Das Artefakt des Weisen - Erstes Buch - Stefan Beranek - E-Book

Das Artefakt des Weisen - Erstes Buch E-Book

Stefan Beranek

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Beschreibung

Ein junger Mann, Christopher, hat nach dem Verlust von Arbeit und Freundin, beschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen und bereitet seinen Suizid vor. Am Abend seines Abschieds von der Welt bekommt er von einem Antiquitätenhändler ein Angebot für ein zweites Leben, allerdings nicht in dieser, sondern in einer anderen Welt Christopher erwacht am nächsten Morgen tatsächlich in einer anderen Welt. Er befindet sich in einem fremden Körper, trägt den Titel eines Nanjur (vergleichbar mit einem Grafen) und ist Herr über ein kleines Fürstentum, genannt Agrys. Da Christopher über keinerlei Informationen zu dem früheren Leben des Nanjur als auch über diese für ihn völlig unbekannte Welt verfügt, ist für ihn alles, was hier geschieht und gesprochen wird, völliges Neuland. Christophers neues Ich ist mit einer Frau vermählt, die ihn verabscheut, ohne dass er zunächst weiß, warum. Sie hatte ihn nicht freiwillig zum Gatten genommen und schmiedete bereits Pläne, ihn zu beseitigen. Generell scheint ihm, dass er extrem unbeliebt ist. Je mehr sich Christopher mit Land und Leuten beschäftigt und versucht, seinen Platz darin zu finden, desto mehr seltsame Dinge nimmt er wahr. Christopher trifft Entscheidungen und vollzieht Handlungen, die sich im weiteren Geschehen manchmal zum Guten, meistens aber zum Schlechten auswirken und lernt, dass all sein Tun Konsequenzen hat. Er bemerkt zudem, dass er manchmal unverhofft von einer rasenden Wut erfasst wird, die er kaum beherrschen kann. Eine Getreue des Antiquitätenhändlers, der in der Anderwelt als Rannuk Minrir Kannan bekannt ist, taucht auf, Jerissa Atlara, die angewiesen wurde, zusammen mit Christopher das Artefakt ausfindig zu machen und zu seinem in einem Land weit im Norden ruhenden Körper zu bringen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Artefakt des Weisen

Impressum

Texte:   © 2024 Copyright by Stefan Beranek

Umschlag: © 2024 Copyright by Stefan Beranek

Prolog

Die Wüste schien unendlich. Soweit das Auge reichte, lagen nur Felsen, Geröll und Steine, ohne Ordnung platziert in dunklem, grauen, mancherorts fast schwarzem Sand. Dazwischen in großen Abständen unregelmäßig verteilt kleine weiße Flecken von Eis oder hart gefrorenem Schnee, in deren Nähe knorrige und knotige Pflanzen der kalten, harten Witterung ihre Existenz abtrotzten.

Heftige Windböen trieben, ungehindert von Bäumen oder Bergen, immer wieder den Sand vor sich her, bildeten Wirbel und ließen ihn kreisen, bevor er wieder zu Boden sank. Abgesehen von krabbelnden Insekten und kleinerem Getier aus der Familie der Echsen verirrte sich für gewöhnlich nichts Lebendes hierher.

Die einzige Abwechslung in diesem tristen Bild war eine hügelartige felsige Erhebung, für die das Wort Berg bei jedoch weitem zu viel der Ehre gewesen wäre.

Das Licht der Morgensonne erzeugte ein Muster aus Licht und Schatten, in dem die höhlenartige Öffnung auf mittlerer Höhe der Erhebung nur schwer zu erkennen war, selbst wenn man wusste, dass sie sich dort befand.

Noch schwerer wäre es einem Beobachter, so sich denn jemand in diese Landschaft begeben würde, gefallen, die statuenhaft dastehende Gestalt in dieser Öffnung auszumachen, die sich, in einen dunkelbraunen Umhang gehüllt und regungslos verharrend, kaum von den umliegenden Gesteinsbrocken unterschied.

Während die Sonne sich langsam in den Himmel arbeitete, bleich und verschwommen durch die Staubwirbel sichtbar, blickte die Gestalt nur stumm von einem Ende des Horizonts zum anderen, reckte schließlich, als die Strahlen ihr Gesicht erreichten, das Kinn. Sie genoss sichtlich die Illusion von Wärme, die sie ihr vermittelten.

Die langen, fast schwarzen Haare fielen dabei über die Schultern, ein dichter Bart, struppig und graumeliert, dem man jedoch ansah, dass er noch vor nicht allzu langer Weile gestutzt und gut gepflegt gewesen war, bedeckte den unteren Teil seines Gesichts. Tiefe Atemzüge hoben und senkten die Brust, als der Mann die kalte Morgenluft einsog.

Dies waren möglicherweise die letzten Momente, die er für lange Zeit außerhalb seines unterirdischen Refugiums verbringen sollte, und daher wollte er sie so lange wie möglich genießen. Er nahm den Anblick der Weite in sich auf und spürte, wie ihn die hier allgegenwärtige Kraft durchströmte.

Hier auf Siria Tok, dem unscheinbaren Felsenhügel in den nördlichen Weiten Rilgors, war die alles durchdringende Kraft am stärksten. Rannuk wusste nicht, ob es noch weitere Orte wie diesen gab, vielleicht sogar Orte, an denen die Kraft noch deutlicher hervortrat als hier. Er wusste aber, dass er nicht noch länger warten wollte. Natürlich hätte er weitere Jahre oder gar Jahrzehnte mit der Suche und Erforschung anderer Kraftorte verbringen können, doch mittlerweile war seine Geduld diesbezüglich erschöpft.

Er hatte viele Reisen in alle Teile des Kontinents unternommen, uralte Karten, Bücher und Schriften studiert, andere weise Männer und Frauen gesprochen um genau den Ort zu finden, der für seine Zwecke geeignet war.

Dass er ihn ausgerechnet hier in Rilgor finden würde, dem kaum besiedelten, riesigen Land im Norden, hätte er sich allerdings nicht träumen lassen. Dessen rohe, grobschlächtige Einwohner nicht gerade für ihr überbordendes Wissen oder gar ausgeprägte magische Fähigkeiten bekannt waren, dafür aber absolut nicht zimperlich, wenn es um die Anwendung körperlicher Gewalt ging. Er hätte eher auf Tessarnak gesetzt, das südlichste Reich des Kontinents, dessen König Hennanjai Namharrud als einer der mächtigsten, wenn nicht gar der mächtigste Magier der Welt galt, weshalb er auch den Beinamen „Jel Cuadir“, „Der Mächtige“, bekommen hatte. Oder ihn sich auch einfach selbst gegeben hatte, denn eitel genug wäre er dazu.

Rannuk seufzte, als er daran dachte, wie viele Jahre er in Tessarnak auf der Suche nach einem Ort offener Kraft verschwendet hatte. „Ort offener Kraft“, lächelte er, ein Begriff, den er selbst erfunden hatte, und der alles ausdrückte, was nach Rannuks Ansicht bedeutsam war. Während des Studiums der alten Schriften über die großen Weisen und Magier, niedergeschrieben seit Beginn der Zeit, fing er an, bei genauerer Betrachtung der örtlichen und zeitlichen Verteilung besonderer Ereignisse oder herausragender magischer Begabungen geographische Muster zu erkennen.

Allein diese Schriften zu erlangen hatte ihm ein Vermögen an Geld und ein gerüttelt Maß an Geduld abverlangt, aber trotz aller Unbill, die es für ihn bedeutet hatte, niemals hatte er daran gedacht, sich etwas anderem zuzuwenden, sinnierte er und strich sich dabei über den Bart. „Und nun ist der Erfolg mein“, murmelte er leise.

„Rannuk Minrir Kannan, niemand wird Dich je wieder `Kadrevol´ heißen, `Der Halbhohe´!“

Er schnaubte verächtlich.

„Nicht die Größe des Körpers ist entscheidend, nicht die Größe des Körpers. Es ist der Geist allein, allein der Geist, der zählt!“, sagte er und hob dabei den Zeigefinger, als wollte er jemanden belehren.

Langsam drehte er sich um und wandte sich dem Eingang zu, vor dem er die ganze Zeit gestanden hatte. Gemessenen Schrittes trat er hinein.

„Wenn ich wiederkehre, wird Eure Bewunderung die meine sein und Eure Demut mein Labsal. Die Größe meines Wissens und meines Geistes wird Euch ehrfürchtig erschauern lassen.“

Kurz blieb Rannuk stehen.

„Aber was sollte mich bewegen, mein in Schmerz und Schweiß erworbenes Wissen zu teilen? In der Tat mag es erquicklicher sein, als Einziger den Schritt aus dem Diesseits gewagt zu haben und den süßen Wein der Erkenntnis zu genießen.“

Auf diese Frage wusste er seit langem keine Antwort. Mit einem tiefen Atemzug schob er sie, wie so oft zuvor, von sich und schritt weiter.

Er betrat einen kurzen Gang von knapp Mannshöhe und vielleicht zwei Schritt Breite, an dessen Ende ein schwerer lederner Vorhang von der Decke hing. Rannuk schob ihn beiseite und ging in die dahinter liegende Kammer, die von mehreren Öllampen in ein gelbliches Licht getaucht wurde.

Die Kammer maß etwa zehn auf fünfzehn Schritte und war im Grunde eine vergrößerte natürliche Höhle. Die Ecken hatte Rannuk von ein paar kräftigen Rilgorianern gegen einen Beutel Silber ausmeißeln lassen, um eine wenigstens annähernd rechteckige Grundfläche zu erhalten, die eine vernünftige Nutzung des einzigen Raumes, der ihm hier zur Verfügung stand, halbwegs ermöglichte.

Meiner Treu, dachte er in Erinnerung an diese Tage, hatten diese Menschen einen unangenehmen Körpergeruch gehabt! Die Reinigung und Pflege von Haaren und Haut schien bei den Menschen hier, zumindest in dem von Rannuk damals aufgesuchten Dorf, nicht gerade den höchsten Stellenwert zu besitzen.

Zunächst hatte Rannuk zwar geplant, diese Männer nach abgeschlossener Arbeit lieber zu vergiften anstatt sie zu bezahlen, um zu verhindern, dass jemand von seinem Vorhaben erfuhr, wie unwahrscheinlich das in dieser abgelegenen Gegend auch sein mochte, sich aber schlussendlich dagegen entschieden. Wären sie nicht wiedergekehrt, wäre möglicherweise, oder sogar ziemlich sicher, die ganze Sippschaft gekommen, um sich nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Und über die sehr robuste Art, auf die die Rilgorianer Erkundigungen von Menschen einzuholen pflegten, hatte Rannuk bereits in einigen Büchern und Schriften gelesen. Das wollte er keinesfalls am eigenen Leib erfahren.

Rannuk blieb stehen und sah sich um. Auf einer Seite des Raumes, direkt gegenüber dem Eingang, hatte er einen niedrigen Alkoven in die Wand schlagen lassen, der mit einem Fellvorhang geschlossen werden konnte. Im Moment war der Vorhang zu einer Seite hin gefaltet und erlaubte den Blick auf eine einfache Bettstatt mit ein paar Fellen als Decken.

Mittig im Raum stand ein kleiner Tisch, bedeckt mit einem Sammelsurium von silbernen und goldenen Werkzeugen und kaum zuordenbaren Gegenständen, daneben zwei einfache hölzerne Hocker.

Direkt hinter dem Ledervorhang, neben dem Eingang, waren ebenfalls Felle und Decken ausgelegt und zu einem behelfsmäßigen Schlafplatz am Boden ausgebreitet. Hier pflegte Ilkhan, Rannuks einziger in Rilgor verbliebener Helfer, Diener und Knecht, seine Nachtruhe zu verbringen. Seine übrigen Gefolgsleute hatte Rannuk über alle möglichen Länder und Städte des Kontinents verteilt, wo sie für ihn die verschiedensten Aufgaben erledigten, spionierten sowie auch seinen Kontakt zur restlichen Welt aufrechterhielten.

Von Siria Tok aus gestaltete es sich allerdings äußerst schwierig, die Männer und Frauen mit verschlüsselten Anweisungen über Briefe anzuleiten. Rannuks Fähigkeit, mit anderen Menschen, zu denen er eine persönliche Verbindung hatte, während des Schlafes Kontakt aufzunehmen, und mit ihnen wie in einem Klartraum zu sprechen, war von äußerst wankelmütiger Qualität. Nicht zu jedem seiner Gefolgsleute gelang es ihm überhaupt, einen Kontakt zu entwickeln und auch jene, bei denen er erfolgreich hiermit war, konnten ihn dabei manchmal entweder nur sehen oder hören, oft nur undeutlich, häufig auch keines von beidem. Es wurde wirklich Zeit, seinen Aufenthalt hier mit einem Erfolg zu beenden.

Ilkhan Hulagu, ein Mann der ihm schon von klein auf folgte und dem er mehr vertraute als jedem anderen seiner Getreuen, war nicht mehr hier. Er hatte vor einigen Tagen die Aufgabe übernommen Rannuks und sein eigenes Reitpferd sowie die drei Packesel zu einer der nächsten Siedlungen (als Dörfer mochte er diese Ansammlungen erbärmlicher Hütten nicht bezeichnen) zu bringen um sie dort sicher unterzustellen. Das Bündel Briefe, das Rannuk für einige seiner Leute in Verador, Tessarnak und Norgonn geschrieben hatte, sollte er bei der nächstgelegenen vertrauenswürdigen Botenstation abgeben und anschließend auf weitere Anweisungen warten.

Rannuk wusste selbst nicht, wie lange sein Experiment dauern würde, es konnte in wenigen Augenblicken vorbei sein als auch mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Er wollte aber auf keinen Fall durch was auch immer dabei gestört oder abgelenkt werden. Schon gar nicht durch so etwas Profanes wie etwa den zur Neige gehenden Hafer für die Tiere.

Ilkhan war zwar nicht sonderlich begabt im Umgang mit den Kraftströmen und hatte auch noch nie so etwas wie Interesse daran erkennen lassen, aber er war von hochgewachsener und kräftiger Statur und im Umgang mit Schwert, Axt und Bogen sehr geübt. Ein Mann, dem man ansah, dass er ein durchaus ernstzunehmender Gegner im Kampf war. Außerdem waren seine Gedanken flink und er hatte eine sehr gute Menschenkenntnis. Er sprach sogar ganz passabel Rilgori. Beigebracht hatte ihm die Sprache Mokno Owloson, sein Vertrauter in diesem weiten Land, den er für die Dauer seiner Abwesenheit wieder nach Barjadduun geschickt hatte. So konnte Ilkhan sich mit einem der örtlichen Dialekte im Gespräch mit den Einheimischen recht gut verständlich machen. Rannuk sorgte sich nicht darum, dass Ilkhan eine Weile alleine zurechtkam.

Ilkhan besaß außerdem die angenehme Gabe, sich aus eigenem Antrieb um all die Dinge zu kümmern, an die Rannuk meist keinen Gedanken verschwendete.

So hatte er für die Pferde und Esel am Fuß des Felsenhügels einen behelfsmäßigen Stall aus den Ästen der spärlichen Bäume in der Umgebung errichtet. Denn abgesehen davon, dass der Aufstieg für Huftiere äußerst beschwerlich und auch gefährlich war, war für sie in der Höhle natürlich auch kein Platz vorgesehen. Zu diesem Stall ging Ilkhan auch täglich hinunter um die Tiere zu versorgen.

Rannuk zog den Vorhang hinter sich zu und legte seinen Umhang ab. Er faltete ihn etwas umständlich zu einem kleinen Paket zusammen und legte ihn auf einen der Hocker. Er rieb seine Hände um die Kälte daraus zu vertreiben, die bei seinem Verharren vor dem Eingang in sie gefahren war und murmelte leise Worte der Verachtung und des Abscheus über dieses kalte Land im Norden des Kontinents, in das er gezwungen worden war seine Behausung zu suchen. Zumindest für einen gewissen Zeitraum. Auch wenn es ihm nicht schwerfiel, die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben und aus seiner Höhle fernzuhalten, so ärgerte es ihn doch immer wieder aufs Neue, dass er seine Fähigkeiten an etwas derart Profanes verschwenden musste.

Dann wandte er sich den Anwesenden in der Kammer zu. Auf jeweils einer großen Tierhaut auf dem Boden lagen zwei Gestalten, eine junge Frau und ein junger Mann, beide reglos und die offenen Augen der Decke zugewandt. Rannuk hatte die beiden bei einem seiner wenigen Besuche in den nächstgelegenen Dörfern käuflich erworben. Die Familie, deren Haus, sofern man die erbärmlichen Bauten in dieser Gegend von Rilgor überhaupt so nennen konnte, und Besitz im Jahr zuvor von einem Sturm zerstört worden war, war seither mittellos und kaum in der Lage, alle Mitglieder zu ernähren. Sowohl Mutter als auch Vater und Geschwister waren hoch erfreut über das Silber, das Rannuk ihnen geboten hatte und die Aussicht auf zwei gefräßige Mäuler weniger im kommenden Jahr.

Rannuk hatte nicht gewusst, ob er wirklich alle beide für seine Zwecke benötigen würde, nahm zur Sicherheit aber doch zwei statt nur eines der älteren Kinder, denn wenn der erste Versuch, die Kraft hier auf Siria Tok zu nutzen und zu lenken, fehlschlug, müsste er ansonsten erneut eine tagelange Reise durch die Wüstenei antreten, um sich Ersatz zu besorgen.

Die erste Mahlzeit, die die beiden hier eingenommen hatten, hatte Rannuk besonders üppig zusammengestellt. Erschöpft von dem langen Marsch und erfreut, endlich wieder etwas Richtiges zu Essen zu bekommen, hatten sie nur einige Momente gebraucht, um ihre Portionen in sich hineinzuschlingen und ihn dabei auch noch so dankbar angesehen, dass Rannuk ein wenig das schlechte Gewissen geplagt hatte.

Aber das war nun nicht mehr von Belang.

Nach dem Mahl wurden die Geschwister sichtlich müde und durften sich mit Rannuks Erlaubnis auf die Tierhäute legen, von denen sie sich nicht mehr erheben sollten.

Die Betäubung und Lähmung durch das Kraut, von dem er dem Essen eine kleine Menge beigemischt hatte, würde sicher noch einige Tage anhalten, auch wenn das durchaus nicht so lange notwendig gewesen wäre.

Rannuk griff nach einem silbernen Messer auf dem Tisch und schritt zu dem jungen Mann. Dabei breitete er die Arme aus, sammelte seine Gedanken und konzentrierte sich auf nichts anderes als die Kraft, die in dieser Höhle außerordentlich stark war, und zog die Kraftströme auf und zu sich. Er spürte deren Wirbel allseitig um sich intensiver und stärker werden. Fühlte, wie sich die ansonsten unkoordiniert bewegenden Kraftwirbel um ihn herum enger und enger wanden, wie die Haare auf seinen Armen und Beinen zu Berge standen und seine Nackenhaare kribbelten. Dann kniete er sich neben den Jungen und öffnete dem reglosen Körper mit ein paar wenigen geübten Schnitten erst das Wams und dann den Brustkorb. Im Gesicht des Jungen regte sich nichts, lediglich der Ausdruck der Augen wurde noch leerer als zuvor. Rannuk war sich nicht sicher, ob das Kraut nur lähmte oder auch das Schmerzempfinden unterdrückte, hoffte aber doch, dass auch letzteres der Fall war. Ehrlich.

Dann nahm er das noch in den letzten Zuckungen liegende Herz heraus, holte einen weiteren Gegenstand vom Tisch und drückte das Herz über diesem aus. Manche Weisen sagten bei derlei Experimenten selbst ausgedachte Sprüche auf, um ihre Konzentration auf das, was geschehen sollte, fokussiert zu halten, doch Rannuk verachtete diese Art der Durchführung. Ausgesprochene Sprache war unwichtig, allein die Gedanken lenkten die Kraft.

Er tauchte den Gegenstand kurz in den Brustkorb, dorthin, wo das Herz gewesen war und warf das Herz achtlos hinter sich. Rannuk fühlte, wie sich zwischen ihm, besser gesagt, seinem Geist, und dem Gegenstand in seiner Hand ein Band knüpfte. Erst nur als blasser Lichtstrahl für ihn wahrnehmbar, dann wie ein Spinnfaden und schließlich stark leuchtend und dick wie ein Tau. Nachdem das Band stark und fest genug war, verblasste das Leuchten und Rannuk kniete wieder im flackernden Licht der Öllampen vor dem Toten.

Nun schob er den Gegenstand in einen Lederbeutel, der an seinem Gürtel befestigt war, stand auf und wandte sich dem Tisch zu.

Der Weise war sich zwar sehr sicher, dass die Pforte, die er öffnen würde, sich auch von der anderen Seite ebenfalls wieder öffnen ließ, doch ob sie dann wirklich wieder hierher zurück zum Siria Tok führen würde, oder möglicherweise an einen gänzlich anderen Ort in einem anderen Land, das hatte er trotz seiner langen Studien nicht herausfinden können. Entweder weil das, was er vorhatte, noch nie jemand gewagt hatte, oder weil noch nie jemand von einer derartigen Reise zurückgekehrt war. Was wiederum eine Vorstellung war, die Rannuk um seiner selbst wegen sehr wenig behagte.

Also hatte er eine sichere Möglichkeit zur Rückkehr genau hierher an seinen Ausgangspunkt ersonnen, für die er auch ein erhebliches Risiko bereit gewesen war, einzugehen.

Es genügte nicht, nur einen beliebigen Gegenstand durch Blutmagie mit Kraft zu erfüllen, der Gegenstand als solcher musste bereits entsprechende Eigenschaften besitzen. Ideal waren Dinge aus edlen Metallen und Edelsteinen, die auf eine lange Geschichte im Besitz von Familien ebenso edlen Blutes blicken konnten. Warum das so war, hatte Rannuk noch nicht herausgefunden. Nicht, dass er sich darum zu sehr bemüht hätte, denn es war ihm zur Erreichung seines ersten Zieles, der Reise in die Anderwelt, nicht wichtig erschienen. Er hatte sich jedoch vorgenommen, dieses Wissen irgendwann später einmal zu erlangen.

Da er auf seine sichere Rückkehr äußersten Wert legte, war er auf der Suche nach einem dafür geeigneten Artefakt auch nach Verador gereist, einem Land, von dem er wusste, dass die Kraft dort zwar im Allgemeinen nicht sehr verbreitet und Leute, die sie zu nutzen verstanden, auch nicht wohlgelitten waren, in einigen wenigen Landesteilen dagegen jedoch sehr stark wirkte. Er hatte einige Zeit in der Hauptstadt Rhamura verbracht und die Kraftflüsse dort studiert, um herauszufinden, an welchem Ort genau sich die Wirbel am stärksten konzentrierten und Knoten oder Kreuzungen bildeten. Schließlich hatte er erkennen müssen, dass das, was er benötigte, irgendwo oben auf dem zentralen Hügel inmitten Rhamuras, direkt im Königspalast von König Korlon Prianic lag. Ausgerechnet Korlon obe Marva obe Dreva Prianic, dem man zwar viele Dinge nachsagte, aber auf keinen Fall Nachsicht mit Dieben und anderen Verbrechern.

Nicht umsonst hatte man ihm schon vor einigen Jahren den Beinamen Apakon Smearr gegeben, der legendäre Drache aus den alten Sagen, nachdem er sich, eigentlich nur aus dem mittleren Adel kommend, gegen alle Widerstände und Widersacher den Thron Veradors angeeignet hatte. Das war in erstaunlich kurzer Zeit geschehen, nachdem König Frago Bateda, den man hinter seinem Rücken nur den Inkapator nannte, den Schwachkopf, auf seltsame Weise zu Tode gekommen war.

Ein wahrlich tragischer Unfall, dessen tödlicher Ausgang das Volk so sehr betrübte, dass in Rhamura drei Tage lang auf den Straßen gefeiert wurde. Was möglicherweise auch an den vielen Weinfässern lag, die Korlon, bis dahin noch im Rang eines Bojur, kurzerhand und sehr freigiebig unter den Leuten verteilte.

Korlons Handeln und sein Ehrgeiz, sowie die Art, das Königsamt mit klaren Befehlen und harten Strafen bei Ungehorsam, zu führen, hatte allen seinen potentiellen Mitbewerbern um den Thron erheblichen Respekt eingeflößt. Viele der Berater Fragos hatten innerhalb weniger Tage ihre Sachen gepackt und Rhamura verlassen, manche waren seither ganz verschwunden.

Man munkelte, dass Dreva Prianic nicht vorhatte, es nur beim Thron von Verador zu belassen, sondern sein Machtstreben nach mehr verlangte.

Rannuk haderte mehrere Wochen mit sich, ehe er den Entschluss fasste, das Risiko zu wagen und den Diebstahl zu planen.

Er schaffte es tatsächlich, in den Palast einzudringen, ein Armband, das er als die Quelle der von ihm im Palast erspürten Macht erkannte, von dort zu entwenden und sich umgehend und Hals über Kopf davonzumachen, ohne dass sein abgeschlagener und von Krähen zerfressener Schädel das Stadttor zierte. Darauf war Rannuk, seiner Ansicht nach völlig zu Recht, sehr stolz. Korlons Häscher waren danach in ganz Verador und auch weit über die Landesgrenzen hinaus unterwegs gewesen, um den dreisten Dieb zu finden.

So war Rannuk weiter und weiter in den Norden geflohen und hatte schließlich, als sei es ein Wink des Schicksals gewesen, den Kraftströmen und Kreuzungen folgend, Siria Tok entdeckt, wo sie aus allen Himmelsrichtungen zusammenströmten.

Er nahm nun das Armband mit den Rubinen, der gleichen Art von Edelsteinen, die die Brosche zierten, die nun blutbesudelt in dem Beutel an seinem Gürtel verwahrt war, von dem Tisch, wog es kurz in der Hand, als müsste er über etwas nachsinnen, und drehte sich zu dem Mädchen um.

Dieses lag noch immer regungslos und wie tot. Rannuk überlegte, ob und was sie von dem Geschehen mitbekommen haben mochte. Ein Blick in ihre Augen offenbarte ihm nichts. Nur noch ein Schimmer von Leben war darin, jedoch war weder Geist noch Verstand zu erkennen.

Rannuk hob erneut das Messer, schnitt ihr Kleid auf und entfernte auch ihr das Herz, drückte es über dem Armband aus und warf es anschließend zur Seite.

Dann legte er das Armband anstelle des Herzens in ihre Brust, hielt beide Hände darüber, schloss die Augen und wünschte, forderte von ihm mit seinen Gedanken, eine Verbindung zu ihm zu bilden.

„Sei mein Leuchtturm im Dunkel der Pfade zur Anderwelt, sei mein Anker auf Siria Tok in Rilgor, sei gebunden an mich auf alle Zeit an jedem Ort“.

Rannuk bemerkte kaum, dass er nun selbst die Worte laut ausgesprochen hatte.

Die Strömungen und Wirbel im Raum wurden intensiver und schneller, schmiegten sich nahezu an ihn und die offene Wunde, in der das Armband lag. Er glaubte beinahe zu sehen, wie die Kraftwirbel immer stärker wurden, seine Haut kribbelte jetzt am ganzen Körper und das Armband begann in seinen Augen zu leuchten und wie ein starker Sog an ihm zu ziehen.

Rannuk ballte beide Fäuste und lächelte triumphierend.

„Ja!“, war jedoch das einzige Wort, das ihm entfuhr.

Nun legte er eine Hand auf den Beutel und streckte die andere zur Wand, bewegte den ganzen Arm dabei in kleinen Kreisen. In Gedanken formte er dabei seinen Wunsch nach einer Öffnung zwischen den Welten.

Vor seinen ausgestreckten Fingern bildete sich an der Wand ein kleiner, sich langsam drehender Wirbel aus bläulichem Licht, der allmählich größer und schneller wurde.

Rannuks Herz schlug so schnell als hätte er eben einen Wettlauf beendet. Sein Atem ging stoßweise vor Aufregung und das Lächeln hatte sich in ein breites Grinsen verwandelt.

Als er sah, dass der Wirbel stabil war, ging er schnell zu dem Alkoven und legte sich auf die Bettstatt. Auch das hatte er lange geplant und sogar bereits mehrfach geübt.

Er würde nicht komplett die andere Seite betreten, wo möglicherweise Gefahren lauerten, denen er nicht gewachsen war, sondern nur seinen Geist wandern lassen und seinen Körper hier in der Sicherheit der gut verborgenen Höhle wissen. Auf der anderen Seite würde er einfach den Körper eines schwachen Geistes in Besitz nehmen und verwenden, so lange es ihm beliebte, dort zu verweilen.

Das Leuchtfeuer des Armbandes würde ihm den Rückweg weisen, wenn er auf der anderen Seite erneut eine Pforte schuf.

Rannuk legte sich nieder, beruhigte seinen Atem und entspannte sich. Dann stand er auf, ging ein paar Schritte auf den leuchtenden Wirbel zu und blickte zurück auf seinen schlafenden Körper, der mit geschlossenen Augen so unbeweglich dalag, dass man meinen könnte, er sei gestorben, hätte sich nicht hin und wieder sein Brustkorb gehoben und gesenkt.

Mit einer Bewegung seiner rechten Hand lenkte er die Kraft um seinen ruhenden Leib. Es mochte durchaus sein, dass im Lauf der Zeit Fremde den Weg hierher fanden. Die Kraft würde ihren Blick von ihm ablenken. Sich unsichtbar zu machen, war eine Unmöglichkeit, die die Gesetze der Natur und der Kraft nicht zuließen, aber den Geist des Betrachters zu verwirren und seine Augen in eine andere Richtung zu lenken, keine große Schwierigkeit. Kurz sah er noch auf die fleischliche Hülle, die er für eine unbestimmte Dauer nicht mehr nutzen würde und wandte sich dann wieder der leuchtenden Erscheinung zu, die er herbeigerufen hatte.

Ende

Es war schon ziemlich spät am Abend und bereits stockdunkel. Stunden später als üblich kam Chris heute erst nach Hause. Das lag aber nur zum Teil daran, dass er seit einigen Wochen jede Strecke zu Fuß zurücklegte, seit er seinen Kleinwagen verkauft hatte. Verkaufen musste. Seine Finanzen waren seit einiger Zeit mehr als miserabel.

Zum anderen und eigentlich auch ausschlaggebenden Teil lag es daran, dass er eigentlich gar nicht wirklich sonderlich schnell heimkommen wollte. Jede Gelegenheit auf seinem Weg irgendwo abzubiegen, auch wenn es nicht notwendig gewesen wäre, manchmal etwas länger als nötig zu verweilen oder auch die eine oder andere Querstraße entlang zu gehen, obwohl sie ihn seiner Wohnung nicht oder nur wenig näherbrachte, hatte er reichlich genutzt. So war es trotz der sommerlichen Jahreszeit bereits dunkel geworden, als Chris endlich in seine Straße einbog.

Viel hatte er natürlich nicht mehr bekommen für seinen fast zehn Jahre alten Fiat Punto, aber zumindest für die letzte Miete (wenn er sparsam war vielleicht auch die nächste) und ein wenig Einkaufen zum Leben reichte es erstmal.

Eher überleben als leben, dachte Chris, als er mit Plastiktüten (die als umweltfreundlich angepriesenen Papiertüten waren ihm für die Schlepperei auf der langen Strecke vom Stadtzentrum bis zu seinem Wohnblock bezüglich Reißfestigkeit viel zu unsicher) und seinem Rucksack bepackt vor der unteren Eingangstür stand, die Tüten abstellte und seinen Schlüssel aus der Jeans fummelte. Seine langen blonden Haare, die er üblicherweise mit einem Basecap oder einem Beanie bändigte, hatte er heute mit einem einfachen Gummi zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihm bis über die Schulter fiel.

Der Hauseingang lag etwa zehn Meter von der einigermaßen gut beleuchteten Nebenstraße entfernt unter dichten Laubbäumen im Schatten der Straßenlaternen.

Ein asphaltierter Weg führte im 90° Winkel vom gepflasterten Bürgersteig schnörkellos und direkt zum Eingang des zwölfstöckigen Blocks.

Die Wurzeln der alten Bäume hatten den Asphalt schon an einigen Stellen teilweise aufgedrückt und gesprengt, so dass der Fußweg im Dunkeln eher einem Hindernispfad glich.

Die Lampe über dem Eingang wurde zwar durch den installierten Bewegungsmelder brav eingeschaltet, aber die Beleuchtung dauerte weder ausreichend lang, noch war es auch nur annähernd hell genug, um das Schloss eindeutig im metallenen Rahmen der Tür zu identifizieren und mit dem Schlüssel auch noch hineinzutreffen.

Wieder einmal ärgerte er sich darüber, dass der Hausmeister, der mehr ein Phantom war, das er hauptsächlich vom Hörensagen her kannte, als dass er ihn tatsächlich aktiv an irgendeiner Instandhaltung oder Reparatur arbeitend gesehen hätte, bloß eine mehr als trübe Funzel da oben reingeschraubt hatte. Diese war dann auch noch so dämlich platziert angebracht, dass man auf der Suche nach dem Schlüsselloch sich selber im Licht stand.

Hatte bestimmt Oma Beimer so haben wollen, damit sie von ihrem Fenster aus die Leute besser erkennen konnte, murmelte Chris leise vor sich hin. Er blickte unvermittelt hinüber. Frau Wolloschonnek, die von den übrigen Mietern, natürlich nur hinter ihren Rücken, gerne Oma Beimer oder auch Krösa Maja genannt wurde, war stets über alles und jeden bestens informiert und hatte keinerlei erkennbare Hemmschwelle diese Informationen auch mit allen und jedem zu teilen.

Das Fenster war dunkel, aber Chris war überzeugt, dass seine Ankunft ihr keineswegs entgangen war, dass sie mittlerweile auch schon hinter dem Vorhang stand und ihn beobachtete. Er winkte spöttisch hinüber und drehte sich wieder dem Schloss zu. Das Licht ging aus.

War ja klar.

„Ich bin nicht der Rote Blitz, oder `Flash´, wie er heute heißt! Verdammt noch mal!“, grummelte Chris vor sich hin. Er wedelte mit der Hand in Richtung Sensor und ging in die Hocke, als die Lampe erneut anging. So konnte er das Schlüsselloch am besten sehen, traf daher bereits beim zweiten Versuch und öffnete die Tür.

Mit einem ausgestreckten Fuß hielt er sie auf, angelte die beiden Tüten vom Boden und drückte sich dann rücklings in den Eingangsbereich. Geschafft, dachte er, während die Tür langsam wieder ins Schloss fiel. Mit der Schuhspitze betätigte er einen der orange leuchtenden Schalter für die Flurbeleuchtung, ohne die Tüten erneut abzustellen. Ein Hoch auf sein Kampfsporttraining, dachte er spöttisch, die Beimer wäre jetzt aufgeschmissen gewesen. Es geht doch nichts über eine gut gedehnte Muskulatur in den Beinen.

Der Weg zum Fahrstuhl wurde nun hell erleuchtet. Der funktionierte erstaunlicherweise sehr zuverlässig. Gottseidank, Chris wohnte im sechsten Stock. Obwohl sich seit Beginn seiner Fußgängerära seine aus dem Training schon recht gute Kondition nochmal merklich verbessert hatte, verspürte er nicht das geringste Bedürfnis, den Einkauf sechs Treppen nach oben zu schleppen.

Links und rechts befanden sich je zwei Türen zu den billigsten Wohnungen im Block, kleine Zweizimmerwohnungen und Einzimmerappartements von irgendwelchen Leuten, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Wenn das doch irgendwann einmal passiert sein sollte, konnte er sich zumindest nicht an ein Gesicht erinnern.

Manchmal zweifelte er sogar daran, dass sie überhaupt bewohnt waren. Wer möchte schon direkt im Eingangsbereich eines Vielparteienmietblocks wohnen, wo jeder Mieter oder Besucher als erstes vorbeikommt und wahrscheinlich abends dann auch noch laut flucht, weil das Licht draußen nicht richtig funktioniert.

Am Ende des Eingangsflurs öffnete sich der Hauptflur nach beiden Seiten.

Chris ging zum Fahrstuhl, und wieder einmal fiel ihm auf, dass es trotz der vielen Wohnungen und Mietparteien hier im Block extrem still war. Niemand hier hatte Hunde (waren offiziell verboten) oder etwa gar kleine Kinder (waren nicht offiziell verboten). Alles was den nachbarschaftlichen Frieden stören könnte war hier absolut unerwünscht und wer etwas von der Norm abzuweichen versuchte, naja, der konnte dann sehen, was er davon hatte. Nachbarn können ziemlich fies sein. Vor allem lächelnde alte Damen wie Oma Beimer.

Der Hauptflur ging vom Aufzug aus in beide Richtungen bis zu den Gebäudeenden. Links und rechts in wenigen Metern Abstand voneinander befand sich eine Wohnungstüre nach der anderen.

Das einzig hörbare Geräusch war das Klacken seiner Schritte auf dem Linoleumboden. Hier im Flur waren nur Fernseher oder Radio auf Zimmerlautstärke aus dem einen oder anderen Appartement mehr zu erahnen als zu hören oder gar irgendetwas zu verstehen, während Chris auf den Aufzug wartete.

Das Licht im Flur erlosch. War ja klar, dachte er wieder und überlegte kurz, den nächstgelegenen Schalter aufzusuchen. Hätte ihn aber zwei Schritte gekostet. Er entschied sich dagegen. Die Fahrstuhltüre öffnete sich und er stieg in die beleuchtete Kabine dahinter, drückte die 6 und wartete geduldig, bis sich die Tür wieder schloss und er nach oben fuhr. Allein, wie immer.

Als er hier eingezogen war, so als junger Single, (seine Bianca hatte er erst ein paar Monate später kennengelernt) war er des Öfteren mit dem Aufzug einfach so rauf und runtergefahren in der Hoffnung und der irrigen Annahme, dass er so auch ganz zwanglos die übrigen Mieter oder, noch besser, Mieterinnen, kennenlernen würde. Irgendwann mussten doch andere Bewohner auch mal zusteigen, mit denen man in Kontakt kommen konnte. Vielleicht war mit ein wenig Glück ja sogar was Hübsches dabei. Ein bisschen Smalltalk und ein freundliches Lächeln, dann mal auf einen Kaffee einladen oder eingeladen werden und vielleicht ergab sich ja was.

Das tat es nicht. Er begegnete allerdings Frau Wolloschonnek und verfluchte den Tag noch heute. So extrem viel Text in so kurzer Zeit. Sie informierte ihn über das schlechte Benehmen eines Herrn XY aus dem dritten, die Essgewohnheiten der dicken Dame aus dem vierten, deren Namen er sich nicht gemerkt hatte und vieles mehr das ihn noch weniger interessierte. Zu guter Letzt hatte sie ihn auch noch zum Kaffee eingeladen. „Hab auch immer lecker Plätzchen“, hatte sie ihm mit einem verschwörerischen Blick zugeraunt, der ihm damals eine richtige Gänsehaut verursacht hatte.

Seitdem hatte er es immer vermieden ihr zu begegnen und aus diesem Grund auch häufig die Hintertreppe benutzt.

Bald hätte sie wohl wieder eine Geschichte zu erzählen.

„Wissen Sie schon das Neueste? Der junge Mann aus dem sechsten Stock, ja der Langhaarige mit der Brille, also was der gemacht hat? Nein?“, (überraschter Ausdruck im Gesicht)

„Ich erzähle das ja nicht jedem, aber“, (im Flüsterton, um die Dramatik zu erhöhen), „ich habe schon immer gewusst, dass mit dem was nicht stimmt“. 

Und dann würde sie ihre ausgeschmückte Variante der Geschehnisse von sich geben, eine Mischung aus Zeitungsbericht, Radio und Rosamunde Pilcher Roman. Vielleicht würde auch noch ein bisschen „Tatort“ eingestreut, der ja eine ihrer Lieblingssendungen war, wie er schon in seiner ersten Begegnung mit ihr ebenfalls erfahren hatte.

Als in der Anzeige über der Türe die 6 aufleuchtete und die Kabine merklich bremste, öffnete sie sich in einen dunklen Flur, der sich von dem im Erdgeschoss lediglich darin unterschied, dass er keinen Ausgang in der Mitte hatte. Nur ganz hinten führte je eine Glastüre mit Metallrahmen zu den beiden Treppenhäusern, über die im Brandfall das Gebäude verlassen werden konnte und sollte. Das Glas war mittlerweile durch die eine oder andere Unachtsamkeit (?) des einen oder anderen Mieters oder Gastes mit spinnennetzartigen Sprüngen überzogen. Schon eine ganze Weile, eigentlich konnte sich Chris gar nicht erinnern, sie jemals völlig intakt gesehen zu haben.

Er drückte wieder mit dem Fuß auf den nächsten Lichtschalter, wandte sich nach rechts und trabte durch den weißgetünchten Gang zu seiner Wohnung.

Dort kramte er den Schlüssel aus der Hosentasche und sperrte auf. Interessant, dachte er, das Licht ist ja immer noch an. Da hat unser lieber Hausmeister wohl einen Fehler gemacht. Chris grinste.

Selbstgespräche zu führen und sinnlos vor sich hinzukichern über Dinge, die absolut nicht witzig sind, sind ernsthafte Anzeichen dafür, dass man durchdreht. Hatte Chris mal irgendwo gelesen oder gehört.

„Anscheinend ist es bei mir jetzt schon so weit“, murmelte er und kicherte bei dem Gedanken daran, wie er sich das auch noch selbst bestätigte.

Wunder wäre das keines. Was bei mir so alles richtig Scheiße gelaufen ist, reicht ja auch eigentlich für drei.

Er betrat seine Wohnung, stellte die Tüten ab und schloss, nachdem er den Lichtschalter betätigt hatte, die Türe. Den Sicherheitsriegel vorzuschieben, machte er sich nicht die Mühe. Wozu auch? Sollte hier jemand einbrechen würden ihm vor Mitleid die Tränen kommen, wenn er Chris´ traurigen Besitzstand sah. Und wenn er meinen Kontostand sähe, würde der Einbrecher noch Geld dalassen. Wieder grinste Chris und wunderte sich über sich selbst. Er fühlte sich locker und gelöst. Die ganze Verkrampftheit und Melancholie (möglicherweise auch eine gehörige Portion Selbstmitleid), die seine ständigen Begleiter gewesen waren, seit alles in seinem Leben irgendwie nur noch kacke lief, schienen wie weggeblasen.

Das Appartement bestand aus einem einzigen Raum, einer Wohnküche, mit angrenzendem Bad. Als er durch die Türe war, stand er praktisch direkt vor der kleinen Küchenzeile, die rechts an der Wand die paar Meter bis zur Balkontüre reichte. Zur linken war der Wohn- / Ess-/ und Schlafbereich. Ein billiger IKEA Tisch, eine ausziehbare Couch mit über einem halben Dutzend mehr oder weniger hässlichen kleinen Kissen vom Second Hand Laden unter dem einzigen Fenster neben der Balkontüre und eine Anrichte, auf der ein kleiner Fernseher neben seiner relativ neuen Kompaktstereoanlage (sogar WLAN und Bluetooth fähig!) stand, waren sein gesamter Besitz an Mobiliar.

Die Regale an den Wänden hatte er selbst zusammengebaut. Die Bretter und Leisten dazu hatte er mal aus einer Aktion vom Baumarkt gekauft. Darin stapelten sich seine CDs und Bücher. Der Teil Bücher, der nicht mehr reinpasste, reihte sich fein säuberlich auf dem Boden an der Wand entlang. Hauptsächlich Fantasy-Romane, Sachbücher über Geschichte und historische Romane. Von „Geschichte der Kreuzzüge“ über „Das Römische Reich“, „Die Völkerwanderung“, „Waffen und Rüstungen des Mittelalters“, „Belagerungsmaschinen und –taktiken der Antike“ war so gut wie alles vertreten, was Technik und Wissen betraf, das heute ziemlich nutzlos war. Vor allem, wenn man als Beruf Schlosser gelernt hatte, und aktuell die meiste Zeit mit der Erstellung von Fräsprogrammen verbrachte oder selbst an der CNC Fräse stand.

Chris war unglaublich fasziniert von den technischen Leistungen und Errungenschaften, die die Menschen der Antike, hier vor allem die Römer, und auch des europäischen Mittelalters, mit den ihnen damals zur Verfügung stehenden Mitteln vollbracht hatten. Und alles ohne Computer.

Er hatte nicht nur viele Bücher über Schmiedekunst, Waffen und Rüstungen von der Antike bis zur Neuzeit und die damalige Kriegsführung gelesen, sondern sich auch sehr viel mit Büchern über Schwertkampfkunst in Mitteleuropa und Japan beschäftigt. Chris hatte vor einer Weile auch mit dem Gedanken gespielt, einen Kurs an einer Kendo – oder generell Schwertkampfschule zu machen, aber dann festgestellt, dass diese Art von Kampfkunst anscheinend nicht mehr sonderlich populär war. Zumindest gab es in erreichbarem Umkreis nichts dergleichen im Angebot irgendeines Sportvereins.

In seinem Bücherportfolio befand sich auch eine überlieferte Abhandlung zur Herstellung von bronzenen Kanonen, sowohl solche für Landarmeen als auch für Schiffsbestückung. Nach dieser hatte er in allen möglichen Antiquitätenläden und Buchhandlungen und natürlich auch im Internet gesucht, nachdem er den seiner Ansicht nach, absolut genialen Roman „Der Meister des siebten Siegels“ verschlungen hatte. Allerdings war dieses Werk sprachlich anscheinend noch im wirklichen Original und daher so veraltet und verschwurbelt geschrieben, dass er tatsächlich drei Anläufe gebraucht hatte, bis er komplett durch war und zumindest glaubte, es auch halbwegs verstanden zu haben.

Sein Interesse an Geschichte und damaliger Technik endete aber etwa im Spätmittelalter, als Kanonen und Schusswaffen immer mehr das Feld übernahmen und die richtigen Zweikämpfe, also Mann gegen Mann, eher zur Seltenheit wurden.

Weitreichende Artillerie oder gar Raketen sowie moderne Gewehre, die über hunderte Meter genau ihre Ziele trafen, fand er langweilig und, naja, auch ein wenig unehrenhaft. Wahrscheinlich war er extrem altmodisch und einfach völlig aus der Zeit gefallen.

Irgendwann, hatte Chris sich vorgenommen, würde er selbst mal ein Schwert schmieden. Angebote von professionellen Werkstätten im Internet zum Schmieden eines eigenen Messers gab es reichlich. Für ein ganzes Langschwert hatte er aber noch nichts gefunden gehabt. Anscheinend war das derzeit nicht so richtig in, und es gab trotz der vielen Mittelalterfestivals (neben dem großartig aufgezogenen bei Schloss Kaltenberg in Bayern) hierfür keinen wirklichen Markt.

Seine Leidenschaft für Mittelalter und Fantasy hatte er früher noch mit einer Gruppe gleichgesinnter in Rollenspielen ausgelebt. Zunächst mit AD&D, dann umgestiegen auf „Das schwarze Auge“, das dem Spielmeister und auch dem Spieler ihrer Ansicht nach wesentlich größere Freiheitsgrade bot. Zunächst mit vorgefertigten Spielen in gekauften Heften, dann, als sie immer professioneller wurden, mit mehr und mehr selbstgeschriebenen Abenteuern und sogar ganzen Kampagnen. Allerdings hatte sich die Gruppe, zumeist Schüler, Azubis und Studenten, irgendwann aufgelöst. Der eine zog weg, weil er sein Masterstudium im Ausland begann, der Nächste bekam ein Jobangebot in einer etwas weiter entfernten Stadt und kam zunächst nur noch sporadisch, dann gar nicht mehr zu den Sitzungen. Als dann zwei der Schüler nach ihrem Abschluss ebenfalls aufgrund ihres Studiums wegziehen mussten, war es komplett vorbei gewesen.

Chris hatte danach noch das eine oder andere Soloabenteuer durchgespielt, aber das war bei weitem nicht das Gleiche wie mit der Gruppe eine selbst geschriebene Kampagne zu bestehen.

Neben den Büchern lagen am Boden seine zerfledderten und ausgeschlagenen Boxhandschuhe und seine verknuddelte Kampfsportkleidung. Außer allem was Mittelalter und Antike betraf, waren Kampfsportarten wie Boxen, MMA oder K1 seine einzige weitere wirkliche Leidenschaft. Bei den beiden letzteren beschränkte sich die Leidenschaft aber nur aufs Zuschauen im Fernsehen oder auf Youtube, wo er sich öfter mal die Kämpfe von seinen aktuell beliebtesten Sportlern, Badr Hari, Peter Aerts und natürlich Rico Verhoeven, gerne auch mehrmals nacheinander, ansah.

Wobei das mit der Leidenschaft beim Boxen auch recht schnell vorbei gewesen war, als Chris zum ersten Mal tatsächlich selbst im Ring gestanden und drei Runden lang ordentlich Prügel kassiert hatte.

Er war gerade mal eineinhalb Jahre bei dem Verein gewesen, als ihn Heiner, der Trainer und Eigentümer des Boxstudios, gefragt hatte, ob er mal Lust hätte sich mit Leuten aus einem anderen Verein zu messen. Chris war vor Stolz fast geplatzt, dass sein Trainer IHN fragte und hatte irrigerweise angenommen, das sei so etwas wie eine Auszeichnung, weil er ihn für besonders gut hielt. Im Nachhinein war Chris der Überzeugung, dass Heiner ihn lediglich mal „in freier Wildbahn“ und auf sich selbst gestellt in einem echten Kampf sehen wollte. So als eine Art Prüfung. Wenn dem so war, hatte er sie jedenfalls ziemlich verkackt, auch wenn Heiner sich danach in keinster Weise etwas in der Richtung anmerken ließ. Er hatte mit Chris ganz sachlich seine Fehler analysiert (und das waren eine ganze Menge) und ihm sehr gut erklärt, warum er diesen und jenen Treffer kassiert hatte. Und weil er immer wieder die gleichen Fehler gemacht hatte, hatte er auch immer wieder diese und jene Treffer abbekommen. Aber, und darauf legten sowohl Chris als auch Heiner großen Wert, er war nicht zu Boden gegangen, sondern hatte die drei Runden durchgestanden.

„Wahnsinn!“, hatte Heiner in jeder Rundenpause gesagt, „Was Du alles einstecken kannst! Echt bewundernswert. Aber dafür gibt´s halt keine Punkte, weißt Du? Warum gibst Du dem Arsch da in der anderen Ecke nichts zurück?“

Am liebsten hätte Chris ihm eine reingesemmelt.

Danach war Chris zwar noch regelmäßig zum Training gegangen, hatte aber nie wieder an einem Turnier teilgenommen.

„Ich habe das beim letzten Mal gemerkt, es ist noch zu früh für mich. Noch ein Jahr ordentliches Training und Routine, dann geh ich wieder ran“, hatte er schon ein paar Mal als Ausrede benutzt. Mittlerweile fragte Heiner ihn schon nicht mehr, wenn mal wieder ein Turnier anstand.

Dabei betrachtete Chris sich selbst eigentlich nicht als Feigling. Im Training fand er sich gar nicht so schlecht, hielt sich für recht schnell und beweglich, seine Techniken beim Schattenboxen vor dem Spiegel passten auch meistens ganz gut.

Es machte ihm auch nichts aus, mal einen Schlag abzubekommen, bei dem man Sterne sah, das gehörte einfach dazu. Aber dauernd Schläge abzubekommen, bei denen man Sterne sah, und das drei Runden lang, davon hielt er nun mal nicht so viel. Und genau so war sein erster und bisher einziger richtiger Kampf eben verlaufen.

Seine anderen Klamotten verstaute er zusammengelegt in ein paar Obstkisten in der Ecke hinter dem Sofa. Um sie vor Staub und Schmutz zu schützen, hatte er ein Leintuch darübergebreitet. Gewaschen wurden sie im Münzautomaten am Ende der Straße, im Waschsalon bei Uschi´s. Und das auch nur, wenn es gar nicht mehr anders ging, also die morgendliche Geruchsprobe vor dem Anziehen negativ ausfiel.

Chris leerte den Rucksack auf die Ablagefläche in der Küchenzeile.

Aus dem Haufen nahm er eine Packung mit Baufolie (20m2, extra stark), zwei Rollen Malerkrepp und das Teppichmesser sowie das Eis Spray und die Wärmflasche, die er von der Apotheke geholt hatte, und legte sie zusammen auf den Wohnzimmertisch.

„Euch brauch ich erst später“, murmelte er.

Aus den Plastiktüten zauberte er dann als erstes eine Flasche Whisky. Er hatte sich vorgenommen, zur Feier des Tages einen richtig edlen Tropfen zu besorgen. Beispielsweise einen Macallan Triple Cask Matured, 15 Jahre alt, oder einen 16 Jahre alten Lagavulin.

Dazu hatte Chris eine edlere Vinothek aufgesucht, in einer gepflasterten Seitenstraße nicht weit vom Stadtplatz, von der er wusste, Google sei Dank, dass sie auch über einen eigenen Raum für Whisky, Gin und Rumsorten verfügte.  Tatsächlich hatte er da auch einen Macallan aus dem Sherry Oak Fass, eine absolute Rarität, entdeckt.

Verschlossen hinter Glas in einem alten oder auf alt gemachten, dunklen Holzregal. Chris stand vor der verschlossenen Türe und suchte nach Anzeichen für eine Bepreisung des edlen Tropfens. Neben den Flaschen in ihren mit Holzwolle gepolsterten Holzkästchen lagen kleine Täfelchen, ebenfalls aus dunklem Holz, mit Kreide beschrieben. Ein Vergleich der Zahlen auf den Täfelchen in Gedanken mit dem Inhalt seiner Brieftasche war allerdings ziemlich ernüchternd. Was auch immer hier feilgeboten wurde, befand sich weit jenseits seiner Möglichkeiten. Wie vermessen von ihm, dass er auch nur daran gedacht hatte!

Der freundliche ältere Herr im Anzug in dem Laden ließ ihn zunächst stöbern und erkundigte sich dann vorsichtig nach seinen Wünschen und Vorlieben.

Er versuchte ehrlich ihm bei der Wahl zu etwas für seinen Bedürfnisse passendem behilflich zu sein und schien gar nicht zu bemerken, wie Chris jedes Mal, wenn sein Blick auf eines der Preistäfelchen fiel (und nicht einmal jede Flasche war mit einem Preis versehen, Chris vermutete daher, die für besonders teure Sorten mussten persönlich erfragt werden) fast zusammenzuckte bevor er sich ostentativ der nächsten Flasche zuwandte.

Am Ende musste er sich nach einem erschrockenen Blick auf die Armbanduhr ganz eilig verabschieden. Ja ja, die vielen Termine und überhaupt die ganze Hektik in der heutigen Zeit, hatte ihm der Verkäufer beigepflichtet, als Chris sich für die gute Beratung vielmals bedankt und versprochen hatte, er käme dann ein andermal wieder. Stattdessen war er zum nächsten Supermarkt marschiert, wo er für sein Geld gerade noch eine Flasche Jim Beam erstehen konnte. Die stellte er nun auch auf den Wohnzimmertisch.

„Bin ja mal gespannt, ob ich Dich heute noch leer bringe“, sagte er traurig lächelnd zu der Flasche.

Natürlich hätte Chris auch tiefer für den Whisky in die Tasche greifen können und dafür eben beim Essen sparen. Da schlugen kurz zwei Herzen in seiner Brust. Vom Essen hätte er aber wahrscheinlich, oder ziemlich sicher, mehr als vom Whisky. Das würde er richtig genießen, vom Whisky wohl nur das erste, vielleicht auch das zweite Glas, ehe die Benommenheit, die der Alkohol verursachte, auch auf seine Geschmacksnerven übergriff.

Filet von der Fleischtheke, nicht aus dem Kühlregal, frischer Brokkoli, ein Netz mit Kartoffeln, Karotten, Bündel mit frischen Kräutern. Wann hatte er zum letzten Mal frisches Gemüse oder Kräuter gekauft? Das schien unvorstellbar lange her gewesen zu sein, damals, als er noch Geld verdient hatte. Unglaublich, dass das erst zwei Monate her sein sollte.

Er legte seine Einkäufe auf die kleine Ablagefläche und, als hier der Platz ausging, das Gemüse ins Spülbecken. Alles bereit um sich ein formidables Abendessen zuzubereiten. Das Wasser lief ihm schon im Mund zusammen.

Chris verstaute den Rucksack mit einem gezielten Wurf hinter dem Sofa und hob eine der Tüten an, um sie zusammenzufalten und in die dafür vorgesehene Schublade zu legen.

Etwas Kleines in einer Papiertüte purzelte heraus und klackerte auf den Boden.

„Hoppla, wie konnte ich Dich denn vergessen?“, fragte Chris den kleinen Gegenstand und grinste wieder. Und kam sich wieder dämlich vor. Er hob das kleine Metallteil auf und betrachtete es näher. Sah aus wie eine Rune in einem Gesicht. Kleine Edelsteinsplitter (angeblich Rubine, wahrscheinlich eher Glas) in den Augen, ansonsten ziemlich unscheinbar. Er steckte es in die Hosentasche. Und wandte sich zum Herd, um sich die tollste Mahlzeit seit langem zu gönnen.

Er hatte lange gestöbert in seinem Lieblingskochbuch „Was eyn teutsches Mannsbild bey Kräfften hält“, bis er sein Menü zusammengestellt hatte. Dann hatte er es, weil viel zu aufwendig zu kochen bzw. in der Vorbereitung, ein paar Mal wieder verworfen und neu zusammengestellt. Am Ende hatte Chris auf Youtube ein Video von Jamie Oliver angesehen, in dem er Filet mit Gemüse in der Pfanne zubereitete.

Bei dem war er hängengeblieben.

„Das ist es. Eine Mahlzeit vom Sternekoch zum Abschluss“, hatte er beifällig gesagt und den Einkaufszettel runtergeladen.

Herr von Rabenholz

Während er sein edles Abendgericht zubereitete, dachte Chris an den komischen Laden, in dem ihm das kleine Schmuckstück aufgefallen war.

Er schien uralt zu sein, und doch hatte er ihn erst heute zum ersten Mal wahrgenommen. Wie oft war er die Straße zuvor schon entlanggelaufen? Bestimmt hundert Mal.

Irgendetwas hatte seinen üblicherweise dem Boden zugewandten Blick zur Seite gelenkt. Gerade so als hätte ihn jemand angesprochen: „Komm rein, hier gibt es was für Dich!“

Abrupt war Chris stehengeblieben und hatte sich nach allen Seiten umgesehen. Außer ihm gingen noch ein paar Leute auf dem Bürgersteig, aber niemand schien ihn zu beachten. Er blickte auf das Schaufenster des kleinen Geschäfts, vor dem er stand. In der Auslage lag ein Sammelsurium von alt aussehenden, irgendwie seltsamen Schmuckstücken, alten Büchern, antiken Waffen und verschiedenen metallenen Gegenständen, die er nicht auf Anhieb zuordnen konnte.

Eine irgendwie geartete Ordnung konnte Chris nicht erkennen.

Auf einer ausgerollten Pergamentrolle stand „Soulsaving Gifts ... and more“. Eines der Bücher war eine offenbar sehr alte, aber gut erhaltene Ausgabe von SunTzus „Kunst des Krieges“.

Na, das scheint ja doch ein recht cooler Laden zu sein!

Chris öffnete die Eingangstür, eine (natürlich alte) Holztüre mit schmiedeeiserner Klinke.

Im Inneren war es, wie erwartet, eher düster und roch leicht muffig.

Eine einzelne Stufe führte nach unten in den Verkaufs- und Ausstellungsraum.

Der ganze Boden bestand aus dunklen Holzdielen, weder geölt noch lackiert, die einfach nur uralt aussahen. Aber absolut sauber. Entweder wird hier ständig geputzt oder ich bin der erste Kunde heute, dachte Chris.

An den Wänden standen mehrere ziemlich antik aussehende Holzvitrinen mit diversen Gegenständen und Büchern, die Mitte des Geschäftsraums wurde von einem riesengroßen ebenfalls uralt scheinenden Tisch eingenommen, der vor Büchern, Broschen, Ketten, Schwertern, verschiedenen großen und kleinen Kerzenhaltern und allen möglichen kleinen Schmuckstücken geradezu überquoll. Die Wände waren nicht verputzt, so dass dort, wo sie nicht durch die Vitrinen verdeckt waren, die roten Backsteinziegel zu sehen waren.

Rechts an der Wand befand sich eine Theke aus dunkelbraunem Holz mit einer richtig alten mechanischen Kasse darauf, vermutlich noch aus dem letzten Krieg (was für eine passte denn sonst hier rein?). Neben der Kasse lag ein dickes in Leder gebundenes Buch. Der ganze Raum strahlte Alter und Antike aus. Und Ruhe.

Als Chris die Stufe hinunterstieg, bimmelte ein Glöckchen. Durch einen dunkelroten Stoffvorhang seitlich neben der Theke, den er erst jetzt bemerkte, kam ein etwas älterer Mann, nein, kein Mann, korrigierte sich Chris, ein richtiger Herr, und grüßte ihn freundlich.

Er trug eine dunkle Anzughose und eine dunkle Weste über seinem blütenweißen Hemd. Richtig vornehm sah der Mann aus. Seine Nase zierte eine altmodische Nickelbrille mit runden Gläsern, die sehr gut mit seinem fast weißen aber immer noch vollen Haupthaar harmonierte. Genauso stellt man sich einen richtigen Adligen vor, dachte Chris.

Der Ladenbesitzer hielt inne und schien überrascht von Chris´ Erscheinen. Er blieb beim Vorhang stehen, neigte den Kopf etwas zur Seite und musterte ihn kurz. 

„Einen wunderschönen guten Abend junger Mann!“, sagte der Alte schließlich mit einem leichten Nicken.

„Ich bin Heinrich von Rabenholz, Besitzer dieses Kleinods und auch Eigentümer all dieser Kostbarkeiten, die ich hier feilzubieten die Freude habe“, sagte der Herr und schwenkte dabei seine rechte Hand mit einer ausladenden Bewegung über den Tisch.

„Äh, ja, guten Abend, Christopher Sienborg“, antwortete Chris etwas verdattert.

Wo hatten sie denn den rausgelassen? Und wieso hatte er sich ebenfalls gleich mit seinem ganzen Namen vorgestellt?

Aber irgendwie war ihm Herr von Rabenholz gleich auf Anhieb sympathisch. Er war einfach etwas anders als die anderen. So wie Chris selbst ein bisschen anders war beziehungsweise sich dafür hielt. Er hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, sich in Gruppen einzufügen. Nicht, dass er nicht akzeptiert worden wäre, er hatte lediglich keinerlei Interesse daran mit „normalen“ Leuten zu verkehren und seine Zeit mit banalen Gesprächen über Fernsehserien, Politik und ähnlichem Kram zu verschwenden. Er genoss es sehr, einfach allein zu sein und sich stundenlang in einem seiner Bücher zu vertiefen.

So in etwa schätzte er von Rabenholz auch ein. Schon allein, weil er so ein bisschen komisch redete.

„Wonach ist Ihnen denn heute? Suchen Sie etwas bestimmtes, das zu finden ich Ihnen möglicherweise behilflich zu sein vermag?“, fragte Herr von Rabenholz freundlich.

„Heute? Ich bin heute das erste Mal hier. Hab den Laden ehrlich gesagt noch nie gesehen.“

Von Rabenholz zog die Augenbrauen hoch. „Oh. Dann scheine ich offenkundig einer Verwechslung anheimgefallen zu sein.“

Er wirkte tatsächlich betroffen.

„Kein Thema! Ich wollte mich eigentlich nur kurz umschauen“

„Selbstverständlich! Sollte etwas Ihr Interesse wecken, lassen Sie es mich einfach wissen.“

Damit wandte sich Herr von Rabenholz um und ging hinter den Tresen, öffnete das dicke Buch, das neben der Kasse lag, nahm einen Füllfederhalter und schien Notizen darin zu machen. Vermutlich wollte er in erster Linie nur, dass Chris sich nicht beobachtet fühlte. Ist nicht aufdringlich, ein guter Mann, der Verkäufer, dachte Chris.

Er schlenderte um den Tisch und betrachtete die Auslage. Er hatte den Eindruck, eines der Bücher würde ihn ebenfalls betrachten, nein direkt anstarren. Und noch etwas anderes, kein Buch, sondern, fast vergraben unter einer matt glänzenden Halskette, die aussah als wäre sie viel zu wertvoll um sie einfach offen herumliegen zu lassen, eine Art Brosche. Auch diese hatte zwei rötlich schimmernde Punkte, die auf ihn wie Augen wirkten. Chris warf einen Blick zu von Rabenholz. Der schien vertieft in sein Buch und beachtete ihn gar nicht.

Chris griff nach dem Buch, zögerte kurz und fragte, mit Blick zur Theke: “Darf ich?“

Von Rabenholz lächelte freundlich und forderte ihn mit einem Nicken und einer einladenden Handbewegung auf: „Was auch immer Ihr Interesse wecken mag, alles darf berührt werden. Lediglich geschlossene Bücher dürfen erst nach dem legitimen Erwerb geöffnet und darin gelesen werden.“

Aha. Der Typ war echt sonderbar.

Chris betrachtete das Buch, das ihn „anstarrte“. Natürlich tat es das nicht wirklich, sondern es war lediglich der Effekt eines geschickt gearbeiteten Ledereinbandes. Reliefartig war auf der Vorderseite ein Gesicht dargestellt, dessen Augen mit eingelassenen dunklen Steinen, vielleicht sogar Edelsteinen versehen waren. Ob es das Gesicht eines Mannes oder einer Frau war, konnte er nicht eindeutig bestimmen, auf jeden Fall blickte es den Betrachter ziemlich streng, fast grimmig, an. Chris bewegte sich ein wenig von links nach rechts, und der Blick des Buchgesichts schien ihm tatsächlich zu folgen.

Das erinnerte ihn ein wenig an den Kult Horrorfilm „Tanz der Teufel“ aus den Achtzigern, auch wenn das Buch wesentlich weniger unheimlich wirkte als das in Menschenhaut gebundene und ganz furchtbar böse Necronomicon aus dem Film.

Geschlossen, dachte Chris, also nicht darin lesen, aber in die Hand nehmen darf ich es bestimmt.

Er griff nach dem Buch und hob es zwischen den anderen Büchern und Kerzenhaltern hervor um es genauer in Augenschein zu nehmen. Es war schwerer als gedacht und fühlte sich unangenehm an. Chris runzelte die Stirn. Das war ein ganz seltsames Gefühl. Irgendwie, als wollte das Buch nicht von ihm gehalten werden und versuchte, von ihm weg zu kommen. Seine Finger rutschten auf dem Einband langsam weg. Unwillkürlich packte er es mit beiden Händen und hielt es fest. Hatte das Gesicht auf dem Deckel gerade die Mundwinkel verzogen? Chris schluckte. Verstohlen blickte er wieder zur Theke. Bin ich etwa in einer dieser Verarsche-Sendungen wie „Verstehen Sie Spaß“ oder sowas gelandet?

Von Rabenholz war nach wie vor mit seinen Eintragungen beschäftigt und hatte ganz offensichtlich keinerlei Aufmerksamkeit für ihn übrig.

Chris hielt das Buch vor sein Gesicht und betrachtete den Einband. Wie lautete denn eigentlich der Titel?

„Du bist FALSCH!“

Chris erschrak und hätte das Buch beinahe fallengelassen. Sein Herz machte einen Sprung und hämmerte gegen die Brust. Hatte es etwa gerade mit ihm geredet? Eigentlich nicht geredet, sondern ihn eher richtig angeschrien. Er atmete heftig und stoßweise. Dann zwang er sich zur Ruhe. Augen schließen, dreimal tief durchatmen, Augen wieder öffnen.

Wieder ein Blick zur Theke. Da Bücher bekanntlich ihre Leser nicht anquatschen, redete er sich ein, musste die Bemerkung ja wohl vom Verkäufer gekommen sein. Von Rabenholz hatte nun von seinen Notizen abgelassen und blickte zu ihm hinüber. Er hatte den Kopf schräg gelegt und schien ein wenig verwundert.

„Wie bitte?“, fragte Chris.

Von Rabenholz hob eine Braue: „Ich habe mich keiner Äußerung befleißigt. Dennoch erlaube ich mir anzumerken, dass dieses Buch offenkundig nicht für Sie bestimmt ist. Die Schwingungen, seit Sie es in Händen halten, wirken äußerst disharmonisch. Wenn Sie daher so freundlich wären ihn an seinen angestammten Platz zurückzulegen?“

„Ihn?“

„Den Bestrafer. So wird das Buch genannt.“ Von Rabenholz lächelte entschuldigend und zeigte dabei zwei Reihen erstaunlich weißer Zähne. Der könnte echt Zahnpastawerbung machen, dachte Chris kurz.

„Angeblich handelt es von verdammten Seelen, die in verschiedenen Aspekten der Hölle leiden. In der Regel aufgrund selbstverschuldeter Taten und resultierend daraus von ihnen zu verbüßender Sühne. Die meisten Menschen fühlen sich unwohl in seiner Nähe und kaum jemand wünscht ihn gar sein Eigen zu nennen.“

„Angeblich? Sie haben es nicht gelesen?“

„Oh nein, auf keinen Fall!“, antwortete von Rabenholz kopfschüttelnd, „Es war mir bisher vergönnt, ihn nicht öffnen zu müssen, und, wie es mir scheint, ist dies glücklicherweise auch nicht Ihr Los.“

Der alte Herr sagte das in einem Plauderton, als handelte es sich dabei um etwas absolut nichts Ungewöhnliches. Wenigstens schien er ehrlich erleichtert zu sein, dass Chris nicht der Verdammnis dieses Buches anheimfallen musste.

„Lassen Sie Ihren Blick noch einmal schweifen. Mir scheint durchaus, dass Ihnen eines der Kleinode zugeneigt ist.“

Das Buch, der „Bestrafer“, war es anscheinend nicht. Gottseidank wohl. Chris blickte noch einmal auf das Gesicht auf dem Einband. „Ultor“ stand in leicht verschnörkelten Lettern darunter, und legte es wieder zurück. Lateinisch, bedeutet sowas wie „Rächer“, dachte Chris nicht ohne Stolz, dass er sich auch nach Jahren aus der Schulzeit noch an ein paar Latein Vokabeln erinnern konnte.

Chris legte den Band wieder zurück auf den Tisch.

Erst als er ihn nicht mehr berührte, bemerkte er, wie schnell sein Herz noch immer schlug und wie es sich danach langsam wieder beruhigte. Krass!

Von Rabenholz kam hinter dem Tresen hervor und gesellte sich zu Chris.

„Versuchen Sie es zu hören“, flüsterte er.

Das wiederum erinnerte Chris jetzt an eine Folge einer alten Fernsehserie, „Jakob und Adele“, die seine Eltern gerne mal angesehen hatten. Da ging ein altes Pärchen, eben Jakob mit seiner Adele, in ein Schmuckgeschäft um einen Ring zu kaufen. Adele probierte verschiedene Ringe aus und Jakob fragte dann: “Was sagt der Ring?“, „Er sagt nichts“, antwortete Adele jedes Mal. Auf diese Art brachten sie den Juwelier beinahe zur Verzweiflung.

Und gekauft hatten sie am Ende natürlich keinen.

„Schließen Sie die Augen und hören Sie!“

Leise, beinahe hypnotisch.

„Hören Sie, wie sie zu Ihnen sprechen. Hören Sie heraus, und ergreifen Sie, was zu Ihnen will, was für Sie bestimmt ist und wofür Sie bestimmt sind!“

Es widerstrebte Chris, sich mit geschlossenen Augen hinzustellen und sich quasi blind und damit auch wehrlos gegenüber einem Fremden auszuliefern. Vielleicht bin ich ja ein bisschen paranoid, dachte er. Er warf von Rabenholz einen prüfenden Blick zu. Glaubte der Mann tatsächlich an das, was er da so von sich gab?

In seiner Miene war aber definitiv kein Anzeichen von Falschheit oder Spott auszumachen. Nach einigem Zögern tat Chris dem Alten also den Gefallen, schloss tatsächlich die Augen und lauschte.

Er glaubte etwas zu spüren, wie ein leichter Hauch oder Schwingungen, die von dem Tisch vor ihm ausgingen. Schwingungen, die meisten irgendwie unangenehm dissonant, aber einige auch wieder angenehm. Das war ja fast so etwas wie Magie, ein besseres Wort fiel ihm dazu nicht ein. Er versuchte den angenehmen Schwingungen zu lauschen und ihnen zu ihrem Ursprung folgen, sich dieser Magie, der Atmosphäre dieses Ortes und dieses Moments hinzugeben.

Sein Herzschlag, immer noch etwas schneller als üblich, normalisierte sich langsam wieder.

Er hörte das Ticken einer Uhr. Die hatte er bis jetzt noch gar nicht wahrgenommen.

Das leise Atmen von Rabenholz´. OK, er lebt, dachte Chris mit einem Lächeln, wenigstens ist er kein Vampir oder sonstwie Untoter.

„Achten Sie auf nichts anderes als auf das was zu Ihnen spricht. Öffnen Sie Ihren Geist und tauchen Sie ein in die Harmonie, schwingen Sie in Harmonie mit den Stimmen.“

Sein eigenes Atmen und sein Puls wurden langsamer und langsamer, und jetzt, als er sich darauf konzentrierte, bemerkte Chris, wie er völlig ruhig wurde. Er wunderte sich selbst ein wenig darüber, schließlich war er kurz zuvor von einem Buch äußerst unhöflich angefahren worden.

„Spüren Sie die EINE Stimme des EINEN Gegenstandes!“

Chris konzentrierte sich und versuchte etwas außer den gewöhnlichen Geräuschen im Raum zu hören. Irgendetwas anderes war noch da. Er legte den Kopf schief. Er hörte es weniger mit seinen Ohren als vielmehr mit seinem ganzen Körper. Tatsächlich glaubte er nach einer Weile eine Art Stimmengewirr mehr spüren als hören zu können. Und dann, erst leise, nahe an der Grenze des Wahrnehmbaren, langsam lauter werdend, als würde seine ungeteilte Aufmerksamkeit diese Geräusche erst ermöglichen oder anlocken, hörte er ein flüsterndes Durcheinander.

Chris riss die Augen auf. Schlagartig verstummten die Geräusche.

Von Rabenholz lächelte ihn an: “Haben Sie es gehört? Sie haben es gehört, nicht wahr?“

Er war ganz begeistert, sah ihn an und breitete die Arme aus, so als habe er in Chris einen wirklich besonderen Menschen gefunden dem er eben etwas Grandioses eröffnet hatte.

„In ebendem Moment als Sie meinen Laden beliebten mit Ihrem Erscheinen zu beehren, erkannte ich, dass in Ihnen etwas Besonderes schlummert. Erlauben Sie diesem Besonderen, zu kommunizieren, erlauben Sie diesem Besonderen, Kontakt zu finden. Schließen Sie die Augen und hören Sie!“

Von Rabenholz war sichtlich aufgeregt und völlig überzeugt von der Sinnhaftigkeit dessen was er sagte.

Chris sah sich zweifelnd und nach Rettung suchend um. Die Wahrscheinlichkeit, gerade eben als Hauptdarsteller in einem Prank Video zu fungieren, schien ihm immer noch sehr groß.  Aber niemand außer ihm war hier, der die ungeteilte Aufmerksamkeit des Alten von ihm ablenken hätte können. Sich einfach umzudrehen und wieder nach draußen zu gehen, wäre ein Akt der Unhöflichkeit, den Chris nicht über sich brachte. Ich bin einfach viel zu nett, hatte er sich schon häufig gedacht, wenn er sich aus reiner Höflichkeit mal wieder etwas aufs Auge hatte drücken lassen.

Aber dieser Heinrich von Rabenholz war zwar ein bisschen schrullig, vielleicht auch ein bisschen verrückt, aber auf eine irgendwie nette, sympathische Weise. Es lag absolut keine Falschheit oder Verschlagenheit in seinem Blick. Nur ehrliche Freude, dass sein Kunde „etwas Besonderes“ zu sein schien.