Das Babel Projekt – Lostlife - Jay Kristoff - E-Book

Das Babel Projekt – Lostlife E-Book

Jay Kristoff

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Beschreibung

Was bedeutet Menschlichkeit, wenn man nicht menschlich ist? Nach dem verheerenden Kampf um Babel wurde Lemon Fresh von ihren Gefährten getrennt und schlägt sich nun alleine durch die Einöde der Glaswüste. Doch mörderische Verfolger wollen sie wegen ihrer unterdrückten Fähigkeiten einfangen und für ihre Zwecke missbrauchen. Schutz findet Lemon bei einer Gruppe Außenseiter mit ebenso ungewöhnlichen Begabungen wie den ihren – und einem Anführer, der nicht nur die Geheimnisse von Lemons Vergangenheit aufdecken könnte. Dafür muss Lemon in das Wettrennen mit ihrer ehemaligen besten Freundin Eve einsteigen, um die echte Ana Monrova zu finden und das Geheimnis der Lifelikes zu entschlüsseln. Doch nichts ist, wie es scheint …

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Über das Buch

Was bedeutet Menschlichkeit, wenn du nicht ganz menschlich bist?

Nach dem verheerenden Kampf um Babel wurde Lemon Fresh von ihren Gefährten getrennt und schlägt sich nun alleine durch die Einöde der Glaswüste. Doch mörderische Verfolger wollen sie einfangen und für ihre Zwecke missbrauchen. Schutz findet Lemon bei einer Gruppe Außenseiter mit ungewöhnlichen Begabungen – und einem Anführer, der nicht nur die Geheimnisse von Lemons Vergangenheit aufdecken könnte. Dafür muss Lemon in das Wettrennen mit ihrer ehemaligen besten Freundin Eve einsteigen, um das Rätsel der Lifelikes zu entschlüsseln. Doch nichts ist, wie es scheint …

Atemberaubende Sci-Fi-Action trifft episch-postapokalyptische Spannung

Von Jay Kristoff ist bei dtv außerdem lieferbar:

Illuminae. Die Illuminae Akten_01 (zusammen mit Amie Kaufman)

Gemina. Die Illuminae Akten_02 (zusammen mit Amie Kaufman)

Obsidio. Die Illuminae Akten_03 (zusammen mit Amie Kaufman)

Das Babel Projekt – Lifelike

Jay Kristoff

LOSTLIFE

DAS BABEL PROJEKT

Roman

Aus dem australischen Englischvon Gerald Jung

 

 

 

 

Schaut einfach weg, Bis wir alle sterben. Vielleicht können wir ja gar nicht mehr zurück. Vielleicht wollen wir die Welt ja einfach brennen sehen.

 

– Thomas Searle

WER, WAS UND WARUM

Eve – das dreizehnte und endgültige Modell der Lifelike-Serie. In dem Glauben, ein Mensch zu sein, verbrachte Eve die letzten beiden Jahre auf der Insel Dregs, in der Obhut von Silas Carpenter. Unter Silas’ Anleitung wurde sie zu einer hervorragenden Mechanikerin und bediente Kampfroboter in dem gladiatorenartigen Spektakel namens KampfKuppel.

In Wahrheit ist Eve eine Androiden-Nachbildung von Ana Monrova, der jüngsten Tochter Nicholas Monrovas, Direktor des Megakonzerns Gnosis Laboratories. Nachdem Silas von Dregs verschleppt wurde, begab sich auch Eve aufs Festland, um den Mann zu retten, den sie für ihren Großvater gehalten hatte, was schließlich zu einer tödlichen Auseinandersetzung in Babel führte, dem ehemaligen Hauptquartier der zerstörten GnosisLabs.

Im Herzen Babels erfuhr Eve, dass ihr ganzes Leben eine Lüge war.

Lemon Fresh – Eves ehemalige beste Freundin. Lemon wurde vor einer Kneipe in Los Diablos gefunden und bekam ihren Namen nach dem Waschmittelkarton, in dem sie dort abgestellt worden war.

Sie begleitete Eve bei ihren Abenteuern quer durch die Ruinen der Yousay und wurde in einem lebendigen Gebilde namens Krake gefangen, wie sie von BioMaas Incorporated gezüchtet werden. Obwohl sie aus dem Kraken entkommen und Eve bis nach Babel begleiten konnte, trennten sich die beiden unter nicht eindeutig geklärten Umständen, als Eves Herkunft ans Licht kam.

Lemon ist eine Abweichlerin, auch Abartige oder Missgeburt genannt, die die Fähigkeit besitzt, elektronische Geräte mit Gedankenkraft zu verschmoren.

Ezekiel – einer der dreizehn Lifelikes, die von Gnosis Laboratories hergestellt wurden. Wie alle Exemplare aus der 100er-Serie ist Ezekiel deutlich schneller und stärker als jeder Mensch, aber wie die meisten 100er-Modelle gleicht seine Gefühlswelt gelegentlich der eines Kindes.

Ezekiel war der einzige Lifelike, der sich der Revolte, die zur Vernichtung von Nicholas Monrova und seinem Imperium führte, nicht anschloss. Zur Bestrafung dafür nieteten seine Geschwister einen mechanischen Münzeinwurf in seine Brust, um ihn immer an seine Untertänigkeit gegenüber seinen menschlichen Gebietern zu erinnern.

Ezekiel war Ana Monrovas Geliebter und hatte ebenso eine romantische Beziehung zu Eve. Als er die Wahrheit über Eves Vergangenheit erfuhr, bot er ihr an, mit ihr in Babel zu bleiben, aber die neu erwachte Lifelike schickte ihn weg.

Cricket – ein von Silas Carpenter geschaffener Logika. Cricket war Eves ständiger Begleiter und ihr Robotergewissen. Als sich die Auseinandersetzungen im Babel-Turm zuspitzten, wurde Crickets Körper von der Lifelike Faith zerstört.

Seine Persona wurde von Silas Carpenter in eine gewaltige mechanische Kampfmaschine namens Quichotte verpflanzt. An das erste Robotergesetz gebunden, war Cricket gezwungen, Eve zurückzulassen und Lemon in Sicherheit zu bringen, nachdem sich abzeichnete, dass die Strahlung in Babel sie töten würde.

Nicholas Monrova – Firmenchef von GnosisLabs. Nicholas war ein Visionär, der daran glaubte, dass die Verbindung von Mensch und Maschine der nächste logische Schritt in der Entwicklung der Menschheit sei. Zu diesem Zweck entwickelte er das Lifelike-Programm, mit dem er eine bessere, klügere, stärkere Version seiner eigenen Spezies schaffen wollte.

Nach einem Verrat innerhalb von Gnosis und einem Anschlag auf sein Leben dachte er sich Libertas aus – ein Nanovirus, das die drei Gesetze im KernCode jeder Maschine auslöschen konnte. Um die Führung in seiner Firma zu behalten, infizierte er Gabriel mit Libertas und befahl ihm, die anderen Mitglieder des Vorstands von Gnosis umzubringen.

In der darauffolgenden Revolte der Lifelikes wurde Nicholas zusammen mit dem Großteil seiner Familie ermordet.

Ana Monrova – jüngste Tochter von Nicholas. Ana verliebte sich gegen den Willen ihrer Eltern in Ezekiel und lag nach einem Anschlag auf das Leben ihres Vaters im künstlichen Koma. Da er den Verlust seines Lieblingskindes nicht verkraften konnte, erschuf Monrova Eve, um sie zu ersetzen. Anas Körper wurde aus dem Babel-Turm in eine geheim gehaltene Einrichtung von GnosisLabs gebracht, wo die Funktion ihrer Organe von Lebenserhaltungssystemen am Laufen gehalten wird.

Ana ist das einzige Familienmitglied der Monrovas, das die Revolte der Lifelikes überlebt hat.

Ihr derzeitiger Aufenthaltsort ist nicht bekannt.

Grace – eine Lifelike. Grace diente Nicholas Monrova als rechte Hand. Sie war in den Lifelike Gabriel verliebt, doch die beiden hielten ihre Beziehung geheim. Grace wurde bei dem Anschlag getötet, bei dem auch Ana schwer verletzt wurde.

Gabriel – der Erste aus der 100er-Serie. Der Verlust seiner geliebten Grace trieb ihn in den Wahnsinn. Nachdem Nicholas Monrova mit dem Nanovirus Libertas die drei Gesetze aus Gabriels Persönlichkeit gelöscht hatte, infizierte Gabriel seinerseits seine Lifelike-Geschwister und führte die Revolte gegen seinen Schöpfer an. Er erschoss Monrova und dessen Frau Alexis sowie Monrovas einzigen Sohn Alex.

Gabriel will Grace wiederauferstehen lassen, aber das geheime Wissen dazu ist in Myriad, dem Supercomputer von GnosisLabs, verschlossen.

Faith – eine Lifelike und Ana Monrovas ehemalige Vertraute. Faith war die dritte Lifelike, die sich Gabriels Rebellion anschloss, und zählt zu den fünf Lifelikes, die direkt für die Hinrichtung von Monrovas Familie verantwortlich sind. Sie hat Anas Schwester Olivia erschossen.

Faith blieb mit Gabriel in den Ruinen von Babel, obwohl die meisten der 100er-Serie das Hauptquartier von Gnosis nach der Revolte verlassen haben.

Silas Carpenter – ein Genie der Neurowissenschaft und ehemaliger Chef der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von GnosisLabs. Nach dem Attentat auf Nicholas Monrova erschuf Silas ein Lifelike-Replikat von dessen schwer verletzter Tochter und half Monrova dabei, Anas Persönlichkeit in sie zu transplantieren.

Nach der Revolte der Lifelikes installierte er diverse kybernetische Implantate in »Ana«, die sie mit falschen Erinnerungen ausstatteten, um sie davon zu überzeugen, dass sie ein Mensch ist. Er nannte die Lifelike fortan »Eve« und brachte sie nach Dregs, wo er sie als seine Enkelin aufzog.

Er wurde später von Faith gefangen genommen und schließlich von Gabriel getötet.

Der Prediger – ein kybernetisch aufgerüsteter Kopfgeldjäger im Dienst des Megakonzerns Daedalus Technologies.

Da Daedalus glaubte, Eve besäße die Fähigkeit, Elektronik allein durch Willenskraft zu zerstören, befürchtete der Konzern, sie sei von seinem Rivalen BioMaas Incorporated rekrutiert worden, und setzte daraufhin den Prediger auf Eve an. Dieser verfolgte Eve quer durch die Yousay und stellte sie schließlich direkt vor Babel.

Dort wurde er von Kaiser in die Luft gesprengt.

Kaiser – Eves Blitzhund und einer ihrer ehemaligen Beschützer.

Kaiser war ein Cyborg: teils Rottweiler, teils gepanzerte Vernichtungsmaschine. Wie alle Blitzhunde war er in der Lage, Menschen mittels einer einzigen DNA-Probe über tausend Kilometer aufzuspüren. Er zerstörte sich selbst im Kampf mit dem Prediger, um Eve zu beschützen.

Uriel – einer der fünf Lifelikes, die für die Hinrichtung von Monrovas Familie verantwortlich sind, und der erste, der sich auf Gabriels Seite schlug. Er hat Anas Schwester Tania erschossen.

Seit der Revolte hat sich Uriel voller Feindseligkeit von Gabriel distanziert, weil er glaubt, Gabriels Liebe zu Grace sei eine viel zu menschliche Schwäche.

Myriad – der Supercomputer von GnosisLabs. Obwohl er sich als holografischer Engel darstellt, sitzt Myriad eigentlich in einem gepanzerten Gehäuse tief im Herzen des Babel-Turms. Seine Kammer kann einem Atomangriff widerstehen und ist durch eine vierstufige Sicherheitssequenz verriegelt. Zwei dieser Schlösser sind inzwischen geknackt, doch das dritte und vierte können nur von jemandem geöffnet werden, der über die DNA und die Hirnwellenmuster eines Monrovas verfügt.

Myriad ist die Hüterin des gesamten Wissens von Nicholas Monrova, darunter auch der Methode, weitere Lifelikes zu erschaffen, und der Geheimnisse des Libertas-Virus.

BioMaas Incorporated – einer der beiden mächtigsten KonzernStaaten der Yousay. Die Firma BioMaas hat sich der biogenetischen Modifikation und Manipulation sowie dem Genspleißen verschrieben. Ihr Firmenmotto lautet »Nachhaltiges Wachstum« und sie meinen es ernst damit – BioMaas-Technologie wird nicht gebaut. Sie wird gezüchtet.

Daedalus Technologies – der zweite KonzernStaat, der die Kontrolle über die Yousay anstrebt. Daedalus erwarb sich sein Vermögen durch die Entwicklung von Sonnenenergie-Technologie, engagierte sich in der Folge jedoch auch im Bereich Kybernetik und militärischer Ausrüstung.

Die Bruderschaft – eine religiöse Sekte, die sich gegen die Sünden der Biomodifikation und der genetischen Manipulation wendet und sich der Ausrottung von »Missgeburten« verschrieben hat.

2.0

WIEDERVEREINIGUNG

Fast alle nannten sie Eve.

Auf den ersten Blick hätte man sie für einen Menschen halten können. Was ihr nicht sehr gefallen hätte. Wie sie da in einem toten Garten hoch oben auf einem ausgehöhlten Turm stand, war sie lediglich eine dunkle Silhouette vor dem gleißenden Licht. Sie war groß und eher schlaksig, mit zu großen Stiefeln und zu engen Cargohosen. Das von der Sonne ausgebleichte Haar war bis auf den blutfleckigen Fake-Iro abrasiert. Ein Auge fehlte, die Haut rings um die Höhle, aus der es herausgerissen worden war, war schorfig und lädiert. Das Mädchen sah aus wie ungefähr siebzehn, aber das war eine Lüge. So wie alles andere an ihr.

»Schwester.«

Sie wandte sich von dem Fenster ab und erblickte zwei Gestalten hinter sich. Die erste war groß, blond und hatte Augen wie aus grünem Glas. Eine zweite, das dunkle Haar so kurz wie ihr Geduldsfaden, stand so dicht neben der ersten, dass sie sich fast berührten.

Sogar mit allen ihren Verletzungen sahen die beiden wunderschön aus. Dafür hatte ihr Schöpfer gesorgt. Aber Eve wusste, dass etwas mit ihnen nicht stimmte – Gabriel mit seinem gebrochenen Herzen und Faith mit ihrem zerbrochenen Gewissen. Wie die Figuren aus einem alten Märchen aus dem 20. Jahrhundert, auf der Suche nach dem Zauberer, der ihre fehlenden Teile ersetzen würde. Nur dass ihr Zauberer, ihr Schöpfer, ihr Vater tot war. Niemand konnte sie jetzt noch reparieren.

Da stand Eve nun, im Turm des toten Zauberers. Wo diejenigen, die sie einmal Freunde genannt hatte, dafür gekämpft hatten, sie zu retten, wo sie gespürt hatte, wie ihr das Herz in der Brust zersplitterte, und wo sie aus dem Traum eines toten Mannes erwacht war, um zu erkennen, wer sie wirklich war.

Life. Like. Wie das Leben.

»Was willst du, Gabriel?«, fragte sie.

Wut blitzte in den glasgrünen Augen auf, als er antwortete: »Unsere Brüder und Schwestern haben unsere Einladung akzeptiert.«

2.1

TRENNUNG

»Sind diese Typen eigentlich total durchgeknallt?«

Lemon Fresh zuckte zusammen, als die nächste Explosion gegen die Panzerung krachte. Die Welt erbebte und sie fragte sich allmählich, ob es wirklich so eine schicke Idee gewesen war, an diesem Morgen aufzustehen. Die dicke Schutzhülle, die sie umgab, hielt stand, aber der Knall war ohrenbetäubend und dröhnte in ihrem Schädel. Sie hörte kaum Ezekiels Ruf vom Fahrersitz weiter unten.

»Ihre Raketen scheinen jedenfalls ganz gut zu funktionieren!«

Lemon zog den Helm fester auf den Kopf und schrie durch den Lärm der Explosionen: »Grübchen, als du gesagt hast, ich soll dieses Ding hier knacken, waren wir uns da nicht einig, dass niemand so dumm sein würde, es mit einem Panzer aufzunehmen?«

»Das hätte ich auch nicht für möglich gehalten!«

Wieder explodierte etwas an ihrem Dach und Lemon hielt sich krampfhaft am Kanoniersitz fest. »Tja, also, ich sag’s dir nur ungern, aber –«

»Hör mal, wenn du so besorgt bist, könntest du ja einfach mal zurückschießen!«

»Ich bin fünfzehn Jahre alt! Ich weiß nicht, wie man mit einem Pan–«

Die nächste Explosion schnitt Lemon das Wort ab, aber den Flüchen von unten aus der Fahrerkabine nach zu schließen, war sie sich ziemlich sicher, dass Zeke verstanden hatte, was sie sagen wollte. Sie schaute auf die Monitore ihrer Geschützanzeigen und stellte entmutigt fest, dass ihre Außenhülle inzwischen brannte, dass ein weiteres Raketenteam sich dem ersten in dem Bemühen angeschlossen hatte, sie auszuradieren, und kam letztendlich zu dem Schluss, dass das Aufstehen an diesem Morgen …

Ja, eindeutig eine saublöde Idee.

»Wir werden alle sterben«, murmelte sie.

Obwohl es heute Morgen eigentlich gar kein so blöder Plan zu sein schien …

Sie waren vor weniger als fünf Stunden vom Babel-Turm losgebraust, und wenn sie ehrlich war, hatte Lemon immer noch ordentlich damit zu tun, das zuvor Geschehene irgendwie auf die Reihe zu kriegen. Der Kampf mit Gabriel und den Lifelikes. Das Blut auf dem Chrom. Die Ermordung Silas Carpenters. Der Ausdruck in Eves Augen, als sich die Schusswunden in ihrer Brust langsam wieder schlossen.

»Was geschieht mit mir?«

Für Lemon war Silas immer wie ihr eigener Großvater gewesen und die Erinnerung an seinen Tod saß noch frisch und unverdaut in ihrer Brust. Dann hatte sich kurz nach Mister Cs Ermordung auch noch herausgestellt, dass das Mädchen, das Lemon seit zwei Jahren kannte, das Mädchen, das sie für ihre Allerbeste gehalten hatte … dass dieses Mädchen ein Roboter war. Eve war überhaupt nicht Eve. Sie war eine Lifelike, modelliert nach Nicholas Monrovas verschwundener jüngster Tochter – Ana.

Aber so viel war klar, auch wenn es sich irgendwie seltsam anhörte – Lemon war es letztendlich ziemlich schnuppe, ob ihre Allerbeste ein Bot war oder nicht. Wenn man in Dregs aufwuchs, hielt man zu seinen Freunden, ganz egal, was passierte. Regel Nummer eins im Schrott:

Zusammen stark. Auf immer zusammen.

Aber Eve …

Nach all den Jahren, nach allem, was sie durchgemacht hatten, nach all dem Schmerz …

… hat sie mich einfach weggeschickt.

Lemon hatte nicht abhauen wollen. Aber ihr Strahlenschutzanzug war bei der ganzen Rauferei kaputtgegangen, und der Reaktor im Babel-Turm war immer noch undicht – sie wusste nicht, wie viel Strahlung sie bereits abgekriegt hatte. Und ganz egal, wie sie über dieses Thema auch dachte, Cricket hätte sie sowieso nicht dort gelassen. Das erste Robotergesetz erlaubte es ihm einfach nicht. Also hatte sie sich mit tränenüberströmtem Gesicht zusammen mit Cricket und Ezekiel von dem ausgehöhlten Turm verabschiedet, von dem Supercomputer Myriad, der sämtliche schmutzigen Geheimnisse Nicholas Monrovas hütete, und von dem Mädchen, das eigentlich überhaupt kein Mädchen war.

Sie hatten im Arsenal von GnosisLabs freie Auswahl gehabt und letztendlich hatte Ezekiel sich für einen GravPanzer entschieden, groß und massig und mit Geschützen gespickt. Damit waren sie zwar langsamer unterwegs, aber die Federung des Panzers aus magnetisierten Partikeln kam mit jedem Gelände klar und seine strahlungssichere Hülle würde ihnen draußen auf dem Glas besseren Schutz bieten. Mit bleischwerem Herzen hatte Lemon sich noch einmal zu dem Turm umgedreht, in dem ihre Allerbeste zurückbleiben wollte. Dann waren sie, so weh es auch tat, ohne sie aufgebrochen.

Ezekiel fuhr, Lemon schmollte und die Kilometer waren in tiefem Schweigen dahingeknirscht. Sie hatten die kaputte Schnellstraße gemieden, auf der sie gegen den Prediger gekämpft hatten, und nach Westen gehalten, auf die untergehende Sonne zu. Die ganze Zeit über musste Lemon gegen ihr Schluchzen ankämpfen. Cricket trottete hinter ihnen her und schaute immer mal wieder nach hinten, wo Babel immer kleiner und kleiner wurde.

Vor seinem Tod hatte Großvater das Bewusstsein des kleinen Bots in den Quichotte übertragen – den modernsten Robot-Gladiator von GnosisLabs. Der kleine Fug war jetzt sieben Meter groß, hatte Fäuste wie Abrissbirnen und eine Tarnbemalung, seine Optiken leuchteten wie kleine blaue Sonnen. Er sah zwar nach einer geballten Ladung Ärger aus, aber Mister C hatte Cricket so gebaut, dass er Eve beschützte, und Lemon wusste, dass der große Bot ebenso darunter litt, sie zurückzulassen, wie Lemon selbst.

Die Sonne schickte sich an unterzugehen und sie hatten bereits eine ganze Reihe tief eingeschnittener Sandsteinschluchten durchquert, als sie in diesen Hinterhalt gerieten. Lemon hatte im Gefechtsstand gesessen, an einer Wasserflasche genuckelt und gegen die wachsende Übelkeit in ihrem Bauch angekämpft. Sie hatte ein leises Pfeifen vernommen, einen erschütternden Knall, und dann war die halbe Wand der Schlucht auf sie herabgeprasselt. Als sich der Staub verzogen hatte, war Lemon klar geworden, dass die vordere Hälfte ihres Panzers unter dem Geröll begraben war. Hätten sie und Zeke ein etwas weniger gepanzertes Gefährt ausgesucht, wären sie jetzt bereits Bodendünger.

Cricket war unter einer Lawine aus geborstenem Sandstein verschwunden. Ezekiel hatte Vollgas gegeben, aber der Panzer schaffte es nicht, sich aus eigener Kraft von dem großen Gewicht zu befreien. Dann war die erste Rakete von oben herangeschossen und in einer Blüte grell knisternder Flammen auf ihrer Panzerung zerplatzt.

»Jetzt werden wir alle sterben«, murmelte Lemon.

Die Dämmerung nahm zu, aber die Panzerkameras waren thermografisch. Lem machte zwei Raketenstellungen am Rand der Schlucht über ihnen aus. Sie waren mit Sandsäcken geschützt und mit jeweils drei Mann besetzt. Die Schrottsammler trugen zusammengestoppelte Schutzkleidung und schmuddelige goldene T-Shirts darunter, auf die eine Art Ritterhelm von früher gemalt war.

Lem gestand ihnen ein paar Pluspunkte für die farbliche Zusammenstellung ihrer Outfits zu, aber sie fragte sich, ob diese Vollpfosten in ihren Köpfen noch über nennenswerte Reste von Hirnschmalz verfügten. Sie beobachtete durch ihre GeschützCams, wie sich der Schutt hinter ihnen bewegte und eine titanische Faust sich von unten ins Freie bohrte. Mit jaulenden Servos und Motoren kam Cricket frei und schüttelte sich wie ein Hund, um Geröll und Staub loszuwerden.

»DAS HAT GEKITZELT«, verkündete der riesige Roboter.

»Cricket!«, rief Ezekiel. »Alles in Ordnung?«

Eine tiefe elektronische Antwort kam über Funk, während die nächste Rakete explodierte. »NICHTS, WAS EINE KLEINE RÜCKENMASSAGE NICHT WIEDER EINRENKEN KÖNNTE. FALLS DU NICHT ZU BESCHÄFTIGT BIST?«

»Lemon kann den Geschützturm nicht bedienen. Kümmere dich um die Raketenmänner!«

»… DU MEINST, ICH SOLL AUF SIE SCHIESSEN?«

»Nein, ich meinte, du sollst sie zum Essen einladen!«, rief Ezekiel. »Natürlich sollst du auf sie schießen!«

»MISS FRESH«, kam die Antwort des großen Roboters. »WÄRST DU SO NETT, DIESEN BESCHRÄNKTEN KILLERBOT KURZ AN DAS ERSTE ROBOTERGESETZ ZU ERINNERN?«

Lemon seufzte und leierte die Worte mechanisch herunter: »Ein Roboter darf einem menschlichen Wesen keinen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem mensch–«

Wieder erschütterte eine Explosion den Panzer und Ezekiel fluchte drastischer, als Lem es ihm zugetraut hätte. Letztendlich war es natürlich, auch wenn Crick keinem Menschen in irgendeiner Weise etwas antun durfte, keine besonders schlaue Idee, Streit mit einem GravPanzer und einem siebzig Tonnen schweren, voll ausgerüsteten Robot-Gladiator anzufangen. Warum also hatten diese Schrottis sich genau dazu entschlossen …?

»Oh«, sagte Lemon, als sie einen Blick auf die Bildschirme der rückwärtigen Kameras warf.

»Was, oh?«, rief Ezekiel, der immer noch versuchte, sie mit Motorkraft aus dem Schlamassel zu befreien.

»Oh, Sch–«

Der nächste Treffer schleuderte Lemon glatt aus dem Sitz und sie schlug sich die Stirn an den Armaturen auf. Rasch setzte sie den Helm wieder auf und brüllte in ihr Mikro: »Crick, check mal auf sechs Uhr, da kommt’s ganz dicke!«

Der große Bot drehte sich um und wandte sich ihrem neuen Problempaket zu. Durch die Schlucht hinter ihnen kam die hässlichste Machina auf sie zugestapft, die Lem je gesehen hatte. Auf ihren vier Beinen war sie nur drei Meter hoch, aber mindestens sieben Meter lang. Aus den Überresten mindestens eines halben Dutzends anderer Machina zusammengeschraubt, hatte sie einen schlangenartigen Kopf und mehrere alte Baggerschaufeln, die zu scharfzahnigen Mäulern zusammengefügt waren. Zwei Flutlichter auf den Schaufeln sahen aus wie riesige, leuchtende Augen.

Die Machina erinnerte sie an ein Vid, das sie sich mal mit Eve zusammen angeschaut hatte. Solche riesigen Echsendinger waren früher mal über diesen Planeten getrampelt, lange bevor die Menschen alles kaputt gemacht hatten.

Dino-irgendwas?

Egal. Das Ding war jedenfalls groß. Und rostig. Und es trampelte direkt auf Cricket zu.

Sein Pilot war hinter den dicken Streben eines schweren Sicherheitskäfigs verschanzt, aber Lemon erkannte trotzdem, dass er genauso aufgemacht war wie seine Raketenfreunde, mit denselben schmuddeligen Goldfarben und so weiter. Seine tiefe, raue Stimme dröhnte aus der Lautsprecheranlage der Machina.

»Mistiger Schurke, du! Ich fordere dich zum Kampfe!«

Cricket legte den Kopf ein wenig schräg. »ÄH … WAS?«

Der Machina-Pilot legte mit einer Runde aus zwei Schnellfeuergewehren los, deren Kugeln auf Crickets Panzerung prasselten. Der Bot hob die Hände, um seine Optiken zu schützen, Funken und Leuchtspurmunition erhellten das Zwielicht. Nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass die Machina für Lemon eine größere Gefahr darstellte als die Raketenmannschaften, stürmte Crick entschlossen in ihre Schusslinie.

»WARTEST DU AUF EINE SCHRIFTLICHE EINLADUNG, STUMMEL?«, schrie er.

Ezekiel stieß einen letzten Fluch aus und schlug mit der Faust auf die Armaturen. Dann löste er sich aus seinem Sitz und quetschte sich an Lemon vorbei nach oben in den Turm. Zeke war groß und breitschultrig. Gebräunte Haut, kurze dunkle Locken und hellblaue Augen. Sein rechter Arm fehlte unterhalb des Ellbogens, aber die Verletzung konnte dem Gesamtbild nicht das Geringste anhaben. Ezekiel drehte mit der gesunden Hand die Luke auf und zwinkerte Lemon kurz zu.

»Schön dableiben, Sommersprosse.«

»Aber auf jeden.« Sie nickte. »Ich bin zu hübsch zum Sterben.«

Schon war er draußen. Lemon sah auf den Bildschirmen der Kameras, wie der Lifelike davonsauste und mit einer eleganten Seitwärtsbewegung der nächsten Rakete auswich. Er tänzelte wie ein Lied zwischen den geborstenen Steinen hindurch und verschwand im Rauch und Staub der Schlucht.

»Lauf, oh du dreifüßiger Feigling!«, schrie einer der Raketenmänner.

In der Zwischenzeit hatte sich Cricket vor der feindlichen Machina aufgebaut. Crick musste sich immer noch an seine neue Gestalt gewöhnen – ursprünglich war er schließlich nur vierzig Zentimeter hoch gewesen und er fühlte sich noch nicht besonders heimisch im Körper eines sieben Meter großen KriegsBots. Aber der Quichotte war von den besten Ingenieuren der Gnosis-Forschungsabteilung konstruiert worden und Cricks Kraft war erschreckend. Mit einer Titanfaust verwandelte er die Maschinengewehre der Machina zu Schrott und riss sie dann in einem gewaltigen Funkenregen aus ihrer Verankerung. Der Schrottsammlerpilot stellte seine Machina auf die Hinterbeine und brüllte durch die Lautsprecher:

»Nimm das, du Schuft!«

Aus dem Maul der Machina schlug ein Feuerschwall, der Cricket in blaue Flammen hüllte. So ein Hitzeschlag hätte seinen alten Körper wahrscheinlich zu Schlacke zerschmolzen, weshalb Crick sich instinktiv mit einem dröhnenden elektronischen Jaulen wegduckte. Der Machina-Pilot setzte mit einem Hieb eines der gewaltigen Vorderbeine nach und schleuderte den Logika gegen die Wand der schmalen Schlucht. Von den Raketenmännern weiter oben ertönte Siegesgebrüll.

»Treffer!«

»Und ein beachtlicher!«

»Wer sind diese Trottel?«, murmelte Lemon kopfschüttelnd.

Cricket rappelte sich wieder auf und die Machina stürzte sich auf ihn, packte einen seiner Arme mit ihrem Baggermaul. Crick schlug zurück und riss die Verkleidung am Hals des Ungetüms weg, legte die darunterliegende Hydraulik frei.

Derweil war Ezekiel ein Stück weiter hinten an der Steinwand nach oben geklettert und kam im Schutz der Dämmerung wieder zurück. Dank des Libertas-Virus waren Lifelikes vom ersten Gesetz entbunden, und Ezekiel hatte in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass er keine Probleme damit hatte, Menschen ernsthaft zuzusetzen, wenn es darum ging, seine Freunde zu beschützen. Er schlich sich von hinten an die erste Raketenstellung der Schrottis an und beförderte ohne viel Federlesens einen von ihnen mit einem kräftigen Tritt über die Sandsäcke und auf die spitzen Felsen zehn Meter weiter unten.

Cricket riss eine Handvoll Kabel aus dem Hals der Machina, Hydraulikflüssigkeit spritzte aus den losen Enden. Die Kiefer verloren an Druck und Crick bekam seinen Arm frei. Er holte mit einer gewaltigen Faust aus, um den Kopf des Ungetüms in den Boden zu rammen. Doch ehe der Schlag traf, fing seine Optik an zu flackern und der große Bot wankte unsicher hin und her.

Er machte einen Schritt nach hinten, um sein Gleichgewicht wiederzufinden.

»MIR GEHT’S IRGENDWIE NICHT SO …«

Die Machina vollführte eine Drehung, ihr massiger Schwanz schlug Cricket einen weiteren Schritt zurück. Der große Bot torkelte rückwärts, bis er gegen das hintere Ende des Panzers prallte, wo er zum Stehen kam. Lemon fiel wieder aus dem Sitz und wischte sich das Blut von der aufgeplatzten Braue, während sie auf die Kamerabildschirme spähte. Der große Bot versuchte sich aufrecht zu halten, doch seine Bewegungen waren träge, schwerfällig, als hätte er eine lange Nacht mit etwas Hochprozentigem verbracht.

»Was hast du, Crick?«, fragte sie.

»KEINE AHNUNG …«

»Crick, du musst aufstehen!«

Die Dinomachina stapfte auf ihn zu, mit lahmen Kiefern und einem zerschmetterten Flutlicht. Ezekiel war die sechs Meter über die schmale Schlucht gesprungen, um sich der anderen Stellung zu widmen, wo er gerade damit beschäftigt war, die zweite Mannschaft auszuschalten. Doch Lemon konnte sehen, wie der Schrottipilot in seinem Cockpit auf einem Control Pad herumdrückte, woraufhin ein Bündel Kurzstreckenraketen aus der Schulter der Machina herausfuhr und sich auf Zekes ungeschützten Rücken richtete.

»Hundsfottiger Halunke!«, brüllte der Schrotti.

Die Situation war jetzt deutlich unangenehmer geworden.

Lemon wusste, dass sie im Panzer bleiben sollte. Hier war es sicherer. Von der Klopperei in Babel tat ihr noch alles weh, außerdem war ihr, wenn sie ehrlich war, ein bisschen mulmig. Aber Cricket war ihr Freund. Ezekiel war ihr Freund. Und Lemon hatte an diesem Tag schon genug Freunde verloren. Deshalb scherte sie sich nicht groß um ihre Blessuren, stürzte ohne weiter nachzudenken zur Panzerluke und schob sich inmitten von Rauch und Flammen ins Freie. Dann fixierte sie die Machina mit festem Blick, strich sich die kirschroten Fransen aus den Augen, drückte den Helm fester auf den Kopf und streckte eine Hand aus.

Als sie »es« zum ersten Mal benutzt hatte, war sie zwölf gewesen. Ein dürres kleines Straßenmädchen, das sich in den Gassen von Los Diablos irgendwie durchschlug. Es war schon spät am Abend irgendwo am Rand des Schummerviertels gewesen, sie hatte gerade einen CredStick geklaut und für eine rasche Mahlzeit in einen Fressomaten gesteckt. Aber der Automata hatte ihren Stick gefressen und kein Essen dafür herausgerückt. Lem war stinksauer gewesen. In ihrem leeren Magen hatte der Zorn gebrodelt. Ein graues Rauschen war hinter ihren Augen aufgestiegen, sie hatte die Faust geballt und dem Bot eine verpasst. Der Automata hatte Funken gesprüht, war einfach aufgesprungen und hatte sie mit jeder Menge Dosen NeoMeatTM aus seinem Bauch überschüttet.

Sie hatte sich ein paar davon eingesteckt und das Weite gesucht. So weit und schnell sie die Füße trugen, bevor die Graukittel oder die Bruderschaft sie erwischten. Gleich von Anfang an hatte sie gewusst, dass sie es verheimlichen und leugnen musste, es niemandem zeigen und auch niemandem erzählen durfte, was sie war.

Eine Missgeburt.

Abartig.

Widernatürlich.

Als sie jetzt die große, vor ihr aufragende Machina betrachtete, stellte sich Lemon diesen Fressomaten vor. Sie spürte, wie das graue Rauschen sich hinter ihren Augen aufbaute. Ihre Finger streckten sich.

Dann ballte sie die Faust.

Die Machina knickte ein, als hätte sie jemand geschlagen. Hydraulik kreischte auf, Stromkabel platzten, ein greller Bogen elektrischer Spannung krümmte sich über ihrer rostigen Verkleidung. Der Pilot wurde laut schreiend von der Hochspannung in seinem Cockpit geröstet, während seine Machina strauchelte und wie Papier zu einem rauchenden, Funken sprühenden Häuflein zerknitterte.

Komplett zusammengeschmort.

Einfach so.

Hinter ihr schlug der letzte Raketenmann mit einem grässlichen feuchten Klatschen auf dem Boden der Schlucht auf. Ezekiel schrie von der Stellung herab: »Alles klar, Sommersprosse?«

Lemon nahm den Helm ab und blinzelte das Blut aus dem Auge. Ihr Herz hämmerte in der Brust, aber sie setzte ihre tapfere Miene auf. Ihr Straßengesicht. Das Gesicht, mit dem sie der Welt klarmachte, dass sie problemlos mit allem zurechtkam, was die Welt ihr in den Weg stellte.

»Wie schon gesagt, Grübchen. Ich bin zu hübsch zum Sterben.«

Mit zitternden Händen schnappte sie sich einen Feuerlöscher, kletterte aus dem Turm und besprühte damit die Flammen auf dem brennenden Panzer. Dann sprang sie auf das hintere Ende und betrachtete Cricket. Der große Bot wies etliche Beulen und Kratzer auf, aber seine Lackierung war offenbar feuerfest, sodass er wenigstens nicht in Flammen stand.

»Alles in Ordnung, du kleiner Fug?«

»ICH … GLAUB SCHON?« Der große Bot zuckte unsicher die Achseln. »UND N-NENN MICH NICHT KLEIN.«

Ezekiel kletterte vorsichtig von der Geschützstellung herab und ließ sich die letzten drei Meter auf die Felsen darunter fallen. Er wischte seine Handfläche an den zerschlissenen Jeans ab und kam über das Geröll auf die beiden zu, die fugaziblauen Augen auf den gestürzten Logika gerichtet.

»Was ist passiert?«

»LECK MICH, STUMMEL«, knurrte der große Bot. »UND ZWAR KREUZWEISE.«

»Im Ernst, Crick«, sagte Lemon. »Alles in Ordnung bei dir?«

»JA. MIR GEHT’S … GUT? GLAUBE … GLAUBE ICH.«

Cricket erhob sich auf wackligen Beinen, seine leuchtende Optik flackerte und waberte. Er stützte sich an der Felswand ab, konnte sich aber kaum aufrecht halten. Ezekiel seufzte, drehte sich auf dem Absatz um und kletterte in den Panzer. Kurz darauf tauchte er mit einem schweren Werkzeugkasten unter dem Arm wieder auf.

»Setz dich«, sagte er und zeigte auf die Felsbrocken. »Ich sehe es mir mal an.«

»MEINST DU IM ERNST, ICH LASSE DICH IN MIR HERUMSTOCHERN?« Cricket musterte den Lifelike mit flackerndem Blick. »ICHDACHTE, LEMON IST DIE KOMIKERIN IN UNSERER TRUPPE.«

Lemon sah den großen Bot verdutzt an. »He, Moment, ich dachte, du wärst die lustige Nebenfigur und ich die liebenswerte zweite Hauptrolle.«

»Cricket, wenn mit dir irgendwas nicht stimmt, finde ich es vielleicht heraus«, sagte Ezekiel. »Ich verstehe ein bisschen was von Bots. Nicht so viel wie Eve, aber ein bisschen schon.«

Die Erwähnung des Namens ihrer Allerbesten schürte wieder den Kummer in Lemons Brust und alle drei verfielen plötzlich in Schweigen. Ezekiel blickte zurück in Richtung Babel und Lemon sah, wie sehr auch er darunter litt. Sie hatten keine Wahl. Evie hatte sie weggeschickt. Aber …

»WAGE ES NICHT, IHRENNAMENAUSZUSPRECHEN«, knurrte der Logika.

Ezekiel blinzelte und wandte sich ihm wieder zu.

»Mir fehlt sie auch, Cricket«, murmelte er.

»KLAR DOCH, DU KILLERBOT«, sagte Cricket. »DESHALB HATTEST DU ES AUCH SO EILIG, VON IHR WEGZUKOMMEN.«

»Sie hat gesagt, dass ich gehen soll«, erwiderte Ezekiel mit vor Erregung erhobener Stimme. »Es war ihre Entscheidung. Die erste, die sie in ihrem Leben treffen durfte, kapierst du das nicht?«

Der große Logika schlug die Hände langsam zu einem höhnischen Applaus zusammen: Schepper-schepper-schepper.

»ACH, HERR EZEKIEL, SIE SIND MEIN HELD.«

Lemon hob die Hände und trat zwischen sie. »Jetzt regt euch mal ab, Jungs …«

»Du kannst mich mal, Cricket«, zischte Ezekiel. »Was weißt du schon davon?«

»ICH WEISS, DASS DU SIE IM STICH GELASSEN HAST«, knurrte der Bot mit lauter werdender Stimme und richtete sich auf. »ICH WEISS, DASS ALLE SIE ANGELOGEN HABEN! ALLE HABEN SIE VERRATEN! SILAS, LEMON, IHR VATER UND DU! KANNST DU DIR MAL EINE SEKUNDE VORSTELLEN, WIE ES IHR DABEI ERGANGEN IST?«

»Ich habe nicht gewollt, dass –«

»UND DANN ERFÄHRT SIE AUCH NOCH, DASS SIE NICHT MAL EIN MENSCH IST, UND DU BEHAUPTEST, DU LIEBST SIE, UND DANN LÄSST DU SIE EINFACH DORT ZURÜCK!«

Lemons Herz schlug wie verrückt. Jedes von Crickets Worten war wie ein direkt in Ezekiels Brust abgefeuerter Schuss. Sie sah, wie sie einschlugen. Sah den Zorn in den Augen des Lifelikes aufsteigen, sah, wie sich seine Hand zur Faust ballte.

»Genau wie du«, fauchte er den Bot an.

Das Blau in Crickets Optik loderte auf, bis es zornig weiß war.

»DU ELENDER DRECK…«

Eine Zweitonnenfaust schmetterte auf die Stelle, an der Ezekiel eben noch gestanden hatte, der Steinboden zersprang wie Glas. Cricket brüllte mit unbeherrschter Wut, schlug noch einmal nach Ezekiel, aber der Lifelike wich auch diesem Hieb aus. Der große Bot versuchte, ihn sich zu schnappen, doch Ezekiel war schneller, er flitzte zwischen Crickets Beinen hindurch, sprang nach oben und hielt sich mit der gesunden Hand an der Panzerplatte an seinem unteren Rücken fest.

»Cricket, bist du jetzt völlig durchgeknallt?«, rief Lemon.

Cricket brüllte mit einer Lautstärke, die seine Sprachbox knistern und knacken ließ. Er schlug nach dem Lifelike wie nach einem lästigen Insekt, die gewaltigen Hände schepperten wie ein dröhnender Gong gegen seine Verkleidung. Nur Ezekiels übermenschliche Beweglichkeit rettete ihn davor, pulverisiert zu werden. Der Lifelike zog sich an den Schweißnähten und Nieten in der undurchdringlichen Panzerung des KriegsBots weiter nach oben, bis er die Schulter erreicht hatte.

»Hör auf, Cricket!«, kreischte Lemon. »HÖR SOFORT AUF!«

Der Logika verstummte auf den Befehl des Mädchens hin sofort, bebte jedoch vor Wut und seine leuchtende Optik fixierte den Lifelike auf seiner Schulter.

»DU HAST GLÜCK, DASS EINIGE VON UNS SICH NOCH AN DIE DREI GESETZE HALTEN, DU BLÖDES …«

»Crick … alles in Ordnung?«, rief Lemon.

»MIR IST IRGENDWIE S-SO …«

Das Licht in der Optik des Logikas flackerte noch einmal auf und ging komplett aus. Sein turmhoher Körper wankte noch einen Moment, dann fiel er wie ein zusammenbrechender Wolkenkratzer um. Siebzig Tonnen KampfKuppel-Champion kippten direkt auf Lemon zu. Mit einem spitzen Schrei und einem Riesensatz zur Seite brachte sie sich in Sicherheit, rutschte mit den Ellbogen durch den Schotter, während Cricket mit dumpfem Krachen zu Boden ging.

Ezekiel erhob sich aus dem Staub und rannte zu dem Mädchen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er und half ihr auf die Beine.

Lemon zuckte zusammen, betastete ihre blutige Braue und die blutenden Arme. Aber sie ließ Cricket dabei nicht aus den Augen. Der große Bot war umgefallen, als hätte ihn jemand erschossen, und lag jetzt reglos auf dem unebenen Boden.

»Was war das denn?«, flüsterte sie.

Ezekiel musterte den großen Bot, die Hand in die Hüfte gestemmt. Dann ging er zum Werkzeugkasten aus dem Panzer und kramte darin herum. »Ich schaue mal nach.«

Lemon kaute besorgt auf der Unterlippe und sah dem Lifelike dabei zu, wie er eine Bohrmaschine herausholte und sich daranmachte, eine Wartungsklappe auf Crickets Brustpanzer zu lösen.

»Äh, weißt du zufällig, was du da treibst?«, fragte sie.

Zeke murmelte um die Schrauben zwischen den Lippen herum: »Nein, nicht so richtig.«

»Auweia.«

Ezekiel nahm die kleine Panzerplatte ab und betrachtete die digitalen Anzeigen dahinter. Er stocherte hier und drückte da, zog die hübsche Stirn in Falten und lehnte sich schließlich seufzend zurück.

»Energie«, verkündete er.

Lemon blinzelte ungläubig. »Er hat keinen Saft mehr?«

»Ich bin kein Experte, aber es sieht ganz so aus.« Zeke klopfte auf eine Reihe LEDs in der Vertiefung. »Die Batterien sind auf ein Prozent runter. Er hat seit zwei Jahren inaktiv in dem Hangar der Forschungsabteilung herumgestanden, da muss so ziemlich alles bis fast auf null runtergegangen sein. Hätten wir überprüfen sollen, bevor wir losgezogen sind. War echt dumm von mir.«

»Ähm«, sagte Lemon. »Du hast wahrscheinlich keine Ersatzbatterien in der Hosentasche?«

»So wie die aussehen, wiegen seine Saftzellen ungefähr eine Tonne pro Stück.«

»Das heißt … nein?«

Der Lifelike warf noch einen Blick über die Schulter, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. Seine Stimme war so leise, dass Lemon sie fast nicht gehört hätte.

»In Babel gibt es natürlich Ersatz. Im Arsenal.«

»Du willst da wieder hin? Wir sind gerade erst weg von dort!«

Sein Blick wanderte von dem hohlen Turm weit in der Ferne zurück zu ihrem kaputten Bot. »Hast du eine bessere Idee?«

»Unser Panzer ist unter Squillionen Tonnen Gestein begraben, Grübchen.«

»So was wie Squillionen gibt es nicht. Aber ja, ist mir auch aufgefallen.«

»Moment, nur damit das klar ist.« Lemon verschränkte die Arme. »Du schlägst vor, dass wir zu Fuß mehrere Hundert Kilometer durch verstrahltes Ödland zurückgehen, in einen Turm voller KillerBots, die wahrscheinlich schon wieder quietschfidel sind, wenn wir dort ankommen? Und dann schleppen wir tonnenschwere Batterien hierher, in der Hoffnung, dass die anderen Staubfresser, die in dieser Schlucht wohnen, Cricket in der Zwischenzeit nicht komplett ausgeschlachtet haben?«

»Guter Einwand.«

Lemon machte einen nachlässigen Knicks. »Es sind mehrere, wenn du mal nachrechnest.«

Ezekiel schürzte die Lippen und rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Du hast recht«, sagte er schließlich. »Du solltest hier beim Panzer bleiben.«

»Du willst mich ganz allein hier zurücklassen?«

»Der Plan ist nicht ganz makellos«, erwiderte Ezekiel achselzuckend. »Aber hier in diesem gepanzerten Ding ist es sicherer für dich und ich komme allein schneller voran. Außerdem … hast du eine bessere Idee?«

Lemon ließ sich auf den Geschützturm plumpsen. Sie wusste weniger über Logika als Ezekiel, womit ziemlich nett umschrieben war, dass sie überhaupt keine Ahnung von solchen Dingen hatte. Und falls es ein Problem mit Cricks Stromversorgung gab, schien auch ihr eine neue Batterie die einzige Reparaturmöglichkeit zu sein.

Aber dorthin zurückzugehen bedeutete, womöglich Gabriel wieder zu begegnen. Und Faith. Und Eve.

Zurück nach Babel zu gehen bedeutete, dass sie hier allein zurückbleiben musste.

Verlassen.

Schon wieder.

Lemon nahm den Helm ab und wischte sich den Schmutz von den Sommersprossen. Sie zerbrach sich den Kopf nach einem anderen Ausweg, aber sie war noch nie das Gehirn in ihrer Truppe gewesen. Falls es eine schlauere Möglichkeit gab, fiel sie ihr jedenfalls nicht ein, so viel war sicher.

»Also ehrlich, das mit dem Aufstehen heute Morgen?« Lemon schüttelte den Kopf und seufzte. »Echt eine saublöde Idee.«

2.2

GESCHNAPPT

»Denk dran: im Panzer bleiben«, sagte Zeke.

Lemon betastete den Verband, mit dem sie ihre aufgeplatzte Braue versorgt hatte. »Ja, Papa.«

»Die Luke bleibt zu, egal, was passiert.« Der Lifelike griff in den Waffenschrank und schob sich eine schwere Pistole hinten in den Bund seiner schmuddeligen Jeans. »Auch wenn irgendein Kerl anklopft und dir einen kostenlosen Ritt auf seinem Pony verspricht – du machst niemandem auf.«

»Ponys sind ausgestorben.«

»Du weißt hoffentlich noch, was ich dir zu den Geschützen gezeigt habe? Das hier ist deine Zielvorrichtung. Wenn sie gesichert ist, löst du die Sicherung und dann schießt du damit.«

»Ja, schon klar.«

»Immer schön den Kopf einziehen. Ich bin wieder da, bevor du sagen kannst: ›Ezekiel ist der mutigste und hübscheste Junge, den ich kenne.‹«

»Ich hab kapiert, worauf du hinauswillst, Grübchen.«

Der Lifelike kniete sich neben sie. Er lächelte über seinen eigenen Witz, aber sie sah die Sorge in seinen babyblauen Augen. »Also – ich beeile mich, verstanden? Ich kann sehr schnell laufen, ohne müde zu werden. Sobald ich die Akkus und ein Fahrzeug habe, komme ich auf dem schnellsten Weg wieder her.«

»Bist du sicher, dass du nur wegen der Batterien wieder zurückgehst?«, fragte sie leise.

»Welchen anderen Grund sollte ich haben?«

Lemon hob eine Augenbraue und sah ihn mit einem vernichtenden Blick an.

»Ich gehe nicht wegen Eve zurück«, versicherte ihr der Lifelike.

»A-haaa.«

»Sie ist nicht Ana, Lemon«, sagte Ezekiel. »Sie ist nie Ana gewesen.«

Lemon biss sich auf die Lippe und kämpfte gegen die Last an, die seit dem Abschied von Babel immer schwerer auf ihren Schultern lastete. Sie wusste, dass es wichtigere Dinge gab, um die sie sich kümmern mussten, dass absolut nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Trotzdem musste sie ihn jetzt danach fragen.

»Okay, und wann hast du vor, mich endgültig im Stich zu lassen?«

Ezekiel sah sie verdutzt an. »Wie meinst du das?«

»Ich meine, das ist doch dein Plan, oder?« Lemon starrte in die blauen Fugazi-Augen. »Myriad hat gesagt, dass die echte Ana Monrova noch irgendwo da draußen ist. Vielleicht ist sie verletzt, aber sie lebt. Papa Monrova hat sie versteckt. Und du bist völlig verrückt nach ihr. Deshalb wirst du sie früher oder später suchen, stimmt’s?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

Lemon verdrehte die Augen. »Regel Nummer sieben im Schrott, Grübchen: Leg nie einen Betrüger rein.«

Der Lifelike seufzte und blickte nach oben durch die offene Luke in den Nachthimmel. Hier mitten im Ödland konnte man tatsächlich einige der helleren Sterne da oben sehen, die sich anstrengten, den Schleier aus allgemeiner Verschmutzung und dem in der Luft schwebenden Atomstaub zu durchdringen. Das Sternenlicht küsste Ezekiels Wangen und leuchtete in seinen Augen, und bei seinem Anblick verspürte Lemon einen leisen Schmerz in der Brust. Sie wusste, dass er ihr nie gehören würde. Aus dem warmen Kribbeln, das sie im Bauch verspürte, wenn er sie Sommersprosse nannte, würde nie mehr werden.

Trotzdem sah er verdammt gut aus …

Ein winziges Licht sauste über sie hinweg und blinkte auf seinem Weg zum Horizont. Lemon sah es durch die Dunkelheit tanzen und überlegte, ob sie sich etwas wünschen sollte.

»Sternschnuppe«, murmelte sie.

Ezekiel folgte dem herabfallenden Licht mit seinen schönen Plastikaugen und schüttelte den Kopf. »Ist bloß ein Satellit. Dort oben gibt es noch Tausende davon. Übrig geblieben von vor dem Fall.«

»Manchmal frage ich mich, ob dein Schöpfer dir wirklich kein bisschen Romantik eingebaut hat, Grübchen«, sagte sie säuerlich. »Und dann wieder glaube ich, sie haben dir viel zu viel davon gegeben.«

»Warst du schon mal verliebt, Lemon?«, fragte er.

»Quatsch.« Lemon schniefte verächtlich und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel über die Nase. »Ein paarmal habe ich einen Jungen namens Chopper geküsst. Er war ein Gossenkind in Dregs, genau wie ich. War ganz nett. Aber dann wurde er mir irgendwie zu aufdringlich und da hab ich ihm ein bisschen die Nase gebrochen.«

Ezekiel lächelte schief, wobei sein Grübchen voll zur Geltung kam, und Lemons Bauch schlug gleich mehrere Purzelbäume hintereinander.

»Das kommt schon noch«, versprach er. »Ich weiß es. Dann verstehst du das.«

»Du liebst Ana richtig, hm? So richtig schlimm.«

»Ja«, antwortete der Lifelike und seine Augen leuchteten leidenschaftlich. »Aber gut-schlimm, nicht schlimm-schlimm.«

»Eve hast du aber auch geliebt.«

»Weil ich dachte, Eve sei Ana, Lemon.«

Das Mädchen seufzte und warf sich die Stirnfransen mit einer kurzen Kopfbewegung zur Seite. »Hör mal, Grübchen, ich war ja nicht sehr lange in diesem Turm, aber ich bin schlau genug, um zu wissen, dass das Mädchen, das in einem solchen Palast aufgewachsen ist, mit dem Mädchen, das du in Dregs gefunden hast, ungefähr null Gemeinsamkeiten hat. Eve ist Eve. Riotgrrl. Botdoc. Knallhart. Trotzdem hast du sie geliebt. Ich liebe sie auch. Warum also lassen wir sie einfach dort zurück? Warum gehen wir nicht beide zurück und holen sie?«

Der Lifelike dachte lange nach, ehe er antwortete.

»Es ist Eves Entscheidung, Lemon. Und sie hat noch nie zuvor eine Entscheidung treffen dürfen. Ich weiß, es fällt schwer, aber wir dürfen sie nicht zwingen, von dort wegzugehen. Damit wären wir nicht besser als Monrova und Silas.« Er strich sich über die Kinnstoppeln und seufzte. »Ana war das Mädchen, das mir gezeigt hat, wie es ist, lebendig zu sein. Und wenn sie noch irgendwo da draußen ist, dann bin ich es ihr schuldig, sie zu finden. Die vergangenen zwei Jahre, in denen ich dieses Ödland durchstreift habe … Manchmal haben mich nur die Gedanken an sie weitermachen lassen.«

»Dann gehen wir mal davon aus, dass Märchen wahr werden und du sie irgendwo aufspürst«, sagte Lemon. »Aber was ist, wenn das Mädchen, das du findest, nicht mehr das Mädchen ist, an das du dich erinnerst?«

»Sie wird immer das Mädchen sein, an das ich mich erinnere. Sie ist das Mädchen, das mich wahrhaftig gemacht hat.«

Lemon spürte, wie sich die eisigen Finger der Angst tief in sie hineinkrallten. Seit sie als Baby in dem Waschmittelkarton ausgesetzt worden war, hatte sie Angst davor, alleingelassen zu werden. Es hatte Jahre gedauert, bis sie den Mut aufgebracht hatte, Evie zu vertrauen, Silas zu vertrauen, überhaupt jemandem zuzutrauen, dass er sie nicht genauso schnell im Stich lassen würde, wie es ihre eigenen Eltern getan hatten. Und jetzt sah es so aus, als würde sie das alles schon bald wieder verlieren.

»Hör mal, ich weiß, dass sie dir wichtig ist«, sagte sie zu Zeke. »Aber wenn Eve in Babel bleibt und Cricket AB ist, geht mir so langsam das Team aus. Und eins ist klar: Ohne Evie weiß ich nicht mal, was ich hier draußen soll. Ich bin nur der Sidekick, Grübchen. Ich kann nicht die ganze Vorstellung allein stemmen.«

Ezekiels Blick wurde sanfter und er drückte ihr vorsichtig die Hand. »Ich lasse dich nicht im Stich, Lemon. Ich komme wieder, versprochen.«

Sie schaute in das hübsche Plastikblau und spürte, wie der Kloß in ihrem Hals größer wurde. Sie kämpfte gegen die Tränen an, stampfte mit ihren übergroßen Stiefeln auf, warf sich die Fransen aus der Stirn und erwiderte mit ihrer gewohnten Großmäuligkeit:

»Dann draufgespuckt!«

»Was?«

Lemon spuckte sich in die Handfläche und hielt sie dem Lifelike entgegen.

»Regel Nummer neun im Schrott: Nur Spucke klebt ewig.«

Ezekiel grinste schief, spuckte sich ebenfalls in die Hand und besiegelte den Pakt mit einem kräftigen Händedruck. Lemon spürte, wie die Last auf ihren Schultern ein bisschen leichter wurde, die Nacht ein bisschen heller.

»Also gut.« Sie hielt ihm den erhobenen Zeigefinger vor die Nase. »Und wehe, du legst mich rein.«

Ezekiel lächelte und setzte Lemon den etwas zu großen Kanonierhelm auf. »Bleib im Panzer. Ponybesitzer hin oder her. Ich nehme eins von den Headsets mit, also wenn du was willst, schreist du einfach, ja?«

Lemon drückte auf den Sendeknopf ihres Funkgeräts und brüllte: »Saubere Socken! Und was zum Lesen!«

Zeke riss sich den Ohrhörer mit verzerrtem Gesicht herunter.

»Also der kam ja wohl mit Ansage«, sagte Lemon grinsend.

Der Lifelike beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf den Helm. »Pass auf dich auf.«

Dann verschwand er in der Nacht wie alles andere auch.

Mit einem traurigen Seufzer verschloss Lemon die Luke hinter ihm.

Sie wurde von einem sehr sonderbaren Geräusch geweckt.

Lemon riss die Augen auf, und obwohl sie im Turm einer supermodernen Killermaschine saß, griff sie instinktiv nach dem kleinen Messer, das sie in der Gürtelschnalle versteckt hatte. Damals, in Diablos, hatte sie fremde Taschen aufgeschlitzt. Und, um bei der Wahrheit zu bleiben, auch jeden, der ihr zu nahe gekommen war.

Da sie nicht unmittelbar bedroht zu sein schien, rieb sie sich erst mal den Schlaf aus den Augen. Der Hitze nach zu urteilen, die durch die Stahlhülle des Panzers strahlte, vermutete sie, dass die Sonne bereits aufgegangen war. Sie musste die ganze Nacht durchgeschlafen haben. Hatte sie das Geräusch nur geträumt oder war sie …

Von wegen. Da war es wieder.

Es war gruselig. Ein merkwürdiges Gluckern oder Gurgeln. Dann stellte Lemon mit wachsendem Schrecken fest, dass es aus ihrem eigenen Magen kam.

»Oohhh, verdammt …«

Lemon beugte sich vor und reiherte quer über den Boden. Es kam in einem derartigen Schwall aus ihr heraus, dass sie sich danach fühlte, als hätte jemand sie komplett mit einem Löffel ausgekratzt. Stöhnend wischte sie sich die Kotze vom Kinn, um sich kurz darauf ein zweites Mal zu übergeben. Tränen schossen ihr in die Augen, und mit krampfhaft verkrümmten Zehen gab sie der Welt die Büchse NeoMeatTM wieder zurück, die sie am vergangenen Abend verdrückt hatte.

»Uäärgghh«, stöhnte sie am Schluss. »Ekelhaft.«

Sie holte ein paarmal zitternd Luft und versuchte herauszufinden, ob sie eventuell noch einmal kotzen musste. Sie kam zu dem Schluss, dass sie fürs Erste auf der sicheren Seite war, schnappte sich ihre Flasche H2O, spülte sich den Mund aus und erkannte zu spät, dass sie nirgendwohin ausspucken konnte.

Ezekiel hatte ihr befohlen, den Panzer nicht zu verlassen.

Er war da sehr bestimmt gewesen.

Mit dicken Backen drückte Lemon auf ihrer Konsole herum und erweckte die Turmkameras zum Leben. Jetzt sah sie die Überreste der Schrotti-Machina draußen liegen – und Cricket, der immer noch dort lag, wo er umgefallen war.

Sieht das sicher genug aus?

Sie befand, dass Grübchen bestimmt nicht gewollt hätte, dass sie hier drinnen im Gestank frischer Kotze gefangen war, also drehte sie die Luke auf, streckte den Kopf nach draußen und spuckte. Sie spülte sich den Mund noch einmal aus und spuckte wieder, zog sich die Schutzbrille gegen das blendende Licht vor die Augen und sah sich in der Schlucht um.

Die Sonne war gerade über den Horizont heraufgekrochen, aber die Luft ringsum flimmerte bereits – es würde ein brutal heißer Tag werden. Lemon ließ den Blick ein letztes Mal über die Felsen wandern, konnte nirgendwo etwas Verdächtiges sehen und kletterte aus dem Panzer, um dem Gestank zu entkommen. Ihr Magen tat immer noch krass weh, die Hände zitterten ein wenig.

Sie sprang hinunter in den Staub und ging einmal um Cricket herum, um sein Gesicht zu sehen. Sein neuer Kopf war wie ein Kriegerhelm von früher geformt, wie in den Geschichts-VRs: glatte Frontplatte, kantiger Unterkiefer und gewölbte Stirn, seine ehemals kristallblaue Optik war erloschen.

»Crick?«

Lemon hörte ein leises Summen am Ohr und wedelte eine fette Schmeißfliege weg, die um ihren Kopf kreiste.

»Hörst du mich, du kleiner Fug?«

Der Bot gab keine Antwort. Das Mädchen seufzte und rieb sich den Bauch. Sie hatte alles ausgespuckt, was sie gegessen hatte, fühlte sich aber immer noch ziemlich kotzerola. Ihre Haut war schweißnass. Vorsichtig trank sie einen Schluck Wasser, schluckte ihn mit einiger Mühe herunter. Sie hatte noch nie gehört, dass eine Büchse NeoMeatTM schlecht geworden wäre – das Zeug bestand mehr aus Konservierungsmitteln als aus richtigem Essen. Vielleicht hatte es zu lange in dem Panzer gelegen?

Die Schmeißfliege kam wieder und summte träge um ihren Kopf. Sie nahm noch einen halbherzigen Schluck, aber als die Fliege ihr vor dem Gesicht herumschwirrte, merkte sie, dass es überhaupt keine Fliege war. Es war eine dicke, wütend aussehende Hummel.

Bis jetzt hatte sie von solchen Geschöpfen nur Bilder in den Geschichts-VRs gesehen und es hatte immer geheißen, sie seien schon vor dem Beben ausgestorben, weshalb es wirklich seltsam war, eine so weit hier draußen im Ödland zu sehen. Ihr kleiner, pelziger Körper war gelb und schwarz gestreift, ihr Stachel glänzte unternehmungslustig. Lemon schlug beherzt nach ihr und hätte sie fast mitten in der Luft erwischt. Die Hummel summte zornig und trat eilig die Flucht nach oben über die Felswände an.

»So ist’s richtig«, brummte Lemon ihr nach. »Und erzähl’s deinen Kumpels, Kumpel.«

Sie fragte sich, wo Ezekiel sein mochte, wie weit er sich Babel schon genähert hatte. Ihr fiel ein, dass sie ihn ja fragen konnte, also kletterte sie wieder auf den Panzer und zog den Helm aus dem Innenraum heraus. Als sie ihn aufsetzte, sah sie, dass die Hummel wieder da war und auf der Luke neben ihrer Hand saß. Sie bewegte die Flügel und gab ein wütendes Summen von sich.

»Hast du noch nicht genug?«, knurrte Lemon. »Keine gute Entscheidung, Freundchen.«

Lemon zog langsam einen Stiefel aus, holte damit weit über dem Kopf aus … da kam eine zweite Hummel aus dem Himmel angesurrt und landete direkt auf ihrer Nasenspitze.

»Oh, Sch…«, flüsterte sie.

Lemon hielt den Atem an und schielte auf die Hummel, die sie ihrerseits mit ihren schwarz glänzenden Knopfaugen anstarrte.

»Als ich gesagt habe, du sollst es deinen Kumpels erzählen, hab ich es irgendwie anders gemeint, schon klar, oder?«

Sie hörte das Dröhnen träger Flügel in der Sonnenhitze. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, ihr Blick konzentrierte sich auf das spitz zulaufende Hinterteil des vorwitzigen Viehs auf ihrer Nase. Aber als das Summen lauter wurde, sah sie sich doch vorsichtig um, ohne den Kopf zu bewegen. Sie erblickte mindestens ein Dutzend weitere Hummeln an den Felswänden, die sehr weite Kreise um sie herum flogen. Mit ganz langsamen Bewegungen drückte sie auf die Sendetaste am Funkgerät ihres Helms.

»Äh … Grübchen?«, fragte sie. »Hörst du mich, Grübchen?«

Statisches Knistern und Knacken, dann kam Ezekiels leise Antwort.

»Lemon? Alles klar bei dir?«

»Ähm, kommt drauf an. Was fressen Hummeln?«

»Was?«

»Im Ernst, was fressen die?«

»Na ja, da bin ich kein Experte, aber ich würde sagen … wahrscheinlich Honig?«

»Keine Menschen?«

»Nnnnein. Ich glaube, das kann ich mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Darf ich fragen, wieso?«

Ringsum war die Luft jetzt voller Hummeln, ein torkelnder, wogender Schwarm, der die Luft mit tiefem Summen erfüllte. Lemon hörte von oben leise, schlurfende Schritte und verdrehte langsam den Hals, um zum Rand der Felswand hinaufzusehen. Dort oben auf der Klippe stand eine seltsame Frau, die zu ihr herabschaute.

Sie war groß, hübsch und hatte dunkelbraune Haut. Ihr Haar war zu langen, spitzen Dreadlocks geflochten. Ihre Augen glitzerten eigenartig goldfarben – Lemon dachte, dass sie irgendwie kybernetisch sein mussten. Trotz der Hitze trug sie einen langen, wüstenroten Umhang und hatte ein merkwürdiges Gewehr über die Schulter geschlungen. Unter dem Umhang trug sie etwas, das wie aus schwarzem Gummi aussah, staubig vom langen Weg, hauteng und mit eigenartigen Beulen und Wülsten, die sich über ihre eindrucksvollen Kurven zogen.

Diese Klamotten habe ich schon mal irgendwo gesehen …

Lemon rührte sich nicht, die Hummel saß immer noch auf ihrer Nase und Lemons Blick blieb auf die Fremde über ihr gerichtet. Die Frau zog den hohen Kragen von ihrem Anzug ab und entblößte somit ihren Hals. Lemon wurde ganz flau im Magen, als sie sah, dass die Haut der Frau mit Dutzenden, vielleicht Hunderten winziger sechseckiger Löcher übersät war.

Wabenförmig …

In ihren Haaren krochen Hummeln herum, ebenso über ihr Gesicht und über ihr Lächeln. Lemon sah, dass noch mehr Hummeln aus der Haut der seltsamen Frau herausschwärmten.

»Oh, jetzt versohl mir doch jemand den Hintern«, flüsterte das Mädchen.

Die Frau blickte auf Lemon herab, ihre goldenen Augen schimmerten.

»Lemonfresh«, sagte sie. »Wir haben sie gesucht.«

Endlose Dünen und kantige Felsenbrocken und Staub, so weit das Auge reichte. Ezekiel durchquerte das leere, eintönige Land mit langen, gleichmäßigen Schritten, die Kilometer verschwanden unter seinen Stiefeln. Er kam gut voran und hoffte, Babel noch vor Sonnenuntergang zu erreichen. Er sah den Turm, der sich in seiner Doppelhelix-Spirale über den Horizont erhob, stets vor sich und sein Schatten streckte sich auf das ferne Gebilde zu.

Genau genommen wusste er nicht so recht, was er tun würde, sobald er dort war. Falls Gabriel und Faith sich von den eingesteckten Prügeln schon wieder erholt hatten, falls Eve …

Eve.

Er wusste auch nicht recht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Er hatte Lemon nicht von der letzten Unterhaltung erzählt, bevor er den Turm verlassen hatte. Von den verschleierten Drohungen, die die neu erwachte Lifelike ausgestoßen hatte. Von dem gefährlichen Funkeln in Eves Auge, als sie diese letzten, schicksalhaften Worte ausgesprochen hatte.

»Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, dann läuft es bestimmt nicht so, wie du es gerne hättest.«

Er war sich nicht sicher, was sie damit gemeint hatte. Eve war wütend gewesen, das wusste er. Wegen der Lügen, die Silas und Nicholas Monrova ihr übergestülpt hatten. Wegen des falschen Lebens, das sie für sie konstruiert hatten. Sie hatte das Recht, wütend zu sein. Auf sie. Auf ihn. Aber was Lemon gesagt hatte, stimmte auch: Obwohl er eigentlich Ana liebte, hatte ein Teil von ihm auch Eve geliebt.

Bist du deshalb hierher zurückgekommen?

Schon so bald nach deinem Abschied?

Es lag nicht nur daran, dass sie Anas Doppelgängerin war. Eve verfügte über eine Kraft und Entschlossenheit, die er bei der originalen Ana nie gesehen hatte. Eine Energie und ein Durchsetzungsvermögen, das sie sich in den Jahren angeeignet hatte, in denen sie in einem Müllhaufen wie Dregs hatte überleben müssen. Aber wenn Eve jetzt mit Gabriel gemeinsame Sache machte oder, schlimmer noch, mit ihrem gemeinsamen Bruder Uriel, wenn sie diese Energie dazu benutzte, seinen Geschwistern dabei zu helfen, die Welt von dem Dinosaurier zu befreien, der die Menschheit in ihren Augen war …

Was würde dann aus ihr werden?

»Äh … Grübchen? Hörst du mich, Grübchen?«

Der Lifelike ging langsamer und tippte auf den Empfänger seines Headsets.

»Lemon?«, fragte er. »Alles klar bei dir?«

»Ähm, kommt drauf an. Was fressen Hummeln?«

»Was?«

»Im Ernst – was fressen die?«

Ezekiel rieb sich über das Kinn und fragte sich, was in dem Mädchen vorging. »Na ja, da bin ich kein Experte, aber ich würde sagen … wahrscheinlich Honig?«

»Keine Menschen?«

»Nnnnein. Ich glaube, das kann ich mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Darf ich fragen, wieso?«

»Oh, jetzt versohl mir doch jemand den Hintern …«

»Sommersprosse? Bist du –«

»Grübchen, Hilfe!«,kam die knisternde Antwort. »Da ist eine verrück–«

»Lemon?« Ezekiel klopfte auf das Headset. »Hörst du mich, Lemon?«

Nichts. Keine Antwort. Aber er hatte die Angst und das Adrenalin in ihrer Stimme gehört, deshalb drehte er fluchend um und rannte den Weg, den er soeben gekommen war, wieder zurück. Diesmal nicht in lockerem Trab, sondern in einem schnörkellosen Sprint. Er biss die Zähne zusammen, sein Arm pumpte, die Stiefel trommelten über den Boden. Er schrie ihren Namen in das Funkgerät, erhielt keine Antwort, und die Angst in seinem Bauch verwandelte sich in eiskaltes Entsetzen.

Er hatte ihr gesagt, sie solle im Panzer bleiben. Dort wäre sie in Sicherheit gewesen. Was um alles auf der Welt konnte durch die strahlensichere Panzerung zu ihr hineingelangt sein?

Es sei denn, sie war doch rausgegangen …

Du hättest sie nicht allein lassen sollen.

Er rannte. So schnell er konnte. Noch nie in seinem kurzen Leben hatte er sich so gefordert. Sein Herz hämmerte, seine Adern pumpten Säure. Er stellte den Gipfel körperlicher Perfektion dar, erzeugt in den GnosisLabs, um menschlicher als menschlich zu sein. Aber letztendlich bestand er auch nur aus Muskeln und Knochen, aus Fleisch und Blut. Obwohl er so schnell er konnte durch den Staub rannte, waren bei seiner Ankunft Stunden vergangen, die Sonne brannte hoch am Himmel, seine Haut und seine Kleider waren völlig verschwitzt. Es herrschte Totenstille in der kleinen Schlucht. Wie in einem Grab. Wie in der Zelle in Babel, kurz nachdem er und seine Geschwister die Familie Monrova ermordet hatten. Als er Eve die Pistole an den Kopf gesetzt und diese sinnlosen Worte geflüstert hatte.

»Es tut mir leid.«

Der Panzer stand genau dort, wo er ihn zurückgelassen hatte. Aber die Luke war offen und, schlimmer noch, nirgendwo eine Spur von Lemon oder Cricket. Ezekiel zog seine schwere Pistole, schlich zwischen den Steinen hindurch und lauschte mit seiner gesteigerten Sinneswahrnehmung, hörte aber nichts. Er sprang auf den Panzer, spähte hinein, sah, dass er teilweise ausgeschlachtet war – die Computersysteme, die Geschützmunition und die Funkausrüstung waren weg. Jemand hatte versucht, den Waffenschrank zu knacken, hatte es aber nicht geschafft, das Metall zu durchbrennen.

Vor der angesengten Schranktür lag Lemons Helm, mit Erbrochenem und ein paar Blutstropfen bekleckert. Daneben zwei zerquetschte Käfer.

Nein … keine Käfer …

Bienen …?

Er kniete sich neben die kleinen Leichen, hob sie auf und hielt sie behutsam in der Handfläche. Seine Augen waren scharf genug, um die Sommersprossen im Gesicht eines Mädchens zu zählen oder eine Motte durch den mitternächtlichen Himmel zu verfolgen. Er musterte die Insekten und sah, dass die beiden Zwillinge waren – nicht nur ähnlich, sondern identisch, bis hin zu den Härchen an ihren kleinen Leibern und den Facetten ihrer Augen. Der Lifelike drehte sie auf der Handfläche um und sah, dass die Streifen an ihrem Unterleib zu einem winzigen Muster angeordnet waren.

Ein Strichcode.

Der Lifelike schloss die Faust.

»BioMaas«, flüsterte er.

2.3

VERÄNDERUNG

Als Ezekiel Ponyreiten erwähnt hatte, war sich Lemon ziemlich sicher, dass er damit etwas völlig anderes gemeint hatte.

Vielleicht war das Biest ja früher mal ein Pferd gewesen, damals, bevor BioMaas es bis zur Unkenntlichkeit gengemodelt hatte. Dass es immer noch vier Beine hatte, war sozusagen die gute Nachricht. Aber soweit Lemon wusste – natürlich hatte sie das alles nur in der VR gesehen, denn auch diese Tiere waren seit Jahrzehnten ausgestorben –, trugen die meisten Pferde ihre Skelette eher innen.

Sie saß in der Nähe des Halses, ihre Handgelenke waren in durchsichtigem Harz gefesselt. Die seltsame Frau saß hinter ihr und hatte einen Arm um ihre Taille gelegt, damit Lemon nicht herunterfiel. Das Viech, auf dem sie ritten, war schwarz und hatte Facettenaugen wie eine Fliege. Seine Haut war von knochigen Wülsten überzogen, weshalb sie eher wie eine organische Rüstung als wie echte Haut aussah. Lemon war sich ziemlich sicher, dass seine Beine zu viele Gelenke hatten. Anstelle von Mähne und Schwanz befanden sich lange, segmentierte Stacheln, die gegeneinanderklackerten und raschelten, wenn es sich bewegte.

Sie ritten in vollem Galopp durch die Schlucht nach Süden. Lemons Entführerin drückte sich gegen ihren Rücken und das Mädchen spürte ein tiefes Summen in der Brust der Frau, wenn sie ausatmete, ein Gefühl, bei dem Lemons eigene Haut am liebsten von ihrem Körper weggekrochen wäre.

»Wohin bringst du mich?«, fragte sie.

»Wabenstadt.«

Die Stimme der Frau zitterte wie eine alte elektrische Stimmbox, als würde ihre gesamte Brust beim Sprechen vibrieren. Es war beinahe … insektoid.

»Die Hauptstadt von BioMaas?«, fragte Lemon verdutzt. »Wieso das denn?«

»Nau’shi hat uns von Lemonfresh berichtet. Lemonfresh ist wichtig. Sie wird gebraucht.«