Das Babylon-Syndrom - Jean-Claude Hügli - E-Book

Das Babylon-Syndrom E-Book

Jean-Claude Hügli

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was haben Polarlichter in Norwegen mit einer archäologischen Ausgrabung in Israel zu tun? Urs Stierli, der mit seiner Lebensgefährtin Daniela Wolf auf einer Schiffsreise entlang der norwegischen Küste eine unsanfte Begegnung mit Polarlichtern hat und Anna Santoro, Professorin für Archäologie in Siena, wird der Zusammenhang bei ihrer Begegnung in Zürich klar. Urs Stierli gelangt zu weltumspannender Bekanntheit und Anna Santoro hofft, dank seiner ausserordentlichen Fähigkeiten Erkentnisse zu erlangen, die zudem eine grosse Aufregung im Vatikan auslösen könnten. Derweil Harry Regottaz, der Ex-Schwager und Freund von Urs Stierli für Anna Santoro ein gefährliches Abenteuer eingeht und damit in den Fokus des Vatikans und der israelischen Altertumsbehörde gerät. Als ihm Scherereien mit einem kriminellen tschetschenischen Familien-Clan erwachsen, weil sein Freund und Rechtsanwalt in Zürich brutal ermordet wird, hat es zwar nichts mit seinem Dienst an Anna Santoro zu tun, aber trotzdem wird ein Vertreter des Vatikans eine entscheidende Rolle spielen. In Zürich, wo alle Protagonisten zusammenkommen, werden die unterschiedlichen Handlungen zu einem Netz verknüpft, in dem ein schlauer Bischof aus dem Vatikan die Fäden zieht und daraus spektakuläre und unerwartete Antworten entstehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 885

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Natura nihil facit frustra neque deficit in necessariis

(„Die Natur tut nichts Überflüssiges und bleibt hinter dem Notwendigen

nicht zurück“).

Thomas von Aquin

1225 - 1274

Die Protagonisten

Urs Stierli

Wasserbau-Ingenieur und Polarlicht-Liebhaber, 39 Jahre

Daniela Wolf

Journalistin, 38 Jahre, von ihren Freunden nur Dani genannt, Langzeitfreundin von Urs Stierli

Harry Regottaz

Abenteurer und geheimnisvoller Charakter, 43 Jahre

Yvonne Stierli

Urs Stierlis Schwester und Harrys Ex-Frau, 41 Jahre

Frank Straumann

Zürcher Rechtsanwalt mit zwielichtigen Klienten

Peter Oberli

Hoteldirektor und alter Bekannter Harrys

Ursi Heusser

Frank Straumanns Sekretärin

Radomir Plavic

kroatischer Geschäftspartner Frank Straumanns

Monsignore Gaetano Silvestri

Bischof und Leiter der päpstlichen Kommission für Sakrale Archäologie

Luigi Sopelsa

Novize und Assistent von Monsignore Silvestri, Neffe von Bischof Antonio Riva von Vicenza

Kardinal Gideon Fitzpatrick

Kurienkardinal und Kongregationsleiter für Glaubenslehre

Bischof Kurt Semmler

Mitglied der Apostolischen Signatur, dem höchsten Gerichtshof im Vatikan

Anna Santoro

Professorin, Archäologin, 35 Jahre alt und mit grosser Anziehungskraft auf Harry

Djamal Haddad

Ausgrabungsleiter in Magdala und damit Vorgesetzter von Anna Santoro

Ari Singer

Israelischer Sicherheitschef an der Ausgrabungsstätte in Magdala

Michael Jacobi

von der Altertumsbehörde Israels

Bob Henderson

Harrys Freund und Teamleiter einer Minensuchgruppe

Dr. Sven Nordgreen

Schiffsarzt auf der MS Nordkapp

Prof. Erik Solberg

Neurologe am Universitätsspital Tromsoe

Lisa Olsen

Prof. Solbergs Assistentin

Dr. Viktor Orlow

Arzt am Unispital Tromsoe, Kollege von Professor Solberg

Prof. Jens Nielsen

Sprachwissenschaftler von der Universität Oslo

Prof. Katja Bohlen

Professorin für Sprachwissenschaften mit Spezialgebiet Psycholinguistik, Universität Hamburg

Prof. Karl Scheidegger

Universitätsspital Zürich, Neurologie

Arif

Wirt an der Grenze zu Libanon, christlicher Palästinenser

Onar

Türkischer Lastwagenfahrer mit intellektuellem Hintergrund

Kurt Flückiger

Kantonspolizist, Kriminalabteilung für Gewaltverbrechen, Teamleiter

Otto Stettler

Kantonspolizist, Hauptmann, Chef Abteilung Gewaltverbrechen

Peter Baumann

Kantonspolizist, Hauptmann, Chef Abteilung Strukturkriminalität

Walter Meierhofer

Kantonspolizist, Abteilung für Strukturkriminalität

Heinz Tobler

Kantonspolizist im Team von Kurt Flückiger

Bischof Carlos Gonzales

aus Valencia, der Tradition verpflichtet

David Weinbaum

gutmütiger Kapitän auf hoher See und Anna Santoro sehr zugetan

Cornelia Schütz

Freundin von Daniela und engagierte Pressesprecherin von Urs

Bernhard

scharfsinniger Abt des Klosters Einsiedeln

Sandro Bertaggia

Chefredaktor des Osservatore Romano

Milan Horvat

Killer im Dienste eines Tschetschenen

Murvan Idrisov

Chef eines tschetschenischen Clans

Kapitelübersicht

Kapitel Urs und Dani reisen nach Norwegen

Kapitel Bischof Silvestri geht zu einer Sitzung

Kapitel Urs und Dani geniessen die Schiffsreise

Kapitel Harry erscheint bei Frank Straumann

Kapitel Frank Straumann und Radomir Plavic

Kapitel Urs und Dani machen Ausflüge

Kapitel Unheilvolle Nacht in Zürich

Kapitel Kardinal Fitzpatrick informiert

Kapitel Harrys Rückblende im Hotel

Kapitel Urs und die Polarlichter

Kapitel Harry verschwindet

Kapitel Urs liegt im Koma

Kapitel Flückiger ermittelt in Zürich

Kapitel Harry im Libanon

Kapitel Urs wird zum Phänomen

Kapitel Kardinal Fitzpatrick hat schlechte Laune

Kapitel Anna verlässt Israel in Richtung Italien

Kapitel Das Babylon-Syndrom

Kapitel Harry in Syrien

Kapitel Krisensitzung im Vatikan

Kapitel Anna versteckt sich

Kapitel Urs wird zum Versuchskaninchen

Kapitel Harry erwartet Anna in Zürich

Kapitel Bischof Silvestri wird aktiv

Kapitel Anna meldet sich bei Marta

Kapitel Kardinal Fitzpatrick macht sich Sorgen

Kapitel Urs und Dani sind zurück in Zürich

Kapitel Harry erfährt viel Neues

Kapitel Radomir Plavic

Kapitel Die Pressekonferenz

Kapitel Nachforschungen

Kapitel Radomir Plavics unangenehmes Telefonat

Kapitel Bischof Silvestri

Kapitel Harry ruft Radomir Plavic an

Kapitel Anna trifft Bischof Silvestri in Zürich

Kapitel Bischof Semmlers Freundschaftsdienst

Kapitel Radomir unter Druck

Kapitel Neue Erkenntnisse

Kapitel Die Pressekonferenz

Kapitel Vatikanische Dienstleistung an Harry

Kapitel Ein Wiedersehen unter Freunden

Kapitel Strategien werden entwickelt

Kapitel Vorbereitungen

Kapitel Tschetschenische Machenschaften

Kapitel Urs Stierli verblüfft die Wissenschaft

Kapitel Unruhe im Vatikan

Kapitel Bischof Silvestris Plan geht auf

Kapitel Das Ende steht für den Anfang

Epilog

1. Kapitel

Auf diese Reise hatte er sich schon lange gefreut. Mit einem Postschiff während zwölf Tagen an Norwegens Ostküste von Bergen nach Kirkenes und wieder zurück und dabei die prächtigen Nordlichter erleben, die im Winterhalbjahr zwischen Oktober und März einmalige Erlebnisse garantierten. Zugegeben, es hatte ihn einige Überzeugungsarbeit gekostet, bis seine Dauerverlobte Daniela Wolf endlich einwilligte, diese Reise gemeinsam zu unternehmen. Sie war eigentlich nicht die Frau, die ihre Ferien gerne im hohen Norden, bei teilweise eisiger Kälte verbrachte, sondern flog im Spätherbst viel lieber auf eine der schönen Sonneninseln, wobei die Malediven ganz oben auf ihrer Wunschliste standen. Und weil Urs schon viermal mit ihr solche Ferien verbracht hatte, wollte sie ihm bei seinem grossen Wunsch natürlich nicht im Wege stehen und hatte sich, nach einigen Diskussionen und damit verbundenem Studium der Reiseprospekte schliesslich bereit erklärt, ihn auf diese Reise zu begleiten.

Urs Stierli hatte sich fast pedantisch auf diese Reise vorbereitet. Nicht nur wollte er die faszinierenden Nordlichter erleben, die ihn schon seit seiner Jugend beschäftigt hatten, er wollte auch einfach die Ruhe in der majestätischen Landschaft entlang von Norwegens Küste geniessen. Zwölf Tage auf einem Postschiff, traumhafte Ausflüge, Besuch des Nordkaps und das alles mit der grossen Liebe seines Lebens. Am Nordkap wollte er ihr dann, nach acht gemeinsamen Jahren den konkreten Heiratsantrag machen und insgeheim hoffte er, sie würde auf seinen Vorschlag eingehen, sich im hohen Norden vom Kapitän des Schiffes trauen zu lassen. Im nächsten Januar würde er 39 Jahre alt werden, Dani war nur gerade sieben Monate jünger. Er fragte sich seit Tagen, wie Dani wohl darauf reagieren würde. Sie, die eigentlich immer von einer konventionellen Hochzeit geträumt hatte, mit Standesamt, Kirche und grossem Fest. Na ja, sagte er sich, wir könnten ja die kirchliche Trauung und das anschliessende Fest trotzdem veranstalten, auch wenn er das eigentlich nicht so richtig wollte. Aber für Dani würde er das über sich ergehen lassen und ihr die Freude am Fest nicht vermiesen wollen. Nun würde er einfach mal abwarten, wie die Ferien auf dem Postschiff abliefen und seinen Heiratsantrag erst dann machen, wenn er auch sicher war, dass sie die gemeinsamen Tage mit ihm auch so genoss, wie er es bestimmt tun würde.

„Urs, nun komm doch schon, der Flug wartet nicht auf uns!“

Danis Zuruf riss ihn aus seinen Träumereien. Er hatte völlig überhört, dass die Passagiere ihres Fluges nach Oslo bereits zweimal zum Einsteigen aufgefordert worden waren. Schnell packte er sein Handgepäck und folgte Dani zum Ausgang.

„Was würdest Du nur ohne mich machen?“ hänselte sie ihn, als sie an der Abfertigung ihre Bordkarten scannten. „Du hättest es nicht einmal gemerkt, wenn das Flugzeug ohne dich an Bord abgeflogen wäre.“

„Ach was“, brummte er, „ich hätte das schon mitbekommen. Und ausserdem rufen sie fehlende Passagiere über Lautsprecher aus. Das hätte ich gar nicht überhören können.“

„Wenn du meinst. Komm, lass uns einsteigen und ein Glas Champagner geniessen. Schliesslich haben wir nun zwei Wochen Ferien vor uns.“ Dani freute sich wirklich auf diesen Urlaub, auch wenn sie es Urs gegenüber nicht so direkt zugeben wollte. Zu lange schon hatte sie sich dagegen gewehrt, Ferien im Norden zu verbringen und sie hatte schliesslich nur seinetwegen eingewilligt. In der Zwischenzeit hatte sie dann sehr viel über die Norwegische Küste gelesen, über die Postschifffahrten hoch ans Nordkap und natürlich auch über das Phänomen des Nordlichts. Nun freute sie sich selber sehr auf dieses grossartige Erlebnis.

Kaum hatten sie Platz genommen, wurde schon die Türe des Flugzeuges geschlossen und die Maître de Cabine begann ihre Ansage. Der Flug nach Oslo würde etwa zweieinhalb Stunden dauern und sollte ohne grosse Turbulenzen stattfinden.

Urs konnte es kaum erwarten, endlich abzuheben. Er war nun ganz in Ferienstimmung und bestellte für sich und Dani ein Glas Champagner, als der Board Service anfing.

„Prost, Schatz“, sagte er mit dem Glas in der Hand zu Dani gewandt, „auf wunderschöne Ferien an einem der schönsten Flecken auf diesem Planeten.“

„Prost Urs. Und ja, ich freue mich richtig fest auf diese Ferien mit dir und ich bin ganz sicher, mir wird die Reise mit dem Schiff der Küste entlang sehr gut gefallen.“

„Ja, ganz bestimmt“ schwärmte Urs: „wir werden sechs Tage von Bergen nach Kirkenes unterwegs sein und viele prächtige Landschaften und kleine Ortschaften entlang unserer Route sehen. Ich freue mich jetzt schon auf unsere gemeinsamen Ausflüge.“ Am 27. November würde die Polarnacht beginnen, die bis zum 16. Januar dauerte. Dafür schien die Mitternachtssonne vom 15. Mai bis zum 28. Juli.

„Na ja, das mit dem Schneehotel verursacht mir immer noch ein mulmiges Gefühl“, erwiderte Dani, „so einfach in einem vereisten Schnee-Zimmer zu schlafen stelle ich mir äusserst kalt und ungemütlich vor.“

„Ach was. Du wirst schon sehen. Das gehört nun mal zur Hundeschlittenfahrt mit dazu. Ist ja nur für eine Nacht“, beruhigte sie Urs.

Er selber kannte das auch nur aus Reiseprospekten, aber er hatte sich sagen lassen, dass so eine Hundeschlittenfahrt mit anschliessendem gemütlichen Beisammensein im Schneehotel, sowie die Übernachtung in einem der vereisten Zimmer, ein nicht zu missendes Erlebnis sei. Die vielen Kommentare auf den einschlägigen Internetportalen hatten ihn in seiner Entscheidung bekräftigt. Für ihn das grösste Erlebnis aber würde das eindrückliche Schauspiel der Nordlichter sein, die in dieser Jahreszeit fast immer zu beobachten waren. Auf zahlreichen Fotos und in einigen Dokumentarfilmen hatte er dieses überwältigende Naturschauspiel fasziniert betrachtet und in ihm hatte sich der sehnliche Wunsch aufgetan, die Nordlichter selber zu erleben. Das erste datierbare Ereignis einer Nordlichtsichtung, so hatte er es gelesen, findet sich in einer über 2500 Jahre alten, babylonischen Keilschrift. Darin wird ein ungewöhnlich rotes Leuchten am Nachthimmel beschrieben, welches sehr präzise auf die Nacht vom 12. auf den 13. März 567 vor Christus datiert werden konnte.

Während Urs vor sich hinträumte und sein Wissen über die Nordlichter quasi im Selbstversuch testete, döste Dani friedlich auf ihrem Platz neben ihm. Beide waren in ihrem Beruf sehr engagiert und andauernd unterwegs. Danis Job als Journalistin für eine grosse Tageszeitung aus Zürich war äusserst anstrengend, zumal sie sich dem investigativen Journalismus verschrieben hatte und in der Wirtschaftsredaktion tätig war. Viele Male hatte sie kleinere und auch grössere Skandale aus der Wirtschaftswelt aufgedeckt, weil sie nie locker liess, wenn sie sich eines Themas angenommen hatte. Dabei war sie sehr integer und vor allem fair. Nie hatte sie Artikel geschrieben, die auf oberflächlich recherchierten Fakten beruhten und nicht den Tatsachen entsprachen. Der sogenannte Hear-say-Journalismus, der von einigen Kollegen in anderen Redaktionen und vor allem auch in anderen Zeitungen betrieben wurde, war ihr ein Gräuel. Da ging es einzig um Schlagzeilen, unabhängig davon ob das Geschriebene auf echten Fakten oder auf blossen Erzählungen, gemischt mit einer Portion Fantasie des Journalisten, beruhte. Mit ihrem geradlinigen Charakter hatte sie sich in der Branche nicht nur Freunde gemacht. Aber viele der mächtigen Wirtschaftsbosse und auch Wirtschaftspolitiker hielten sie für die fairste und ehrlichste Journalistin auf diesem Sektor und wichen einem Gespräch mit ihr äusserst selten aus. Dani hatte dabei einigen Firmenbossen, die aufgrund von Fehlinformationen oder fatalen Gerüchten und böswillig falschen Anschuldigungen ins Mahlwerk der Gesetzesmühle geraten waren, mit ihren fundierten und akribisch geführten Nachforschungen den Kopf gerettet. Sie schmunzelte, wenn sie an all die Fälle zurückdachte, die sie in den letzten zehn Jahren ins richtige journalistische Rampenlicht gerückt hatte. Sie hatte Leute ins Gefängnis gebracht, aber auch Leute aus dem Gefängnis herausgeholt. Für sie war es jedes Mal, wenn ein Fall abgeschlossen war, eine grosse Befriedigung mitzuerleben, wie nicht nur Recht gesprochen wurde, sondern auch Gerechtigkeit eine wichtige Rolle spielte. Ihren letzten Coup hatte sie vor zehn Tagen gelandet, als sie nach wochenlangen Nachforschungen und teilweise verdeckten Ermittlungen, dem Schweizer Geschäftsführer eines Finanzkonzerns mit Sitz in London seinen Hals und damit seinen Ruf retten konnte. Wie immer zu Beginn eines solchen Skandals, waren haufenweise angebliche Beweise aufgetaucht, die in einer spektakulären Verhaftung des Beschuldigten mit der anschliessenden medialen Vorverurteilung gipfelten. Weil Dani schon recht bald erkannt hatte, dass sich die ganzen Anschuldigungen wegen Korruption und Wirtschaftsspionage auf recht dünnem Eis bewegten und die sogenannten Beweise gar keine waren, verzichtete sie, sehr zum Ärger ihres Chefredaktors, ins gleiche Horn zu stossen. Ihr Artikel über das ganze Geschehen war sehr objektiv und äusserst zurückhaltend gewesen und sie hatte klar auf den Hinweis der Unschuldsvermutung gepocht. Die anschliessenden eigenen Recherchen kosteten sie unzählige Stunden und ihre verdeckten Ermittlungen hätten sie ein paar Mal in Teufelsküche bringen können. Doch sie liess nie locker und verdankte dieser Eigenschaft einmal mehr den Durchbruch in Richtung Wahrheit. Nach vielen Interviews mit Personen aus dem Umfeld des in Untersuchungshaft sitzenden Geschäftsführers, stellte sie fest, dass die ermittelnden Behörden wohl ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Denn schon nach wenigen Aussagen fand sie so viele Widersprüche in der von den Medien wiedergegebenen Geschichte, die ihr anfängliches Bauchgefühl, der Mann könnte unschuldig sein, bestätigten. Bei den vielen Interviews, die sie führte, waren immer wieder die Namen von zwei Konzernmitarbeitern aufgetaucht, die offenbar die ganze Affäre aufgedeckt hatten und direkt einem Konzernleitungsmitglied unterstellt sein sollten. Dani hatte auch aufgeschnappt, das ausgerechnet dieses Konzernleitungsmitglied aus London schon bald abgesetzt und durch den Schweizer Geschäftsführer des Tochterunternehmens hätte ersetzt werden sollen. Zu viele Zufälle für Dani und sie beschloss, diesen Mitarbeitern auf den Zahn zu fühlen, als sich die beiden eines Abends in einer Zürcher Bar amüsierten. Dani hatte mit ihrem Aussehen keine Mühe, die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu lenken und schon bald sass man an einem Tisch in einer der schummrigen Ecken der Bar. Für Dani war es ein Leichtes gewesen, am Ego des einen zu kitzeln, und nach zwei Glas Champagner begann er ihr freimütig zu erzählen, was wirklich abgelaufen war. Der eigentliche Wirtschaftsspion war eben dieses Konzernleitungsmitglied in London und ausgerechnet der Schweizer Geschäftsführer hatte das herausgefunden, weil sich sein Chef einige Male unangemeldet in Zürich aufgehalten hatte und dabei beobachtet worden war, wie er mehrmals eine Privatbank aufsuchte. Fair wie er war, konfrontierte ihn sein Schweizer Geschäftsführer mit diesen Fakten und natürlich stritt der Mann aus London alles ab. In der Folge setzte er dann seine beiden persönlichen Mitarbeiter ins Bild und beauftragte sie, dafür zu sorgen, dass man die Vorwürfe der Wirtschaftsspionage dem Schweizer in die Schuhe schieben konnte. Sie hatten leichtes Spiel, denn als Abgesandte des Konzerns hatten sie freien Zugang zu den Büros der Tochtergesellschaft und somit konnten sie auch Computer manipulieren und mit dem Verstecken von kompromittierenden Akten eine falsche Spur legen. Dani war aufgebracht nach Hause geeilt und hatte sämtliche Fakten und Aussagen, einschliesslich der Namen der von ihr interviewten Personen akribisch zu Papier gebracht und so ein ganzes Dossier erstellt. Sie wollte es gleich am nächsten Morgen dem zuständigen Staatsanwalt vorlegen und ihn auffordern, den Mann aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Und sie hatte auch einen Artikel mit der von ihr ermittelten Version des Vorfalls geschrieben. Den wollte sie nach dem Besuch beim Staatsanwalt auf der Redaktion abgeben. Und so kam es, dass der Staatsanwalt ihr versprach, die von ihr zusammengetragenen Recherchen sofort zu lesen, was dazu führte, dass er den Geschäftsführer tatsächlich noch am Nachmittag aus der Untersuchungshaft entliess. Am selben Tag wurden in Zürich die beiden Konzernmitarbeiter verhaftet und in London fast gleichzeitig der Konzernleiter. Danis Artikel war am nächsten Tag mit einer entsprechenden Schlagzeile auf der Titelseite erschienen. Keine andere Zeitung hatte es natürlich geschafft, ebenfalls mit der neuen Entwicklung in dieser Affäre Schritt zu halten und so konnten Dani und ihr Verlagshaus die Lorbeeren für sich ernten. Ihr Chefredaktor war selbstverständlich mehr als zufrieden gewesen und hatte ihr herzlich gratuliert und sich für ihren grossen Einsatz bedankt. Dani musste vor sich hin lächeln, als sie daran zurückdachte. Solche Episoden machten sie glücklich und sie war jedes Mal auch ein bisschen stolz, wenn sie es fertig gebracht hatte, eine ungerechte Sache wieder ins richtige Licht zu rücken und damit den Ruf einer Person wieder herstellen konnte.

Beide waren so in ihre Gedanken versunken, dass sie die Durchsage mit der Ankündigung der baldigen Landung in Oslo nicht wahrnahmen. Erst als eine Flugbegleiterin sie bat, die Rückenlehnen wieder senkrecht zu stellen und die Tischchen hochzuklappen, realisierten sie, dass das Flugzeug sich bereits im Sinkflug befand.

Kurz nach der Landung verliessen sie das Flugzeug und betraten das Flughafengebäude. Ein Blick auf die Anzeigetafel zeigte ihnen, dass ihr Weiterflug pünktlich sein würde und sie somit bis zum Abflug nach Bergen noch 45 Minuten Zeit hatten. Sie waren froh, dass sie nicht noch lange in den Warteräumen des Flughafens herumsitzen mussten. Die Landung in Bergen war für 16:15 Uhr geplant und sie nahmen sich vor, die Zeit bis zum Abendessen für einen Stadtbummel zu nutzen. Ihr Schiff würde erst am frühen Abend des nächsten Tags ablegen und deshalb hatten sie ein Zimmer im Radisson Blue Royal Hotel am Festplassen im Stadtzentrum gebucht. So standen ihnen ein ganzer Abend sowie der nächste Tag zum Erkunden dieser interessanten Stadt zur Verfügung. Nach der Landung beeilten sie sich, ihr Gepäck vom Laufband zu nehmen. Sie mussten nicht lange darauf warten und schon eine Viertelstunde später verliessen sie den Flughafen und bestiegen den Bus, der sie in etwas weniger als einer halben Stunde direkt zum Hotel fuhr. Das Wetter in Bergen war für die Jahreszeit unerwartet gut, kein Regen und angenehme Temperaturen. Ideal also, um noch durch die schmalen Gassen bis zum Hafen mit der farbenfrohen Häuserreihe zu schlendern. Ohne Probleme erreichten sie gegen halb sechs Uhr abends ihr Hotel, wo sie eincheckten, ihre Sachen im Zimmer deponierten und sich dann zu Fuss auf den Weg machten.

****

2. Kapitel

„Monsignore, Monsignore! So bleiben Sie doch kurz stehen!“ Verzweifelt versuchte Luigi Sopelsa seinen Vorgesetzten, der über den Petersplatz in Richtung der vatikanischen Bibliothek unterwegs war, einzuholen und zum Stehenbleiben zu bringen. Leicht verärgert blieb Bischof Silvestri stehen und blickte zurück auf seinen herannahenden Assistenten.

„Was ist denn so dringend, Luigi?“ wollte er von dem jungen Mann wissen, der nun heftig atmend vor ihm stand.

„Kardinal Fitzpatrick hat für elf Uhr eine Sitzung anberaumt und er will, dass Sie daran teilnehmen. Ich sagte ihm, dass Sie eigentlich zur Bibliothek wollten, um mit Ihrer Arbeit fortzufahren, doch er meinte, das habe Zeit. Was er zu erörtern habe, sei viel wichtiger und dulde keinen Aufschub“, berichtete Luigi seinem Chef.

„Dieser Fitzpatrick! Was meint der eigentlich? Dass alle immer nach seiner Pfeife tanzen, wenn es ihm gerade passt? Er wird wohl wieder irgendeinem Hirngespinst verfallen sein.“

„Es hat aber ziemlich dringend geklungen, so wie er mir das sagte“, meinte Luigi, „und er hat persönlich angerufen und mir aufgetragen, Sie zu suchen, egal wo Sie seien. Und wir sollen niemandem etwas davon berichten“.

„Also, wie ich schon sagte, er jagt mal wieder Phantome, der gute Gideon“, erwiderte Bischof Silvestri spöttisch, „dann lassen wir seine Eminenz mal nicht warten und machen uns auf den Weg zu seinem Palast“.

Er ging in Richtung des Palazzo del Sant’Uffizio, einem Prachtbau, der 1514 für den damaligen Kardinal Lorenzo Pucci erbaut wurde und so viele Jahre den Namen Palazzo Pucci trug. Der Palast ist eine vatikanische Enklave auf italienischem Boden, wie es 1929 im Patti Lateranensi zwischen dem italienischen König und dem Papst geregelt worden war. Am Bau des Palazzo hatten berühmte Architekten, so unter anderem Michelangelo Buonarotti, mitgewirkt. Als 1531 Kardinal Pucci starb, war der Palazzo noch nicht ganz fertiggestellt und er blieb mehrere Jahre ungenutzt. Im Jahre 1567 kaufte Papst Pius V den Palast und machte ihn zum Sitz der Inquisition. Und im Jahre 1586 liess Papst Sixtus V die Kerker einbauen, die lange Jahre gefürchtet wurden und für grauenvolle Folterungen im Namen Gottes dienten. Noch immer ist die Glaubenskongregation mit ihren verschiedenen Kommissionen im Palazzo untergebracht. Aber auch die Archive der Inquisition seit Anbeginn befinden sich wohlbehütet im Palazzo und unterstehen so dem mit der Leitung der Kongregation betrauten Kurienkardinal. Seit zwölf Jahren hatte dieses Amt Gideon Fitzpatrick inne, ein Ire, der vor seiner Ernennung zum Kurienkardinal Bischof von Dromore an der Westküste Irlands war.

All diese historischen Fakten gingen ihm, dem Historiker im Vatikan, durch den Kopf, als er mit zügigen Schritten zur Piazza del Sant’Uffizio 11 eilte. Luigi war zwei Schritte hinter ihm und fragte sich, worum es wohl diesmal gehen könnte. Schon öfters hatte er seinen Chef an Sitzungen zu Kardinal Fitzpatrick begleitet und selber miterlebt, wie dieser manchmal Themen zur Diskussion brachte, die wohl eher ins Reich der Märchen und Fantasien gehört hätten. Dabei ging es fast immer um mehr oder weniger harmlose Vorgänge in einzelnen Diözesen, die von Kardinal Fitzpatrick jedoch als Angriffe auf die römisch-katholische Kirche und somit als Schädigung derselben gewertet wurden. Oftmals ging es dabei um Priester, die in seinen Augen die Ökumene zu liberal auslegten oder solche, die es wagten, sich für gleichgeschlechtliche Ehen stark zu machen.

Inzwischen hatten sie den imposanten Palazzo erreicht und betraten die nicht weniger imposante Eingangshalle. Sicherheitskräfte kontrollierten pedantisch alle Besucher und somit mussten auch Bischof Silvestri und Luigi kurz warten, bis der kontrollierende Sicherheitsoffizier ihre Namen in einer Besucherliste auf dem Bildschirm seines Computers gefunden hatte. Jeder Besucher musste peinlich genau gemeldet werden, wenn dieser nicht unnötig lange Wartezeiten und Befragungen über sich ergehen lassen wollte. Seit vor zwei Jahren die italienischen Behörden einen geplanten Anschlag auf den Vatikan rechtzeitig verhindern konnten, waren die Sicherheitsvorkehrungen drastisch verschärft worden. Das Büro von Kardinal Fitzpatrick hatte vorausblickend alle Sitzungsteilnehmer angemeldet. Entsprechend schnell konnten die beiden zur Treppe gehen, die in die oberen Geschosse und zum Sitzungsraum des Kardinals führte. „Guten Morgen Gaetano. Weisst du worum es diesmal geht?“ Bischof Kurt Semmler stand am Treppenaufgang und schaute seinen Freund fragend an.

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, Kurt“, antwortete Silvestri, „aber dass ein Mitglied der Signatur anwesend ist, scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass es heute wohl nicht um die üblichen Nebensächlichkeiten geht. Und dass gerade du nicht weisst, worum es geht, macht die Sache noch spannender“

„Nun, wir werden es ja bald wissen. Und ich hoffe einfach, dass es nicht zu lange dauern wird, da ich mit Paolo zum Mittagessen verabredet bin.“ Mit einem verschmitzten Lächeln fuhr er fort: „ Wir testen den neuen Koch im „Tre fiori“ und werden uns dabei über einen aktuellen Fall austauschen. Nichts Besonderes, aber eine gute Gelegenheit für uns.“ Bischof Semmler war dafür bekannt, exquisites Essen und hervorragenden Wein zu geniessen, wenn immer sich die Gelegenheit dazu ergab.

„Pass bloss auf, dass dir die Soutane nicht zu eng wird“, scherzte Silvestri mit Blick auf die beachtliche Wölbung des bischöflichen Bauches.

Sie waren vor dem Sitzungszimmer im zweiten Stock angelangt und traten durch die offene Tür in den Raum, der von einem mächtigen Tisch mit vierundzwanzig Sesseln darum herum dominiert wurde. An den hohen Wänden hingen prächtige Gemälde, die alle von bekannten Künstlern des späten Mittelalters erschaffen und der Kirche geschenkt worden waren. Die hohe Decke war mit Fresken bemalt, die ein begnadeter Maler im 17. Jahrhundert erstellt hatte.

Am Tisch sassen bereits zwölf weitere Teilnehmer und die beiden Freunde setzten sich nach kurzer Begrüssung der Anwesenden ebenfalls dazu. Luigi blieb an der Türe stehen, er war sich nicht sicher, ob er mit dabei sein durfte oder nicht. Aber Bischof Silvestri winkte ihn zu sich her und gab ihm ein Zeichen, sich auf den Sessel neben ihn zu setzen.

„Acht Kardinäle und sechs Bischöfe“, raunte Semmler seinem Freund zu, „da frage ich mich schon, was derart Weltbewegendes im Gange ist.“

Kardinal Fitzpatrick trat ein, gefolgt von zwei seiner engsten Mitarbeiter, die sich an der Wand neben der Tür hinstellten. Während sich Fitzpatrick hinsetzte, schloss einer seiner Mitarbeiter die Tür.

„Ich grüsse alle anwesenden Eminenzen und Exzellenzen“, begann er: „und danke euch, dass ihr so kurzfristig die Zeit fandet, an dieser überaus wichtigen Besprechung teilzunehmen. Was ihr hier hören werdet, unterliegt der strengsten Schweigepflicht. Der Heilige Vater hat mir heute Morgen den Auftrag gegeben, euch über einen unglaublichen Vorfall zu informieren, der unsere Kirche tiefgreifend verändern könnte, wenn wir nicht umgehend die Kontrolle übernehmen.“

Alle Anwesenden schauten gebannt auf den Kardinal. Dass er im Auftrag des Heiligen Vaters zu ihnen sprach, hatte die Stimmung auf einen Schlag verändert. Man spürte förmlich die Spannung, die im Raum herrschte und niemand wagte es zu sprechen, um nicht ein Wort von dem zu verpassen, was Fitzpatrick nun berichten würde. Der Kurienkardinal war eine grossgewachsene Persönlichkeit von 65 Jahren. Er wirkte immer noch sehr sportlich und mit seinen kantigen Gesichtszügen und dem scharfen, stechenden Blick, mit dem er sein Gegenüber anblicken konnte, wurde er von allen im Vatikan respektiert und von manchen auch gefürchtet. Wenn etwas nicht so lief, wie er es gerne hatte, brach sein irisches Temperament durch und er konnte seinen Mitarbeitern oder seinen Kollegen ganz schön die Hölle heiss machen.

„Ist euch bekannt, dass in Migdal bei Ausgrabungen Pergamentrollen mit alten Schriften aus der Zeit Jesus Christus entdeckt worden sind?“, fragte er in die Runde. Alle verneinten durch Kopfschütteln, bis auf Bischof Silvestri.

„Ja, ich weiss davon. Eine Archäologin des Nationalmuseums in Neapel ist daran beteiligt. Sie ist übrigens auch Professorin an der Universität von Siena.“ Fitzpatrick nickte kurz und fuhr mit versteinerten Miene fort: „ Dann wird euch das, was ich nun erzählen werde, genauso überraschen wie mich, als ich es vom Heiligen Vater erfuhr. Wir haben ein Problem, das unserer vollsten Aufmerksamkeit bedarf und darüber hinaus den uneingeschränkten Einsatz von euch allen. Jeder von euch ist Spezialist auf seinem Gebiet und verfügt über eine lange Erfahrung im Dienste unserer heiligen Kirche. Weil wir alle nicht wollen, dass diese bis in die Grundfesten erschüttert wird und vielleicht sogar untergeht, müssen wir in den nächsten Tagen und Wochen unsere gesamte Kraft dafür einsetzen, dass der Vorfall, den ich euch nun schildern werde, nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Vor allem darf die Presse nichts davon erfahren.“

Ein Raunen ging durch die Reihen der Würdenträger und Gaetano konnte sich nicht vorstellen, was denn irgendwo auf dieser Erde vorgefallen sein könnte, das die Kirche so sehr erschütterte. Luigi schaute dabei seinen Vorgesetzten und Mentor mit grossen, erschrockenen Augen an, als wollte er darum flehen, dass dies, was er gerade erlebte, nicht geschehen möge. Aber Bischof Silvestri schüttelte nur leise den Kopf und beruhigte ihn, indem er ihm seine Hand kurz auf den Arm legte.

„Es wird schon nicht so schlimm sein, Luigi. Mach dir jetzt noch keine Sorgen. Wir wollen zuerst einmal hören, worum es überhaupt geht.“

****

3. Kapitel

Nach einem ausgiebigen Stadtbummel durch Bergens Innenstadt, beendeten sie ihren Abend mit einem fantastischen Essen im Restaurant „1877“, das zwar erst 2013 eröffnet worden war, aber seinen Namen in Erinnerung an die Eröffnung des Marktes im Jahre 1877 trägt.

Am nächsten Morgen waren sie schon sehr früh wieder unterwegs, um mit der Bergbahn auf den Mount Floyen zu fahren, der nicht nur einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt Bergen und die angrenzenden Fjorde gewährte, sondern auch sehr schöne Wandermöglichkeiten anbot. Da sie die nächsten 12 Tage auf ihrem Schiff sein würden, war es ihnen ein Bedürfnis, sich in dieser wundervollen Natur einen Tag lang nach Herzenslust zu bewegen.

Am späten Nachmittag hatten sie dann ihr Gepäck vom Hotel zum Hafen bringen lassen und waren an Bord gegangen. Dort bezogen sie ihre Aussenkabine mit grossem Doppelbett sowie dem angrenzenden Badezimmer, das über eine Dusche und eine Toilette verfügte. Hier würde nun während zwölf Tagen ihr Zuhause sein. Sie hatten ein ausgezeichnetes Abendessen eingenommen und waren anschliessend zu Bett gegangen, um am Morgen rechtzeitig an Deck zu sein. Die Fahrt durch den Nordfjord, vorbei an begrünten Abhängen, die fast senkrecht ins Wasser fielen und Wasserfällen, die über Felsen in die Tiefe donnerten, wollten sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.. Dani hatte sich das nicht so schön vorgestellt und war begeistert vom einmaligen Naturschauspiel. Urs stand neben ihr, beide Hände auf der Reling und war einfach überwältigt Dani legte schliesslich ihre Hand auf die seine und schaute ihn glücklich an.

Ihr Schiff, die MS Nordkapp, war zwar ein älteres Schiff, das jedoch vor kurzem überholt und renoviert worden war und alle Annehmlichkeiten bot, die man auf so einer Reise im hohen Norden erwarten konnte. Sie genossen es, an der Reling zu stehen, auf das grünlichblaue Wasser zu schauen und dabei die riesigen Seemöwen zu beobachten, die auf der Suche nach einem Leckerbissen um das Schiff kreisten. Urs und Dani waren noch vor dem Frühstück hinausgeeilt. Die erste Nacht an Bord war etwas unruhig gewesen, sie hatten sich zuerst an den Wellengang gewöhnen müssen.

„Ehrlich, Urs, so wunderschön habe ich mir das nicht vorgestellt. Diese Natur ist einfach überwältigend. Ich bin froh, dass du mich zu dieser Reise überredet hast. Die ersten beiden Tage haben mir so gut gefallen, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie es noch besser werden könnte“. Sie hatte vom kühlen Fahrtwind leicht gerötete Wangen. Aber das war ihr egal und Urs fand, dass seiner Liebsten diese leichte Rötung sehr gut stand.

„Ja, es ist traumhaft schön hier und ich bin sicher, dass es noch besser wird, je weiter wir in den Norden fahren“.

„Und kälter wird es vermutlich auch werden“, lachte Dani, „aber die schöne Landschaft macht dies allemal wett.“

„Ach, so viel kälter wird es schon nicht werden. Vielleicht in der Nacht, aber tagsüber sind die Temperaturen ziemlich angenehm. Gut, falls es regnet, wird es schon abkühlen und sehr bald wird es hier oben dann auch schneien. Wir sollten das jedoch nicht erleben.“

„Schnee? Das wäre ja noch schöner! Darauf bin ich gar nicht vorbereitet.“

„Nun, so stell dich schon mal darauf ein, dass wir durchaus etwas Schneegestöber erleben können. Ich hoffe aber, dass es nicht gerade dann bewölkt ist und regnet, wenn wir die Polarlichter erleben wollen“.

Sie begaben sich ins Restaurant, wo sie ein herzhaft köstliches Frühstück zu sich nahmen. Am Nachmittag wollten sie dann die Jugendstilstadt Alesund besuchen. Sie hatten sich für eine Tour angemeldet, die beginnen würde, sobald sie im Hafen eingelaufen waren. Urs war fasziniert von der Geschichte Alesunds und hatte Dani schon einiges darüber erzählt, um sie darauf vorzubereiten. Die Stadt wurde im 15. Jahrhundert erstmals erwähnt und sie diente den Bergener Kaufleuten als Niederlassung auf dem Weg in den Norden. Ende des 19. Jahrhunderts war Alesund einer der grössten Fischereihäfen Norwegens, bekannt vor allem für den Export von Stockfisch. Bei einem verheerenden Stadtbrand im Jahre 1904 wurden über 850 Holzbauhäuser vollständig vernichtet und 10‘000 Einwohner verloren ihr Heim. Den Brand ausgelöst hatte eine umgekippte Petrollampe in einer Margarinefabrik. Unter anderem mit Hilfe Deutschlands wurde die Stadt wieder aufgebaut. Kaiser Wilhelm II, selber ein grosser Freund Norwegens, ordnete persönlich die sofortige Hilfe an und entsandte Schiffe mit Lebensmitteln, Medikamenten und Baumaterialien. Das meiste finanzierte er aus seinem Privatvermögen. Durch den Wiederaufbau ist Alesund vor allem wegen der vollständig im Jugendstil errichteten Innenstadt berühmt geworden. Aufgrund eines Erlasses durften die Häuser nur noch aus Stein erbaut werden. Innerhalb von nur sieben Jahren war der grösste Teil von Alesund wieder neu errichtet. Heute erinnern der Name einer Hauptstrasse sowie ein grosses Denkmal im Stadtpark an die Dankbarkeit Alesunds gegenüber Kaiser Wilhelm II. Zudem trägt ein Hauptfenster der Kirche das preussische Wappen.

Ihr Ausflug würde sie in die Innenstadt führen, zur Kirche und auf den Stadtberg Aksla, wo sich dem Besucher eine eindrückliche Aussicht auf die Stadt, das Meer mit seinen Inseln, sowie die Sunnmore-Alpen eröffnete. Dani und Urs hatten sich vorgenommen, zu Fuss über die 418 Stufen auf den Berg zu wandern.

Am späten Nachmittag kehrten sie auf ihr Schiff zurück, nachdem sie noch kurz einen Zwischenhalt im Atlantikpark mit seinem Aquarium eingelegt hatten. Dort konnte man nahezu alle einheimischen Fischarten beobachten, die an Norwegens Küste vorkommen. Zudem galt die Aussenanlage für Seehunde und Pinguine als grösste ihrer Art in Europa.

Bald nach ihrer Rückkehr legte das Schiff wieder ab und sie setzten ihre Reise in Richtung Norden fort. Ihr dritter Tag sollte sie über Trondheim nach Rorwik führen. Auch in Trondheim planten sie am frühen Morgen von Bord zu gehen um die Stadt zu besichtigen. Das nationale Heiligtum, der Nidarosdom, die einzige gotische Kathedrale Norwegens, erbaut über dem Grab des Heiligen Olav, dem norwegischen Schutzpatron, war ihr primäres Ziel. Der Bau der Kathedrale begann um das Jahr 1035 und wurde etwa 1300 beendet. Viele überwältigend schöne architektonische Details, erlesene Kunstwerke und auch die farbigen Kirchenfenster gab es zu entdecken und Dani, die von beiden die religiösere war, konnte sich in dieser fast mystischen Stätte nicht sattsehen. Sie verbrachten nahezu zwei Stunden in der Kathedrale und begaben sich danach wieder in Richtung Hafen, wo ihr Schiff um die Mittagszeit ablegte.

Zurück in ihrer Kabine machten sie sich frisch für das Mittagessen, das sie im Schiffsrestaurant einzunehmen gedachten.

„Hast du eigentlich gewusst, dass es hier oben im Norden so wundervolle Sachen zu entdecken gibt?“ fragte Dani, während sie sich die Jeans auszog.

„Natürlich“, erwiderte Urs, „ich habe ja einiges darüber gelesen und auch viele Fotos gesehen. Aber zugegeben, wenn man dann hier ist und alles in natura sieht, dann ist es schon ganz anders. Einfach überwältigend. Ich könnte mir gut vorstellen, hier in dieser Gegend zu leben“.

„Um Gottes Willen, Urs. Nun musst du nicht gerade übertreiben. Es ist schön und erlebnisreich, aber trotzdem würde ich nie und nimmer hier wohnen wollen, “ protestierte Dani „ Denk nur einmal an die dunklen Wintertage, die eisige Kälte und die Stürme. Nein danke. Nichts für mich!“

„So kalt wird es doch gar nicht hier oben. Wir sind am Meer. Die Temperaturen bleiben auch im tiefen Winter sehr moderat. Sogar im Januar ist der Mittelwert für Trondheim, zumindest tagsüber, immer noch leicht über Null.“

„Ja, aber was die dunkle Winterzeit hier oben angeht, kannst Du nichts dagegenhalten. Klar, im Sommer ist es dafür immer hell und das macht sicher Spass. Aber immer würde ich nicht so leben wollen“. Entschieden wehrte sich Dani dagegen, solche Gedanken auch nur im Entferntesten in ihr gemeinsames Leben eindringen zu lassen.

„Immerhin sind wir doch schon einmal hier. Und das ist für mich bereits sehr viel mehr, als ich je erwartet hätte“. Urs beugte sich zu Dani und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe. Sie hatte sich zwischenzeitlich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und er genoss den Anblick. Dani war sehr attraktiv, athletisch, aber doch sehr feminin gebaut und sie hielt ihren Körper mit täglichem Jogging und wöchentlichen Yoga-Stunden sehr gut in Form.

„Nicht jetzt, Schatz, “, wehrte sie ihn ab, „ich habe Hunger und wir haben noch genügend Zeit auf dieser Reise, um uns unseren Trieben hinzugeben.“

„Danke. Wenigstens hast du von „unseren“ und nicht nur von meinen Trieben gesprochen. Das macht mir Mut“, hänselte sie Urs.

„Na ja, auch wir Frauen wollen hin und wieder auf unsere Rechnung kommen. Aber das weisst du doch ganz genau, du Schwerenöter“.

Umgezogen und in bequemeren Kleidern verliessen sie ihre Kabine im 6. Deck, um im 4. Deck ins Restaurant zu gehen Das Schiff hatte wieder Fahrt aufgenommen und würde bald durch den engen Stokksund und danach in Richtung Rorvik weiterfahren. Nach dem Essen spazierten sie auf das 7. Deck, wo sie im offenen Bereich eine spektakuläre Aussicht auf die Küste und das Meer hatten. Sie verbrachten dort gut eine Stunde und konnten sich kaum sattsehen an der wilden Natur, die langsam an ihnen vorüberglitt.

„Mir wird langsam kalt“, sagte Dani schliesslich, „lass uns doch da drüben etwas Warmes trinken gehen.“

„Einverstanden, gehen wir mal die Panorama-Bar erkunden. Da waren wir noch gar nicht“. Urs war froh über Danis Vorschlag, auch wenn er sich eher auf ein kühles Bier als auf etwas Warmes freute.

Sie schlenderten am Fitness-Raum und der Eisdiele vorbei in die Panorama-Bar, wo sie ein Tischchen am küstenseitigen Fenster ergattern konnten. Es befanden sich kaum andere Gäste hier, aber die Bar würde sich zur Apéro-Zeit vor dem Abendessen sicher füllen. Dani bestellte sich einen heissen Tee und Urs ein norwegisches Bier. Auch von hier aus konnte man die aufregende Natur bestens betrachten und es gab immer wieder Neues zu entdecken.

Sie verliessen die Bar am späten Nachmittag, um sich in ihrer Kabine vor dem Abendessen noch etwas hinzulegen.

„Wenn wir so weitermachen, haben wir am Ende der Reise zehn Kilo zugenommen“, stöhnte Dani, „ich glaube, heute Abend werde ich höchstens noch einen Salat essen“.

„Ach komm“, antwortete Urs mit Enttäuschung in der Stimme, „ausgerechnet heute, wo es Rentier-Steaks gibt. So was habe ich noch nie gegessen und ich möchte das nicht verpassen“.

„Ja, ja, ist schon gut“, lachte Dani, „natürlich bin ich mit dabei und ich werde mir das Rentierfleisch auch nicht entgehen lassen.“

„Wenn es wirklich so gut ist, dann können wir es sicher noch einige Male bekommen. Wir sind ja hier am richtigen Ort dafür, “ schwärmte Urs.

„Jetzt übertreib mal nicht. Schauen wir zuerst einmal, wie es schmeckt und dann sehen wir weiter“, ermahnte ihn Dani.

Als sie gegen halb acht Uhr ins Hauptrestaurant kamen, sassen die meisten Passagiere bereits an ihren Tischen. Sie waren an einem Tisch zusammen mit einem deutschen Ehepaar aus München und einem jungen Pärchen aus Mailand. Mit Rücksicht auf die beiden Mailänder fand die Unterhaltung vorwiegend in Englisch statt. Sie alle waren ebenfalls zum ersten Mal in Norwegen und schwärmten in den höchsten Tönen vom Naturschauspiel, das sie hier oben im Norden erlebten. Gegen zehn Uhr verabschiedeten sie sich von ihren Tischnachbarn und gingen zurück in ihre Kabine, um sich schlafen zu legen.

„Ich bin so voll, ich weiss nicht, ob ich diese Nacht gut schlafen werde“, stöhnte Dani. „Wir haben viel zu viel gegessen. So kann das wirklich nicht weitergehen.“

„Wenn wir morgen die Bootsfahrt unternehmen, wird für ein Mittagessen sowieso keine Zeit vorhanden sein. Allenfalls essen wir ein Sandwich oder so“, beruhigte sie Urs. „Und am Nachmittag werden wir dann die Lofoten sehen. Das soll auch ein sehr eindrückliches Spektakel sein. Wir können ein frühes Abendessen planen, denn ich würde ganz gerne auch die einzige Bierbrauerei besuchen, die es in dieser Gegend gibt.“ Die Bootsfahrt würde sie nach Saltstraumen bringen, wo sie den grössten Gezeitenstrom der Erde erleben würden.

„Für wann ist denn die Besichtigung vorgesehen?“, wollte Dani wissen.

„Irgendwann nach neun Uhr abends. Also haben wir genügend Zeit, vorher etwas Kleines zu essen“, antwortete ihr Urs.

„Dann bekommen wir unseren Schlummerbecher wohl in der Brauerei, morgen Abend“, meinte Dani grinsend und legte sich ins Bett. Sie war hundemüde und würde, trotz der abendlichen Völlerei, wahrscheinlich sehr schnell einschlafen.

„Gute Nacht, Schatz“, waren ihre letzten Worte bevor sie einschlief. Sie hörte nicht einmal mehr die Antwort von Urs. Dieser legte sich ebenfalls ins Bett, war aber noch nicht müde genug, um gleich einzuschlafen. Er nahm sein Buch zur Hand, welches er seit ihrer Ankunft in Norwegen immer bei sich hatte. Irgendein Krimi eines deutschen Schriftstellers, ohne tiefgründige Handlung, aber unterhaltsam. Er las einige Seiten, legte dann das Buch auf die Ablage neben seinem Bett und löschte das Licht. Auch er war sehr schnell eingeschlafen.

Als Urs am nächsten Morgen erwachte, war Dani schon aufgestanden. Sie sass in einem Sessel und war mit ihrem Telefon beschäftigt.

„Guten Morgen“, tönte es aus dem Bett, „du bist schon auf?“

„Ja, ich bin seit sieben Uhr hier und lese meine Nachrichten und Emails. Du glaubst nicht, was sich in zwei Tagen so alles anhäuft. Auch von deiner Schwester habe ich eine Nachricht drauf.“

„Von Yvonne?“ Verwundert schaute Urs zu Dani, „Was will sie denn von dir? Wir haben schon lange nichts mehr von ihr gehört.“

„Sie schreibt, dass sie gerade in Thailand ist“, antwortete Dani.

„So, so. Hat sie mal wieder einen neuen Lover und lässt es sich mit ihm an einem Strand gut gehen“, spöttelte Urs und stieg aus dem Bett.

„Sei nicht immer so hart zu deiner Schwester“, mahnte ihn Dani, „sie geniesst nun mal gerne ihr Leben. Lass sie doch. Aber davon schreibt sie nicht. Sie schreibt nur, dass Harry offenbar wieder in Zürich aufgetaucht ist. Frank hat ihr eine Nachricht geschickt.“

„Harry? Der ist wieder aufgetaucht? Der war doch seit ihrer Scheidung vor fünf Jahren verschwunden“, wunderte sich Urs. „Und warum schickt ihr Frank deswegen eine Nachricht nach Thailand? Sie hat doch Harry seit damals weder gesehen, noch von ihm gehört.“

„Keine Ahnung. Auch davon schreibt sie nichts. Nur, dass Harry wieder in Zürich aufgetaucht ist und offenbar Frank besucht hat“.

„Was soll‘s, uns geht das sowieso nichts an. Harry ist damals einfach weg und hat mit allen Freunden und Bekannten den Kontakt abgebrochen. Seine Scheidung von meiner Schwester hatte ihm sehr zugesetzt und ich kann es gut nachvollziehen. Sie war wirklich ein Biest und hatte ihn auf jeden Fall nicht verdient.“ Urs hatte es seiner Schwester nicht verziehen, dass sie sich seinen besten Freund geangelt und ihn während Jahren ausgenommen hatte. Harry war ein erfolgreicher Unternehmer geworden, der sich auf die Entsorgung von Landminen und alten Sprengkörpern, die nach den Weltkriegen zu Blindgängern mutierten, spezialisiert hatte. Mit seinem international operierenden Unternehmen bekam er viele einträgliche Aufträge und im Laufe der Jahre konnte er sich ein entsprechendes Vermögen erarbeiten. Und Yvonne verstand es bestens, sein Geld verschwenderisch unter die Leute zu bringen. Sie genoss es, mit einem erfolgreichen und vermögenden Unternehmer verheiratet zu sein. Daneben betrog sie ihn aber immer wieder mit anderen Männern und machte ihn so vor aller Welt lächerlich. Bis es Harry schliesslich zu viel wurde und er sich von ihr trennte. Es kam zu einer hässlichen Scheidung, die Frank Straumann, ein Zürcher Rechtsanwalt und ebenfalls guter Freund von Urs und Harry, abwickelte. Harry kam damals mit einem blauen Auge davon, auch wenn ihn die Abfindung, die er Yvonne bezahlen musste, sicher schmerzte. Vor allem deswegen, weil sie in all den Jahren davor bereits sehr viel von seinem Geld für ihre Eskapaden und sinnloses Zeug verschwendet hatte.

„Ihr wart gute Freunde. Es ist doch schön, dass er nach all den Jahren wieder aufgetaucht ist. Vielleicht kannst Du ihn ja einmal treffen, wenn wir wieder zurück in Zürich sind“.

„Ja, vielleicht. Aber komm. Lass uns all das nun vergessen und unsere Reise weiterhin geniessen. Wir werden bald den Polarkreis überfahren und das ist doch ein Erlebnis, das wir nicht verpassen sollten.“ Für Urs war das Thema, zumindest im Moment, abgehakt. Er wollte nicht zulassen, dass Gedanken an die Vergangenheit und auch über das Verhalten seiner Schwester, seine Freude an der gemeinsamen Reise im hohen Norden trübten. Das würde noch fehlen. Schliesslich hatte Yvonne den Kontakt zu ihm auf ein absolutes, vermutlich rein familiär bedingtes, Minimum reduziert und sie sahen sich höchstens noch einmal im Jahr, wenn sie sich um die Weihnachtszeit bei ihren Eltern zum traditionellen Gänsebraten trafen, den seine Mutter schon auftischte, als sie noch Kinder waren. Er liebte die Küche seiner Mutter und freute sich insgeheim schon darauf, in etwas mehr als zwei Monaten wieder von ihr verwöhnt zu werden.

„Fertig?“ weckte ihn Dani aus seinen Gedanken, „Ich habe jetzt Appetit auf einen grossen Kaffee und auf die guten Früchte vom Buffet. Zu mehr habe ich keine Lust. Ich bin von gestern immer noch völlig satt“.

„Ich komme gleich. Noch fünf Minuten, dann bin ich fertig“, antwortete Urs und beeilte sich, um seine Liebste nicht zu lange warten zu lassen. Sie konnte am frühen Morgen unausstehlich sein, wenn sie ihren Kaffee noch nicht bekommen hatte.

Er nahm sie liebevoll an der Hand. Gemeinsam verliessen sie ihre Kabine und gingen durch die Gänge des Schiffes in Richtung des Frühstück-Buffets.

****

4. Kapitel

Als er das noble Geschäftshaus an der Zürcher Bahnhofstrasse betrat, zog er unweigerlich die Blicke der Leute auf sich. So wie er in seiner schäbigen Kleidung mit den durchgelatschten Schuhen, seinem ungekämmten Haar und einem Fünf-Tage-Bart durch die Eingangshalle den Fahrstühlen entgegenschlurfte, passte er überhaupt nicht in die vorherrschende Business-Atmosphäre. Die jungen Männer trugen dunkle Anzüge, helle Hemden und dezente Krawatten, die Damen elegante Deux-Pièces und teure, italienische Schuhe. Sie alle arbeiteten für die offensichtlich erfolgreichen Firmen, die hier domiziliert waren und fügten sich viel besser in diese ehrwürdige und respekteinflössende Umgebung ein.

Harry kümmerte das wenig. Ohne sich umzusehen, erreichte er den Fahrstuhl und drückte den Knopf. Die Tür ging sofort auf und er trat hinein. Mit ihm betraten zwei Männer den Fahrstuhl und rückten automatisch von ihm weg, so als ob sie jede Berührung mit ihm vermeiden wollten. Kein Wunder, der Geruch, der von ihm ausging, liess vermuten, dass er seine Kleidung seit Tagen nicht gewechselt hatte. Und wahrscheinlich hatte er auch seit Tagen kein Wasser gesehen. Harry hatte den Knopf für das sechste Stockwerk gedrückt, seine Mitfahrer stiegen in der vierten Etage aus, sichtlich froh darüber, dass sie die Kabine, die sich mittlerweile mit einem unangenehmen Schweissgeruch gefüllt hatte, verlassen konnten. Harry fuhr weiter bis zu seinem Ziel und betrat einen eleganten, mit teurem Marmor ausgelegten Korridor. An den Wänden hingen wertvolle Gemälde von bekannten Künstlern. Es stank förmlich nach Geld. Ohne diese Kunstwerke zu beachten, ging er zielstrebig auf eine etwa zwanzig Meter entfernte, grosse Glastür zu. Er schien sich hier bestens auszukennen. Ein dezentes Messingschild am Eingang liess erkennen, dass hier die Rechtsanwaltskanzlei Berger, Straumann & Partner zu finden war.

Die junge, blonde Empfangssekretärin, welche an einem übergrossen, aus dunklem Eichenholz gefertigten Schreibtisch sass, hatte ihn schon im Visier, seit er den Fahrstuhl verlassen hatte. Als sie erkannte, dass der unheimliche Besucher tatsächlich auf ihre Türe zukam, wurde sie unruhig. Was will der Kerl bloss bei uns, dachte sie. Aber andererseits konnte es ja auch einfach ein Kurier sein, der etwas für die Kanzlei abzugeben hatte. Oder jemand, der sich im Stockwerk geirrt und nun bei ihr nach dem richtigen Weg fragen wollte. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, war Harry durch die Glastür getreten und stand nach wenigen Schritten vor ihr. Auch sie nahm unweigerlich den unangenehmen Geruch wahr, den er verströmte.

„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie mit einer eher abweisenden Stimme.

„Ich will zu Frank Straumann“, antwortete ihr Besucher.

„Haben Sie einen Termin mit Herrn Dr. Straumann?“

„Nein, sagen Sie ihm einfach, dass Harry Regottaz ihn sehen will.“

„Ich glaube nicht, dass Herr Dr. Straumann Sie empfangen kann.“

„Mich interessiert nicht, was Sie glauben, junge Dame, sagen Sie ihm einfach, dass ich da bin und ihn sofort sprechen will“.

Sein Ton war bestimmt und duldete keine Widerrede. Auf seltsame Art passte er so gar nicht zum Erscheinungsbild des Mannes der vor ihr stand.

„Einen Moment, bitte. Ich werde seine Sekretärin anrufen. Wie war doch gleich Ihr Name?“

„Harry Regottaz.“ antwortete er ziemlich unwirsch, „und nun beeilen Sie sich, ich habe nicht viel Zeit.“

Die Empfangsdame nahm den Telefonhörer in die Hand, wählte eine dreistellige Nummer und als am anderen Ende abgehoben wurde, sagte sie:

„Hallo Ursi, hier am Empfang steht ein Herr, der Herrn Dr. Straumann sehen will. Er sagt, sein Name sei Harry Regottaz.“

Nach einer kurzen Pause, während der sie offenbar ihrer Gesprächspartnerin zugehört und gleichzeitig ihr Gegenüber sichtlich irritiert gemustert hatte, beendete sie den Anruf mit den Worten:

„Ja, ist gut. Ich sag es ihm.“ Sie legte auf.

„Frau Heusser, die Sekretärin Herrn Dr. Straumanns wird gleich da sein. Bitte gedulden sie sich einen Augenblick“.

Noch immer konnte sie nicht glauben, dass diese Erscheinung, die vor ihr stand, tatsächlich in die heiligen Hallen des Seniorpartners vorgelassen werden sollte. Es verging keine Minute, bis die Türe aufging und eine elegante Brünette um die vierzig Jahre die Empfangshalle betrat und auf Harry zukam.

„Herr Regottaz! Es freut mich, Sie nach so langer Zeit wieder zu sehen. Herr Dr. Straumann wird in fünf Minuten für Sie Zeit haben. Er telefoniert gerade mit einem ausländischen Klienten und danach steht er Ihnen zur Verfügung. Darf ich Sie bitten, mir zu folgen.“ Mit diesen Worten wies sie auf die Türe und ging mit Harry zurück in ihr Büro.

Die Empfangsdame nahm erstaunt zur Kenntnis, dass Ursi Heusser weder mit Worten noch mit Blicken das Äussere des sonderbaren Besuchers gewertet hatte. Ganz im Gegenteil, sie tat so, als ob alles in bester Ordnung wäre. Was für eine verrückte Welt, dachte die Empfangsdame und fragte sich, wer dieser Harry Regottaz wohl sein könnte, dass er so ohne Anmeldung einfach in eine der renommiertesten Anwaltskanzleien von Zürich hereinmarschieren konnte und sofort und ohne Termin beim Seniorpartner vorgelassen wurde. Wäre sie bereits vor fünf Jahren hier angestellt gewesen, so hätte sie sich diese Frage bestimmt nicht stellen müssen.

Inzwischen hatte sich Harry in Ursi Heussers Büro in einen bequemen Sessel gesetzt und ihre Frage nach einem Kaffee dankend bejaht.

„Herr Dr. Straumann wird gleich für Sie frei sein, Herr Regottaz“, sagte sie zu ihm, als sie ihm den Kaffee in einer wertvollen Porzellantasse hinstellte, „warum haben Sie vorher nicht angerufen und einen Termin vereinbart?“ Ihr Ton war leicht vorwurfsvoll aber trotzdem sehr höflich.

„Weil ich die Telefonnummer nicht kenne und zudem kein Geld habe, um einen Anruf zu tätigen“, lächelte er sie an. „Frank wird mich auch so empfangen.

Er hat gar keine andere Wahl, oder?“

Sichtlich verlegen nahm sie ein Dokument zur Hand und gab vor, dessen Inhalt eingehend zu lesen, ohne ihm zu antworten.

„Hätten Sie nicht eine Zigarette für mich, Frau Heusser?“

„Es tut mir leid, aber ich bin Nichtraucherin. Und zudem duldet Herr Dr. Straumann nicht, dass in diesen Büros geraucht wird“.

„Und seine teuren kubanischen Zigarren? Sagen Sie mir jetzt bloss nicht, dass er das Rauchen aufgegeben hat“.

„Nein, nein. Er hat das Rauchen nicht aufgegeben. Aber auch er raucht nicht mehr am Arbeitsplatz. Herr Dr. Straumann bevorzugt es, seine Zigarren im Havanna Club zu geniessen.“

„Na so was. Früher hing sein Büro voller Rauchschwaden“, bemerkte Harry erstaunt, „was hat ihn denn bewogen, hier nicht mehr zu rauchen?“

„Das sind die neuen Regeln zum Schutze der Nichtraucher.“ Die sonore Stimme Frank Straumanns, der aus seinem Büro getreten war, veranlasste Harry, sich umzudrehen. „Auch hier in Zürich müssen Raucher mittlerweile auf ihre nichtrauchenden Mitmenschen Rücksicht nehmen, alter Freund. Welche Überraschung dich hier zu sehen! Was führt dich zu mir, nach so langer Zeit? Aber komm zuerst einmal in mein Büro.“ Er war auf Harry zugetreten, der sich aus seinem Sessel erhoben hatte, und schüttelte ihm die Hand. Sein Blick wanderte an Harry herunter und man sah ihm an, dass er über dessen unangemeldetes Erscheinen in seiner Kanzlei nicht glücklich war. Harry folgte ihm zurück in sein Büro. Nachdem Frank Straumann die Türe hinter sich geschlossen hatte, fragte er besorgt: „Was ist denn mit Dir los, Harry. Du siehst ja aus wie ein Landstreicher! Und offensichtlich hast Du in den letzten Wochen weder geduscht noch gebadet. Und rasiert bist Du auch nicht. Mein Gott, was soll das Ganze?“

„Das fragst gerade du, Frank? Du solltest das eigentlich am besten wissen!“

„Was soll ich denn wissen?“

„Komm, hör auf. Lassen wir die Spielchen. Ich bin gekommen, Frank, weil ich mein Geld will. Und ausserdem den Schlüssel zu meinem Bankschliessfach. Du gibst mir, was mir gehört und bist mich in fünf Minuten wieder los“.

„Ach Harry, das ist gar nicht so einfach, ich muss.......“

„Du musst nur eines“, unterbrach ihn Harry aufgebracht, „nämlich mir mein Geld und den Schlüssel geben. Warum soll das nicht einfach sein? Du hast ja alles hier.“

Frank Straumann hatte sich mittlerweile in den Ledersessel hinter seinem grossen, antiken Schreibtisch gesetzt. Er fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut und man sah ihm an, dass er überlegte, wie er sich aus dieser unangenehmen Situation befreien konnte. Völlig abwesend nahm er eine Akte in die Hand und legte sie auf den Stapel, der vor ihm lag.

„..... Ich muss dir einiges erklären. Du warst fünf Jahre weg und wir haben keine Nachrichten von dir erhalten. Weder wir noch deine Frau ........“

„Ex-Frau!“ unterbrach ihn Harry erneut, „Yvonne ist meine Ex-Frau. Wir sind seit fünf Jahren geschieden. Das weisst doch du am besten! Du hast die Scheidung für mich durchgezogen.“

„Also gut, Deine Ex-Frau. Aber trotzdem, wir sind alle seit fünf Jahren ohne Nachricht von Dir gewesen.“

„Was hat denn das mit meinem Geld zu tun? Und mit dem Schlüssel?“

„Sehr viel, denn in den vergangenen Jahren hat sich einiges verändert.“

„Nun komm schon zur Sache! Ich hatte dir zehn Millionen Franken anvertraut und dazu den Schlüssel zum Schliessfach bei meiner Bank. Als ich das tat, sagte ich dir, dass ich für unbestimmte Zeit verreisen würde. Nun bin ich zurück und will mein Geld wieder haben.“

„Aber ich habe dein Geld nicht hier, Harry.“

„Wo ist es dann? Du hast es von mir bar bekommen und versprochen, du würdest es hier in eurem Tresor für mich aufbewahren.“

„Das habe ich anfänglich auch gemacht. Aber als ich nach einem Jahr nichts mehr von dir hörte und dich auch nicht erreichen konnte, habe ich das Geld angelegt.“

„Angelegt? Wie hast du es angelegt?“

„In einer international tätigen Gesellschaft.“

„Hier in Zürich? Welche Firma? Was macht diese Firma?“

„Nein, nicht in Zürich. Eine Firma in Kroatien, die Projekte für alternative Energien entwickelt. Eine Klientin unserer Kanzlei.“

„Wie kommst du dazu, mein Geld ohne Erlaubnis in die Gesellschaft eines eurer Klienten zu investieren? Aber, was soll‘s. Eigentlich interessiert es mich gar nicht. Du gibst mir mein Geld, egal woher du es nimmst. Und ich will es sofort.“

Frank Straumann zögerte, den er hatte ein Problem und im Moment keine Ahnung, wie er es lösen sollte. Das Geld war langfristig investiert, es bestanden entsprechende Verträge mit seiner kroatischen Klientin. Er selber hatte weitere drei Millionen in das Unternehmen gesteckt, weil ihm Radomir Plavic, der CEO der Gesellschaft, hohe Gewinne und langfristige Beteiligungen versprochen hatte. Im Businessplan hatte alles so perfekt ausgesehen. Zatec war im Begriff, eine revolutionäre Technologie zur kostengünstigen Verarbeitung von Meerwasser in Trinkwasser zu entwickeln. Der Hauptsitz von Zatec war in Zagreb und daher auch der Name, Zagreb Technologies. Erste Tests lieferten vielversprechende Resultate und damit war der Weg frei, um Investoren für die Weiterentwicklung der Anlagen zu gewinnen. Mit Hilfe von Berger, Straumann & Partner, der renommierten Anwaltskanzlei an der Zürcher Bahnhofstrasse, war es gelungen, 100 Millionen Franken zu generieren.

„Harry, lass uns in Ruhe darüber sprechen, ja?“ Der Anwalt war sichtlich nervös und er suchte nach Wegen, um Zeit zu gewinnen. „Ich werde dir selbstverständlich Geld geben und auch sofort. Aber die zehn Millionen kann ich beim besten Willen nicht aufbringen. Fürs erste kann ich dir mit 50‘000 Franken aushelfen und für den Rest müssen wir einen Plan machen. Ich sagte dir doch, dass deine zehn Millionen investiert sind, und ein solches Investment kann man nicht von einem Tag auf den anderen auflösen.“

Harry musterte Frank Straumann lange, bevor er antwortete. Er beobachtete das unruhige Zucken seiner Augenlider im ansonsten versteinerten Gesicht

„Das war nicht so vereinbart und du weisst das ganz genau. Ich brauche mein Geld und nicht bloss 50‘000 mit einem Plan für den Rest“. Das Wort Plan sprach er mit einem spöttischen Unterton aus und zeichnete dabei mit den Fingern Gänsefüsschen in die Luft, „Und übrigens, was ist mit dem Schlüssel zu meinem Bankschliessfach? Den wirst du wohl noch haben, oder?

„Jaja. Selbstverständlich habe ich den. Du kannst ihn auch gleich haben.“

Harry sah sein Gegenüber lange und mit durchdringendem Blick an.

„Ich kann es einfach nicht fassen. Du bist ein renommierter Rechtsanwalt, sitzt in den verschiedensten Gremien, bist Zunftmeister einer der ältesten Zünfte Zürichs und was weiss ich sonst noch alles. Und dann erzählst du mir einfach, dass du mein dir anvertrautes Geld so ohne weiteres in ein Projekt in Kroatien investiert hast. Dir als Rechtsanwalt muss ich nicht sagen, was das für Konsequenzen haben wird, wenn du mir mein Geld nicht kurzfristig wieder beschaffst.“

Die beiden Männer waren seit ihrer Kindheit miteinander befreundet. Sie hatten die gleichen Schulen besucht, waren Nachbarn und hatten viel Freizeit miteinander verbracht. Harry, der Draufgänger, der kein Abenteuer ausliess, und Frank, besonnen und zurückhaltend. Als Frank das Gymnasium mit einer hervorragenden Matura abschloss, hatte Harry seine kaufmännische Lehre bei einer Speditionsfirma am Flughafen Zürich-Kloten gerade beendet und war kurz davor, die Infanterie-Rekrutenschule anzutreten. Auch Frank wollte seine Rekrutenschule absolvieren, bevor er sein Rechtsstudium an der Universität Zürich aufnahm. In der Familie Straumann war es Tradition, dass die jungen Männer ihre Militärkarriere als Artillerie-Offiziere durchliefen. So war bereits Franks Grossvater Artillerie-Oberst gewesen, sein Vater wurde Major und er selber wollte es mindestens zum Hauptmann bringen. Ein militärisches Kommando war nach wie vor die Eintrittskarte in zahlreiche Gremien, bei denen er einmal Führungspositionen übernehmen würde.

Nun, 25 Jahre später, standen sich die beiden ungleichen Freunde im grossen Büro von Frank Straumann gegenüber und von der anfänglich freundschaftlichen Stimmung war nicht mehr viel zu spüren. Der sichtlich nervöse Rechtsanwalt versuchte seinen langjährigen Freund zu beruhigen, aber das wollte ihm nicht gelingen.

„Ich werde mit Radomir Plavic sprechen und abklären, wie schnell wir aus diesem Investment aussteigen können. Aber ich muss dir sagen, dass es ein grosser Fehler ist, denn langfristig wird sich dein Kapital vervielfachen. Zatec hat viel in neue Technologien zur Wasseraufbereitung investiert und die Resultate sind sehr erfolgsversprechend. Noch werden keine Dividenden bezahlt, aber wir können damit rechnen, dass dies in spätestens zwei Jahren der Fall ist.“ Frank war sich bewusst, dass sein Gegenüber für seine Argumente nicht viel übrig hatte.

„Das ist mir alles völlig egal. Ich will mein Geld wieder haben, weil ich es selber brauche. Wie du das machst, interessiert mich nicht. Ich gebe dir genau eine Woche Zeit, mir meine zehn Millionen auszuhändigen. Die 50‘000 Franken gibst Du mir als Zinsvorschuss für das Darlehen, das du dir selber ausgezahlt hast.“ Harry liess den Rechtsanwalt nicht aus den Augen und er spürte, wie dieser vor Nervosität fast zusammenbrach.

„Eine Woche? Ich weiss nicht, ob ich das schaffe, Harry. Lass mich mit den Leuten reden und wir setzen uns nochmals zusammen. Ich will dir nicht versprechen, dass ich in einer Woche das ganze Geld hier habe. Aber ich verspreche dir, dass ich alles versuchen werde, es möglich zu machen“.

„Reicht mir nicht! Ich sagte in einer Woche und ich meine das auch so. Mach was du willst, verkauf meinetwegen deine Aktien oder dein riesiges Haus oder sonst was, aber ich will mein Geld am nächsten Mittwoch um 15:00 Uhr hier haben. So, nun gib mir die 50‘000 Franken und den Safe-Schlüssel, dann verschwinde ich von hier.“

Frank Straumann ging zum verborgenen Wandtresor, gab eine Zahlenkombination ein und öffnete ihn. Er entnahm ein Bündel 1000er-Noten und ein schwarzes Schlüsseletui und legte beides vor Harry auf den Tisch.

„Hier hast du die 50‘000 Franken und deinen Safe-Schlüssel. Harry, ich bitte dich als Freund, überleg es dir noch einmal. Du hast hier wirklich die Möglichkeit, in den nächsten Jahren dein Kapital zu vervielfachen. So etwas kannst du doch nicht einfach in den Wind schlagen!“ Schon fast verzweifelt versuchte der Rechtanwalt nochmals, seinen Besucher umzustimmen. Doch dieser liess sich gar nicht erst darauf ein.

„Vergiss es, Frank. Heute in einer Woche, um 15:00 Uhr, bin ich wieder hier in deinem Büro, und dann will ich mein Geld.“

Er steckte das Bündel Banknoten und das schwarze Etui in seine Jackentasche und verliess das Büro, ohne sich von seinem Gegenüber zu verabschieden.

Im Vorzimmer verabschiedete er sich kurz angebunden von Ursi Heusser, und die junge Empfangsdame, die ihn unfreundlich begrüsst hatte, würdigte er keines Blickes, als er aus den Räumen der Kanzlei wieder in den Korridor trat. Nach wenigen Schritten erreichte er den Fahrstuhl und als dieser kam, war er alleine in der Kabine, die ihn ohne Zwischenhalt wieder in die grosse Eingangshalle brachte. Erneut zog er die neugierigen Blicke der Leute auf sich, aber es war ihm völlig egal. Er wollte nur noch eines, nämlich ein Badezimmer und ein bequemes Bett, um endlich wieder einmal durchzuschlafen.

Er ging zu Fuss in Richtung Hauptbahnhof, vorbei an all den exklusiven Geschäften und betrat das noble Hotel Schweizerhof. Schon eilte ein Hotelangestellter in dunklem Anzug zu ihm und versuchte ihn zum Verlassen des Hotels zu bewegen.

„Sie können hier nicht einfach hereinkommen, mein Herr. Dieser Bereich ist nur für Gäste des Hotels“, sagte er zu Harry und blickte ihn dabei mit einem sehr geringschätzigen Gesichtsausdruck an. Harry war sich bewusst, dass sein Äusseres nicht unbedingt angenehm auf seine Umwelt wirkte. Aber nun war er einmal da und er liess sich nicht abweisen.