzt habe, wie ich gegen die Mauer geprallt bin, wie ich dem Auto um ein Haar entkommen bin …«
»Das hast du geträumt«, unterbrach sie ihn. »Als Kind liebtest du Pflanzen, gesalzene onigiri und Bilderbücher. Stundenlang hast du Landschaften und Fenster gemalt.«
Nachdem sie es zum dritten Mal abgestritten hatte, gab Shūichi für gewöhnlich klein bei. Er versuchte es jedoch immer wieder, ganz konnte er es nicht aufgeben. Als er seine Mutter das letzte Mal nach dem Fahrradunfall fragte, war er achtunddreißig und sie fünfundsiebzig. Es war nichts zu machen. Auch diesmal lächelte sie geduldig. »Sieh es doch endlich ein, Shūichi. Du hattest eine wunderschöne Kindheit. Du hast so viel Glück angesammelt, dass es für dein ganzes Erwachsenenleben reicht.«
Dann war es gekommen, wie es kommen sollte, und alle waren sich einig, dass Glück etwas war, was man besser eine ganze Weile lang nicht mehr erwähnen sollte.
Das Herz eines fünfjährigen Kindes schlägt zwischen 75 und 115 Mal pro Minute. Das eines älteren Menschen verlangsamt auf bis zu 60 Schläge. Lebt man lange genug, dann legt das Herz eine Reise von bis zu drei Milliarden Schlägen zurück.
Wenn es dann stehen bleibt, wird es eine siebzig oder achtzig Jahre lange Melodie gespielt haben, der keiner wirklich aufmerksam gelauscht hat. Das geschieht nur in besonderen Momenten, während eines Arztbesuchs, nach einem Lauf, nach dem Sex. Oder bei einer jener seltenen Gelegenheiten, in denen man plötzlich das verzweifelte und irrationale Bedürfnis verspürt, zu wissen, dass alles in Ordnung ist, und sich die flache Hand aufs Herz legt.
Während seiner Fahrt den Hügel hinab könnte Shūichis Herz bis zu 180 Schläge in der Minute erreicht haben. Aber auch wenn der Junge in seinem Kinderzimmer geblieben wäre, den Bären Loretto im Arm, und sich alles nur eingebildet hätte, könnte es trotzdem dieselbe Frequenz erreicht haben.
Das Kind, das an dem Tag womöglich ein Rennauto streifte und womöglich gegen die Mauer einer Villa prallte, war nunmehr vierzig Jahre alt und fuhr dieselbe Straße in die entgegengesetzte Richtung entlang.
Es war Herbst, und Blätterhaufen stoben an beiden Seiten des Konkubinen-Tunnels vorbei.
Die zwei Hypothesen, die einen gemeinsamen Kern hatten, nämlich, dass er damals fünf Jahre alt gewesen war und ein Herz sowie ein Fahrrad besaß, waren in eine Existenz gemündet, die anfangs ruhig verlaufen und nach seinem dreißigsten Geburtstag immer komplizierter geworden war. Shūichi führt die Schwierigkeiten seines Erwachsenenlebens auf seine eigene Nachgiebigkeit zurück. Er war bereit gewesen, sich mit der Welt zu verbinden, hatte sich in eine Frau verliebt, hatte mit überraschender Leichtigkeit ein Ja nach dem anderen ausgesprochen.
Mit vierzig war er immer noch unschlüssig, ob er diese Lebensphase als einen Fehler oder als ein einzigartiges Glück betrachten sollte.
Shūichi erreichte das Haus, in dem er aufgewachsen war, außer Atem und mit pochendem Herzen. Er sah, dass die Pforte nur angelehnt war, und fragte sich, ob in den drei Wochen, seit denen das Haus nun leer stand, vielleicht ein Tier in den Garten eingedrungen war.
Traurigkeit überkam ihn bei dem Gedanken, dass er noch nie zur Tür des Hauses gekommen war, ohne dass ihm seine Mutter bereits von drinnen ein »Willkommen« entgegenrief.
Erst als es ihm nicht gelang, den Schlüssel ins Schloss zu schieben, verwarf er die Idee, ein Tier könnte eingedrungen sein. Jemand hatte versucht, die Tür gewaltsam zu öffnen, und dabei den Schlüssel abgebrochen.
Die Sache mit dem abgebrochenen Schlüssel ließ sich noch am selben Tag beheben. Shūichi rief den Schlüsseldienst und erstattete Anzeige.
Das Gefühl, dass jemand versucht hatte, ins Haus zu gelangen, beunruhigte ihn dennoch weiterhin. Wer war es wohl gewesen? Und vor allem, wer besaß einen Schlüssel? Soweit er wusste, gab es nur zwei Kopien, eine davon hatte die Nachbarin und die andere er selbst.
Seit der Beerdigung seiner Mutter waren drei Wochen vergangen. Shūichi hatte diese Zeit genutzt, um die Landkarte seiner Beziehungen, Gewohnheiten und beruflichen Verpflichtungen neu zu vermessen, und war nach zwölf Jahren in Tokio zurück nach Kamakura gezogen. Er wollte sein Elternhaus renovieren, um es danach zu verkaufen oder zu vermieten.
Er wusste, dass die einzige Möglichkeit, sich von Dingen zu trennen, die war, sich wie jemand zu verhalten, der das Haus nicht kannte. Ohne Erinnerungen war man entschlossener und effizienter.
Er ließ einen Handwerker kommen, nicht weil er es allein nicht geschafft hätte, aber weil ein Unbekannter an seiner Seite ihm dabei half, die Aufgabe neutral anzugehen.
Es war eine äußerst mühsame Arbeit. In den Zimmern befanden sich Tausende, Zehntausende Gegenstände. Der Glaube seiner Mutter an Dinge machte ihn ratlos. Es schien, als habe sie sich ihnen vollständig anvertraut, damit das Leben der Familie besser aussah, als es war.
Shūichi begann damit, alles zusammenzutragen, was mit dem Alltag zu tun hatte: Vorräte, Putzmittel, Handtücher, Medikamente. Er warf auch alles weg, was noch brauchbar war, in der Überzeugung, dass jede Ausnahme nur dazu führen würde, dass er gar nichts mehr wegwarf. Die Dinge, die seiner Mutter gehört hatten, verpackte er in nummerierte Kartons, die er in die Garage räumte; das Auto, das seit Jahren nicht mehr benutzt wurde, verkaufte er.
Innerhalb von zwei Tagen löste er mit Hilfe des Handwerkers überall die Tapete von den Wänden: Der Geruch nach reifen Äpfeln, der seine Kindheitserinnerungen bestimmte, wurde schwächer. Dann ließ er Bad und Küche erneuern, ersetzte die Tatamimatten, ließ das Parkett neu verlegen und neue Jalousien anbringen.
Jeden Tag schien das Haus sein Aussehen zu verändern, das Überflüssige und die Erinnerungen endgültig loszuwerden. Doch jeder Tag verging, ohne dass die Arbeit wirklich beendet war.
Manchmal hatte er das Gefühl, seine Mutter zu sehen. Eines Nachmittags sah er sie in der Küche stehen, um die fünfzig Jahre alt, und den Topf aufräumen, den sie jedes Jahr zum Einkochen der umeboshi-Pflaumen nutzte; eines Abends hingegen sah er, wie sie sich als alte Frau an der Wand abstützte, um ins Bad zu gehen; schließlich sah er sie im Garten unter der Eiche als blutjunge Frau, wie sie ihn auf der aus einem Holzbrett und Seilen selbstgebauten Schaukel anschubste.
In diesen wehmütigen Momenten holte Shūichi seinen Zeichenblock hervor, setzte sich auf die Veranda und zeichnete sie genau so, wie er sie gesehen hatte. Immer lächelnd, immer unerklärlich gelassen.
Wo andere fotografiert hätten, hatte er sich immer schon mehr auf seinen Bleistift verlassen und vor allem auf seine Fähigkeit, das zu sehen, was einmal war und nicht mehr ist.
Wenn er in diesen Tagen die Straße zum Konkubinen-Tunnel hinauf- und hinunterlief, hatte Shūichi den Eindruck, jemand beobachte ihn. Mehrmals drehte er sich um, aber er sah nie jemanden.
An einem Sonntag dann, zwei Wochen nach seiner Rückkehr, ging er am Friedhof vorbei und betrachtete sein Haus aus der Ferne. Als begutachtete er es zum ersten Mal, befand er den Gesamtzustand für zufriedenstellend, und doch war es ihm noch immer zu vertraut. Ihm kam die Idee, es neu streichen zu lassen. Erst jetzt wurde ihm klar, was er eigentlich im Sinn hatte: das Haus zu verändern, es so zu entfremden, dass er sich davon trennen konnte.
In diesem Moment bemerkte er einen Schatten vor der Tür.
Er blieb stehen. Sein Blick folgte der Gestalt, die ums Haus schlich. Sie guckte auf der falschen Seite durch die Fenster, schien den Eingang zu suchen.
Shūichi tat nichts. Er trat nur so nah heran, bis er erkennen konnte, dass der Schatten zu einem Jungen gehörte und dass dieser Junge das Haus sehr gut kannte.
Als er ihn mit der alten Gießkanne seiner Mutter aus dem Schuppen kommen und dann damit und einer Tasche, die voller Bücher und Krimskrams zu sein schien, in den Tunnel huschen sah, stieg er weiter den Hügel hinauf.
Er erreichte den Tunnel und spähte hinein, aber der Junge war verschwunden.
Als junger Mann war Shūichi oft in der Morgendämmerung zum Meer gefahren, das Surfbrett seitlich am Rad befestigt, während der Fuji rechts hinter der Halbinsel von Inamuragasaki aufragte. Es schien, als würde der Berg jeden Morgen aufs Neue vom Meer geboren. Er konnte das Gefühl, wenn er mit dem Surfbrett ins Wasser stieg, den gewaltigen Berg vor Augen, nur beschreiben, indem er zugab, dass er keine Worte dafür fand.
Auch als Erwachsener, als er bereits in Tokio wohnte, kam er an den freien Wochenenden nach Kamakura zurück und verbrachte den Samstag und den Sonntag damit, zwischen den Tempeln umherzuwandern oder sich an den Strand zu setzen und zu zeichnen. Manchmal nahm er auch das Rad und fuhr bis zur Enoshima-Insel, kletterte dort bis zum Gipfel und verlor sich zwischen der Lärmkulisse der Touristen und dem Horizont.
Wenn er heimkam, erwartete ihn seine Mutter schon im Garten, genauso besorgt wie in seiner Kindheit, wenn sie sein Herz abhörte. »Wie war das Meer heute?«, wollte sie wissen. Dann fühlte sie seinen Puls und fragte ihn, ob er etwa schwer atme. »Ja, aber das liegt daran, dass ich bergaufgegangen bin«, erwiderte er dann jedes Mal, und jedes Mal glaubte sie es ihm nicht.
Mit achtzehn war Shūichi an der Kunstakademie in Tokio angenommen worden. Um keine Miete zahlen zu müssen, pendelte er von Kamakura aus, aber die Stunde Zugfahrt war ihm keine Last. Am Bahnhof anzukommen und die blauen Berge wiederzusehen, entschädigte ihn für alles.
Obwohl sie im selben Haus wohnten, begegneten sich Shūichi und seine Mutter dank ihrer unterschiedlichen Tagesabläufe nur selten. In großen Abständen hatten sie immer wieder versucht, ihre Gewohnheiten aufeinander abzustimmen: das Frühstück, das zum Mittagessen wurde, nächtliche Gespräche im kotatsu, yuzu-Tee, um imaginären Halsschmerzen vorzubeugen. Die Zuneigung, die anfangs in Form minutiöser Fürsorglichkeit ausgesät worden war, war gewachsen und hatte im Laufe der Jahre eine solche Fülle an Blüten und Früchten hervorgebracht, dass sie keiner besonderen Aufmerksamkeit mehr bedurfte.
Shūichi schuldete ihr sehr viel. Vor allem seine Arbeit, die seine Tage in Farben tauchte, seine Karriere als Zeichner. Seine Mutter hatte die Kraft von Shūichis erstauntem Blick erkannt, der, seit er ein Kind war, Katzen in geheime Boten verwandelte, Fenster in magische Pforten und die im Sommer ausschwärmenden Insekten in Besucher aus anderen Galaxien. Sie hatte auch dann an ihn geglaubt, als dies durch nichts gerechtfertigt wurde.
Seit ihrem Tod war etwas in Shūichi erloschen. Er hätte es nicht erklären können, aber die Schnur, die ihn mit der Welt verband, hatte sich ein wenig gelockert.
Seine Mutter war eine fröhliche Person gewesen. Sie schien kaum Wut empfinden zu können, und wenn, dann löste sich diese in Angst auf, Shūichi könnte etwas zustoßen. Leid ließ sie allerdings jede Scham vergessen. Als sein Vater plötzlich gestorben war, vor fünfzehn Jahren, trug sie denselben Trauerkimono eine ganze Woche lang, und sie warf auch den Müll nicht weg. Shūichi besuchte sie ein paar Tage darauf und roch den Gestank schon an der Eingangstür. Die Schalen von Bananen und Milch. Nichts sonst hatte seine Mutter seit dem Morgen der Beerdigung gegessen.
Woran er sich vor allem erinnerte, war das bedingungslose Vertrauen, das sie jedem entgegenbrachte. Wenn sie an einer Person keine guten Eigenschaften entdeckte, erfand sie einfach welche. Seit seiner frühen Kindheit zeigte sie Shūichi, dass es immer eine Möglichkeit gab, die anderen zu mögen. Nicht, dass sie die Verfehlungen ihrer Mitmenschen nicht sah, aber sie belastete sich nicht durch böse Worte. »Überleg nur, wie schwer sie es schon mit sich selbst haben!« Auch wenn sie die schrecklichsten Verbrechen kommentierte, erklärte ihm seine Mutter immer, wie man die Leute ins Gefängnis sperren konnte, ohne sie dabei zu hassen. Für Shūichi war es eine Erleichterung, zu wissen, dass man auch dann respektiert werden konnte, wenn man einen Fehler gemacht hatte.
Diese Lehre, mehr als alle anderen, sollte ihn grundlegend prägen.
Und so war Shūichi angesichts des kleinen Diebs weniger verärgert als vielmehr neugierig. Was zum Teufel wollte ein Kind mit einer alten Gießkanne, der fleckigen Schürze seiner Mutter und einem angeknacksten Glas anfangen?
Er sollte bald herausfinden, dass sich dieser Diebeszug jeden Nachmittag wiederholte, wenn das Kind aus der Schule kam und er gerade das Haus verlassen hatte.
Ich will hier sterben, hatte der ältere Junge geflüstert.
Warum hier?, hatte der jüngere gefragt.
Weil ich hier weiß, wie alle Dinge heißen.
Wirklich alle?
Ja, alle. Wenn ich meine Großmutter nach dem Namen eines Insekts frage, kennt sie ihn immer. Sie weiß auch, wie man ein Schwalbennest baut und warum die Eicheln Löcher haben.
Und warum haben die Eicheln Löcher?
Weil Larven darin wohnen. Sie heißen zō-mushi, Elefanten-Insekten, weil sie einen langen Rüssel haben, wie Elefanten.
Der ältere Junge war aufgestanden und hatte eine Handvoll Eicheln aus der Hosentasche geholt.
Ich kenne auch die Orte, wo man die meisten davon findet.
Er reichte ihm eine ganz durchlöcherte. Dann flüsterte er noch einmal: Ich will hier sterben, auf jeden Fall.
Der kleinere hatte nur still die Eichel angesehen.
Dann finde ich mich, wenn ich eines Tages wie Buddha als Stein, als Eichel oder Larve wiedergeboren werde, gleich zurecht. Dann finde ich immer heim, denn hier kenne ich alle Dinge beim Namen.
Genau so hatte er sich ausgedrückt: Dann finde ich mich zurecht, wenn ich als Eichel oder Larve wiedergeboren werde. Oder hatte er doch Eichhörnchen oder Blatt gesagt? Der kleinere Junge hätte gern etwas eingewandt, etwas wie, wenn man schon wiedergeboren werden musste, dann doch lieber als Superheld oder als Dinosaurier oder als Insekt? Und wenn man sich unbedingt irgendwo hineinzwängen musste, dann würde er am liebsten in dem kleinen Loch neben der Türklinke zu seinem Zimmer wiedergeboren werden, das er selbst heimlich mit einer Gabel gebohrt hatte.
Das Leben ist eine Folge von Schiffbrüchen.
Die Insel, auf der wir ankern, der Zustand unseres Schiffs, das notdürftig zusammengeschusterte Floß, unsere Arme, das Einzige, was wir aus unserem vorigen Leben noch besitzen: All das ist jetzt wichtig. Denn beim Stranden wird unsere gesamte vorherige Existenz, wie auch immer sie aussah, zur Erinnerung.
Wie viel Leid wir auch angehäuft haben mögen, das Leben beginnt neu.
»Ein Schiffbruch?«
Die Fensterfront ging auf das Geflecht der Eisenbahnschienen der Chūo-Linie hinaus, und ein Stück weiter hinten wimmelten winzige Köpfe über eine Kreuzung mit Zebrastreifen. Dann schaltete die Ampel auf Rot, und die Stecknadelköpfe formierten sich am Rand.
Shūichi nickte. »Ja, ein Schiffbruch«, murmelte er und starrte weiter auf die Kreuzung.
»Aber die Hauptfigur begegnet dort irgendjemandem, könnte ich mir vorstellen …«
»Nein, er erleidet Schiffbruch, und das war’s.«
Shūichi drehte sich zu dem Mann um, der hinten im Raum an einem Schreibtisch saß. Er kannte dessen verwirrten Ausdruck und die Art, wie er jedes Wort in die Länge zog; das war jedes Mal so, wenn sie über ein neues Buch sprachen und der Lektor befürchtete, nicht alles zu verstehen.
»Dann ist das also eine Überlebensstory?«
»So könnte man es auch bezeichnen.«
»Ich verstehe …«
Shūichi nahm ganz Tokio mit seinem Blick auf. Es war ein strahlender Vormittag, dort unten versank die gesamte Stadt in den Fluten, wer weiß, wie viele Menschen mühsam versuchten, sich über Wasser zu halten. Und dennoch ließ das Blau des Himmels alles so unglaublich ruhig erscheinen.
»Was passiert denn dann auf dieser Insel?«
»Nichts«, erwiderte Shūichi, während er auf den Schreibtisch zuging. Er schob den Stuhl zurecht und setzte sich hin, die Ellbogen auf seine Aktenmappe gestützt. Der Lektor wich zurück und presste den Rücken gegen die Lehne seines Stuhls.
»Nichts? Passiert denn gar nichts?«
»Gar nichts. Er geht ein bisschen herum und verschafft sich einen Eindruck. Welche Tiere und Pflanzen es dort gibt. Er trifft auf die Einsamkeit, würde ich sagen, wenn man dem Ganzen unbedingt eine Bedeutung geben will.«
»Eine Bedeutung.«
»Erwachsene brauchen immer eine Bedeutung, nicht wahr?«
»Ich denke, ja.«
»Für Kinder gilt das nicht. Kinder finden eine Bedeutung in dem, was sie tun, nicht vorher oder nachher.«
Der Mann seufzte.
Shūichi stand auf und ging wieder zur Fensterfront, in dem Moment, in dem der orangefarbene Zug der Chūo-Linie den Kanda-Bahnhof durchquerte und weiter in Richtung Tōkyō-eki brauste. Er stellte sich vor, der Zug würde nicht durch Luft, sondern durch Wasser rasen und rechts und links riesige orangefarbene Wogen über die Stadt verteilen. Der Duft nach Zitrusfrüchten drang in Shūichis Nase, und er schloss die Augen.
»Ein Schiffbruch also …«
»Ja, Ishii-san, ein Schiffbruch.«
Als er das Verlagsgebäude verließ, nahm Shūichi die Treppen anstelle des Aufzugs. Hinter den Fenstern waren verschwommen die vorbeifahrenden Züge und eine hochfliegende Schar von Raben zu erkennen.
Während er die zweiunddreißig Stockwerke hinunterlief, dachte Shūichi an den Jungen, der jeden Tag bei ihm einbrach. Er fragte sich, welchen Gegenstand er wohl heute aus der Garage entwendete. Vielleicht eine Pfanne, ein weiteres Bilderbuch oder ein Gartengerät.
Er lächelte bei dem Gedanken an seinen Gesichtsausdruck, wenn er das Geschenk entdecken würde.
Um einen Mondfisch zu fangen, braucht man einen tintenschwarzen Meeresgrund und eine Handvoll Seesterne.
Um einen Schwertfisch zu erbeuten, braucht man ein festes Netz und einen Schwarm.
Um einen Hundshai zu angeln, braucht man eine Leine und viele Streicheleinheiten.
Und um einen kleinen Menschen-Fisch einzufangen? Um sein Herz zu ergattern (und ihm nicht wehzutun), was muss man da tun?
Vor einer Woche war Shūichi mitten in der Nacht aufgewacht. Sein Herz raste.
Sein Atem war so unruhig, als wäre er die Treppe hochgerannt, statt eine Stufe nach der anderen hinaufzugehen. Er hatte geträumt, er wäre wieder sechs Jahre alt und müsse die Abschlussfeier im Kindergarten noch einmal aufführen.