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Die zehnjährige Toto ist die Tochter eine verschwundenen Maharadschas aus Indien. Das Mädchen lebt bei ihren Adoptiveltern in Portugal ein normales Leben, als völlig unerwartet ein Gangster aus Indien auftaucht, und das Mädchen entführt. Totos Familie und natürlich ihr bester Freund Manolito machen sich auf eine spannende Verfolgungsjagt.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2025
Originalausgabe 2025
Copyright: Holger Antz
Herausgeber & Autor: Holger Antz
Holger Antz
Barnerstrasse 10b
22765 Hamburg
Kontaktadresse nach EUProduktsicherheitsverordnung: [email protected]
Illustrationen: Sarah Wagemann
Cover: Jane Rehkopp-Clasen
Lektorat und Layout: Mark Bloemeke
ISBN 978-3-384-44519-3
Holger Antz
Das Auge des Tigers
Der Kleine Kapitän Band 2
Für Levi, Luka, Lotta, Solomon, Fiete und Greta.
Cover
Urheberrechte
Titelblatt
Stürmische Zeiten
Geheimnisvolle Pläne
Dinge nehmen ihren Lauf
Ein besonderer Geburtstag
Ein sonderbarer Traum
Überraschung
Operation Tomalulu
Observiert
Befehle aus der Ferne
Die Nagelprobe
Verstärkung
Eine böse Überraschung
Spurlos verschwunden
Die Jagd beginnt
Unbekannte Heimat
Gefangen
Mission Casino
Zwischen Wänden
Der Mönch
Der Schlüssel
Zwischen Himmel und Dschungel
Auf geheimen Wegen
Entkommen
Auf der Flucht
Richtung Heimat
…und schon bald in der Reihe des kleinen Kapitäns:
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Stürmische Zeiten
Richtung Heimat
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Stürmische Zeiten
Der September hatte gerade begonnen. Aber auch wenn es in diesen Tagen immer noch sehr warm in Portimao war, konnte man spüren, dass sich das Wetter veränderte und der Herbst langsam näher kam. Manolito schien es geradeso, als würde der Wind von Tag zu Tag zunehmen, und Großvater Mario hatte deswegen Bedenken, die Kinder mit der Esmeralda aufs Wasser ziehen zu lassen. Dem alten Mann saß immer noch der Schrecken des Sommers in den Gliedern, und wenn er als erfahrener Segler an diesem Abend auf die mit Schaumkronen verzierten Wellen blickte, dann stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Eine früher nicht gekannte Unruhe überkam den bärtigen Mann mit seiner abgetragenen Mütze: Allein die Vorstellung, einem seiner Lieblinge würde etwas passieren, ließ buchstäblich seine Glieder verkrampfen. Ihm hatte der Sturm auf der letzten Reise übel mitgespielt, weil er trotz des Seegangs nicht angeseilt an Deck hantiert hatte. Der Aufprall einer großen Welle schleuderte ihn derart in die Luft, dass er beim anschließenden Sturz gegen eine Deckskiste knallte und sein rechtes Bein brach.
Fast zwanghaft spielte sich vor seinen Augen ab, was vor wenigen Wochen den Kindern hätte zustoßen können, wenn das Schicksal es nicht gut mit Ihnen gemeint hätte. Seinerzeit waren alle vier mit dem Segelschiff in einen Sturm geraten und schließlich bis nach Marokko abgetrieben. Er selbst lag da noch im Krankenhaus, das gebrochene Bein in Gips und nicht ahnend, dass die Bande ohne Erlaubnis mit der Esmeralda auf das Meer hinausgehen würde. Dank Manolitos Talent zum Segeln und dem Zusammenhalt der Kinder hatten sie es gemeinsam geschafft, zurück nach Portugal zu finden. Die quälenden Gedanken und Ängste, die Mario plagten, wollten trotzdem nicht aus seinen Erinnerungen verschwinden.
Herbststürme in Portugal konnten es in sich haben, das wusste auch Manolito nur zu gut. Erst vor einigen Tagen war ein Sturm über das Meer gezogen, der es unmöglich machte zu segeln. Nur Dummköpfe oder unerfahrene Segler gingen bei Wetterbedingungen, deren Gefahren man nicht abschätzen konnte, aufs Meer, das hatte er gelernt. Im Sommer hatte er Toto und den beiden Jungen imponieren wollen und deshalb deren Drängen bei glatter See und Sonnenschein nachgegeben. Die Verlockung, ein solches Traumschiff segeln zu dürfen, war einfach zu groß. Schon lange hatte der Junge davon geträumt, irgendwann so ein Schiff zu besitzen. Und als Großvaters Adoptivkinder ihn fragten, ob er segeln könne, da war er schwach geworden. Eine kleine Runde wollte er an der Küste drehen und zeigen, was er draufhatte, dann überraschte sie ein Sturm, der förmlich aus dem Nichts kam. Binnen weniger Minuten verdunkelte sich der Himmel. Die Sonne, die eben noch friedlich strahlte, hatte sich hinter mächtigen Wolkentürmen verkrochen. Und kaum hatten die Kinder es geschafft, die Segel zu reffen, türmten sich die Wogen um das Schiff herum und der Sturm packte das Boot und riss es mit sich.
Beim Abendessen hatte Großvater Mario den Kindern noch in ausschweifender Weise beschrieben, wie riesig die Wellen in Portugal tatsächlich werden konnten. „In Nazare an der Küste, zum Beispiel, kann es im September Wellen mit über zwanzig Metern geben“, hatte er mit eindringlicher Stimme erzählt und dabei derart mit Händen und Armen gestikuliert, dass die Kinder seinen Worten mit geöffneten Mündern lauschten. „Wenn da ein Schiff wie die Esmeralda in halb so hohe Wogen gerät, dann begräbt die brechende Welle das Boot unter sich, als wäre es ein kleiner Thunfisch.“ Forschend und beinahe bohrend hatte Mario seinen Schützlingen einem nach dem anderen in die Augen geschaut, um sicher zu sein, dass sie seine Worte auch wirklich gehört und verstanden hatten. Nein, verboten hatte der alte Seebär das Segeln nach dem unfreiwilligen Sommerabenteuer nicht. Bei gutem Wetter ließ er sie schon ziehen. Aber sobald sich eine Gelegenheit bot, die Kinder an den Leichtsinn des Sommers zu erinnern, da nutzte er die Chance und ging ihnen mittlerweile gehörig auf die Nerven. Beinahe schien es, als wolle er nicht mehr aufhören, ihnen die Geschichte wieder und wieder aufs Brot zu schmieren. Und so litt vor allem Manolito unter den nicht enden wollenden Vorwürfen seines Großvaters und haderte mit seinem schlechten Gewissen. Auch ohne die ewigen Ermahnungen verspürte keines der Kinder rechte Lust, mit dem Schiff hinauszuschippern. Das Beinahe-Unglück hatte sie einiges gelehrt und noch nicht einmal Toto, die waghalsigste von ihnen, verspürte den Drang, die anderen zu einem neuerlichen Abenteuer zu überreden.
Anstatt mit der Esmeralda auf dem Meer Manöver zu trainieren, benutzten die Kinder das Schiff zur Abwechslung als Clubhaus und Treffpunkt am Hafen, wo sie niemand störte, der nicht eingeladen war, wenn sie es nicht wollten. Allein einen solchen Ort für sich zu haben, war schon etwas Besonderes, aber das war nur ein Teil der Bedeutung, die dieses Boot für die eingeschworenen Freunde bekommen hatte.
Der alte Mario hatte sich in den vergangenen Wochen verändert, zumindest kam es seinem Enkel so vor. Er, der sonst so redselig war, wirkte verschlossen und regelrecht zurückhaltend. Dem Jungen war aufgefallen, dass sein Großvater häufig abwesend wirkte, und wenn man ihn in solchen Momenten ansprach, erschrak der förmlich und musste sich buchstäblich sortieren, bevor er in der Lage war, eine verständliche Antwort zu geben. Dass er womöglich krank sein könnte, hatte Manolito zu seiner Erleichterung bereits ausgeschlossen. Er hatte seine Großmutter gründlich ausgefragt, und die war sich ganz sicher, dass Mario kerngesund war. Es musste also einen anderen Grund für die Veränderung geben, nur welchen, das fragte sich der Junge immer wieder.
Die Großfamilie Perez und Pereira war seit dem Sommer wieder vereint. Finanzielle Sorgen schien es auch nicht zu geben, und so erschien das veränderte Verhalten dem Jungen sonderbar. Er war aufmerksam und ein recht guter Beobachter, diese Eigenschaft hatte er wohl von seinen Eltern übernommen. Und da er seinen Opa tief in sein Herz geschlossen hatte, bohrte in ihm regelrecht die Frage, was wohl im Kopf seines Großvaters vorgehen mochte. Ungewöhnlich war auch, dass ausgerechnet sein Großvater, der das Segeln über alles liebte, neuerdings Themen ins Gespräch brachte, die nichts, aber auch gar nichts mit dem geliebten Segelsport zu tun hatten, und besonders das konnte der Junge nicht nachvollziehen.
Stärkere Taue, größere Winschen oder einen Satz neue Segel für das Schiff, das waren für gewöhnlich Marios Themen, für die er, wenn nur jemand das Stichwort erwähnte, binnen Sekunden brannte. Andere Themen wie dicke Autos oder Fußball, ließen den alten Seebären mehr oder weniger kalt. Gerade deshalb konnte sich der Junge nicht des Eindrucks erwehren, dass sein Mario bewusst die Gedanken der Kinder in Richtungen lenken wollte, die nichts mit dem Segeln auf der Esmeralda zu tun hatten. Erst beim Frühstück hatte er gefragt, was die Kinder vom Skateboarden oder Windsurfen hielten. „Windsurfen, bei diesen Wellen?“ hatte Manolito belustigt zurückgefragt. „Da würde ich niemals mit einem Brett rausgehen, das ist doch Selbstmord!“ „Nein“, hatte Mario geantwortet, „natürlich nicht bei solchen Wellen, wie wir sie momentan haben, ich meine generell, Windsurfen oder Wellenreiten sind doch auch super Sportarten. Das kann man sogar allein machen, dafür benötigt man kein Schiff, keine Crew und beim Skaten ist das auch nicht anders!“
Der achtjährigen Toto zumindest gefielen die Vorschläge ihres Adoptivpapas. Wenn sie und die Jungs nicht mehr so oft segeln sollten, dann waren zumindest ihr sportliche Alternativen willkommen. „Wenn ich Skaten gut finde Paps, bekomme ich dann zum Geburtstag ein eigenes Skate-board?“ fragte das Mädchen mit den schwarzen Locken vorsichtig und in einem Ton, der besonders Mädchen wie ihr zu eigen war. Toto war sich völlig bewusst, wann und wie sie ihren Charme spielen ließ, und sie wusste nur zu gut, dass Mario ihr nur schwer eine Bitte oder einen Wunsch abschlagen konnte, wenn sie es darauf anlegte. „Wir vielleicht auch?“ ergänzte Luigi aufgeregt, der mit seinen dreizehn Jahren sofort verstand, was seine Adoptivschwester mit ihrer Frage beabsichtigte. „Mal sehen“, brummte Mario in seinen grauen Bart. Ihm war natürlich bewusst, dass er mit seiner Frage etwas in Gang gesetzt hatte, das Folgen haben könnte. Insgeheim hatte das alte Schlitzohr sogar gehofft, dass von den Kindern ein solcher Wunsch kommen würde. Schließlich hatte er den Köder bewusst ausgelegt, und nun hatte der „Fisch“ zumindest schon einmal kräftig daran geknabbert. „Wir setzen uns heute Abend zusammen und reden“, meinte er knapp und tat nicht sonderlich interessiert, die Unterhaltung fort-zusetzen. Toto, Luca und Luigi dagegen war sehr daran gelegen, das Gespräch fortzusetzen, denn so wie Mario sich ausgedrückt hatte, gab es gute Aussichten auf eine spannende Abwechslung. Und gegen ein schickes Skateboard hatte keines der drei Kinder etwas einzuwenden.
Manolito erging es in diesem Moment völlig anders. Zum einen fragte er sich immer noch, was mit seinem Großvater nicht stimmte, und zum anderen hatte er gerade das Gefühl gehabt, abseits zu stehen. Zum ersten Mal, seit der Rückkehr seines Großvaters, traute er sich nicht zu fragen, ob das angekündigte Gespräch am Abend auch für ihn gelten würde. Ein befremdliches Gefühl breitete sich in der Magengegend des sensiblen Jungen aus. Immerhin waren die drei anderen nun Opas Adoptivkinder und er „nur“ der Enkel. Und da er seinen Großvater zuvor für mehrere Jahre nicht gesehen hatte, wusste er nicht so recht, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte. Normalerweise hätte er gerne gefragt oder zu verstehen gegeben, dass er ebenfalls interessiert sei. Aber in diesem Moment, der sich so befremdlich anfühlte, wusste er nicht, was er tun oder sagen sollte. So schaute er mit einem unsicheren Blick zu seinem Opa herüber. Zum Glück verstand der sofort die Situation und bemerkte intuitiv, was in dem Jungen vorging. Als wäre ihm nichts aufgefallen, setzte er einfach seine Rede fort und ergänzte in seiner kumpelhaften Art: „Krümel, was hältst du davon, wenn du und deine Mama auch dazukommt, dann ist der Familienrat komplett und wir können das gemeinsam besprechen. Immerhin sind wir jetzt eine Großfamilie, was meinst du?“ Krümel, so nannten ihn nur seine Mutter und eben Großvater. Manolito liebte diesen Kosenamen, den sonst niemand in der Familie trug. Binnen einer Sekunde begannen die Augen des Jungen zu leuchten, die gerade noch Sorge ausgedrückt hatten. Mario hatte förmlich die Gedanken seines Enkels erraten und Worte gewählt, die seinem Enkel die Befürchtungen nahmen, die ihn offensichtlich bewegten. Das unangenehme Gefühl, das den Jungen gerade noch befallen hatte, war verflogen.
Skaten, das würde Manolito nur zu gerne lernen. Viele der Kinder in der Nachbarschaft hatten bereits Skateboards und präsentierten mit Stolz ihre kleinen Kunststücke auf der Straße. Einer der älteren Jungen, den er so auf sechzehn oder siebzehn Jahre schätzte, war ihm besonders aufgefallen. Der Bursche sauste auf der Promenade mit seinem Board herum und benutzte die Passanten wie Pylone, um im rasanten Slalomstil zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen. Die elegante Art, wie er sein Brett beherrschte, hatte Manolito sehr beeindruckt und schon deshalb hatte er oft darüber nachgedacht, ob er sich zum Geburtstag oder zu Weihnachten ein Skateboard wünschen sollte. Andererseits hatte er im Sommer den Surfern vom Strand aus zugesehen und sich manchmal gefragt, was es wohl für ein Gefühl sein würde, auf so einem Brett durch die Wellen zu gleiten.
Natürlich war die Aussicht auf neue Sportgeräte für die Kinder gleichermaßen verlockend, wer würde da schon nein sagen.
Manolito aber war auch so schon zufrieden, sein lang gehegter Traum war mit der Esmeralda in Erfüllung gegangen. Und da er in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs, wusste er nur zu gut, dass nicht alle Wünsche, die ihm durch den Kopf gingen, in Erfüllung gehen würden.
Großmutter Penelope war das, was man eine Frohnatur nannte, unaufhörlich sang sie die Lieder, die im Radio gespielt wurden, und der Junge war erstaunt darüber, wie viele der Texte seine Oma auswendig kannte. Obwohl sie viele Jahre im Ausland gelebt hatte, schien sie die meisten der aktuellen Lieder, die in Portugal gespielt wurden, zu kennen und der Junge staunte immer, wenn seine Oma sich wie ein junges Mädchen tänzelnd und die Hüften schwingend durch das Haus bewegte. Manolito bewunderte die junggebliebene Art seiner Oma, und hätten die Fältchen in ihrem Gesicht nichts über ihr Alter verraten, so hätte er nach dem Wiedersehen vor einigen Wochen leicht annehmen können, die ältere Schwester seiner Mutter wäre gerade angekommen.
Unermüdlich war Penelope dabei, das Haus einzurichten und zu verschönern, das die Großeltern in der Nachbarschaft gekauft hatten. Zu ihrer großen Freude, durfte sie den gesamten Hausstand neu anschaffen, denn das Anwesen, das Manolitos Großeltern auf Jamaika besessen hatten, war samt Einrichtung abgegeben worden. Lediglich einige Bilder und Lieblingsstücke hatte ein Transportunternehmen von der Karibikinsel herübergebracht. Anfangs stand in dem großen Haus nicht einmal ein Stuhl, auf den man sich hätte setzen können. Und so war die gesamte Familie gezwungen gewesen, drei lange Wochen auf der Esmeralda unterzukommen. Am Tag des Einzugs in ihr neues Domizil stieß Penelope einen regelrechten Freudenschrei aus, als sie das Schlafzimmer betrat „endlich wieder ein richtiges Bett unterm Hintern, das steht wenigstens ruhig und schaukelt nicht unentwegt“, lachte sie und hüpfte wie ein junges Mädchen mit einem Sprung in das neue Doppelbett.
Am Abend saß die Familie in der frisch renovierten Küche und Luigi, der für sein Leben gern kochte, servierte zusammen mit Toto gegrillten Fisch, den die beiden höchstpersönlich geangelt hatten. Toto hatte sich schick gemacht und wieder einmal eine der Küchenschürzen von Penelope ausgeliehen. Bei ihrer Statur wirkte die Schürze allerdings eher, als würde sie ein Kleid tragen, das um einiges zu groß für die kleine Person war. Toto störte das wenig. Sie spielte wieder einmal Kellnerin, ging fröhlich um ihre Gäste herum und hielt jedem so vornehm wie möglich die Platte mit dem perfekt gegrillten Fisch unter die Nase und platzierte dann gekonnt das ausgewählte Stück auf dem Teller. Die beiden Frauen zwinkerten sich gegenseitig zu, und Manolitos Mutter fragte Toto und Luigi: „Sagt mal ihr zwei, ihr könnt uns gerne so oft ihr wollt bekochen. Oma und ich, wir denken uns auch ein Dankeschön aus, würde euch das Spaß machen?“ Luigi machte fasst einen Luftsprung und weil er sah, wie sehr auch seiner kleinen Schwester der Vorschlag gefiel, schaute er sie lediglich kurz an, hob die Hand und klatschte mit ihr ‘High Five’ ab.
Dann endlich, nachdem die Kinder schon vermuteten, dass Mario das Angebot vom Nachmittag womöglich vergessen hatte, meldete sich Manolitos Mutter zu Wort und eröffnete feierlich den Familienrat: „Also, es ist so“, begann sie umständlich und nestelte während sie sprach mit den Fingern in einer ihrer langen Haarsträhnen, „ach was, Papa, ich kann das nicht“ unterbrach sie sich selbst, kaum dass sie begonnen hatte. „Sag du es, du kannst das besser.“ Dabei schaute sie ihren Vater bittend an. „Hmkrrr“, räusperte sich der alte Mann und verschaffte sich Gehör, „es ist so“, begann auch er stockend und mit ernsterer Stimme als gewöhnlich: „Ihr vier, seid allesamt prächtige Segler geworden und wir sind stolz darauf, dass ihr euch, seit ihr wisst schon wann, an unsere Anweisungen haltet. Aber der Sturm in diesem Sommer, bei dem es leicht zu einem Unglück hätte kommen können, hat uns einen riesigen Schrecken bereitet und gezeigt, was alles passieren kann, wenn man nicht damit rechnet. Ich will euch auch keine Vorwürfe machen. Ihr wisst ja selbst, wie schnell etwas Unvorhergesehenes geschehen kann.“ Nun unterbrach das Familienoberhaupt seine Erklärung und machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. „Ich habe mir deshalb etwas zu eurem Schutz und zu unserer Beruhigung überlegt!“ Mit Unverständnis schauten die Kinder ihr Gegenüber fragend an. Schutz, Beruhigung? Was meinte er mit, vor wem oder was wollte er sie beschützen? „Ich will es kurz machen“, setzte dieser endlich fort, bevor auch nur eines der Kinder ihn unterbrechen konnte, „wir Eltern haben beschlossen, das Schiff einer kleinen Verjüngungskur zu unterziehen.“
Mit Falten auf der Stirn lauschte Manolito den Worten seines Großvaters, denn alles was er verstand war „Bahnhof“, wie man so sagt. „Ich verstehe gar nichts. Opa, was meinst du mit Verjüngungskur?“ fragte er mit skeptisch klingender Stimme und blickte dabei nachdenklich nach oben, um seiner Frage ein wenig Nachdruck zu verleihen. Er schien mit seiner Frage genau den Punkt getroffen zu haben, der auch seine Freunde in diesem Moment bewegte. „Willst du die Reling austauschen oder das Deck mit rutschfester Farbe lackieren? Das hast du doch bereits alles auf Jamaika gemacht, und segeln lässt sich die Esmeralda doch fantastisch, das geht doch gar nicht besser!“ Mit einer Reaktion wie dieser hatte der erfahrene Mann gerechnet, das Boot war dem Jungen „heilig“, er und die anderen drei würden mit Sicherheit nicht in Begeisterung ausbrechen, wenn er gleich seine Vorschläge machte. Immerhin gehörte das Schiff jetzt ihnen und allein der Gedanke, dass die geliebte Yacht verändert werden sollte, würde ihren Widerstand herausfordern.
„Na ja“, nahm Mario jetzt das Wort wieder an sich und sprach in beruhigendem Ton weiter, denn er hatte die Aufregung in der Stimme seines Enkels wohl bemerkt. „Ich habe mir überlegt, wie wir das Schiff sicherer und zugleich etwas moderner machen können und wenn ihr mir vertraut und wir die Pläne, die ich habe, heute Abend gemeinsam beschließen, dann kann ich loslegen, und wir Eltern können endlich wieder ohne Alpträume schlafen. Einen Haken wird die Sache allerdings haben, das sage ich gleich, wenn ihr zustimmt, dann werdet ihr für eine Weile nicht segeln können.“ Mit weit aufgerissenen Augen blickten die Kinder sich gegenseitig an. Auch das noch, eine Zeit lang nicht mehr segeln zu dürfen, das kam ja einer nachträglichen Bestrafung gleich und alles nur, weil der alte Seebär Angst hatte, es könnte noch einmal so etwas passieren wie im Sommer! Trotzig, enttäuscht und mit finsterer Miene schauten die Kinder den bärtigen Mann vor ihnen an. Seit Wochen hatten sie sich an sämtliche seiner Anweisungen gehalten und wollte Mario die skeptischen Kinder von seinen Ideen überzeugen, dann musste er jetzt schon sehr gute Argumente vorbringen.
Stumm beobachtete Mario die Gesichter der vier, bevor er endlich weitersprach. Wahrscheinlich waren nur zwei oder drei Sekunden vergangen, aber die Art, wie Mario die Kinder ansah, erinnerte zumindest seinen Enkel an den Moment Anfang des Sommers, als er seinen Großvater zum ersten Mal wiedersah. Seinerzeit war er unerlaubt an Bord der Esmeralda gegangen, weil die Neugier ihn trieb und er unbedingt herausfinden wollte, wem das alte Segelschiff gehörte. Wie einen Verbrecher hatte die englische Bulldogge Namens Krause ihn gestellt und seinem Gebell folgend, hatten Luigi, Luca und Toto ihn dann in das Schiffsinnere geführt und dem alten Mann vorgestellt. Auch damals hatte Großvater Mario ihn so wie jetzt angesehen, und als der Junge erkannte, wer vor ihm stand, da fiel die Angst des Momentes von ihm ab. Etwa so erging es ihm auch in diesem Moment und wie von selbst entspannte sich sein Körper und das Gesicht begann vertrauensvoll zu lächeln.
„Uns ist doch klar, wie sehr ihr das Schiff liebt“, tönte Marios tiefe Stimme weiter, „und auch, wieviel Zeit ihr auf der alten Lady täglich verbringt! Ich liebe das Schiff mindestens so sehr wie ihr und ich würde nie etwas unternehmen, was der alten Lady nicht gut tun würde. Ihr sollt auch nicht bestraft werden, falls das jemand von euch gerade gedacht hat, ganz bestimmt nicht! Als Entschädigung dafür, dass ihr für einige Wochen auf die Segelei verzichtet, möchten wir euch ein Angebot machen, dem ihr hoffentlich zustimmen werdet. Ein Angebot, bei dem ihr eure Freizeit für eine Weile auf andere Weise verbringen werdet, danach könnt ihr wieder frei entscheiden, was ihr in eurer Freizeit unternehmen wollt.“
„Paps,“ meldete sich Toto, nach deren Meinung ihr Vater wieder einmal zu lange um den heißen Brei herumredete „was genau willst du uns sagen? Raus mit der Sprache, was wirst du mit dem Schiff machen und womit sollen wir uns die Zeit vertreiben?“ „Na ja“, antwortete Mario, dem das Temperament seiner kleinen Tochter imponierte und deren klare und direkte Art er zugleich liebte und fürchtete. Ihr konnte man nicht lange etwas vormachen, sie wollte alles genau benannt wissen. „Na ja“, begann er gespielt umständlich, „wie ich am Vormittag erwähnt habe, mit Skaten zum Beispiel, aber natürlich nur, wenn ihr interessiert seid. Wenn nicht, dann müssen wir uns etwas anderes überlegen.“ Listig, wie der alte Mann sein konnte, tat er für einen Moment, als würde er bereits jetzt an Alternativen denken, wendete sich eine Sekunde von den Kindern ab und schaute in Richtung der beiden Frauen. Dann aber wendete er sich blitzschnell wieder Toto zu und fuhr fort: „Wir könnten euch einen Satz Rollbretter mit Ausrüstung besorgen und ihr lasst mich dafür an das Schiff ran.“
„Natürlich wollen wir“, platzte es aus dem Mädchen heraus. „Oder etwa nicht?“ Toto wischte sich eine der schwarzen Locken aus dem Gesicht und schaute die älteren Jungs der Reihe nach an, um deren Zustimmung zu erhalten. Als ihr Blick, dem von Manolito begegnete, hielt sie rasch inne und stoppte ihre euphorische Zustimmung. Manolito hatte seine Arme auf den Tisch gestützt und war mit seinem Kopf ein Stück näher an den seines Großvaters gerückt. „Grundsätzlich vertrauen wir dir, Opa“, antwortete der Junge mit leiser und sehr ernst klingender Stimme, „du musst uns aber noch mehr über deine Pläne verraten, okay? Ranlassen kann alles sein, und alles, werden wir dir garantiert nicht erlauben.“ „Kommt runter ihr strengen Schiffseigner, ich gebe euch mein Ehrenwort dafür, dass nichts mit eurem Boot unternehmen werde, mit dem ihr vier nicht zuvor einverstanden seid!“
Luca seinerseits konnte das Gesagte immer noch nicht so richtig fassen, Mario hatte eben tatsächlich gesagt, es gebe Skateboards, und zwar für jedes der vier Kinder oder hatte er sich verhört? Für viele Kinder mag ein solcher Satz vielleicht völlig normal wirken. Für die drei Adoptivkinder, die aus einem Waisenhaus stammten und die erst seit einem Jahr mit ihren neuen Eltern lebten, war eine Ankündigung wie diese immer noch so etwas, als würde Weihnachten und Ostern an einem Tag gefeiert werden. Schnell wechselte der großgewachsene Junge einen Blick mit seinem Bruder Luigi, doch der nickte nur zum Zeichen der Zustimmung. „Echt“, stammelte er, um wirklich ganz sicher zu gehen, „wir bekommen alle ein Skateboard einfach so?“ „So ist es“, antwortete nun Esmeralda, „ihr werdet zur Abwechslung etwas Neues lernen und viel Spaß haben, denke ich. In der Zwischenzeit wird das Schiff einer kleinen ‘Operation’ unterzogen. Euer Boot ist zwar tipptopp in Ordnung, wie jeder weiß, aber wie Mario gesagt hat, es ist inzwischen vierzig Jahre alt. Und wir Eltern würden uns viel wohler fühlen, wenn das Schiff auch so sicher wird, wie die neuen Boote, die unten im Hafen gebaut werden.“
Trotz der Aussicht auf Geschenke, schien zumindest Manolito noch zu zögern, und so wechselten die Kinder ein weiteres Mal unsichere Blicke untereinander. Mario glaubte zu erraten, was seinen Enkel zurückhielt. „Keine Angst!“ nahm der alte Seebär die nicht ausgesprochene Frage vorweg und hob beschwörend die Hände, „von außen wird sie aussehen wie immer, das verspreche ich hiermit heilig. Nur ihr Innenleben wird ein wenig auf Vordermann gebracht. Und ich hoffe, dass das, was mir im Kopf herum-schwirrt, euch genauso begeistern wird wie mich.“ Bei den Worten Aussehen und Versprechen atmete Manolito hörbar auf, denn die Esmeralda sollte auf keinen Fall den weißen Kunststoffkuttern gleichen, von denen seiner Meinung nach eine Yacht wie die andere aussah.
Die letzten etwas leiser gesprochenen Worte seines Großvaters waren dem Jungen allerdings auch nicht entgangen. Schon deshalb nicht, da der alte Mann wieder einmal das Blitzen in den Augen hatte, und das gab Manolito das sichere Gefühl, dass hinter den Worten „begeistern wird“ weit mehr steckte, als das alte Schlitzohr zu diesem Zeitpunkt bereit war zu verraten.
Schweigsam wendeten sich die vier Kinder wieder dem Essen zu und angelten sich die letzten Stücke des gebratenen Fisches. Minutenlang sprach niemand in der Runde und eine ungewohnte Stille herrschte in der großen Küche, in der selten vor Mitternacht völlige Ruhe herrschte.
Im Grunde war es nur gut, wenn das Schiff sicherer gemacht würde, das verstand auch ein knapp zehnjähriger Junge wie Manolito, aber allein die Vorstellung, dass sein geliebtes Segelschiff in einigen Wochen verändert aussehen könnte, erschreckte ihn. Die alte Holzyacht war für den Jungen perfekt, sie glich exakt dem Segelschiff, das er sich seit langem erträumte, alt, wunderschön schlank geschnitten und aus edlem Holz gebaut. Gedankenversunken hatte Manolito wieder einmal mit einem Zeigefinger eine seiner langen Locken gegriffen und diese um den Finger gewickelt. Mario, der vor allen seinen Enkel nicht aus den Augen gelassen hatte, spürte, dass der sich immer noch schwertat und um die Stille im Raum irgendwie zu brechen, setzte er in gespielt ruppigem Ton nach: „Gut, dann ist das jetzt beschlossen, das Schiff kommt in die Werft, wir besorgen für den Übergang einen Satz gebrauchte Rollbretter, und das ist es, der Umbau des alten Mädchens wird schließlich nicht billig!“
Ein interessantes Mienenspiel vollzog sich diesen Worten folgend auf den Gesichtern der Kinder. Toto versuchte, Marios forschenden Blicken nach einer zustimmenden Reaktion zu entgehen, während sie einen Fischbissen kaute und so geräuschlos wie möglich verschluckte. Luca schwieg ebenfalls, er beabsichtigte, Manolito antworten zu lassen, immerhin war der zwei Jahre jüngere Freund der Kapitän der Crew und Mario sein Großvater. Sollten die beiden doch untereinander ausmachen, ob es jetzt einen Deal gab. Luigi schaute ebenfalls auf Manolito, während sich das Gesicht des kräftig gebauten Jungen von Sekunde zu Sekunde in beängstigender Weise rötete, denn er hielt den Atem an, um keine Antwort von sich zu geben.
Die angehaltene Luft in Luigis Inneren hatte sich zwischenzeitlich in einen brodelnden Vulkan verwandelt und dieser kündigte bereits an, seine Druckwellen nach außen blasen zu wollen. Nachdem das Gesicht des Jungen eine beunruhigend dunkelrote Farbe angenommen hatte, verformten sich seine Lippen zu einem dünnen Strich und seine Hände ballten sich gleichzeitig zu zitternden Fäusten, die helfen mussten, die Lippen verschlossen zu halten. Wenn nur sein Freund endlich zustimmen würde, dann dürfte die ganze Gang Skaten lernen und diese Überraschung freute den Zehnjährigen so sehr, dass die gefühlten Emotionen ihn nahezu überwältigten. Eine weitere Sekunde später gab es kein Halten mehr für den schwarzhaarigen Italiener, er konnte sein Temperament einfach nicht länger bändigen, ein Vulkan der Freude zerriss Luigi und ansatzlos sprang er von seinem Stuhl auf, um bei den Freunden abzuklatschen, und er schrie, ohne länger abzuwarten in seinem markanten Akzent, „ole, oleolee, wir werden skaten, wir werden skaten, ole oleoleolee, wir werden skaten, wir werden skaten, ole oleoleoleolee…“ Die überschäumende Freude des Jungen riss die übrigen Kinder mit sich, und so stimmten die in das Gejohle ein. Es war beschlossen!
Wie wichtig es werden würde, dass das alte Segelboot modernisiert werden sollte, das konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand von ihnen ahnen, auch der alte Mario nicht. Vielleicht, hatte er seiner Zeit eine Eingebung gehabt, von der niemand ahnte – wer weiß das schon? Zumindest fragten sich das die Kinder später von Zeit zu Zeit, wenn sie wieder einmal mit dem Schiff über das Meer zogen.
Mario hatte, wenn man so wollte, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Esmeralda, er war an Jahren ebenfalls nicht mehr jung. Die Falten in seinem Gesicht waren ein Dokument der gelebten Zeit, von der er einige ausschließlich auf dem Meer verbracht hatte. Die äußere Hülle half jedem Betrachter seiner Person dabei, auf sein ungefähres Alter zu schließen. Sein Geist und sein Herz aber, die fühlten und dachten immer noch jung, und in Verbindung mit dem über die Jahre erlangtem Wissen war ein regelrechter Schatz an Visionen für die Zukunft entstanden! Auch das Schiff sollte weiterhin alt erscheinen, im Inneren sollte es aber jünger, moderner und sicherer sein, als all die anderen Schiffe, die sich auf dem Meer befanden. Diese Vorstellungen gingen dem erfahrenen Segler bereits seit Wochen durch den Kopf, und es bereitete ihm einen Heidenspaß, seine Ideen endlich in die Tat umzusetzen zu dürfen. Am liebsten hätte er den Kindern schon jetzt verraten was er sich ausgedacht hatte, aber zu viele Ideen mussten noch ausprobiert werden und am Ende dann auch so funktionieren, wie er es sich in seinem Geist ausgemalt hatte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich buchstäblich auf die Zunge zu beißen und sein Geheimnis für sich zu behalten.
Geheimnisvolle Pläne
Mario hatte wohl bemerkt, dass die Kinder ihn in diesen Tagen mehr als sonst beobachteten. Wären es nicht die eigenen Familienmitglieder gewesen, er hätte sagen können, er fühle sich observiert. Besonders Manolitos skeptischen Blicke waren ihm nicht entgangen. Auch nicht, dass Luca ständig um seinen Schreibtisch herumschlich und versuchte, die technischen Zeichnungen zu verstehen, die sich dort stapelten. Da er zusammen mit seinen Adoptivzöglingen unter einem Dach lebte und die Türen nie verschlossen waren, war es nur normal, dass die Kinder das eine oder andere aufschnappten. Dieses kleine „Risiko“ musste der alte Mann eingehen, in wenigen Wochen würde er die Rasselbande ohnehin in seine Pläne einweihen und spätestens anlässlich der Schiffstaufe verraten, was alles zum Geheimnis der neuen Esmeralda gehören würde.
Für die Kinder war es in diesen Tagen unmöglich geworden, auf dem Boot auch nur für eine Weile unter sich zu sein. Es gab auf dem Schiff einfach zu viel Gewusel. „Chefingenieur Mario“ kam fast jeden Tag an Bord und begann mit vielerlei Vorbereitungen für den geplanten Umbau. Einmal vermaß er schwitzend jeden Raum und Zentimeter des Innenschiffes und notierte die erfassten Daten in einem Buch, ein anderes Mal markierte er das Deck über und über mit roten Punkten, sodass das Schiff von außen aussah, als hätte es die Windpocken. Einsilbig und zu Gesprächen oder Fragen nicht bereit lief er rechnend und schreibend hin und her. Selbst Manolito hatte aufgegeben, seinem Großvater Fragen zu stellen, denn der schien so sehr in seine Aufzeichnungen vertieft zu sein, dass er lediglich in der Lage war, Bruchstücke einer Antwort von sich zu geben. Aus den Worten, die Marios Lippen verließen, wurde jedenfalls keines der Kinder richtig schlau.
Eines Abends zog sich der bärtige Mann wieder einmal in sein Arbeitszimmer zurück, um ungestört Telefonate führen zu können. Mehrfach vergewisserte er sich, ob auch keines der Kinder in der Nähe war, und erst, als er sich völlig sicher glaubte, führte er ein Gespräch, von dem Manolito nur deswegen etwas mitbekam, weil er in diesem Moment zufällig den Flur überquerte und dabei einige Wortfetzen aufschnappte. „Sag, hast du schon über das Navisystem nachgedacht? Okay, und wie weit bist du mit dem Antrieb?“ Das war alles, was der Junge verstehen konnte. Dass beide gehörten Sätze mit dem Schiff zusammenhingen, war nicht schwer zu erraten, nur, was die Worte tatsächlich bedeuteten, das schon.
Nur gut, dass die Kinder in den vergangenen Monaten zu einer eingeschworenen Gemeinschaft verschmolzen waren, das half ihnen dabei, auf das Segeln zu verzichten und sich gemeinsam anderen Themen zu widmen. Hätte ein Außenstehender sie beobachtet, so hätte dieser wohl nie vermutet, dass sie erst seit wenigen Monaten miteinander lebten. Nur selten ging einer der vier eigene Wege, fast immer waren sie zusammen und nicht nur Manolito war der Meinung, dass er nie zuvor so gute Freunde an seiner Seite hatte.
Ein neues Haus zu beziehen, ist für Kinder meist eine große Freude, insbesondere dann, wenn sie ein eigenes Zimmer für sich bekommen. Für Toto, Luigi und Luca war allein diese Vorstellung etwas Unwirkliches, und das hatte einen bestimmten Grund. Jedes der Kinder war ursprünglich in einem Heim für Waisen aufgewachsen, dort wo Mario und Penelope bis vor kurzem auch gelebt hatten. Und dort hatte es keine Einzelzimmer gegeben, wie sie die Kinder hier erwarteten. Stattdessen waren da große Schlafräume gewesen, in denen viele Mitgenossen in Stockbetten mit drei Ebenen nächtigten. Je nach Alter schlief das älteste Kind oben und die kleineren unten. Wirklich leise wurde es nachts in den Schlafräumen erst, wenn auch die Ältesten eingeschlummert waren. Zuvor stritten diese oft noch untereinander und kämpften um die vermeidliche „Herrschaft“ eines Schlafraumes, was oft in eine Rauferei aus-artete. Eine Tür, die man schließen konnte, um seine Ruhe zu haben, die gab es nicht. Einen derartigen Luxus besaßen nicht einmal die Aufseher, denn die schliefen in Zweierzimmern, was die Kinder im Waisenhaus wiederum neidvoll zur Kenntnis nahmen.
Toto liebte ihr kuscheliges Reich, von dem aus sie jeden Morgen den Sonnenaufgang beobachten konnte. Kaum erschien der goldgelbe Feuerball am Himmel, da fiel das Licht so in ihr Zimmer, dass die Strahlen ihr direkt ins Gesicht schienen und sie unwillkürlich erwachte. Manchmal öffnete sie die Augen nach dem Aufwachen nicht sofort, genoss es stattdessen, die vom Licht angestrahlten Augenlider von innen zu betrachten und in die Sonne zu blinzeln. Sie liebte dieses Spiel mit den Sonnenstrahlen, denn beim Blinzeln huschten Wassertröpfchen über ihren Augapfel und dabei ließ sich wunderbar Träumen. Einen besseren Wecker konnte es gar nicht geben. Andererseits freute sich das kleine Mädchen auch jeden Abend auf ihr eigenes Bett und die Stille, die eintrat, nachdem die Tür geschlossen wurde. Ähnlich erging es ihren beiden Brüdern, denn sie waren gemeinsam mit Toto im Heim auf Jamaika aufgewachsen. Anfangs hatten die Kinder sogar ein Problem damit gehabt, allein in einem Raum einzuschlafen. Die Stille in ihren Zimmern war einfach zu laut, kein Atmen außer dem eigenen war zu hören, kein Rascheln, Pupsen oder Husten und so kam es immer noch vor, dass sie mitten in der Nacht ihr Schlafzeug packten, um in das Zimmer eines ihrer Geschwister zu gehen. Erst in der Gemeinsamkeit hörte sich die Nacht so an, wie sie es viele Jahre gewohnt waren. Wahrscheinlich war dies auch einer der Gründe, warum die drei so gerne auf der Esmeralda schliefen. Dort übernachteten alle eng beieinander, und das vermittelte ihnen ein besonderes Gefühl der Nähe.
Am Tag des Einzugs in das neue Haus hatte sich Toto vor Penelope gestellt und hielt ihr demonstrativ die zerrissene Daisy unter die Nase. „Kannst du sie jetzt bitte operieren und wieder ganz machen?“ bat sie mit einer Entschiedenheit, für die es keine Form der Verneinung gab. Penelope hatte gerührt von der Art, wie Toto sie ansprach, die Puppe an sich genommen und noch am selben Abend mit der „Operation“ begonnen. „Du musst vorsichtig mit ihr sein“, hatte das kleine Mädchen hinzugefügt, „immer-hin hat Herr Krause sie zerrissen und außerdem hat sie ja jetzt kein echtes Herz mehr, seit wir das Auge gefunden haben.“ Dann schien dem Mädchen etwas Wichtiges eingefallen zu sein, denn es rannte unvermittelt aus dem Raum und rief: „Warte, Lopi, ich bin gleich zurück!“ Einen Moment später war sie wieder da und hielt in der einen Hand ein braunes Stück Papier, das Penelope sehr bekannt vorkam, und in der anderen einen blauen Edelstein.
Ursprünglich war der blaue Stein Teil eines kostbaren Schmuckstücks gewesen, genannt das Auge des Tigers, in dessen Mitte er eingebettet war. Das edle Juwel befand sich, eingewickelt in einen Brief, ohne dass jemand es auch nur ahnte, seit Jahren im Körper ihrer Puppe Daisy. Und hätte es im Sommer nicht den „Unfall“ gegeben, den der Vierbeiner Namens Krause noch immer zutiefst bedauerte, wäre Totos herrschaftliche Herkunft wohl unbekannt geblieben. Zur Sicherheit hatte Mario die kostbaren Brillanten, die das Auge zierten, in einen Safe gegeben, denn es gibt weit bessere Orte, einen Schatz zu bewahren, als eine Puppe.
Den blauen Saphir wollte Toto allerdings nicht hergeben, sie spielte nur zu gerne mit ihm, hielt ihn in das Licht und betrachtete