Das Reich der Verdammten - Jay Kristoff - E-Book

Das Reich der Verdammten E-Book

Jay Kristoff

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Beschreibung

Der Name des Windes meets Interview mit einem Vampir – Das Reich der Verdammten ist der zweite Band von Jay Kristoffs epischer Fantasyserie. Band 1 stand 10 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste! Nachdem Gabriel de León den Orden der Silberwächter verlassen hat, begibt er sich zusammen mit seiner mysteriösen Verbündeten Liathe auf die Suche nach dem Ursprung der Vampirherrschaft: Er soll den Gral zu einem Weisen des uralten Volks der Esani bringen, um zu erfahren, wann der Fluch begann – und wie er sich beenden lässt.   Doch verfolgt von den Kindern des Ewigen Königs und der Heiligen Inquisition, ist kein Schritt gefahrlos, denn Verrat lauert hinter jeder Ecke. Und dass Gabriel und seine Gefährten in einen Krieg hineingezogen werden, der seit Jahrhunderten in der Dunkelheit ausgefochten wird, verbessert ihre Erfolgsaussichten auch nicht gerade … Für Leser*innen von Holly Black, V.E. Schwab, Ann Rice und Justin Cronin.

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Seitenzahl: 1379

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Jay Kristoff

Das Reich der Verdammten

A Tale of Pain and Hope

 

Aus dem australischen Englisch von Kirsten Borchardt

 

Über dieses Buch

 

 

Nachdem Gabriel de León den Orden der Silberwächter verlassen hat, begibt er sich zusammen mit seiner mysteriösen Verbündeten Liathe auf die Suche nach dem Ursprung der Vampirherrschaft: Er soll den Gral zu einem Weisen des uralten Volks der Esani bringen, um zu erfahren, wann der Fluch begann – und wie er sich beenden lässt.

Doch verfolgt von den Kindern des Ewigen Königs und der Heiligen Inquisition, ist kein Schritt gefahrlos, denn Verrat lauert hinter jeder Ecke. Und dass Gabriel und seine Gefährten in einen Krieg hineingezogen werden, der seit Jahrhunderten in der Dunkelheit ausgefochten wird, verbessert ihre Erfolgsaussichten auch nicht gerade …

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Jay Kristoff verbrachte den Großteil seiner Jugend mit einem Haufen Bücher und zwanzigseitiger Würfel in seinem spärlich beleuchteten Zimmer. Als Master of Arts verfügt er über keine nennenswerte Bildung. Er ist zwei Meter groß und hat laut Statistik noch 11.000 Tage zu leben. Zusammen mit seiner Frau und dem faulsten Jack-Russell-Terrier der Welt lebt er in Melbourne. Jay Kristoff glaubt nicht an Happy Ends.

Inhalt

[Motto]

Dramatis Personae

[Motto]

· I ·

· II ·

· III ·

ERSTES BUCH Wächter und Sünder

· I · Nichts als Dunkelheit

· II · Das Wie und Warum

· III · Böses Blut

· IV · Verlaufen

· V · Alte Zeiten

· VI · Vernichtung

· VII · Dank dieses Blutes

· VIII · Klauen und Zähne

· IX · Ein sanftes Ungeheuer

· X · Hass

· XI · Zart wie Schmetterlingsflügel

· XII · Nichts hält ewig

ZWEITES BUCH Der Schatten des Sohnes

· I · Cairnhaem

· II · Das Feuer brennt

· III · Die Gläubigen

· IV · Worauf es ankommt

· V · Arschloch und Narr

· VI · Die Brücke

· VII · Jenseits von Licht und Hoffnung

DRITTES BUCH Die Ungezähmten

· I · Kleiner Berg

· II · Zwischen zwei Bären

· III · Hunde und Leinen

· IV · Ein höllischer Kreislauf

· V · Dún Maergenn

· VI · Der Blutshof

· VII · Der rote Treueschwur

· VIII · Der Trumpf in ihrem Ärmel

· IX · Der starke Sog

· X · Ein Dolch aus Wahrheit

· XI · Unerhört

· XII · Die Lektion

· XIII · Besuch der Raben

· XIV · Das Ende aller Hoffnung

· XV · Und anders keins

VIERTES BUCH Dies verdorbene Blut

· I · Göttliche Hölle

· II · Ein Lied von Narben

· III · Das weiße Kaninchen

· IV · Smaragd und Flamme

· V · Ein kleines Stück Glückseligkeit

· VI · Rache ist süß

· VII · Wofür es sich zu sterben lohnt

· VII · Löwin

· IX · Keine Versprechen, keine Schwüre

· X · Die Bestie erwacht

· XI · Kein Tag zum Sterben

· XII · Die Wiege der Mütter

· XIII · Tiefroter Schnee

· XIV · Flüsse und Regen

· XV · Rot und Gold

· XVI · Das Feuer auf der Drachenzunge

FÜNFTES BUCH Staub und Asche

· I · Liebe und Krieg

· II · Etwas, woran man glauben kann

· III · Der Schwur

· IV · Schwarze Nacht, roter Morgen

· V · Unter Wölfen

· VI · Unterdunkel

· VII · Ein paar ernste Worte

· VIII · Gefährlich nahe

· IX · Famille bleibt famille

· X · Die große Liebe

· XI · Kein Gebet

SECHSTES BUCH Die rote Hand Gottes

· I · Sturmbringerin

· II · Schlachtgesang

· III · Chaos und Gemetzel

· IV · Noch einen Hauch kälter

· V · Die schlichteste Wahrheit

· VI · Ein perfekter Augenblick

· VII · Tiefste Verzweiflung

· I ·

· II ·

Danksagung

I’d take a leap of faith,

But I’d lose my nerve.

In the end, I’ll get the hell

That I deserve.

 

TOM SEARLE

Dramatis Personae

Seit wir einander zuletzt begegneten, liebe Leser, sind lange Winter ins Land gezogen, und hinter uns liegt nicht die einfachste Zeit. Die Erinnerung ist ein launisches Geschöpf, und das Leben ist zu erfüllt, als dass man sich auf alle Namen und Taten besinnen könnte. Und daher ist euer Chronist bereit, euch auf die Sprünge zu helfen, was unsere Mitwirkenden betrifft:

 

Gabriel de León – Der Letzte der Silberwächter, der Schwarze Löwe von Lorson und vorgeblicher Held dieser Historie. Er war neun Jahre alt, als der Tagestod über die Welt hereinbrach und die Sonne über dem Reich Elidaen sich verdunkelte, und seine Kindheit war kurz und grausam. Er ist ein Bleichblut – das Kind einer sterblichen Mutter und eines Vampirs, das die Macht und den Durst seines Erzeugers geerbt hat. Im Alter von fünfzehn Jahren trat Gabriel in den Silberorden von San Michon ein und wurde zu einem der größten Kämpfer dieser heiligen Bruderschaft, bevor er dort in Ungnade fiel.

Mehr als zehn Jahre nach seiner Exkommunikation war er ein gebrochener Mann, süchtig nach sanctus, einer Droge, die den stetig wachsenden Blutdurst kurzzeitig stillt. Von Rache getrieben, begab sich unser gefallenes Idol auf eine Reise und traf dabei auf ein Mädchen, das sein Leben für immer verändern sollte.

*

 

Dior Lachance – Die Tochter einer Straßendirne, die mit elf Jahren zur Waise wurde und bald darauf begann, sich als Junge zu kleiden, um es in den schmutzigen Gassen und Gossen ihrer Heimat ein wenig leichter zu haben. Sie hielt sich mit kleinen Diebstählen über Wasser, bis ihr Leben von der Erkenntnis erschüttert wurde, dass ihr Blut jede Wunde und jede Krankheit heilen konnte. Nachdem man sie aufgrund dessen der Hexerei angeklagt hatte, wurde sie von der Heiligen Inquisition zum Tode verurteilt, aber dann von Chloe Sauvage gerettet, einer Schwester des Silberordens und Freundin von Gabriel de León.

Die werte Schwester fand heraus, dass es sich bei der Macht, die in Diors Blut lag, nicht um Hexerei, sondern um eine Segnung des Himmels handelte. Dior ist die Nachfahrin einer Frau namens Esan, der Tochter des Erlösers, Gottes eingeborenem, sterblichem Sohn. Als Letzte ihrer Blutlinie ist es nun an ihr, dem Tagestod ein Ende zu bereiten und ihr Schicksal als Heiliger Gral von San Michon zu erfüllen.

*

 

Celene Castia – Gabriels Schwester. Sie wurde im Alter von fünfzehn Jahren ermordet, als ihr Dorf von den Toten zerstört wurde. Gabriel ging lange davon aus, Celeste sei längst begraben, bis sie ihm Jahre später als Vampirin begegnete, die sich Liathe nannte und es auf Dior abgesehen hatte. Zunächst standen sich die beiden Geschwister feindselig gegenüber, aber am Ende rettete Celene Gabriel das Leben und half ihm, Dior vor Verrat und Tod zu bewahren.

Celene ist wesentlich gefährlicher als andere Vampire ihres Alters. Zwar ist sie ein Kind des Bluts Voss, aber sie verfügt zudem über die Blutgaben der Esani, jener geheimnisvollen Linie, zu der Gabriels Vater gehörte. Sie verbirgt ihr Gesicht ebenso wie die wahren Ziele, die sie verfolgt.

Sie und ihr Bruder haben … nicht gerade das beste Verhältnis zueinander.

*

 

Astrid Rennier – Eine Schwester des Silberordens; Gabriels große Liebe. Astrid war die uneheliche Tochter Alexandres III., Herrscher von Elidaen, und wurde auf Drängen seiner frischgebackenen Ehefrau in das Kloster abgeschoben. Aus ihrer Freundschaft zu Gabriel erwuchs am Ende Liebe, und ebenso wie er wurde sie exkommuniziert, als ihre Schwangerschaft bekannt wurde.

Astrid brachte ein Mädchen zur Welt und heiratete Gabriel. Anschließend zogen sie sich an den südlichsten Rand des Reichs zurück und lebten dort als famille in stillem Glück.

Das jedoch nicht von Dauer sein sollte.

*

 

Patience de León – Gabriels und Astrids Tochter. Ihr Vater ließ sich ihren Namen in silbernen Buchstaben auf seine Finger tätowieren, als sie geboren wurde, als ewige Erinnerung für den ehemaligen Silberwächter, welche Dinge im Leben wirklich von Bedeutung sind. Sie war Gabriels ganzes Glück und das hellste Licht in seinem Leben. Zusammen mit ihrer Mamá wurde sie vom Ewigen König, Fabién Voss, ermordet.

Schämt euch eurer Tränen nicht, liebe Leser. Auch ich habe geweint.

*

 

Flammenzunge – Gabriels verzaubertes Schwert, dessen Worte direkt im Kopf desjenigen erklingen, der es schwingt. Zwar gibt es bei Flammenzunge immer noch helle Augenblicke, aber oft weiß sie nicht mehr so genau, wo und in welcher Zeit sie sich befindet – seit ihre Klinge beim Schlag gegen den Ewigen König brach, ist sie nicht mehr dieselbe.

Darüber, wo und wie Gabriel in ihren Besitz gelangte, wird unter den Musikanten und Wahrsängern des Reichs ausgiebig spekuliert.

*

 

Aaron de Coste – Ein ehemaliger Silberwächter von San Michon. Er war der Sohn einer Baronin und eines Vampirs vom Blute Ilon, jener Sippe, die in der Lage ist, die Gefühle anderer zu manipulieren. Ebenso wie Gabriel war er ein Novize Frère Grauhands, und beide Jungen verband zunächst eine hasserfüllte Rivalität, aus der jedoch im Laufe der Zeit wahre Freundschaft erwuchs. Aaron verließ den Orden, nachdem seine Liebe zu dem Schmied Baptiste Sa-Ismael offenbar geworden und ihre Beziehung von ihren Ordensbrüdern als Blasphemie gebrandmarkt worden war.

*

 

Baptiste Sa-Ismael – Ein früherer Schwarzdaumen des Silberordens, der Gabriels erstes Schwert Löwenklaue fertigte. Nach dem Bekanntwerden seiner Beziehung zu Aaron verließen beide Männer den Orden. Sie zogen nach Süden und bauten gemeinsam ein altes Château namens Aveléne wieder auf.

Jahre später fand Gabriel, der inzwischen Dior Lachance unter seine Fittiche genommen hatte, bei seinen alten Freunden Baptiste und Aaron eine Zuflucht. Sie halfen, den Gral vor Danton Voss zu bewahren, der das Mädchen rauben wollte.

*

 

Abt Grauhand – Gabriels früherer Meister, ein Sohn des Bluts Chastain, jener Sippe, die mit Tieren sprechen und ihre Gestalt annehmen kann. Grauhand versuchte dem jungen Gabriel ein Gespür für Verantwortung zu vermitteln und warnte ihn davor, sich jemals dem Durst zu ergeben, mit dem sein Blut geschlagen ist.

Im Verlauf der Ereignisse wurde er zum Abt des Silberordens ernannt und unterstützte Chloe Sauvage maßgeblich in ihrem Bemühen, den Heiligen Gral zu finden.

*

 

Chloe Sauvage – Eine Schwester des Ordo Argentum und Jugendfreundin von Astrid und Gabriel. Chloe stand Gabriel zur Seite, als er die Eroberung des Nordlunds durch Fabién Voss vereitelte, eine Leistung, für die er im Alter von sechzehn Jahren von Herrscherin Isabella zum Ritter geschlagen wurde.

Jahre später begegnete Chloe ihrem alten Freund erneut und konnte ihn dafür gewinnen, Dior Lachance zu schützen. Chloe beabsichtigte, den Gral zum Kloster San Michon zu bringen, um den Tagestod durch ein uraltes Ritual zu beenden, dem sie in der dortigen Bibliothek auf die Spur gekommen war. Als Gabriel jedoch erfuhr, dass Dior dabei geopfert werden sollte, packte ihn großer Zorn, und er erschlug Chloe, Grauhand und ein halbes Dutzend anderer Silberwächter, um das unschuldige Mädchen zu retten.

*

 

Saoirse á Dúnnsair – Ein Mitglied der Gralsgemeinschaft, die Chloe Sauvage zusammengerufen hatte, um Dior zu beschützen. Saoirse war eine Kriegerin aus dem ossianischen Hochland, schwang eine verzauberte Axt mit dem Namen Gnade und wurde von der Berglöwin Phoebe begleitet. Sie und Phoebe wurden in San Guillaume von Danton Voss im Kampf erschlagen.

*

 

Père Rafa – Ein weiteres Mitglied der Gralsgemeinschaft, Gelehrter der Bruderschaft von San Guillaume und Freund von Chloe Sauvage. Rafa begleitete Chloe auf ihrer Suche nach Dior und geriet in Glaubensfragen oft mit Gabriel aneinander.

Er wurde ebenfalls beim Massaker von San Guillaume von Danton Voss erschlagen.

*

 

Bellamy Bouchette – Ein Wahrsänger des Opus Grande und Mitglied der Gralsgemeinschaft. Er reiste mit Gabriel, Dior und den anderen durch den verwüsteten Süden des Nordlunds und hatte dabei stets eine Geschichte oder ein Lied auf den Lippen.

Und oui, auch er wurde von Danton ermordet.

*

 

Schmiedemeister Argyle – Der oberste Schmied des Silberordens. Der alte Schwarzdaumen kämpfte in der Zwillingsschlacht an der Seite von Gabriel, Aaron und Baptiste, als es ihnen gelang, den Angriff des Ewigen Königs auf das Nordlund zurückzuschlagen. Er war zugegen, als Dior in San Michon geopfert werden sollte, konnte jedoch fliehen, als Gabriel in der Kathedrale von San Michon das Schwert gegen seine früheren Brüder zog.

*

 

Talon – Ein Seraph des Silberordens; ein grausamer Mann, der nie zu Gabriels engsten Vertrauten zählte. Er ließ sich vom sangirè übermannen, dem Roten Durst, einem vererbten Leiden, das alle Bleichblüter letztlich vor Blutgier in den Wahnsinn treibt. Er wurde von Gabriel und Grauhand getötet.

*

 

Fabién Voss – Der Ewige König, Priori des Bluts Voss und vielleicht der älteste Vampir, der noch auf Erden wandelt. Fabién war der erste Anführer der Blutsippen, der die Elenden – jene geistesschwachen Vampire, die seit dem Tagestod in großer Zahl auf Erden ihr Unwesen treiben – zu einer Waffe machte und aus ihnen eine Totenarmee formte, die Endlose Legion. Obwohl Gabriel ihn zunächst noch aufhalten konnte, eroberte Fabién schließlich doch fast das ganze Nordlund und marschierte von dort aus weiter nach Osten, um den größten Teil des elidaenischen Kontinents zu unterwerfen.

Seine Brut, als die sieben sogenannten Fürstinnen und Fürsten des Ewigen bekannt, spielten bei seiner Invasion eine entscheidende Rolle. Er nahm Gabriel die Ermordung seiner jüngsten Tochter Laure sehr übel und übte später blutige Rache an dem Silberwächter und seiner famille.

*

 

Danton Voss – Die Bestie von Vellene, Fabién Voss’ jüngster Sohn. Danton wurde von seinem Vater ausgesandt, um Dior Lachance in seine Gewalt zu bringen, obwohl es ein Geheimnis blieb, wieso der Ewige König den Gral von San Michon lebendig haben wollte. Er erschlug die meisten Mitglieder der Gralsgemeinschaft in San Guillaume und verfolgte Dior und Gabriel bis nach Aveléne.

Er wurde schließlich von Dior mit Flammenzunge getötet, nachdem sie die Zauberklinge mit ihrem heiligen Blut gesalbt hatte.

*

 

Laure Voss – Der Rote Geist, Fabiéns jüngste Tochter. Laure war als Kundschafterin im Nordlund unterwegs, um die Invasion ihres Vaters vorzubereiten, als Gabriel, Aaron und Grauhand ihr auf die Schliche kamen und sie angriffen. Sie riss Grauhand den Arm ab und brachte Aaron Gesichtsverletzungen bei, die ihn fürs Leben zeichneten, bevor Gabriel ihr mit Feuer Einhalt gebieten konnte. Um sich an ihm zu rächen, begab sie sich nach Lorson, brannte Gabriels Heimatdorf nieder und ermordete alle Einwohner, darunter auch seine kleine Schwester Celene.

Sie wurde von Gabriel in der Zwillingsschlacht erschlagen.

*

 

Valya d’Nael – Eine Schwester der Heiligen Inquisition, die zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Talya den Auftrag erhielt, die der Hexenkunst bezichtigte Dior dingfest zu machen. Die Schwestern konnten Dior und Gabriel in der Stadt Rotenwacht überwältigen und unterzogen die beiden dort brutaler Folter. Dior gelang es jedoch, zu entkommen, Talya zu töten und Gabriel zu befreien.

*

 

Isabella Augustin – Die Gattin Alexandres III. und Herrscherin über ganz Elidaen. Sie war die Schirmherrin des Ordo Argentum und verhalf dem über viele Jahrhunderte vernachlässigten Orden wieder zu alter Größe. Sie schlug Gabriel nach der Zwillingsschlacht zum Ritter und setzte ihn in den folgenden Jahren als ihre rechte Hand ein, wodurch er zu Ruhm und Ehre gelangte.

*

 

Maximille Augustin – Ein Kriegerkönig, der vor sechshundert Jahren damit begann, den Zusammenschluss fünf einander bekriegender Länder zum großen Reich Elidaen voranzutreiben. Maximille fiel, bevor sein Traum in Erfüllung ging, aber seine Dynastie herrscht bis zum heutigen Tag über sein Reich. Die Kirche des Einen Glaubens erhob Maximille für seine irdischen Mühen zum Siebten Heiligen Märtyrer.

*

 

Michon – Die erste Märtyrerin, eine einfache Jägerin, die dem Erlöser als Jüngerin folgte und, nachdem er aufs Rad geflochten und hingerichtet worden war, seinen heiligen Krieg weiterführte. Den wenigsten ist jedoch bekannt, dass Michon gleichzeitig seine Geliebte war und die beiden eine Tochter namens Esan hatten – ein Name, der auf Alt-Talhostisch gläubig bedeutet.

*

 

Esan – die Tochter Michons und des Erlösers. Vor vierhundert Jahren zettelten Esans Nachfahren eine Rebellion gegen die Augustinische Dynastie an, die später als die Aavsenct-Irrlehre bezeichnet wurde. Ihr Aufstand wurde von Rittern des Einen Glaubens niedergeschlagen, und die meisten Rebellen fanden den Tod.

Dior Lachance ist der letzte Spross ihrer Linie.

Und nun, mes amis, wollen wir beginnen.

Aus heil’gem Kelch scheint heil’ger Glanz

Durch treue Hand wird die Welt wieder ganz.

Vor der Sieben Märtyrer Angesicht

Ein bloßer Mensch die Nacht vernicht’.

 

UNBEKANNTER VERFASSER

SONNENUNTERGANG

· I ·

Der Tote schlug die Augen auf.

Alles war still und ruhig, er auch. Er ganz besonders. Eine Statue war er, und nichts bewegte sich an ihm, abgesehen von den abgrundtiefen Pupillen, die sich weiteten, und den blutleeren Lippen, die sich leise öffneten. Da war kein Atem, der sich beim Erwachen beschleunigt hätte, kein Herzschlag unter seiner Porzellanhaut, der nun kräftiger geworden wäre. Er lag im Dunkeln da, engelsgleich und nackt, starrte zum ausgeblichenen Samt des Baldachins hinauf und fragte sich, was ihn geweckt haben mochte.

Die Stunde der Dämmerung war noch nicht angebrochen; noch küsste der Tagesstern den Horizont. Die Sterblichen, die sein herrliches Himmelbett mit ihm teilten, waren so friedlich wie Verblichene, und sie lagen bewegungslos da, sah man davon ab, dass der hübsche Beau ganz leicht den Arm über seinem Bauch zurechtrückte und dass der regelmäßig dahinfließende Atem der jungen Frau seine Brust streifte. In einem so reich bestückten Bett gab es keinen Hunger und zwischen so voll erblühten Schönheiten auch keine Kälte. Was also hatte ihn aus seinem Schlummer gerissen?

Während des Tages hatte er nicht geträumt – jene vom Blute taten das nie. Aber dennoch merkte er, dass ihm der Schlaf keinen Trost und das schwache Tageslicht keine Erholung geschenkt hatte, und als er sich nun ganz und gar den totentiefen Gefilden des Schlafes entwand, verstand er plötzlich.

Es war der Schmerz, der Jean-François geweckt hatte.

Jetzt erinnerte er sich, und er fasste nach seinem Hals, während Bilder wie Schmeißfliegen durch seinen Kopf tanzten. Eisenharte Finger, die sich in seine zu Asche verglühende Kehle bohrten. Weinbefleckte Fangzähne, grausam gefletscht. Sturmgraue Augen, die vor Hass glänzten, als Jean-François gegen die Wand gestoßen wurde und roter Rauch kochend heiß von seiner Haut aufstieg.

»Ich habe doch gesagt, ich kann Euch zum Schreien bringen, verdammter Blutsauger.«

Nur wenige Augenblicke später wäre es mit ihm vorbei gewesen, das wusste er. Wenn Meline nicht mit ihrem Dolch aus Silberstahl gekommen wäre …

Stell dir das nur vor.

Nach all dem, was du gesehen und getan hast.

Stell dir vor, du wärst in diesem Moment in dieser dreckigen Zelle gestorben.

Jean-François lag in der Dunkelheit und liebkoste die Stelle, an der ihn Gabriel de León verletzt hatte. Als er an die grauen Augen dachte, mitleidslos und mit rotem Rauch verschleiert, biss er unwillkürlich die Zähne zusammen. Und ganz kurz – für die Länge eines einzigen sterblichen Atemzugs – spürte der Marquis eine Regung, von der er eigentlich geglaubt hatte, dass sie zum Staub längst verblichener Jahrzehnte gehörte.

»Niemand hat mehr Angst vor dem Tod als Wesen, die ewig leben.«

Die junge Frau neben ihm hatte seine leichte Regung wahrgenommen, und sie seufzte, bevor sie wieder in Schlaf sank. Eine hübsche Blume war sie, aus Sūdhaem, mit weichen, dunklen Locken und satt olivfarbener Haut. Sie war ein wenig hager – aber waren das in diesen Nächten nicht alle? – und einige Jahre älter, als Jean-François es gewesen war, als ihm die Gabe zuteilgeworden war. Aber ihre Haut war warm, und ihre Berührungen so geschickt, und wenn sie ihn ansah, dann lag in ihren dunkelgrünen Augen ein Hunger, der in seltsamem Kontrast zu ihrer jugendlich-naiven Fassade stand.

Sie diente jetzt seit vier Monaten in seinem Stall. Lüstern und willig. Ganz kurz wünschte sich Jean-François, er könnte sich an ihren Namen erinnern.

Seine Augen glitten über ihren nackten Körper, über die geschwungene Linie der Arterie, die an der Innenseite ihres Schenkels verlief, über den köstlichen Schatten der Adern, die von ihrem Handgelenk den Arm entlangwanderten, bis zu ihrem scharf geschnittenen Kinn. Er beobachtete den Puls, der sanft darunter pochte, hypnotisch und gedämpft vom Schlaf. Der Durst regte sich in ihm – sein verhasster Geliebter, sein geliebter Feind –, und unwillkürlich musste er an Gabriel de León denken und daran, wie das Gesicht des Silberwächters nur eine Handbreit vor seinem aufragte.

Wie die Finger tiefer glitten.

Die Lippen nahe genug für einen Kuss.

»Schrei nach mir, Blutsauger.«

Der Geschichtsschreiber stützte sich auf den Ellenbogen, und die goldenen Locken fielen ihm ins Gesicht. Hinter ihm regte sich protestierend der junge Beau, dessen Hand suchend über das kalte Laken glitt. Er war ein bestechend schöner Nordländer mit rabenschwarzem Haar, dunklen Augen und sahniger Haut. Fast zwanzig, wie Jean-François vermutete. Die Vicomtesse Nicolette hatte ihm dieses Geschenk vor einigen Nächten überreicht – ein Bestechungsversuch seiner Blutsnichte, damit er sich bei der Herrscherin für sie verwandte, und obwohl er Nicolette bis aufs Blut verabscheute, hatte Jean-François ihr Geschenk akzeptiert. Der junge Beau war so schlank wie ein Vollblut, und an seinem Handgelenk, am Hals und im Schambereich war seine Haut kaum sichtbar von nadelspitzen Zähnen gezeichnet.

Sein Name fängt definitiv mit D an …

Jean-François strich mit seinen marmornen Fingerspitzen über die Haut der jungen Frau, so sanft wie die allererste Frühlingsbrise. Seine Schokoladenaugen verengten sich fasziniert, als er mit einem rasiermesserscharfen Nagel über die Bissspuren an ihrer Kehle fuhr und sie körperlich mit jenem verräterischen Aufstellen der Härchen darauf reagierte. Das Ungeheuer beugte sich vor, seine Zunge strich mit schneller Bewegung um und über ihre steif hervortretenden Brustwarzen, und die junge Frau begann schneller zu atmen, bevor sie erschauernd erwachte. Die Wärme des Blutes, das er getrunken hatte, bevor sie alle miteinander eingeschlafen waren, war längst vergangen – seine Lippen waren vermutlich kalt wie Eis. Dennoch stöhnte sie, als er stärker saugte und zubiss – hart, aber gerade eben doch nicht hart genug. Und als er ihr ganz leicht die Beine spreizte, da traute sie sich sogar, ihm durch sein goldenes Haar zu fahren.

»Gebieter«, hauchte sie.

Jetzt war von den Seufzern der jungen Frau auch der Beau erwacht. Er bedeckte die nackten Schultern des Marquis mit Küssen und drückte Jean-François seinen steif werdenden Schwanz gegen den Rücken. Und langsam wie schmelzendes Kerzenwachs schob er die Hand erforschend über die Hüften des Eisbluts, über die bleichen Muskeln seines Bauchs und weiter hinab bis in Jean-François’ Schritt. Der Vampir ließ zu, dass der Nordling ihn berührte, ihn streichelte, und er schickte sein Blut in die unteren Regionen, bis er hörte, dass der Beau stöhnte, während er in seiner Hand eisenhart wurde.

»Gebieter«, seufzte der junge Mann.

Die junge Frau küsste sanft seinen Hals und näherte sich dabei den Wunden, die ihm de León beigebracht hatte. Jean-François packte sie bei ihren Locken, und sie keuchte, als er ihren Kopf zurückriss. Er stieß ein leises Fauchen aus und spürte, wie das Tier in ihm erwachte, als er voller Genuss den Schmerz und das Verlangen in ihren grünen Augen las. Ihr Puls schlug wie eine Kriegstrommel, und er küsste sie heftig und hungrig, wobei er es in Kauf nahm, dass seine Fangzähne ihre Lippe aufrissen und ein paar Tropfen rubinhellen Feuers auf ihre verschlungenen Zungen gerieten.

Jetzt wallte der Durst erst richtig auf, und es fiel ihm schwer, sich zu bezähmen. Aber letztlich war der Marquis ein Raubtier und liebte die Jagd ebenso wie den Moment, in dem er seine Beute zur Strecke brachte, und daher löste er sich aus ihrem blutigen Kuss und führte die Frau dem steifen Beau zu, der hinter ihm lag.

Sie begriff sofort, und ihre Lippen öffneten sich seufzend, als der Nordling sich auf die Knie aufrichtete und sich ihr entgegenschob. Er stöhnte, als sie ihn in den Mund nahm, während der Puls unter der glatten, warmen Haut schneller pochte. Der Marquis lehnte sich zurück und sah eine Weile zu, wie die beiden sich hin und her wiegten, betrachtete die Bewegungen ihrer Körper, das Spiel von Licht und Schatten auf ihrer Haut. Der Beau stieß tiefer in den Mund der jungen Frau, die Augen glasig vor Lust, aber sie hielt den Blick die ganze Zeit auf Jean-François gerichtet. An dem Geruch, der in die Luft stieg, erkannte der Marquis, dass sie jetzt so feucht und warm wie ein Sommerregen war, und der kleinste Strich seiner Finger über ihre Spalte ließ sie bis in die eingerollten Zehen erschauern, während sie sich flehend und sehnsüchtig seiner Hand entgegenschob.

»Noch nicht, Schätzchen«, flüsterte er und erntete ein protestierendes Stöhnen. »Noch nicht.«

Jean-François erhob sich und kniete sich hinter den atemlosen Beau aufs Bett. Als er dem Nordling die langen schwarzen Locken vom Hals zurückstrich, spürte er, wie der Sterbliche erschauerte. Hinter ihm war nun ein Raubtier, dessen scharfe Klauen zart wie ein Kälteschauer über seine Haut fuhren. Der Marquis strich mit kühlen Fingern über die herrlichen Höhen und Täler der Muskeln und umschloss schließlich die heiße Wurzel des pulsierenden Glieds. Und während er über den sich hebenden und senkenden Oberkörper seiner Beute zu dem Mädchen blickte, das mit verschmiertem Kinn und vollem Mund vor ihm kniete, befahl er mit tiefer, knurrender Stimme:

»Bring es zu Ende.«

Die junge Frau sah ihn weiter unverwandt an und stöhnte – eine Priesterin, ganz in der Verehrung ihres Gottes gefangen. Der Beau zitterte und krallte sich in die langen Locken seiner Partnerin, während die Zähne des Ungeheuers seine Haut ritzten. Noch immer spürte Jean-François die Finger des Silberwächters an seiner Kehle.

»Schrei nach mir«, flüsterte er.

Genau das tat der Beau, der nun mit einer Hand in das Haar seines Herrn fasste. Die junge Frau stieß ihn sich in den Mund, tiefer und tiefer, und als Jean-François es fühlte – diese pulsierende, aufsteigende Hitze, die durch die unteren Regionen des Beaus strömte, direkt in ihren wartenden Mund –, da biss er zu, über den kurzen Widerstand der Haut hinweg, der stets so wahnsinnig kitzelte, um den Strom dickflüssig-glückseligen Lebens zu entfesseln, der darunter wartete.

Dann war da nichts mehr. Kein bebender Körper in seinen Armen. Kein entrückter Schrei, der von den Wänden zurückprallte. Nichts außer dem Blut, entflammt von der ganzen Leidenschaft des Beaus, ein Elixier, in dem sich Leben und Lust verbanden und das ihn immer höher in den grenzenlosen Himmel katapultierte.

Lebendig.

Jean-François trank ebenso gierig wie die junge Frau, und er wollte nichts anderes als mehr davon. Nur das hier, und zwar alles. In den Nächten, bevor der Tagesstern verblasst war, hätte er sich auch genau das genommen. Aber inzwischen waren Schafe selten und ihr Leben viel zu kostbar, um es leichthin zu verschwenden, und daher schlitzte sich der Marquis mit einem scharfen Fingernagel den Daumen auf und drückte ihn dem Beau an die Lippen. Der Sterbliche keuchte, stürzte sich wild und wie besessen darauf und saugte, während er seine Hand noch immer in den Schopf des Mädchens krallte. Bei seinen tiefen Schlucken stieß er weiter mit den Hüften zu. Die perfekte Vereinigung, bei der er gleichzeitig Nahrung und Genährter war, während die Welt um sie herum in rotes Feuer …

»Gebieter?«

Der Ruf kam von der Schlafzimmertür, und ein knappes Klopfen folgte. Jean-François nahm hinter dem himmlischen Duft von Blut ein bekanntes Parfüm wahr.

»Meline«, seufzte er mit rot verschmierten Lippen. »Komm herein.«

Die Tür zu seinem Boudoir öffnete sich, und hallende Geräusche von Stahl und Stein sowie das leise Flüstern der Dienstboten in den Sälen über ihnen drangen an sein Ohr. Das Château erwachte, und ein Dutzend verschiedener, schwacher Blutwitterungen hing in der Luft, als seine Mamsell ins Zimmer rauschte.

Meline trug ein Fischbeinkorsett und ein atemberaubendes Kleid aus schwarzem damasziertem Samt, dem man sein Alter kaum ansah. Um den Hals hatte sie sich ein Kropfband aus Spitze geschlungen, und das lange rote Haar war zu dünnen Zöpfchen geflochten, von denen ein halbes Dutzend so über die Augen frisiert war, dass es an dünne Ketten erinnerte. Sie sah aus wie eine Madame von Mitte dreißig, obwohl sie bereits auf die fünfzig zuging; der gnadenlose Lauf der Zeit wurde von dem Blut im Zaum gehalten, das sie allwöchentlich aus seinen Adern zu trinken bekam. Jetzt stand sie in der Tür, hochgewachsen und stattlich, und bedachte sein zur Hälfte genossenes Festmahl mit eisigem Blick.

Der Beau lag auf dem Rücken, ausgesaugt und bleich, aber noch immer mit stahlhartem Schwanz. Mit der Hochstimmung der jungen Frau war es vorbei, als sie Meline erkannte, und sie zog mit niedergeschlagenem Blick die Seidenlaken über ihren nackten Körper.

»Was ist denn, Meline?«

Seine Mamsell knickste. »Die Herrscherin wünscht Euch zu sehen, Gebieter.«

Der Chronist warf sich eine Robe über. Der Stoff war blass und schön, franste jedoch am Saum allmählich leicht aus – in einem Land, in dem nichts mehr wuchs, gab es keine neue Seide mehr. Er fuhr mit den Fingerspitzen über eine chymische Kugel, die daraufhin sein fürstliches Schlafgemach erleuchtete. Die Wände waren mit Eichenregalen gesäumt; Folianten erzählten Ereignisse aus der Geschichte, die ihn so faszinierte. Auf seinem Schreibtisch lagen Kohlestifte und kunstvolle Skizzen, die Tiere, architektonische Bauten oder nackte Körper zeigten. Jean-François streute ein wenig zerkrümeltes Kartoffelbrot in ein Terrarium und lächelte, als fünf schwarze Mäuse aus dem kleinen hölzernen Château wuselten, das sich darin befand. Seine Vertrauten stürzten sich auf ihr Fressen, Claudia schnappte wie üblich nach Davide, und Marcel forderte quiekend, dass sie Frieden hielten.

Er sah zu seiner Mamsell.

»Wir haben doch eine Sitzung für prièdi vereinbart, oder?«

»Entschuldigung, Gebieter. Aber Ihre Gnaden verlangt Eure Anwesenheit jetzt.«

Der Chronist blinzelte und war plötzlich hellwach. Meline verharrte noch in ihrem Knicks – dank ihrer perfekten Ausbildung in perfekter Bewegungslosigkeit. Und dennoch hatte er den Missklang in ihrer Stimme wahrgenommen und spürte die Anspannung ihrer Schultern. Die Seide raschelte, als er auf leisen Sohlen zu ihr trat und ihre Wange berührte.

»Sprich, mein Täubchen.«

»Ein Herold von Lady Falke ist eingetroffen, Gebieter.«

»Dann hat die Eiserne Jungfrau die Einladung Ihrer Gnaden also angenommen«, schlussfolgerte der Marquis nach kurzem Überlegen.

Meline nickte. »Ebenso wie Lord Kariim, Gebieter. Ein Gesandter erschien spät an diesem Morgen mit der Nachricht, die Spinne beabsichtige, der Konvokation unserer Herrscherin beizuwohnen.«

»Die Priori vom Blut Voss und Ilon?«, hauchte Jean-François verblüfft. »Sie kommen hierher?«

Er wandte sich zum Bett, und seine Stimme war hart wie Eisen.

»Raus.«

Die junge Frau fuhr sofort erschreckt auf. Während sie sich ein Nachthemd überstreifte, zog sie den Beau auf die Beine und schlang sich seinen Arm um die Schultern. Sie mied Melines kalten Blick – die Kleine war wirklich ein cleveres Ding – und half ihrem Stallgenossen aus der Tür. Aber als sie an ihm vorüberkamen, sah der Nordling Jean-François in die Augen, und der Wahnsinn des Blutkusses lag noch brennend in seinem Blick.

»Ich liebe dich«, flüsterte er.

Jean-François drückte eine Klaue auf die klebrigen Lippen des jungen Beaus und bedachte die junge Frau mit einem durchdringenden Blick. Eine deutlichere Warnung brauchte es nicht; die beiden verschwanden sofort aus der Tür.

Meline sah ihnen ungehalten nach.

»Du magst sie nicht«, brummte Jean-François.

Sie senkte ihren Blick. »Vergebt mir, Gebieter. Sie sind … Eurer nicht würdig.«

»Oh, mein Schatz.« Jean-François liebkoste die Wange seiner Hörigen und hob ihr Kinn leicht an, damit sie ihn wieder ansah. »Meine liebe Meline, Missgunst steht dir nicht. Die beiden sind weiter nichts als ein Schluck Wein vor dem Essen. Du weißt doch, dass ich nur dir vertraue? Dass ich nur dich verehre?«

Sie wagte es, sich in seine Berührung zu schmiegen und seine Knöchel dann mit Küssen zu bedecken.

»Oui«, flüsterte sie.

»Du bist das Blut in meinen Adern, Meline. Und wenn es etwas gibt, wovor ich mich fürchte, mein Täubchen, mein Schätzchen, dann ist es der Gedanke an eine Ewigkeit ohne dich an meiner Seite. Das weißt du doch, nicht wahr?«

»Oui«, hauchte sie den Tränen nah.

Jean-François lächelte und fuhr ihr mit einem Finger über die Wange. Er beobachtete, wie sich ihr Puls beschleunigte und wie sich ihr Busen hob, als er eine scharfe Klaue unter ihr Kropfband schob.

»Und jetzt kleide mich an«, befahl er.

Meline erschauerte und flüsterte dann:

»Wie Ihr wünscht.«

· II ·

Der Wahrsänger Dannael á Riagán hatte einmal gesagt: Falls jemand einen Beweis dafür suchte, dass Schönheit aus Scheußlichkeit geboren werden konnte, brauchte er sich nur Sul Adair anzuschauen.

Die Stadtfestung, die im gefrorenen Herzen der Muath-Berge im Osten Sūdhaems errichtet worden war, bezeugte sowohl die Genialität wie auch die Grausamkeit der Sterblichen. Es hieß, Eskander IV., der letzte Shan von Sūdhaem, habe für den Bau das Leben von zehntausend Sklaven geopfert. Der dunkle Eisenstein, der dem Château seinen Namen gegeben hatte – Sul Adair hieß in der Landessprache Schwarzer Turm –, wurde beinahe tausend Meilen entfernt abgebaut, und die Strecke, über die man ihn transportieren musste, war seitdem als Ne’seit Dha Saath bekannt – die Straße der namenlosen Gräber.

Sul Adair schmiegte sich an den Falkensteinpass und bewachte die Goldglasminen von Lashaame und Raa sowie die große Hafenstadt Asheve. Diese Schätze waren längst nicht mehr von Bedeutung, aber Sul Adair war geblieben, von der Hand des Schicksals ebenso unberührt wie vom Zahn der Zeit. Und auf diesen eisigen Gipfeln hatte die Herrscherin Margot Chastain ihren Thron errichtet.

Jean-François marschierte durch die Säle, und seine Schritte hallten von den hohen Decken wider. Meline hatte seine beste Kleidung ausgewählt – einen Gehrock aus weißem Samt und einen Umhang aus bleichen Falkenfedern. Die Zwillingsmonde und Zwillingswölfe des Bluts Chastain waren auf den Stoff über seiner Brust eingestickt, und das lange Haar, das seine Herrscherin stets so bewunderte, floss ihm wie geschmolzenes Gold um die Schultern. Meline ging drei Schritte hinter ihm, wie es einer Hörigen zukam, und der dunkle Damast ihres Kleids raschelte leise.

Dienstboten huschten durch die schattenverhangenen Säle und fielen auf die Knie, wenn sie seiner ansichtig wurden. Tierische Vertraute – Katzen und Ratten und Raben – beobachteten, wie er sich näherte, und huschten dann schnell davon. Er sah andere Verwandte, Mediae und Frischlinge, die zu Margots Blutshof gehörten und die sich verneigten oder knicksten, als er an ihnen vorüberging. Aber an den meisten rauschte der Marquis vorüber, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und er hielt seine Augen auf die Wände gerichtet oder auf die Dachbalken, die sich wie die Äste des Himmels hoch hinaufreckten.

Das Innere des Châteaus war mit den atemberaubendsten Fresken geschmückt, die man sich nur vorstellen konnte. Der Großmeister Javion Sa-Judhail hatte sie in dreißig langen Jahren harter Arbeit erschaffen. Angeblich hatte er nicht einmal von seinem Werk aufgeblickt, als man ihm die Nachricht von der Geburt seines Sohnes überbrachte. Als Kushru der Fuchs, ein Kriegsherr der Sūdhaemi, seinen unglücklichen Feldzug begann, um den Augustinern die Herrschaft über die Stadt zu entreißen, malte Javion selbst dann noch weiter, als die Armeen des Herrschers und späteren Shans sich bereits heftige Gefechte auf den Zinnen lieferten. Und als seine geliebte Frau Dalia sich aus Verzweiflung über seine Vernachlässigung vom höchsten Turm Sul Adairs herabstürzte, nahm sich der Großmeister nicht einmal die Zeit, um ihrem Begräbnis beizuwohnen.

Jean-François bewunderte die Leidenschaft dieses Sterblichen. Aber vor allem das, was er damit erschaffen hatte.

Eine Schönheit von jener Art, die selbst dann noch Bestand haben würde, wenn ihr Schöpfer schon längst von den Würmern gefressen worden war.

Das Château bestand aus fünf herrlich gestalteten Ebenen, und Javion hatte die Mauern einer jeden so bemalt, dass sie einen Schritt auf dem Weg in den Himmel darstellte. Die erste Ebene war dem Reich der Natur gewidmet und Gottes meistgeliebten Kindern, den Menschen. Die zweite schmückten Parabeln aus dem Leben der Heiligen, die dritte war den Sieben Märtyrern gewidmet. Über ihnen flogen die Engel der Himmelsschar – Eloise, Mahné, Raphael und sogar der gute, alte Gabriel – und schmückten mit ihren taubenweißen Flügeln die hohen Mauern der vierten Ebene von Sul Adair.

Jean-François stieg noch höher hinauf, umgeben vom chymischen Licht, das den dunklen Eisenstein wärmte, als sie die oberste Ebene des Châteaus erreichten, konnte er Meline leise hinter sich schnaufen hören. Ein großartiger Korridor erstreckte sich vor ihnen, geschmückt von einem blutroten Teppich, der die dunklen Steinplatten bedeckte. Opulente Kronleuchter hingen von den Dachbalken, die sich wie weite Spinnennetze aus schimmerndem Goldglas unter der Decke entlangzogen und mit den Schatten nistender Fledermäuse verhangen waren. Doch die Wände, an die Javion Sa-Judhail einst jahrzehntelang seine Würdigung des allmächtigen Gottes und Herrn des Himmels gemalt hatte, bestanden jetzt nur noch aus undekoriertem schwarzem Stein.

Das Lebenswerk des Großmeisters war völlig blank geschliffen worden, und stattdessen war die Wand mit einer Vielzahl von Gemälden in goldenen Rahmen geschmückt. Verschiedene Porträts, die allesamt dieselbe Person zeigten. Jean-François schritt an den Hörigenkriegern in ihren stählernen Rüstungen vorüber zu den Türen, hinter denen der Rückzugsort seiner Lady lag. Dort blieb er stehen und betrachtete das Porträt über dem Eingang.

Sie, die den Himmel ausgelöscht und an seiner Stelle die Herrschaft über die Erde übernommen hatte.

»Herein«, befahl es von innen.

Hörigenkrieger stießen die hohen Türflügel auf und enthüllten das mächtige Gewölbe, das dahinterlag. Meline trat vor und verkündete mit lauter, klarer Stimme:

»Marquis Jean-François vom Blut Chastain, Geschichtsschreiber Ihrer Gnaden Margot Chastain, Erste und Letzte ihres Namens, unsterbliche Herrscherin über Wölfe und Menschen.«

Eine lange Strecke tiefroten Teppichs führte hinein in die Dunkelheit, flankiert von baumhohen Säulen. Der Marquis spürte eine Kühle in diesem Raum, die ihn die blutwarmen Leidenschaften seines Bettes endgültig vergessen ließ. Er trat nun ein, allein, und folgte dem Teppich, die Hände wie ein Büßer gefaltet, während dazu aus den Schatten das helle Lied eines einsamen Kastraten erklang. Mit jedem Schritt legte sich die Kälte schwerer auf seine Haut, und eine dunkle Macht von unmöglichem Ausmaß wogte ihm entgegen.

Ein tiefes, warnendes Knurren ertönte. Der Marquis blieb sofort stehen und verneigte sich so tief, dass seine schönen goldenen Locken den Boden berührten.

»Meine Herrscherin. Ihr befahlt mich zu Euch.«

»Das tat ich«, kam die Antwort, volltönend und wie aus den Tiefen der Erde.

»Euer Wort ist mir heilig, Euer Gnaden.«

»Dann sieh mich an, Marquis. Und bete.«

Jean-François hob den Blick. Der Teppich war wie ein Fluss aus Blut, der von dem herrlichen Thron hinabströmte. Vier Wölfe, schwarz und gefährlich, ruhten auf dem Podest, auf dem er stand. Daneben kniete ein Page in der Livree der Chastains; auf seinen Händen balancierte er ein ledergebundenes Buch, das fast so groß war wie er selbst. Und hinter dem Thron, zwanzig Fuß hoch, erhob sich ein weiteres Porträt, das die Priori vom Blut Chastain zeigte, die Älteste aus der Linie des Schäfers, die gefürchtete Oberste ihrer gesamten Sippe.

Die Herrscherin Margot.

Es war nicht das beste Gemälde, das er je geschaffen hatte – alle Porträts hier in der Festung stammten von ihm –, aber es war das Lieblingsbild Ihrer Gnaden. Margot war sitzend auf einem goldenen Halbmond dargestellt und trug ein schönes onyxfarbenes Gewand. Zwillingswölfe lagen links und rechts zu ihren Füßen, Zwillingsmonde küssten ihren Himmel. Ihre Gestalt war die einer Jungfrau, jedoch mit der Haltung einer Göttin, ihre Haut hell wie die sonnengebleichten Knochen ihrer Feinde. Das Porträt war zahllose Male kopiert und an alle Blutshöfe in Sūdhaem gesandt worden, um sie daran zu erinnern, wem sie ewige Treue geschworen hatten. Margot lebte sehr zurückgezogen – mehr als dieses Bild würden die meisten ihrer Untertanen nie von ihr zu sehen bekommen.

Und unter diesem Porträt saß die Herrscherin persönlich.

Die Version, die Jean-François kannte.

Sie war nicht die hoch aufragende Gestalt, die er auf die Leinwand gebannt hatte. In Wirklichkeit war Margot von eher zierlicher Statur – ein Dummkopf hätte vielleicht sagen mögen, sogar ziemlich klein. Sie war keine üppige junge Frau und auch keine perfekte blonde Schönheit. Margot war nicht mehr jung gewesen, als sie sich gewandelt hatte, sondern eine Frau mittleren Alters. Und sosehr sie nun auch aus weißem Marmor und schwarzer Majestät gemeißelt schien, war sie doch immer noch gezeichnet von dem sterblichen Leben, das sie einmal geführt hatte – unfreundliche Jahre, die in der ewigen Erzählung ihres Körpers ihre Spuren hinterlassen hatten.

Aber gerade darin lag für einen Künstler wie dem Marquis ihre besondere Schönheit. Und sein Weg zu Margots Gunst. Denn schließlich gab es keinen Spiegel, kein Glas, keine mondbeschienene Wasserfläche, die einem Vampir das eigene Bild gezeigt hätte. Und seit die Herrscherin ihr Gesicht zum letzten Mal anderswo als in Jean-François’ schmeichelnden Darstellungen gesehen hatte, waren beinahe unzählige Jahre vergangen.

Margot war so alt, dass sie sich selbst nicht mehr daran erinnern konnte, wie sie aussah.

Die Herrscherin über Wölfe und Menschen sah Jean-François an, und ihre Augen waren ebenso schwarz wie der Himmel. Ihr langer Schatten streckte sich vor ihr aus und legte sich über den seinen, und obgleich kein Windhauch durch die Kammer strich, spürte der Marquis, dass sich seine Locken leicht bewegten. Margots Klauenhand streichelte das Fell des Wolfs, der am nächsten bei ihr lag – eine maliziöse alte Lady, die Bosheit hieß –, und dann sprach die Herrscherin mit einer Stimme, die von allen Seiten gleichzeitig zu ihm zu dringen schien.   

»Geht es dir gut, Marquis?«

»Bestens, Euer Gnaden. Merci.«

Die Lippen der Herrscherin kräuselten sich leicht. Ein weiterer Wolf – eine schlanke Schönheit, die den Namen Kühnheit trug – knurrte, als sie wieder sprach.

»Tritt näher, mein Kind.«

Jean-François stieg auf das Podest und kniete ihr zu Füßen nieder. Zwar saß die Herrscherin auf einem hohen Thron, war jedoch beinahe kleiner als er. Dennoch fühlte er sich in ihrer Gegenwart geradezu winzig. Die Schatten wurden länger, und sie hob ihre Hand so schnell von ihrem Schoß an seine Wange, dass die Bewegung wie ein Blinzeln erschien.

Jean-François spürte ein Kribbeln im Bauch, als Margot sein Kinn leicht anhob und ihn so zwang, sie anzusehen. Es war fünfzig Jahre her, aber er erinnerte sich noch gut an ihre mörderische Leidenschaft in jener Nacht, in der sie ihn getötet hatte. An das dunkle Entzücken in ihren Augen, als er sich vom blutigen Boden seines Ateliers erhob, erfüllt von Staunen und Entsetzen darüber, dass sie ihn nicht vernichtet, sondern ihm ein Leben geschenkt hatte, das alle Träume übertraf.

»Jedoch bist du noch verletzt.«

Schrei nach mir …

»Nur ein Kratzer, Euer Gnaden.«

»Ein Kratzer, der nach sechs Nächten noch immer nicht verblichen ist?«

»Aber dennoch langsam heilt. Ich versichere Euch, Mutter, er ist Eurer Aufmerksamkeit nicht würdig.«

Die Herrscherin lächelte. »Wer bin ich, mein Sohn?«

»Ihr seid die rechtmäßige Herrscherin dieses Reichs«, erwiderte er mit stolzgeschwellter Brust. »Eroberin, Weise und Wahrseherin. Altvordere der dunklen Sippe und Priori des Bluts Chastain.«

»Dünkt es dir dann, ich sei nicht in der Lage zu beurteilen, was meiner Aufmerksamkeit würdig ist?«

Die Herrscherin sprach in sanftem Ton, während ihre Fingerspitzen über seine verletzte Kehle strichen. Vampire konnten es sich nicht aussuchen, an welches ihrer Opfer sie ihre Gabe weiterreichten, und die meisten verwesten einige Tage, bevor sie sich wandelten – um dann als eine jener scheußlichen Kreaturen wiederaufzuerstehen, die man als Schmutzblüter bezeichnete. Jean-François war der letzte edelblütige Vampir gewesen, den Margot je erschaffen hatte, und er wusste, dass am Hof darüber getuschelt wurde, dass sie ihren Jüngsten verhätschelte. Aber als Margot stärker zudrückte, spürte er nur eine winzige Ahnung der ungeheuerlichen Stärke, die in ihr schlummerte, und ihm rann ein Schauer über den Rücken.

»Bitte entschuldigt, Euer Gnaden. Es ist nicht an mir, Euch zu sagen, worüber Ihr Euch sorgen solltet.«

»Wolltest du damit andeuten, ich sollte wegen dieser Sache Sorge haben?«

»Ich … sage gar nichts, Euer Gnaden.«

Ihr Daumen, der Marmor hätte zertrümmern können, strich über seinen Kehlkopf. Die Kühle nahm zu, die Schatten bogen sich, schrien.

»Von welchem Nutzen wäre wohl ein Chronist, der nicht sprechen wollte?«

»Mutter, ich …«

Ein leises Lachen durchdrang die Kammer, und scharfe Eckzähne blitzten auf, als es in der Dunkelheit still wurde.

»Ich treibe doch nur ein Spielchen mit dir, mein Herz.« Margot legte ihm die Hand an die Wange, und ihre schwarzen Augen glänzten. »So jungenhaft bist du oftmals. So jung. Ich sollte dich davor warnen, derartig Schwäche zu zeigen, wäre sie an dir nicht so zauberhaft, dass sie dich noch anbetungswürdiger machte. Und ich vergöttere dich, mein Schöner, mit dem ganzen Herzen einer Mutter.«

Das Lächeln fiel wie totes Laub von ihren Lippen.

»Aber du stinkst nach dem Schaf, bei dem du liegst, Jean-François. Tritt zurück.«

Der dritte Wolf, eine ältliche Lady namens Besonnenheit, beobachtete genau, wie der Marquis dem Befehl mit gesenktem Kopf folgte. Hinter maskenhaft starrer Miene verbarg Jean-François den Sturm, der in ihm tobte – Eifer, Scham, Furcht, Ergebenheit. Seine Mutter brachte ihn jedes Mal aus dem Gleichgewicht, und am Ende fühlte er sich immer wieder wie ein …

Der Blick der Herrscherin glitt zu dem Jungen an ihrer Seite. Der Page hatte die ganze Zeit über bewegungslos verharrt, während das in Messing eingefasste Buch auf seinen Handflächen ruhte. Zwar verfügte der Junge über die Kraft eines Hörigen, aber sicherlich brannten seine Arme trotzdem vor Anstrengung – genau das war der Zweck der Übung, wie Jean-François vermutete. Er wusste, dass es der Herrscherin nicht gefiel, wie ihr Jüngster seine Nächte verbrachte. Indem sie ihn in den Genuss dieser Demonstration beiläufiger Grausamkeit kommen ließ, erinnerte sie ihn daran, was er war. Was sie waren.

Der Wolf sorgt sich nicht um die Leiden des Wurms.

»Ich blätterte in deiner Chronik«, sagte sie.

»Fand Euer Gnaden Gefallen daran?«

»Deine Kunstfertigkeit ist so unübertrefflich wie eh und je. Dennoch dünkt mir die Geschichte ein wenig … unvollständig.«

»Das Werk ist noch nicht abgeschlossen, Euer Gnaden.«

Jean-François spürte einen kühlen Hauch, und seine Herrscherin war verschwunden – eben hatte sie noch auf ihrem Thron gesessen, und im nächsten Augenblick war der Platz leer. Als er sich das Haar aus dem Gesicht strich, entdeckte er, dass sie nun vor einem der hohen Fenster stand, die nach Norden blickten.

»Blindlings läuft, wer schnell dahineilt«, raunte Margot. »Ungeduld war der Untergang des Ewigen Königs, und ich gedenke nicht, dem hübschen Fabién in die Hölle zu folgen.« Margot richtete ihre pechschwarzen Augen auf ihr Kind. »Aber die Lage … wird dringlich, mein Herz.«

»Ihr sprecht von der Eisernen Jungfrau. Und der Spinne.«

Margots Lippen kräuselten sich zu einer Miene, die ein Narr als Lächeln hätte bezeichnen mögen.

»Sie kommen wirklich hierher«, hauchte Jean-François und trat nun neben sie.

»So ist es. Und mit den Winden erreichte uns zudem die Kunde, dass der Draigann über die Meere herannaht, unsere Einladung in seiner Bettelhand. Sie werden noch vor dem Fest zum Hochfrauentag eintreffen.«

»Die Priori dreier Blutlinien. Voss. Ilon. Dyvok. Sie alle hier, binnen einer Woche.« Jean-François sah staunend zu den Bergen. Kleine Gestalten in schwarzem Stahl patrouillierten über die Zinnen unter ihnen, Feuerkörbe leuchteten wie Sterne auf den undurchdringlichen Mauern. »Und Ihr wollt ihnen Achtung erweisen?«

»Es wäre wohl kaum höflich, wollte ich sie abweisen. Zumal ich es war, die diese Konvokation vorschlug.«

»Eine solche Versammlung hat es seit Hunderten von Jahren nicht mehr gegeben. Wir liegen mit den anderen Priorem im Schattenkrieg, soweit die Erinnerung reicht. Wie können wir ihnen vertrauen?«

Bei seinen Worten lachte die Herrscherin leise. »Das können wir nicht, mein süßer Marquis. Aber ihr Überlebenstrieb? Auf den können wir uns verlassen. Diese Kriege haben das Land ausgeblutet, mein Kind. Und mit jedem weiteren Emporkömmling, der sich ein eigenes kleines Fürstentum errichtet, mit jedem Bissen, den sich marodierende Banden heruntergekommener Schmutzblüter reißen, stolpern wir weiter der Katastrophe entgegen. Falke weiß das. Kariim weiß das. Selbst der Draigann weiß das.«

Margot schüttelte den Kopf und verzog den Mund.

»Doch obwohl sie willentlich hier erscheinen, werden sie doch nie das Knie vor uns beugen. Es erfordert eines besonderen Hebels, sie dazu zu bewegen. Und der liegt jetzt wohl schreiend in dem Loch, in welchem du ihn zurückließest.«

Jean-François biss die Zähne zusammen. »Er ist gefährlich, Mutter.«

»Natürlich ist er das. Was glaubst du, wie sonst hätte er in einer Welt so kalt überleben können?« Margot liebkoste die Verletzung unter seinem Halstuch, sanft wie ein Flüstern. »Dennoch, in ihnen ruht der Schlüssel, mein Sohn. Dieses Rätsel, diese Waffe, dieser Gral – sie allein halten sein Schicksal in Händen.«

»De León hasst unseresgleichen, Mutter. Er hat uns nichts verraten, was …«

»Was dünkt dir, weshalb ich dich mit dieser Aufgabe betraute?«

Er runzelte verwirrt die Stirn. »Ich bin Euer Chronist. Es gibt niemanden an Eurem Hof …«

»Weil du jung bist, Jean-François. Jung genug, um dich noch daran zu erinnern, wie es ist, ein Mensch zu sein. Darin mag eine gewisse Macht verborgen sein. Trost und Kameradschaft, die ein schlauer Wolf zu seinem Vorteil einzusetzen vermöchte.« Margot deutete auf die schwere Chronik, die der Hörigenjunge emporhielt. »Auf diesen Seiten steht die Geschichte eines Mannes, dessen Kelch vor Zorn überfließt. Und vor Trauer. Aber vor allem vor Stolz. Er mag es noch so sehr bestreiten, aber zweifle nicht daran – Gabriel de León verlangt es danach, der Welt seine Geschichte zu berichten. So groß ist seine enorme Eitelkeit. Und darin liegt der Schlüssel zu seinem Untergang.«

Margots schwarze Augen glitten wieder zu Jean-François’ Kehle.

»Und er fühlte eine Verbundenheit mit dir, mein süßer Marquis. Die Ermordung seiner famille. Seine Verbindung zu Dior Lachance. Meinst du, solch intime Bekenntnisse hätte er mir anvertraut?«

»Intim?« Jean-François biss die Zähne zusammen. »Er hat versucht, mich zu ermor…«

»Du hast mit ihm gespielt«, fuhr sie ihn an. »Die Zeit ist gekommen, da du deinen verletzten Stolz herunterschlucken wirst, mein Kleiner, und ihm, wie es die Weisen täten, nach grausamer Strafe Güte erwiesest.«

Der Marquis erschauerte, und es lief ihm kalt über den Rücken, als sie seine Wange liebkoste.

»Dir allein vertraue ich diese Aufgabe an, Jean-François. In niemanden sonst an unserem Hofe setze ich ein solches Vertrauen – nicht in deine Geschwister, nicht in deine Cousins oder deine Cousinen. Erkennst du denn nicht, dass du von all den Schrecken, die ich schuf, der einzige bist, dem ich vertraue? Der einzige, den ich über alles liebe?«

Margot hob den Kopf und suchte Jean-François’ Blick.

»Oui«, flüsterte er.

Hinter ihm auf dem Podest leckte sich der vierte Wolf der Herrscherin die triefenden Lefzen – ein ungeschlachtes Scheusal, das den Namen Gefolgschaft trug. Ohne eine erkennbare Bewegung streckte Margot, die ihm eben noch über die Wange gestrichen hatte, Jean-François jetzt ihre Hand hin. Und auf ihrer Handfläche lag eine gläserne Phiole mit blutrotem Staub, dazu ein schwerer eiserner Schlüssel.

»Bringe mir, wessen ich bedarf, mein Kind. Bringe mir ein Reich.«

Jean-François senkte den Kopf und raunte:

»Wie Ihr wünscht.«

· III ·

Der Mörder hielt an einem schmalen Fenster Wache und wartete immer noch auf sein Ende.

Das Zimmer war nicht mehr so, wie er es zurückgelassen hatte, als er nach unten in die Hölle geschleift worden war. Die Steinfliesen waren beinahe sauber geschrubbt, und die Blutflecke verdeckte ein alter Vorleger aus Lammwolle. Im Kamin züngelte zwar keine Flamme, aber er verströmte dennoch ein wenig Wärme – vor einigen Stunden hatte dort ein Feuer gebrannt, das die Kälte vertrieb. Zwei altertümliche Sessel standen in der Raumesmitte, dazwischen ein kleiner, runder Tisch. Auf ihm warteten zwei goldene Kelche – leer, aber verheißungsvoll.

Es war alles wieder ordentlich hergerichtet, wie Spielfiguren auf einem Brett, die für die nächste Partie aufgestellt worden waren. Aber obwohl man sich dieses Mal mehr bemüht hatte, für eine gewisse Gemütlichkeit zu sorgen, erkannte der Letzte der Silberwächter diesen Raum durchaus als das, was er war.

Aber dennoch. Es war besser als der Kerker, aus dem man ihn gerade erst wieder herausgeholt hatte.

Sechs Nächte hatte er dort verbracht, hatte auf dem Grund eines leeren Brunnens tief im Bauch des Turms gedarbt. Seine Zunge ein ausgetrocknetes Flussbett aus gesprungener Tonerde. Seine Kehle eine Wüste. Nur Qualen hatten ihm dort Gesellschaft geleistet, Qualen, blutgefleckte Träume und nebelweiche Träume von ihr.

Er hatte schon wirres Zeug geredet, als man ihn endlich wieder emporschleppte und ihm einen Lungenzug Sanctus gestattete, dessen Süße ihm die Tränen in die Augen trieb. Ein Kader Hörigenkrieger hatte ihn anschließend in ein Badehaus im Herzen des Châteaus eskortiert, in dem ihn zwei hübsche Sterbliche – eine grünäugige Sūdhaemi und ein dunkelhaariger, gut gewachsener Nordländer – bis an die Brust in herrlich warmes Wasser getaucht hatten. Ganz langsam hatten sie ihn gebadet, ihm das Blut und den Dreck aus dem Haar gekämmt, während seine Wimpern flatternd auf die vernarbten Wangen schlugen. Als sie fertig waren, hatte Gabriel sich beinahe wieder wie ein Mensch gefühlt. Und daher hatte er, als er spürte, dass der hübsche Junge seine Schulter mit Küssen bedeckte und die junge Frau ihre Fingerspitzen an der Innenseite seiner Schenkel hinaufwandern ließ, geseufzt, anstatt sich nach einem Schwert zu sehnen.

»Was macht Ihr da?«, krächzte er mit vom Schreien noch wunder Kehle.

»Unser Herr gebot uns, Eure Bedürfnisse zu stillen, Chevalier«, erwiderte die junge Frau. »Und zwar alle.«

»Wie lauten Eure Namen?«

Das Mädchen blinzelte verwirrt. »Mein …«

»Euer Name, Mademoiselle«, wiederholte Gabriel.

»Jasminne.«

»Dario«, raunte der Junge, dessen Zähne kitzelnd Gabriels Ohr berührten.

Er schob sie beide sanft von sich, ihre Finger wie auch ihre Lippen.

»Merci, mon chers. Aber diese Art von Hunger verspüre ich nicht. Und auch nicht diese Art von Niedertracht.«

Sie kleideten ihn in seine alten Ledersachen, die inzwischen gesäubert worden waren; seine Stiefel waren poliert, das Hemd makellos rein. Und nach drei heißen Tellern Kaninchenragout und einer halben Flasche eines so seltenen Weins, dass man mit ihm ein kleines Château im Nordlund hätte kaufen können, war Gabriel mit bewaffneter Eskorte wieder die Turmtreppe hinaufgeführt worden, um dort darauf zu warten, dass ihn Marquis Jean-François Chastain erneut mit seiner Anwesenheit beehrte.

Es dauerte nicht lange.

Während Gabriel noch aus dem Fenster zu den entfernten Bergen hinübersah, spürte er einen Kitzel, als ob ihm jemand das Haar aus dem Nacken strich. Als er sich umwandte, stand das Eisblut zwanzig Fuß von ihm entfernt, so dass sich die Sessel und der Tisch mit den leeren Kelchen zwischen ihnen befanden.

»Ihr fühlt Euch hoffentlich erfrischt, Chevalier?«, erkundigte sich Jean-François.

Der Marquis trug edle, helle Kleidung, und seine goldenen Locken umspielten die marmornen Wangen. Seine roten Lippen waren leicht gekräuselt, und frisches Blut färbte das Weiße seiner Augen. Obgleich er ihn in den letzten sechs Nächten nicht ein Mal zu Gesicht bekommen hatte, wusste Gabriel, dass dieses Ungeheuer jeden einzelnen der qualvollen Augenblicke zu verantworten hatte, die hinter ihm lagen. Weil er dafür bestraft worden war, den Marquis bei ihrem letzten Aufeinandertreffen angegriffen zu haben.

»Wie geht’s der Kehle?«, fragte er.

»Besser.«

»Dem könnte ich Abhilfe verschaffen.«

Das Lächeln des Eisbluts verwandelte sich in etwas Dunkleres; in etwas, das mit einem echten Lächeln allenfalls boshaft spielen wollte. Einen kleinen Augenblick lang war die Luft so dick und düster wie Herzblut.

»Ich dachte, wir versuchen es noch einmal, de León«, erklärte Jean-François. »Ich lasse Euch rauchen. Gebe Euch Wein. Ich dachte, wir unterhalten uns vielleicht einmal wie Edelleute, die alle Rechnungen miteinander beglichen und alle Verletzungen vergessen haben.« Der Marquis deutete auf einen Sessel. »Mögt Ihr Platz nehmen?«

»Was passiert, wenn nicht?«

»Dann kommt es vermutlich zu Blutvergießen.« Jean-François griff in seinen Gehrock und zog einen schimmernden Perlmuttgriff hervor, aus dem er eine kleine Klinge ausklappte. »Und zwar nicht von der angenehmen Art.«

Gabriel warf einen kurzen Blick auf das Messer. »Ist das nicht ein bisschen klein?«

»Nicht die Größe ist entscheidend, Chevalier, sondern das Geschick, mit dem man sein Werkzeug führt.«

»Dieses Lied singt wohl jeder klein gewachsene Mann.«

Der Marquis lachte leise in sich hinein und schnippte mit den Fingern. Die Tür der Zelle schwang auf. Im Korridor wartete Jean-François’ getreue Hörige Meline, deren schwarzes auf Wespentaille geschnürtes Korsett in einen Wasserfall schwerer Röcke überging. Sie schwebte ins Zimmer und stellte ein goldenes Tablett auf den Tisch.

Gabriel entdeckte darauf eine chymische Kugel und eine Schüssel dampfend heißen Wassers, über der ein Streifen Musselin hing. Ein Riegel echte Seife lag auf einem Schälchen neben einem kleinen Rosshaarpinsel. Sein Blick glitt wieder zu der schmalen Klinge, die das Ungeheuer ihm hinhielt.

»Ihr macht Witze.«

»Mein Fleisch wurde nicht alt genug, um viel mehr als einen zarten Flaum zu entwickeln, aber ich habe mir sagen lassen, dass Bärte recht … unangenehm sein können.« Jean-François verzog das Gesicht. »Und ganz ehrlich, Chevalier, der Eure ist kein Bart, sondern eine Versündigung.«

»Was das angeht, habe ich einen gewissen Ruf zu verteidigen.«

»Betrachtet mein Angebot als eine Wiedergutmachung. Als eine Annehmlichkeit, die ich Euch nach einiger Unbill gern zukommen lassen möchte. Es sei denn, natürlich … Euch ist nicht wohl dabei, wenn ich Euch ein Messer an die Kehle setze?«

Das Ungeheuer lächelte, und die Luft knisterte vor sadistischem Amüsement. Gabriel wusste, welches Spiel hier gespielt wurde und welch grausamem Zweck es diente. Dass er sechs Nächte voller Qualen durchlitten hatte, um diesem Scheusal wieder vor die Füße geworfen zu werden und erkennen zu müssen, dass er sich noch immer in seiner Gewalt befand. Um diesem Blutsauger die Kehle hinhalten und beten zu müssen, dass er sie nicht aufschlitzte.

Um seine Niederlage einzugestehen.

Gabriel schüttelte sich das Haar von den Schultern und ließ sich in den reich verzierten Ledersessel sinken. Das Ungeheuer grinste triumphierend auf ihn herab und genoss seine Erniedrigung. Dann schloss Gabriel die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Vertraute darauf, dass der Skorpion schon nicht zustechen würde.

Drei lange Atemzüge vergingen, bevor der im Süßwasser erwärmte Musselin über sein Gesicht gebreitet wurde. Gabriel atmete den Dampf ein, und seine Haut prickelte, als er die Schritte des Eisbluts zu seiner linken Seite hörte. Mühsam kämpfte er gegen die Reflexe an, die in den langen Jahren von Schlacht und Krieg geschärft worden waren, spürte in seinem Kopf den urzeitlichen Instinkt zu kämpfen und zu fliehen und zwang sein Herz, wieder langsamer zu schlagen.

Patience, flüsterte eine Stimme in seinem Innern.

Geduld …

»Meine Herrscherin hat Eure Geschichte gelesen, Chevalier.« Die Stimme des Ungeheuers erklang sanft hinter ihm. »Von Eurer Lehrzeit in San Michon. Von Eurer Reise mit Dior Lachance und von Eurem Kampf mit dem Ordo Argentum, um das Leben des Grals zu retten. Eine Saga, die der Ewigkeit würdig ist. Ihre Gnaden war erfreut.«

»Na, da bin ich aber beruhigt«, brummte Gabriel.

»Und ich erst, das kann ich Euch versichern.«

»Angst, Mamá zu enttäuschen, Eisblut?«

»Große Angst, um ehrlich zu sein.«

Der Musselin wurde von seinem Gesicht genommen, und Gabriel fühlte, wie Jean-François die Rasierseife auf seinem Unterkiefer schaumig aufschlug. Der Geruch war nicht unangenehm; Narrenhonig und Holzasche mit einem ganz leichten Hauch Blaurinde.

»Sie hat sich allerdings«, fuhr der Marquis nachdenklich fort, »kritisch über die Länge der Erzählung geäußert.«

Jean-François stand jetzt zu Gabriels Rechten, und der Silberwächter straffte unwillkürlich die Kiefermuskeln, als er die erste Berührung des Rasiermessers spürte. Das Ungeheuer drückte sanft die Finger gegen Gabriels Kinn und zog die Klinge dann in langem, glattem Schwung über seine Wange.

»Sie war begierig zu erfahren, wie es weitergeht.«

Das Rasiermesser war scharf wie Glas und glitt erneut mit einem flüsterleichten Kuss über seine Haut. Die Finger des Marquis waren hart wie Stein, aber sanft und warm, weil er sich gerade erst genährt hatte. Gabriel zwang sich, ruhig zu bleiben, aber das Tier in ihm reagierte mit äußerster Anspannung darauf, derart ausgeliefert zu sein – Schauer rannen ihm über den Rücken, während der Chronist die Klinge geschickt über den Bogen von Gabriels Oberlippe führte.

»Wir mögen unsere Differenzen gehabt haben, de León, aber ich bin keine rachsüchtige Seele. Ihre Gnaden hat allerdings deutlich gemacht, was sie verlangt. Und obwohl ich nicht das Bedürfnis verspüre, Euch weitere Qualen zuzufügen, würde ich das tun müssen, wenn Ihr Euch ihren Wünschen nicht fügt. Und das möchte doch sicher keiner von uns beiden.«

Gabriel fühlte wieder die Rasierklinge, die nun auf seinen Hals zuhielt. Eine blutwarme Berührung an seiner Kehle, während der Schritt des Ungeheuers seinen Arm streifte.

»Schlaft Ihr mit Frauen, Eisblut? Oder mit Männern?«

Die Klinge hielt inne.

»Wieso fragt Ihr, Silberwächter?«

Achselzucken. »Reine Neugier.«

Gabriel spürte einen steinharten Daumen auf seiner Lippe, der geradezu zärtlich ein paar Seifenspuren wegwischte. »Männer, Frauen … das sind Begriffe, um die sich die Unsterblichen nicht scheren. Die im Ozean der Ewigkeit schnell versinken. Schönheit mag es jenseits aller Grenzen geben.«

»Wenn Ihr dann also mit Euren Schätzchen ins Bett steigt, macht Ihr sie vorher ein bisschen warm? Oder beugt Ihr sie einfach vornüber und fallt über sie her?«

Wieder verharrte die Klinge. »Wollt Ihr …«