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In seinen kühnsten Träumen hätte Urs Stierli sich nicht ausmalen können, was ihn am Paläontologischen Institut der Universität Zürich erwartete, als er der Einladung der renommierten Paläontologie-Professorin Christina Völlmi folgte. In Venezuela war eine geheimnisvolle Felsenmalerei entdeckt worden, und die Professorin wünschte sich die Expertise von Urs, dessen Sprachbegabung für die Entschlüsselung der rätselhaften Symbole von entscheidender Bedeutung schien. Die Darstellung eines Dinosauriers auf dem Felsen war zudem ein Rätsel, das alle Beteiligten in Verwirrung stürzte - schliesslich galten diese Wesen seit über 60 Millionen Jahren als ausgestorben. Doch auch das Alter der Malerei selbst war von grosser Ungewissheit umhüllt, weshalb die Archäologie-Professorin Anna Santoro aus Italien mit der Aufgabe betraut wurde, eine präzise Datierung vorzunehmen. Ihre Reise nach Venezuela geriet jedoch schnell zu einem gefährlichen Abenteuer, das am Ende zwei Tote forderte. Zur gleichen Zeit stösst Bischof Silvestri im vatikanischen Archiv auf alarmierende Hinweise zu einem jahrhundertealten Geheimbund, der im 7. Jahrhundert von Papst Bonifatius V. ins Leben gerufen wurde. Zu seiner Überraschung findet er Dokumente über Dinosaurier - bislang streng geheim gehaltene Aufzeichnungen - die alles in Frage stellen. Während er diese Dokumente prüft, wird er von einem Unbekannten niedergeschlagen und schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Schnell keimt in ihm der Verdacht, dass der Geheimbund hinter dem Angriff steckt. Entschlossen, die Hintergründe zu ergründen, schliesst er sich mit Urs Stierli zusammen, um der mysteriösen Verschwörung auf den Grund zu gehen. Ihre Ermittlungen führen sie nach Ägypten, wo sie sich versprechen, weitere entscheidende Hinweise auf die Geschichte der Menschheit zu finden. In der Nekropole von Sakkara, unterstützt von Alenia, Urs Stierlis Tochter, und verfolgt von Mitgliedern des Geheimbunds, die ihre Forschung mit allen Mitteln sabotieren wollen, machen sie eine Entdeckung von historischem Ausmass. Diese Enthüllung führt sie schliesslich in die Sinai-Wüste, zum Katharinen Kloster. Erst dort erkennt Urs Stierli das wahre Ausmass seiner Rolle als "Hüter der Geschichte". Gleichzeitig wird ihm ein Wissen zuteil, das so gewaltig ist, dass es ihn in ein tiefes moralisches Dilemma stürzt.
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Seitenzahl: 806
Veröffentlichungsjahr: 2025
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„Die Demut ist die Tugend, durch die der Mensch in der richtigen Erkenntnis seines Wesens sich selbst gering erscheint.“
Bernard von Clairvaux
1090 - 1153
Urs Stierli
Sprachgenie und Hüter der Geschichte
Daniela Stierli-Wolf
Ehefrau und Journalistin
Alenia Stierli
Tochter von Daniela und Urs Stierli
Christine Völlmi
Professorin für Paläontologie an der Universität Zürich
Franz Christen
Professor für Archäologie an der Universität Zürich
Anna Santoro
Archäologin, Professorin, Ehefrau von Harry Regottaz
Harry Regottaz
Freund von Urs, Ehemann Annas und Abenteurer
Gaetano Silvestri
Bischof, Leiter der päpstlichen Kommission für Sakrale Archäologie
Gideon Fitzpatrick
Kardinal, Kongregationsleiter für Glaubenslehre (ehemals Inquisition)
Goffredo Furini
Assistent Bischof Silvestris
Kurt Semmler
Bischof, Mitglied der Apostolischen Signatur, dem höchsten Gerichtshof im Vatikan
Francesco Orlando
Kardinal, Bibliothekar und Archivar der römischen Kirche
Bernhard
Scharfsinniger Abt des Klosters Einsiedeln
Carmen Noguera
Leitende Mitarbeiterin im Ministerium für Kultur in Caracas
Pietro Mastroberardino
Erzbischof und Nuntius in Venezuela
Isabel Hernández
Professorin an der Universidad Simon Bolivar in Sartenejas
José Luis Martinez
Ausserordentlicher Professor an der Universidad Simon Bolivar in Sartenejas
Lamberto Romano
Kardinal, Staatssekretär des Heiligen Stuhls
Samuel Mertens
Bischof aus Belgien, Mitglied des Geheimbunds
Aurelio Garrido
Bischof aus Spanien, Mitglied des Geheimbunds
Ubbaldo Rodriguez
Mitarbeiter der Nuntiatur in Caracas und zeitweiliger Beschützer Annas
Gonzalo Rodriguez
Priester, Traditionalist, Bruder Ubbaldos
Diego Suarez
Bischof von Mérida, Venezuela
Teniente Raoul Lopez
Chef-Ermittler der Polizei in Caripe
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Blitze jagten durch den Nachthimmel und erleuchteten für einen Moment das Blickfeld Christine Völlmis, die nachdenklich aus dem Fenster schaute und trotzdem nicht richtig wahrnahm, was für ein Wetterspektakel sich gerade abspielte. Ihre Gedanken waren weit weg und dabei schüttelte sie unmerklich den Kopf. Was sie da gerade gelesen hatte, stellte alles in den Schatten, was in den vergangenen fünfzehn Jahren auf ihrem Schreibtisch im Paläontologischen Institut der Universität Zürich gelandet war. Professorin Völlmi war spezialisiert auf die Erforschung der Dinosaurier, die vor über 250 Millionen Jahren unseren Planeten bevölkerten. Zusammen mit ihren Studenten hatte sie in der Vergangenheit zahlreiche Fundorte von Dinosaurierskeletten erforscht, und jedes Mal konnte sie weitere Fakten über diese faszinierenden Kreaturen zusammentragen, die lange vor der menschlichen Existenz die Erde bevölkerten. Ihre Bücher waren in Fachkreisen legendär und ein Muss für den Universitätsunterricht. Obschon als 42-jährige mit Abstand die jüngste Forscherin in ihrem Team, waren sich ihre Kollegen einig, dass sie den Posten als stellvertretende Institutsleiterin verdient hatte. Und in der Tat, wenn es um Dinosaurier und ihre Artgenossen ging, konnte ihr niemand das Wasser reichen. Auch auf dem globalen Parkett gehörte sie zu den drei führenden paläontologischen Kapazitäten.
Jetzt sass sie da, es war fast Mitternacht, und sie verstand die Welt nicht mehr. Während eine weitere Salve von Blitzen das Dunkel der Nacht erhellte und das kurz darauf folgende Donnergrollen ohrenbetäubend laut war, kreisten ihre Gedanken aufgeregt um die neue Information, die sie eher zufällig in einem Bericht über eine archäologische Entdeckung in Venezuela gelesen hatte. Die Aufzeichnungen stammten von einem Kollegen aus dem Institut für Archäologie, mit der Bitte, die darin abgebildeten Felsenzeichnungen aus Sicht der Paläontologie zu kommentieren. Eigentlich nichts Weltbewegendes, denn Christine Völlmi erkannte sofort die frühzeitliche Darstellung von theropoden Dinosauriern, also vogelähnlichen Kreaturen von gigantischer Grösse und mit riesigen Flügeln. Fasziniert hatte sie die Fotografien der Felsenzeichnungen betrachtet und mit Hilfe eines Vergrösserungsglases nach weiteren Details gesucht. Als sie die Unterlagen schon weglegen wollte, hatte ein winziges Detail ihre Aufmerksamkeit erregt. Und dieses Detail war der Auslöser für ihren momentanen Zustand – einer Mischung aus Verwirrung und Ungläubigkeit. Nur langsam erholte sie sich von dem Schock, den ihre Entdeckung ausgelöst hatte. Noch immer glaubte sie an eine optische Täuschung und sie betrachtete das Foto mit der Höhlenzeichnung zum wiederholten Mal. Aber ihre Beobachtung war untrüglich, das sie Schockierende war unter dem Vergrösserungsglas noch immer sichtbar. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihr, dass es kurz vor 23 Uhr war. Einen kurzen Moment überlegte sie, dann griff sie zu ihrem Telefon. Die Nummer des Archäologen war abgespeichert und ohne zu zögern drückte sie die Wähltaste. Nach dreimaligem Klingeln antwortete jemand und sie hörte ein verschlafenes „Hallo?“.
„Franz, habe ich dich etwa geweckt?“ begann Christine Völlmi ihr Gespräch.
„Christine? Bist du das? Ist etwas passiert?“
„Ja, eigentlich schon. Kannst du zu mir ins Institut kommen? Ich muss dir etwas Sensationelles zeigen, “ sprudelte es aus ihr heraus.
„Jetzt? Weisst du überhaupt, wie spät es ist?“
„Das ist doch völlig egal, Franz. Aber glaub mir, so etwas hast du in deinem Leben noch nicht gesehen und es wird deine gesamte Forschung über den Haufen werfen.“
„Und das kann nicht bis morgen früh warten?“ brummte Franz Christen, Professor und Leiter des Fachbereichs Prähistorische Archäologie.
„Nein, Franz. Du musst dir diese Fotos nochmals ansehen und du wirst nicht glauben, was darauf zu sehen ist, “ drängte Christine Völlmi ihren Kollegen.
„Grundgütiger, Christine! Die Fotos zeigen prähistorische Felsenzeichnungen. Da kommt es doch auf ein paar Stunden nicht an, oder, “ versuchte Christen die Paläontologin umzustimmen. Diese war an der Universität für ihre Verbissenheit bekannt, wenn sie an einem neuen Fall arbeitete. Und sie erwartete, dass die Beteiligten, allen voran ihr Team, ihren Enthusiasmus teilten.
„Du willst es nicht verstehen, Franz. Die ganze Geschichte der Menschheit wird dank deiner Entdeckung auf den Kopf gestellt und du willst das wirklich verschlafen? Eigentlich hättest du das selber schon feststellen müssen. Also, mach dich auf den Weg. Ich erwarte dich baldmöglichst.“ Noch bevor Franz Christen eine Antwort geben konnte, hatte Christine das Gespräch einfach abgebrochen. Der Professor fluchte und überlegte kurz, ob er einfach weiterschlafen sollte oder dem Weckruf seiner überdrehten Kollegin folgen sollte. Er entschied sich für das Zweite, nicht zuletzt weil er nicht wollte, dass er damit zum Gespött an der Uni wurde. Sollte Christine tatsächlich etwas derartig Sensationelles auf den Fotos entdeckt haben, würde sein Desinteresse schnell die Runde machen. Er stand auf und blickte kurz zu seiner schlafenden Frau. Dann begann er sich anzukleiden.
„Was soll das werden?“ fragte Brigitte unter der Decke hervor. Sie war wegen des Telefonats halbwegs aufgewacht und gerade wieder am Einschlafen, als sie hörte, wie ihr Mann aufstand und sich ankleidete.
„Ich muss ins Institut. Das war Christine Völlmi. Sie hat angeblich eine sensationelle Entdeckung gemacht, die keinen Aufschub duldet.“
„Und das mitten in der Nacht? Ihr arbeitet beide an Sachen, die hunderttausende von Jahren zurückliegen. Was kann jetzt so dringend sein, dass du dein warmes Bett so überstürzt verlässt?“
„Ach Schatz, versuch es doch zu verstehen. Ich hatte ihr Fotos von unseren Funden in Venezuela geschickt, weil darauf saurierähnliche Tiere vorkommen. Eigentlich wollte ich von ihr nur wissen, ob es sich um Saurier handelt oder nicht. Aber jetzt behauptet sie, dass sie auf den Fotos etwas entdeckt hat, was die Geschichte der Menschheit auf den Kopf stellen werde. Sie wird keine Ruhe geben, bis ich mir die Fotos selber angesehen habe.“ Er war mittlerweile fertig angezogen und griff zu seinen Autoschlüsseln.
„Euch Altertumsforschern ist nicht zu helfen“, mokierte sich Brigitte und drehte sich wieder um als Zeichen, dass für sie diese Unterhaltung beendet war.
Franz Christen seufzte und machte sich auf den Weg, mit dem Vorsatz, Christine zuerst einmal für ihr rücksichtsloses Benehmen die Leviten zu lesen. Die Autofahrt ins Institut dauerte um diese Zeit nur gerade fünfzehn Minuten. Seinen Wagen stellte er auf den für ihn vorgesehenen Parkplatz und begab sich zum Eingang des Instituts, das sich an der Karl-Schmid-Strasse befand. Um diese Zeit waren die Türen verschlossen, und deshalb rief er Christine Völlmi mit seinem Handy an.
„Ich stehe vor der Tür“, sagte er knapp, als Christine antwortete.
„Ich bin gleich bei dir, Franz“, antwortete sie ihm. Keine zwei Minuten später öffnete sich die Türe, und Christine Völlmi empfing ihren Kollegen mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht.
„Nun mach nicht so ein bärbeissiges Gesicht, Franz“, munterte sie ihn auf, „du wirst gleich sehen, dass es sich gelohnt hat, das Schlafen auf später zu verschieben“. Sie nahm ihn am Arm und führte ihn in Richtung Treppe, die zu ihrem Büro führte.
Franz Christen trottete missmutig hinter ihr her. Er fragte sich, warum er sich von ihr wieder einmal hatte einwickeln lassen. Immer wieder schwor er sich, dass es das letzte Mal war. Aber irgendwie schaffte es seine Kollegin, dieses letzte Mal in weite, eigentlich unnahbare Ferne rücken zu lassen. In diesem Fall war er sogar selber daran schuld, weil er es war, der ihr die Fotos mit der Bitte um eine Analyse zugeleitet hatte. Das hatte er jetzt davon! Mittlerweile hatten sie Christines Büro erreicht, wo sie ihn sogleich an ihren Schreibtisch dirigierte, auf welchem eine fast peinliche Ordnung herrschte. Ganz anders, als bei ihm, schoss es Franz durch den Kopf und er musste unwillkürlich lächeln. Auch das war Christine Völlmi. Stets organisiert, stets übersichtlich strukturiert und peinlichst darauf achtend, keine überflüssigen Dossiers an ihrem Arbeitsplatz zu horten. Mitten auf dem Schreibtisch stand ein übergrosser, gebogener Monitor, auf welchem er sofort eine der Fotografien erkannte, die er ihr überlassen hatte. Franz konnte sich bei bestem Willen nicht vorstellen, was für einer Sensation sie auf die Spur gekommen sein wollte. Er selber hatte die Fotos erstellt, und er war es auch, der diese bisher unbekannten Felsenmalereien entdeckt hatte. Wer also wäre besser im Bild als er selber?
„Setz dich hin und sag mir, was du hier siehst, Franz“, forderte Christine ihren Kollegen auf.
„Was soll das?“, sagte er leicht verärgert, „ich kenne doch dieses Material. Es stammt von mir höchstpersönlich, und auch die Originalzeichnungen habe ich in den Höhlen in Venezuela genaustens untersucht. Sicher, die Entdeckung der Felsenzeichnungen an sich ist eine Sensation. Zumindest in Fachkreisen. Aber darüber hinaus…..?“
Christine Völlmi lachte und drückte Franz auf ihren Sessel.
„Nun schau dir dieses Foto nochmals genau an. Lass dir Zeit und betrachte alle Details. Du musst doch darauf kommen!“
„Na gut, dann mache ich dir den Gefallen“. Er gab seinen Widerstand auf, denn es hätte sowieso nirgendwohin geführt, wenn er sich weiterhin bockig benommen hätte.
Er betrachtete die ihm sehr vertraute Fotografie aufmerksam und meinte nach einer Weile:
„Ich kann beim besten Willen nichts erkennen, was auf die von dir angedeutete Sensation hinweisen könnte“. Er wollte sich schon erheben, aber sie drückte ihn bestimmt zurück auf den Sessel.
„So einfach mache ich es dir nicht, Franz. Entweder willst du das nicht sehen, oder du hast es gesehen, aber die Bedeutung ist dir nicht bewusst.“
„Was soll es denn sein, Christine. Mach es doch nicht so spannend. Ich bin müde und sollte eigentlich in meinem Bett liegen“, antwortete er ärgerlich.
„Also gut, ich helfe dir. Fangen wir mit den Darstellungen an, die sich auf dieser Malerei befinden. Wie alt datierst du sie?“
„Das kann ich dir ziemlich genau sagen. Die Messung ergab ein Alter von mindestens 500‘000 Jahren oder älter. Die erste Messung hat einen Wert von über 80 Millionen Jahren ergeben, was gar nicht sein kann, denn Menschen gibt es auf diesem Planeten erst seit etwa zweieinhalb Millionen Jahren. Wir hatten weitere Messungen vorgenommen, die aber alle zum gleichen Resultat führten, was uns veranlasste, das Gerät beiseite zu legen, denn es war vermutlich defekt.“
„Aha“, schmunzelte Christine, „und wann haben die Dinosaurier gelebt?“ fragte sie schulmeisterlich.
„Wenn ich mich nicht täusche, vor zirka 250 Millionen Jahren, also im Trias“.
„Ganz recht, Franz. Und sie sind seit gut 66 Millionen Jahren ausgestorben, richtig?“
„Wenn du das sagst, dann wird es so sein.“
„Es ist so, verlass dich drauf. Zurück zu den Menschen. Du sagst richtig, dass es die seit etwa zweieinhalb Millionen Jahren gibt. Daraus schliesst du, dass euer Messgerät defekt ist, weil es ein Alter von 80 Millionen Jahren für eure Höhlenzeichnungen feststellte. Nach aktuellen Erkenntnissen also ein völlig unmögliches Resultat.“
„Allerdings. Aber bitte komm auf den Punkt, Christine. Du willst mir doch jetzt nicht Geschichtsunterricht geben!“ fragte er verwirrt, weil er immer noch nicht verstand, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte.
„Fassen wir also zusammen: Dinosaurier sind seit 66 Millionen Jahren ausgestorben, Menschen gibt es seit zweieinhalb Millionen Jahren auf der Erde und die Altersmessung, die in meinen Augen übrigens bestens funktioniert, stellt ein Alter von 80 Millionen Jahren fest. Ist das soweit richtig?“
„Bis auf das Ergebnis der Altersbestimmung der Felsenzeichnungen ist es richtig.“ Franz Christen schaut Christine aufmerksam an. Kann es sein, dass sie ihren Verstand verloren hat? Ist sie womöglich auf Droge? Bevor er sich diese Frage beantworten kann, fährt die Paläontologin fort:
„Betrachte den Flugsaurier rechts im Bild, den mit den riesigen Flügeln. Das ist ein Quetzalcoatlus, also ein Pterosaurier. Das erste Wirbeltier, das fliegen konnte. 80 Millionen Jahre vor den Vögeln. Im Mesozoikum konnten diese Flugsaurier gigantische Ausmasse erzielen. Sie wogen bis zu 300 Kilogramm und hatten eine Flügelspannweite von über zehn Metern. Ihr Unterkiefer war doppelt so lang wie der eines Tyrannosaurus Rex, und der Durchmesser ihrer Oberarme entsprach dem Rumpf eines ausgewachsenen Menschen. Was du also hier siehst, ist ein solcher Pterosaurier.“ Gespannt blickte sie zu Franz Christen. Aber der machte keine Anstalten verstanden zu haben, worauf sie hinauswollte.
„Bist du so schwer von Begriff oder willst du es einfach nicht wahrhaben?“ rief sie ihm zu.
„Erklär es mir doch!“
„Dem Menschen ist die Existenz der Dinosaurier noch nicht lange bekannt. Erstbeschreibungen von Dinosauriern findet man ab dem frühen 19. Jahrhundert. Aber man weiss, dass schon früher Knochenfunde gemacht wurden, so zum Beispiel in China vor etwa 2000 Jahren. Man bezeichnete sie damals als Drachenknochen, was die Legenden, die sich um die Drachen rankten, neu aufleben liess.“ Gespannt blickte sie ihren Kollegen an.
„Du willst damit sagen, dass vor 500.000 Jahren die Menschen noch gar nichts von der Existenz der seit Millionen von Jahren ausgestorbenen Dinosaurier wissen konnten. Und damit fragst du dich, wie es möglich ist, so ein Tier auf einer Felsenzeichnung darzustellen, richtig?“ Langsam keimte in Professor Christen Interesse auf. Bahnte sich hier wirklich eine Sensation an?
„Jetzt wird die Spur wärmer, Franz. Du bist auf dem richtigen Weg. Vor 500.000 Jahren kannten die damaligen Menschen die Dinosaurier nicht. Auch wenn sie einige Knochen gefunden hätten, so wäre es für sie unmöglich gewesen, daraus auf einer Felsenzeichnung ein Tier darzustellen, das einem wirklichen Pterosaurier verteufelt ähnlich sieht!“ Triumphierend blickte sie ihren Kollegen an. Hatte er es endlich kapiert?
Franz blickte sie lange und nachdenklich an. Wieso war er nicht selber darauf gekommen? Christine hatte völlig recht. Hier stimmte Manches nicht.
„Du meinst, das Ganze ist ein grosser Betrug? Dass die Zeichnungen vielleicht ein paar hundert Jahre alt sind, mehr nicht?“
„Nein, ganz im Gegenteil, Franz. Nicht nur die Zeichnungen sind korrekt, sondern auch das gemessene Alter.“
„Du bist verrückt, Christine. Vor 80 Millionen Jahren gab es sicher noch Dinosaurier, aber ganz bestimmt noch keine Menschen. Also ist das völlig ausgeschlossen.“
„Und wenn ich dir beweise, dass das so ist?“
„Wie willst du das beweisen, Christine?“ Verwundert fragte er sich, wo das noch hinführen würde.
„Nimm mal das Vergrösserungsglas und schau dir den Dinosaurier ganz genau an“, forderte sie ihn auf.
Franz Christen griff zum Vergrösserungsglas, das neben ihm lag, und begann auf dem Monitor den Saurier genau unter die Lupe zu nehmen. Nach einer Weile wollte er das Vergrösserungsglas frustriert zur Seite legen, als er stutzte. Er hielt es nochmals auf den Saurier, dieses Mal auf dessen Rücken und da bemerkte er etwas, dass auf seinem Rücken war. Verblüfft blickte er zu Christine und dann wieder auf das Foto. Zuerst glaubte er an eine optische Täuschung.
„Ist es das, was ich denke?“ fragte er überrascht mehr zu sich selber als zu Christine.
„Ich weiss nicht, was du denkst, aber wenn du damit den Menschen meinst, der auf dem Rücken des Dinosauriers sitzt, dann sind wir schon zu zweit.“
„Ich werd verrückt!“ war die einzige Reaktion Christens, dann war er einen Moment lang still.
„Wie konnte ich das übersehen haben?“ wunderte er sich. „Das war die ganze Zeit vor meinen Augen, und ich habe es nicht wahrgenommen.“
„Siehst du? Deshalb hast du ja die Fotos deiner so überaus klugen Kollegin gegeben.“ Sie lachte und sah Franz Christen vergnügt an.
„Aber was sagt uns das?“ sprudelte es aus dem Archäologen heraus.
„Das, was es ist: die Felsenzeichnungen sind 80 Millionen Jahre alt, denn dein Messgerät hat sich nicht geirrt. Und natürlich gab es damals noch für 14 Millionen Jahre Dinosaurier und – was am spektakulärsten ist – es gab vor 80 Millionen Jahren Menschen auf der Erde. Die sind auf Sauriern geflogen und haben das auf Höhlenzeichnungen festgehalten.“
Franz Christen war einen Moment lang sprachlos. Er starrte seine Kollegin mit einem Blick an, der vermuten liess, dass er gleich den Verstand verlieren würde.
„Du willst jetzt aber nicht im Ernst damit an die Öffentlichkeit gehen, oder? Man würde uns nicht nur in der Luft zerreissen, sondern jegliche Fachkompetenz absprechen. Das war es dann“, resümierte der Archäologie-Professor.
„Nein, natürlich nicht. Oder besser: noch nicht. Wir müssen jetzt daran arbeiten und sämtliche Fakten überprüfen. Selbstverständlich weiss ich, dass die Geschichte wasserdicht sein muss, wenn wir mit ihr an die Öffentlichkeit treten. Aber jetzt liegt zuerst einmal viel Arbeit vor uns.“
„Wenn sich herausstellen sollte, dass diese Felsenzeichnungen wirklich 80 Millionen Jahre alt sind, dann haben wir schon eine enorme Sensation. Ich werde gleich morgen früh veranlassen, dass die Malereien mit einem neuen Gerät nochmals auf ihr Alter hin geprüft werden. Allerdings müssten wir jemanden dafür einsetzen, dem wir hundertprozentig vertrauen können. Das Resultat darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen; zumindest solange nicht, bis wir alle Fakten hieb- und stichfest zusammengetragen haben.“
„An wen hast du gedacht? Es soll doch ein Spezialist sein, der sich auf diesem Fachgebiet auskennt und dem wir vertrauen können. Mir kommt im Moment niemand in den Sinn.“
„Ich denke, ich weiss, wen ich anfrage. Sie ist eine anerkannte Archäologin, hat schon einige Ausgrabungen geleitet, die weltweit für Schlagzeilen sorgten, und sie verfügt über alles notwendige Wissen. Kürzlich war sie auf einer spektakulären Forschungsreise in Bolivien und hat, zusammen mit einigen Freunden, unglaubliche Entdeckungen gemacht. So unter anderem die Tatsache, dass Tempelritter schon im 13. Jahrhundert zum amerikanischen Kontinent reisten und dessen Existenz über 200 Jahre vor der offiziellen Entdeckung durch Kolumbus kannten. Sie war es auch, die vor einigen Jahren bei Ausgrabungen in Israel ein altes Dokument entdeckte, dass sich als Heiratsurkunde von Jesus Christus mit Maria Magdalena herausstellte.“
„Ich habe von ihr gehört. Heisst sie nicht Santoro oder so? Meinst du denn, du könntest sie für einen solchen Einsatz begeistern?“ erkundigte sich Christine Völlmi.
„Ihr Name ist Anna Santoro. Ich denke schon, dass sie mitmachen wird. Sie ist mit Sicherheit die geeignetste Archäologin für diese Aufgabe. Und dank ihren Beziehungen, die weit in die Politik und bis in die höchsten Stellen des Vatikans reichen, wird sie keine Mühe haben, kurzfristig eine Bewilligung für eine Forschungsarbeit in Venezuela zu erlangen.“
„Ist sie nicht auch eine Freundin des Mannes, der vor einigen Jahren von Polarlichtern getroffen wurde und seither sämtliche Sprachen spricht?“
„Auch das ist richtig. Urs Stierli ist ein sehr gute Freund ihres Mannes und natürlich auch von ihr. Wer weiss, vielleicht können wir auch noch ihn einsetzen, sollten wir Schriften entdecken, die bisher unbekannt waren.“
„Gut, dann machen wir das so. Ich kann es kaum erwarten, bis es losgeht. Wenn alles so ist, wie wir es annehmen, dann haben wir definitiv die grösste Sensation seit Menschengedenken aufgedeckt.“
„Freu dich nicht zu früh, Christine. Wir sind Wissenschaftler und müssen uns strikte an die Fakten halten. Und das braucht seine Zeit. Erst wenn wirklich alle Zweifel ausgeräumt sind, können wir uns auf unseren Lorbeeren ausruhen.“
„Natürlich ist mir das bewusst. Es ist einfach nervig, warten zu müssen, bis all die notwendigen Abklärungen erledigt sind.“ Christine schaute mit einem verklärten Blick auf die Fotografie mit der Wiedergabe der Höhlenzeichnungen.
„Mich würde zudem wundernehmen, was all die anderen Darstellungen auf dieser Malerei zu bedeuten haben. Schau mal, Franz, hier unten kann man deutlich eine Schlange erkennen, die sich über irgendwelche Tafeln schlängelt.“
„Ja, das war mir auch schon aufgefallen. Ein Dinosaurier und eine Schlange auf der gleichen Höhlenzeichnung. Die stehen irgendwie in Verbindung zueinander. Wenn ich mich nicht täusche, dann gibt es Schlangen schon seit etwa 160 Millionen Jahren, nicht wahr?“
„Ja, das ist so. Es muss irgendeine Bedeutung haben. Ich frage mich, wer wohl diese Zeichnungen anfertigte und was sie bedeuten könnten. Guck mal da oben. Sieht das nicht aus wie ein Auge? Es blickt quasi über die Welt.“
„Gut möglich, ja. Je länger ich die Zeichnungen betrachte, desto mehr denke ich, dass sie eine Geschichte erzählen. Es fragt sich nur, was für eine“, sinnierte Franz Christen.
„Dann fragen wir diesen Urs Stierli doch einfach einmal, ob er einen Blick auf die Zeichnungen werfen kann. Du meintest doch, er würde sämtliche Sprachen kennen. Vielleicht handelt es sich bei diesen Zeichnungen nicht um eine kunstvolle Darstellung einzelner Tiere und Gegenstände, sondern um einen Text.“
„Jetzt mal langsam, Christine. Glaubst du nicht, dass das leicht übertrieben ist? Sollten wir nicht zuerst einmal abwarten, was eine weitere Altersbestimmung ergibt?“
„Warum denn warten, Franz. Wir können doch beides miteinander verknüpfen. Wenn sich herausstellen sollte, dass es sich bei diesen Zeichnungen um einen Text handelt, dann kann das doch die Erforschung der Felszeichnungen beschleunigen.“
„Na gut, Christine. Dann übernehme ich Anna Santoro und du kontaktierst Urs Stierli.“ Franz Christen hatte sich erhoben. Mittlerweile war es fast halb zwei Uhr, und er wollte unbedingt noch einige Stunden schlafen, bevor er um neun Uhr am nächsten Morgen seine erste Vorlesung halten würde.
„Gleich morgen früh rufe ich ihn an. Und, Franz: Vielen Dank für dein Vertrauen und dass du mitten in der Nacht gekommen bist. Ich hoffe, du bist nur halb so begeistert wie ich über diese Entdeckung.“
„Kein Problem. Ich bin dir nicht böse, ganz im Gegenteil, Ich wäre dir böse gewesen, wenn du nicht angerufen hättest“, lachte er und drückte ihre Hand zum Abschied.
„Gute Nacht, Franz“, verabschiedete sie ihn, „wir sehen uns morgen.“
Franz Christen verliess das Institut und machte sich auf den Heimweg. Christine Völlmi verweilte noch einen Moment an ihrem Arbeitsplatz und liess die Erkenntnisse aus der Fotografie nochmals Revue passieren. Kurz darauf erhob sie sich schliesslich, stellte ihren Computer ab und verliess das Gebäude ebenfalls. Ob sie einschlafe konnte, stand in den Sternen geschrieben. Aber auch sie wollte sich noch einige Stunden hinlegen, um den nächsten Tag mit frischen Kräften in Angriff nehmen zu können. Es gab sehr viel zu tun.
****
Urs Stierli liebte es, sich am frühen Morgen in seinen Garten zu setzen und den Vögeln bei ihrem fröhlichen Zwitschern zuzuhören. Um diese Zeit drangen nahezu keine störenden Geräusche in seine Idylle, und er genoss die Ruhe bei einer grossen Tasse mit schwarzem Kaffee. Obwohl Daniela ihn schon unzählige Male hatte überzeugen wollen, seiner Gesundheit zuliebe auf Tee umzustellen, hatte er es bleiben lassen. Tee war einfach nicht sein Ding. Höchstens dann, wenn er mit einer fiebrigen Grippe im Bett lag.
Eine Blaumeise hatte sich genähert, wohl mit der Hoffnung, der Mensch würde ihr ein paar Krümel zuwerfen. Urs musste lachen, als er dem Vogel zu verstehen geben wollte, dass er nichts anbieten könne. Als wenn er mit dem Tierchen kommunizieren könnte. Aber seine Tochter Alenia, die mittlerweile sechs Jahre alt war und den Kindergarten besuchte, behauptete, dass sie die Vögel verstehen könnte. Tatsächlich hatte sie Urs und Daniela manchmal damit überrascht, dass sie dem Vogelgezwitscher aufmerksam zuhörte und anschliessend ihren verblüfften Eltern eine Übersetzung anbot. Auch wenn Dani Mühe damit hatte, an so etwas zu glauben, war sie davon überzeugt, dass ihre Tochter tatsächlich Fähigkeiten besass, die weit über das bisher bekannte menschliche Können hinausgingen. Dass sie also die Vögel, und auch andere Tiere, verstand, wenn sie ihre Laute äusserten, hatte er schon damals akzeptiert, als seine Tochter mit einer sehr gefährlichen Schlange kommunizierte. Sie hatte Urs’ Fähigkeit, sämtliche Sprachen dieser Welt zu beherrschen von ihm geerbt und darüber hinaus besass sie weitere erstaunliche Begabungen. Dani wollte von alledem eigentlich nichts wissen. Sie wünschte sich einfach, dass ihre Tochter als ein ganz normales Kind aufwachsen konnte und nicht auf ihre ausserordentlichen Fähigkeiten reduziert wurde. Urs lächelte bei diesen Äusserungen jeweils, weil er erkannte, dass seine kleine Alenia die Sorgen ihrer Mutter durchschaute und sich grösste Mühe gab, ihr keine weiteren zu verursachen.
Seit ihrem erlebnisreichen Abenteuer in Tiwanaku, in dessen Verlauf Urs hatte akzeptieren müssen, dass er ungefragt zum „Hüter der Geschichte“ geworden war, teilte er mit seiner Tochter manches Geheimnis um die Herkunft der Menschheit. Bei diesen Gedanken schüttelte er unwillkürlich den Kopf, um sie schnellstens wieder zu verdrängen. Denn das war eine Geschichte, die man niemanden erzählen durfte, um nicht den Verdacht zu erwecken, man sei jetzt ganz übergeschnappt. Schon seine Fähigkeiten, sämtliche Sprachen zu beherrschen, hatte in manchen Kreisen Unruhe und böses Gerede ausgelöst. Es gab Menschen, die nicht bereit waren, Tatsachen zu verstehen, die ihren Horizont überstiegen. Männer, wie zum Beispiel Kardinal Fitzpatrick, der Kongregationsleiter für Glaubenslehre, waren immer wieder die Auslöser von Kontroversen, weil sie nichts akzeptieren wollten, was von der strengen Doktrin abwich, die sich die katholische Kirche auferlegt hatte. Zu Zeiten der Inquisition hatte das nicht selten zu fürchterlichen Folterungen mit der anschliessenden Verbrennung der armen Seelen geführt, die nichts anderes getan hatten, als ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse zu veröffentlichen. Auch Galileo Galilei bekam die Härte der Inquisition zu spüren, als er seine These verkündete, die Erde sei rund und mit Sicherheit keine Scheibe. Es hatte weitere Jahrhunderte gedauert, bis die Menschheit soweit war, dies zu akzeptieren. Die katholische Kirche hatte ihn erst im November 1992 offiziell rehabilitiert, nachdem er 1633 in einem kirchlichen Prozess des Ungehorsams und der Verbreitung falscher Tatsachen beschuldigt und zu lebenslangem Hausarrest verurteilt worden war. Heute weiss man zwar, dass die Erde tatsächlich rund ist, aber über die Herkunft der Menschen, oder besser über ihre Entstehung, ranken sich nach wie vor diverse Theorien und jede nimmt wie selbstverständlich für sich in Anspruch, die einzig richtige zu sein
Ich kann froh sein, nicht im 15. Jahrhundert zu leben, schoss es Urs durch den Kopf. Auch heute noch musste er sehr vorsichtig sein, mit wem er über seine Forschung und die damit verbundenen Erlebnisse sprach. Obschon es keine Inquisition mehr gab, die ihn womöglich das Leben gekostet hätte. Aber die Ächtung seiner Person konnte auch in der heutigen Zeit, gerade mit dem Einsatz der „richtigen“ Medien, ebenfalls vernichtend sein. Das leise Vibrieren seines Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Es war eine Nummer aus Zürich, aber er kannte sie nicht. Überrascht, weil eigentlich kein Aussenstehender seine Handynummer kannte, antwortete er.
„Urs Stierli“, sagte er ins Telefon.
„Guten Tag Herr Stierli. Mein Name ist Christine Völlmi und ich arbeite an der Universität Zürich. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie am frühen Morgen einfach so überfalle. Aber es ist wirklich wichtig, dass ich möglichst schnell mit Ihnen sprechen kann.“
„Guten Morgen, Frau Völlmi. Darf ich zuerst fragen, woher Sie meine Handynummer haben“, fragte Urs, der sich nicht vorstellen konnte, was die Frau von ihm wollte.
„Von Professor Scheidegger. Ich hoffe, Sie entschuldigen, dass ich ihn dazu gedrängt habe. Er wollte zuerst nicht mit der Nummer herausrücken, aber als ich ihm andeutete, worum es ging, liess er sich erweichen“. Die Professorin lächelte verlegen und hoffte, dass Urs nicht einfach wieder auflegen würde.
„Dann sind Sie auch Neurologin, Frau Völlmi“, wollte Urs wissen.
„Nein, ich bin Paläontologin. Ich bin die stellvertretende Leiterin des Instituts“, erklärte sie.
„Paläontologie, sagen Sie? Was hat denn das mit mir zu tun?“ erkundigte sich Urs verwundert.
„Es ist etwas kompliziert. Aber es hat mit einem archäologischen Fund zu tun, den mein Kollege, Professor Christen, kürzlich in Venezuela machte. Und darüber würde ich sehr gerne mit Ihnen sprechen und Ihnen auch Fotos vorlegen.“
Urs war hellhörig geworden. Ein archäologischer Fund in Venezuela könnte tatsächlich seine eigenen Nachforschungen beflügeln. Seit Tiwanaku hatte er sich intensiv mit der Forschung der alten südamerikanischen Kulturen beschäftigt, aber auch die wiederentdeckten Schriften aus dem alten Ägypten miteinbezogen. In wenigen Wochen, so seine Planung, würde er mit seinen Freunden nach Ägypten reisen, wo er sich die Gewissheit auf Hinweise verschaffen wollte, die er zur Entstehungsgeschichte der Menschheit erhalten hatte.
„Da Sie mich anrufen, nehme ich an, dass es um einen alten Text geht, den Sie und Ihre Kollegen nicht lesen können?“ mutmasste Urs.
„In gewissem Sinne, ja. Aber wir sind nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um einen Text handelt, oder ob es ganz einfach frühzeitliche Zeichnungen sind. Es geht tatsächlich um Höhlenmalereien und das Verstörende daran ist, dass sie vermutlich aus einer Zeit stammen, in welcher es sowas eigentlich gar nicht geben dürfte.“ Vorsichtig tastete sich Christine Völlmi heran. Sie wollte Urs nicht gleich mit ihren Vermutungen überfallen, aus Angst, er würde sie auslachen und das Gespräch beenden.
Hellhörig geworden bohrte Urs weiter:
„Was verstehen Sie unter „einer Zeit, wo es sowas nicht geben durfte“?
„Professor Christen ist der Ansicht, sein Messgerät zur Altersbestimmung sei defekt gewesen. Nach dem, was ich jedoch auf den Fotos gesehen habe, bin ich mir überhaupt nicht sicher. Ganz im Gegenteil.“
„Geht das etwas präziser? Was muss ich mir denn vorstellen?“
„Sitzen Sie, Herr Stierli?“ wollte die Professorin wissen.
„Jaja, natürlich. Aber mich kann so leicht nichts erschüttern. Ich habe schon zu viel erlebt, was eigentlich gar nicht sein dürfte. Also, bitte erklären Sie mir das“, forderte er sie auf.
„Seine Messungen ergaben, dass die Malereien 80 Millionen Jahre alt sind. Natürlich war der erste Gedanke der Archäologen, dass ihr Messgerät defekt sei. Soweit bekannt ist, gibt es Menschen auf der Erde erst seit etwa zweieinhalb Millionen Jahren. Aber wissen Sie was? Ich würde es Ihnen gerne persönlich zeigen und mir Ihre Meinung dazu anhören. Wäre es vermessen von mir, Sie zu fragen, ob Sie zu mir ins Institut kommen könnten?“
Es ärgerte Urs, dass die Frau das so spannend machte. Aber schliesslich hatte er ein Einsehen für ihr Verhalten. Zu gut kannte er mittlerweile die Altertumsforscher und ihre permanente Furcht, mit ihren Thesen in die Ecke der Verschwörungstheoretiker gestellt zu werden. Andererseits keimte eine leise Hoffnung in ihm auf, denn auch seine bisherigen Forschungen hatten ihn glauben lassen, dass es die Menschen auf unserem Planeten schon viel länger geben musste, als es die Wissenschaft propagierte.
„Also gut. Wenn Sie meinen, dass das besser ist, als es über das Telefon zu besprechen, kann ich gerne bei Ihnen vorbeikommen.“
„Prima, Herr Stierli. Vielen Dank für Ihre Bereitschaft. Wann würde es Ihnen denn passen?“
„Wenn Sie wollen, kann ich schon heute Nachmittag zu Ihnen kommen.“ Urs war neugierig geworden und wollte den Besuch möglichst schnell hinter sich bringen.
„Wunderbar, Herr Stierli. Ich habe bis halb vier eine Vorlesung, aber gleich anschliessend können wir uns treffen. Bitte nehmen Sie den Eingang an der Karl-Schmid-Strasse 4. Ich werde kurz nach halb vier Uhr im Eingangsbereich auf Sie warten.“
Sie beendeten ihr Gespräch, das auf der einen Seite eine enthusiastische Professorin und auf der anderen Seite ein leicht verwirrtes Sprachtalent zurückliess.
„Du siehst irgendwie verwirrt aus, Schatz“, stellte Dani fest, die zu ihm in den Garten getreten war, nachdem er sein Gespräch beendet hatte.
„Was soll ich sagen, Dani? Das war eine Professorin von der Uni Zürich die mich unbedingt sehen will, um mir Fotos von Höhlenmalereien aus Venezuela zu zeigen. Ein Kollege von ihr, Archäologe, hat diese Malereien kürzlich entdeckt.“
„Und es geht um eine Schrift, die sie wieder einmal ohne deine Hilfe nicht entziffern können?“ Dani ahnteschon Ungemach auf ihre Familie zukommen. Dieses Mal würde sie ihren Mann bestimmt nicht auf eine Abenteuerreise nach Südamerika begleiten. Nicht nur deshalb, weil ihr die letzte Reise nach Bolivien nach wie vor Albträume von Schlangen verursachte. Darüber hinaus war sie schwanger, und die Familie freute sich auf die Geburt eines Brüderleins für Alenia in nicht ganz vier Monaten.
„So ähnlich, ja“, antwortete Urs, der natürlich verstand, wie diese Frage seiner Frau gemeint war. „Dieses Mal geht es nicht um eine Reise“, beeilte er sich zu sagen, „sie will wirklich einfach meine Meinung zu den Malereien erfahren. Sie sind sich offenbar nicht sicher, ob es nur Zeichnungen sind, oder ob es sich tatsächlich um einen Text handelt“.
„Ich kenn dich doch, Urs! Sollten weitere Hinweise für deine Forschung nach der Herkunft der Menschheit entdeckt worden sein, bist du doch der Erste, der ins nächste Flugzeug steigt.“ Sie hatte das lachend geäussert, und Urs spürte, dass seine Frau es ihm überhaupt nicht übel nahm, dass er so verbissen mit der Aufdeckung der Geheimnisse beschäftigt war, die sich ihm nach seinem spektakulären Unfall mit den Polarlichtern vor bald acht Jahren eröffnet hatten.
„Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird, Dani. Es wird sicher eine einfache Erklärung für die Höhlenmalereien geben. Dazu kommt, dass die vorgenommenen Messungen ein Alter von 80 Millionen Jahren ergaben. Weil so etwas aufgrund der bekannten wissenschaftlichen Daten unmöglich ist, glaubt man, dass das Messgerät defekt sei.“
„Und du glaubst nicht an einen Defekt, nicht wahr? Aber meines Wissens gibt es uns Menschen „nur“ seit zwei bis drei Millionen Jahren. Also muss entweder die Wissenschaft völlig falsch liegen oder die Messgeräte sind tatsächlich defekt. Du kennst mich, Schatz. Ich tendiere absolut zu letzterem.“ Die Geschichte hatte auch Danis Interesse geweckt. Sie hatte sich einen internationalen Namen als investigative Journalistin gemacht und in den vergangenen fünfzehn Jahren manches Sachbuch publiziert. Dieses Thema könnte also durchaus Potenzial für eine weitere Schlagzeile haben.
„Im Moment glaube ich gar nichts. Ich will mir das Ganze ansehen und mit den beiden Professoren sprechen, die an dieser Entdeckung beteilig sind. Erst dann kann ich beurteilen, ob die Funde für meine These relevant sind.“
Dani blickte ihren Mann skeptisch an. Sie kannte ihn nur zu gut und spürte, dass er bereits Feuer gefangen hatte. Das würde nicht mehr erlöschen, bis er der Sache auf den Grund gegangen war.
„Versprich mir einfach, dass du keine Reisepläne entscheidest, ohne vorher mit mir darüber gesprochen zu haben“, bat ihn Dani, wohl wissend, dass dieses Projekt sich mit grosser Wahrscheinlichkeit genau in diese Richtung entwickelte.
„Versprochen. Aber nochmals: Mach dir keine Sorgen. Es ist vermutlich nur wieder einmal der berühmte Sturm im Wasserglas“, beschwichtigte er seine Frau. Ihrem Blick nach zu urteilen glaubte sie ihm kein Wort.
„Ich könnte Alenja mitnehmen, sie hat doch am Nachmittag frei“, schlug Urs vor, um das Thema zu wechseln. Doch sein Vorschlag kam nicht besonders gut an.
„Na klar, du willst sie für ein neues Abenteuer begeistern und dann habe ich gar nichts mehr dazu zu sagen!“ beschwerte sie sich mit einem aufgestellten finsteren Blick in seine Richtung.
„Ach komm schon, Dani. Sei doch keine Spielverderberin. Du weisst doch wie gern Alenja sich mit solchen Dingen beschäftigt. Sie macht das viel lieber als mit Puppen zu spielen oder einen Flötenunterricht zu besuchen, “ beschwichtigte er.
Dani musste lachen. Er hatte ja recht. Ihre Tochter hatte nicht nur die phänomenalen Sprachtalente ihres Vaters geerbt, darüber hinaus verfügte sie mit ihren gerade mal sechs Jahren über eine ausgeprägte Intelligenz. Nicht nur, dass sie behauptete, sie könne Tiere verstehen, sondern auch ihr erstaunliches Talent, offenbar die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen zu können. Sie hatte damit ihre Eltern schon mehrfach verblüfft, und Dani hatte sich ernsthafte Sorgen gemacht, ob mit ihr irgendetwas nicht stimmen könnte. Aber alle Abklärungen führten lediglich zum Resultat, dass sie ein fröhliches, gesundes Mädchen war, das erstaunlicherweise bereits im Alter von vier Jahren über einen IQ von 180 verfügte. Ihr war damit eine sehr hohe Begabung attestiert worden, was natürlich auch mit ihren enormen Sprachkenntnissen im Zusammenhang stand. Dazu kam ihre Fähigkeit, die Menschen, die sie umgaben, zu lesen. Das führte dazu, dass sie mit ihrer impulsiven Art auch schon Antworten gab, bevor die Fragen überhaupt gestellt worden waren.
„Na schön, Urs. Dann kann ich heute Nachmittag in Ruhe an meinem Artikel schreiben. Abgabetermin ist morgen Abend und ich habe noch nicht einmal ganz die Hälfte geschafft.“
Urs nickte zufrieden und nahm einen Schluck seines Kaffees, der mittlerweile ziemlich kalt geworden war. Die Vorfreude auf den kleinen Ausflug, den er am Nachmittag mit seiner Tochter unternehmen würde, liess ihn leise eine Melodie vor sich hinpfeifen. Sollte es sich bei den Funden Professor Christens tatsächlich um 80 Millionen Jahre alte Höhlenmalereien handeln, dann hätte er ein weiteres, sehr wichtiges Teil zu seinem Puzzle gefunden. Kurz überlegte er, ob er seinen Freund und Mentor, Bischof Gaetano Silvestri, den Leiter der päpstlichen sakralen Archäologie, anrufen sollte. Er verwarf jedoch diesen Gedanken, zumal noch gar nicht erstellt war, ob an der Geschichte der Paläontologin tatsächlich etwas dran war. Und überhaupt, fragte er sich, warum ausgerechnet eine Paläontologin? Die beschäftigen sich doch in erster Linie mit prähistorischen Tieren und deren Fossilien. Da Christine Völlmi ihm am Telefon keine weiteren Details genannt hatte, wusste er nicht recht, wohin ihre Forschung überhaupt hinführte. Aber allein die Tatsache, dass sie ihn um seine Meinung bat, war ein Indiz dafür, dass sich vielleicht doch eine interessante Geschichte daraus entwickeln konnte.
Alenia war natürlich sofort Feuer und Flamme, als ihr Vater am Mittag seinen Vorschlag vorbrachte. Sie verfolgte seit zwei Jahren seine Arbeit aufmerksam und erstaunte ihren Vater immer wieder mit ihren intelligenten Fragen dazu. Dani hatte manchmal Mühe zu akzeptieren, dass sie eine ganz besondere Tochter hatte, die sich in vielerlei Hinsicht nicht wie ein normales Mädchen ihres Alters verhielt. Alenia hielt sich am liebsten draussen auf, durchstreifte die nahen Wälder, beobachtete Tiere und Pflanzen und erzählte nach ihren Streifzügen immer wieder fantasievolle Geschichten, die meistens von sprechenden Tieren oder denkenden Pflanzen handelten. Manchmal war Dani besorgt und fragte sich, wo das alles noch hinführen würde. Aber Urs konnte sie jedes Mal aufs Neue beruhigen und ihr versichern, dass solche Phantasien für kleine Mädchen doch völlig normal seien. Insgeheim wusste er, dass seine Tochter tatsächlich über solche Fähigkeiten verfügte, aber er vermied es, mit seiner Frau darüber zu sprechen. Sie war absolute Realistin, konnte messerscharf analysieren, und in ihrer Weltanschauung hatten solche Dinge gar keinen Platz.
„Wann gehen wir denn, Papa?“ erkundigte sie sich aufgeregt, als Urs ihr von seinem Vorhaben erzählte.
„Bald, mein Schatz“, antwortete er liebevoll, „möchtest du vorher das Museum besuchen? Da gibt es Fossilien, die 240 Millionen Jahre alt sind und auch viele Nachbildungen von prähistorischen Tieren.“
„Ja, Papa, ich will unbedingt dahin“, rief sie vergnügt und rannte zu ihrer Mutter, um ihr diese Neuigkeit zu verkünden.
„Dann macht ihr zwei ja doch noch etwas Sinnvolles heute Nachmittag“, sagte Dani und zwinkerte ihrem Mann lachend zu.
So kam es, dass Urs und Alenia bereits um zwei Uhr im Museum waren, und beide betrachteten fasziniert die Ausstellungsobjekte, die von einer Zeit zeugten, die unvorstellbar lange zurücklag. Fossilien mit einem Alter von über 240 Millionen Jahren. Das konnte man sich gar nicht richtig vorstellen. Die Zeit verging wie im Fluge und Urs stellte fest, dass Alenia sich sehr für die Fossilien mit schlangenähnlichen Versteinerungen interessierte. Vielleicht lag es daran, überlegte er, dass ihre Erlebnisse mit der sehr speziellen Klapperschlange in Tiwanaku noch nachhallten. Als es Zeit war, die Professorin zu treffen, rief er seine Tochter zu sich und gemeinsam marschierten sie zum Empfangsbereich des Instituts.
Christine Völlmi war eine angenehme Erscheinung. Rotbraunes Haar, das ihr bis über die Schultern fiel, etwa eins fünfundsiebzig gross, schlank und mit einem freundlichen Lachen im Gesicht.
„Es freut mich sehr, Sie endlich einmal kennenzulernen, Herr Stierli“, begrüsste sie Urs und sah mit Interesse zu Alenia, die sich neben ihren Vater gestellt hatte.
„Das ist meine Tochter Alenia. Auch ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Professor. Ich bin gespannt, was mich hier erwartet.“
„Lassen Sie bitte die Frau Professor weg. Christine ist mir lieber. Darf ich Urs sagen?“
„Natürlich. Sehr gerne“, antwortete ihr Urs. Die Frau war ihm sofort sympathisch und er konnte sich vorstellen, mit ihr gut zusammenzuarbeiten.
„Dann wäre ja das geklärt. Kommt bitte hier lang. Wir gehen gleich in mein Büro. Franz Christen, der Archäologe, der diesen Fund machte, sollte auch gleich kommen“, sagte sie und wandte sich schon um Richtung Treppenhaus.
„Es ist nur gerade ein Stockwerk“, erklärte sie mit mit einem kurzen, fast abschätzigen Blick zum Fahrstuhl. „Das schaffen wir auch zu Fuss, nicht wahr?“ Auf der ersten Etage angekommen, führte sie Urs und Alenia durch einen langen Korridor und öffnete die zweitletzte Türe, die zu ihrem Büro führte. Es war ein recht grosser Raum von sicher etwa 40 m2. Vollgestellt mit Regalen, auf denen sich unzählige Bücher aneinander reihten, Korpusse mit Hängeregisterschubladen, zahlreichen Apparaturen, die auf einem grossen Arbeitstisch direkt am Fenster standen. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger Arbeitstisch, der fast so alt erschien, wie die Objekte, mit denen sie sich befasste. Auf diesem Tisch stand ein überdimensional grosser Monitor, davor eine Tastatur. Sie wies auf zwei Stühle, die auf der einen Seite des Tisches standen und bat ihre Gäste Platz zu nehmen.
„Du wunderst dich sicher über meinen Anruf, Urs“, begann sie und duzte ihn, als ob sie sich schon ewig kennen würden.
„Allerdings. Ich muss zugeben, dass mich das Ganze etwas stutzig macht. Du sprachst von Höhlenmalereien, die angeblich 80 Millionen Jahre alt sein sollen. Sogar mir als Laie ist bekannt, dass es uns Menschen aber erst seit etwa zweieinhalb Millionen Jahren gibt. Da frage ich mich schon, wie du und dein Kollege zu so einem Resultat kommen könnt.“
„Eigentlich nur ich. Franz war eher der Meinung, dass sein Messgerät defekt sei. Doch letzte Nacht, als ich ihn aus seinem Schlaf riss“, sie lächelte verschmitzt bei diesen Worten, „und ihn bat, nochmals ins Institut zu kommen, scheint er seine Ansicht revidiert zu haben.“ Diese letzten Worte hatte sie mit einem triumphierenden Blick auf Urs gesprochen.
„Mach es nicht so spannend“, sagte Urs, „was genau habt ihr denn entdeckt?“
„Ich will es dir zeigen. Betrachte doch mal das Foto auf meinem Monitor“, forderte sie ihn auf und machte ihm Platz, damit er sich auf ihren Sessel setzen konnte. Alenia war neben ihren Vater getreten und schaute ebenfalls sehr aufmerksam auf die Fotografie mit den Höhlenmalereien.
„Guck mal, Papa“, rief sie und zeigte mit dem Finger auf die Stelle, wo eine Schlange abgebildet war. „Das ist doch Alia!“ äusserte sie ganz aufgeregt.
„Wie kommst du bloss auf diese Idee, Alenia?“ fragte ihr Vater verwundert.
„Weil ich sie erkenne. Und sie hat mir doch gesagt, dass sie schon immer auf der Erde gelebt hat.“
Christine Völlmi lächelte und strich Alenia zärtlich über ihre Haare.
„Wer ist denn Alia?“ erkundigte sie sich beim Mädchen.
„Alia ist eine Klapperschlange. Sie lebt in den Steinen in Tiwanaku und ist sehr klug. Sie hütet die Geheimnisse“, erklärte Alenia.
Die Professorin schaute zu Urs, in Erwartung dass er über die soeben von seiner Tochter geäusserte Bemerkung lachen würde. Aber seine Reaktion war eine ganz andere.
„Hat sie dir noch mehr von ihrem Leben erzählt, Alenia?“ fragte er und erntete dafür gleich einen ungläubigen Blick von Christine.
„Ja, ganz viel. Schau mal: hier ist auch ein Mann gezeichnet“, fuhr sie weiter, „das ist Inti.“
„Wie kommst du bloss auf sowas?“ fragte die Professorin erstaunt, „weisst du denn überhaupt, wer Inti war?“
„Natürlich“, antwortete Alenia fast beleidigt, „er ist der Sonnengott und höchster Gott der Menschen gewesen.“
„Und was für ein Geheimnis soll die Schlange hüten?“ wollte sie von Alenia wissen.
„Das Geheimnis der Menschen“, antwortete diese und zeigte dabei auf ihren Vater, „Papa ist der Hüter der Geschichte, wissen Sie“.
Urs sah, dass die arme Professorin völlig überfordert war und übernahm das Gespräch.
„Ich weiss, es muss für dich sehr wunderlich tönen. Aber es ist wirklich so, wie Alenia es gerade erzählte. Sollte es sich also bewahrheiten, dass diese Felsenmalereien wirklich 80 Millionen Jahre alt sind, dann stehen wir vor einer gigantischen Sensation.“
„Von welcher Sensation sprechen Sie denn?“ fragte eine männliche Stimme hinter ihm. Urs drehte sich um und bemerkte einen Mann, lässig in Jeans und einem über die Hose getragenen, bunten Hemd gekleidet. Er hatte ihn nicht kommen hören und blickte ihn deshalb fragend an.
„Ich bin Franz Christen, der Archäologe, der diese Höhlen entdeckt hat. Und Sie müssen Herr Stierli sein. Es freut mich sehr, Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen. Meine Kollegen, die sich vor sieben Jahren mit ihrem … Problem … (er malte bei diesem Wort mit den Zeigefingern Gänsefüsschenzeichen in die Luft) befassten, erzählen immer wieder begeistert von Ihnen und Ihren Fähigkeiten. Aber bitte, fahren Sie weiter. Ich wollte Sie nicht unterbrechen.“ Der Archäologe sah gespannt zu ihm hin.
„Ich vermute, dass Sie bereits selber zu dieser Erkenntnis gelangt sind. Sollten diese Felsenmalereien wirklich 80 Millionen Jahre alt sein, wäre damit wohl bewiesen, dass es uns Menschen mindestens schon damals gab, oder?“
„Ja natürlich“, sagte Christen, „deshalb vermute ich stark, dass unser Messgerät defekt ist. Allerdings hat mich Christine“, er drehte sich zu seiner Kollegin um, „gestern Nacht davon überzeugt, von einer neutralen Person weitere Messungen vornehmen zu lassen.“
„Sie denken also auch, dass es möglich sein könnte“, fragte Urs interessiert und wartete gespannt auf die Antwort seines Gegenübers.
„Es ist in erster Linie Christine, die das denkt. Und ich habe eingewilligt, nochmals altersbestimmende Messungen vornehmen zu lassen. Am Ende wird sich meiner Meinung nach feststellen lassen, dass unser Messgerät tatsächlich defekt war. Aber wir werden sehen. Ich habe meine Kollegin aus Italien, Professorin Santoro, bereits um ihre Mitarbeit gebeten. Sie sollte mir noch heute ihre Antwort dazu geben.“
„Anna Santoro?“ fragte Urs überrascht, „mit ihr hätten sie tatsächlich die beste Spezialistin dafür. Und zudem – Urs lächelte spitzbübisch – ist sie bestens mit meiner Forschung um das Geheimnis der Menschheit vertraut.“
Jetzt war es an den beiden Professoren überrascht zu sein.
„Sie kennen diese Frau?“ wollte Christine Völlmi wissen.
„Ja, ich kenne sie sogar sehr gut. Sie ist mit meinem besten Freund verheiratet, und meine Frau und ich sind die Paten ihrer kürzlich geborenen Tochter Pomona“, erklärte er. „Sie war an unserer Expedition nach Tiwanaku vor zwei Jahren massgeblich beteiligt, und wir sind seit ihrer Entdeckung der Heiratsurkunde Jesus‘ befreundet.“
„Das trifft sich doch gut, Herr Stierli“, antwortete Christen freudig, „dann können Sie ein gutes Wort für uns einlegen. Sie war nicht gerade begeistert von der Idee, nach Venezuela zu reisen und ihre einjährige Tochter alleine zu lassen.“
„Wofür ich absolutes Verständnis habe. Aber vielleicht sollten wir zuerst einmal mit dem beginnen, wofür Du mich eingeladen hast, Christine.“
„Du hast natürlich recht, Urs. Also, fassen wir schon einmal zusammen“, sagte sie zu Franz Christen gewandt, „wir sehen auf den Fotos eine Schlange abgebildet, der Alenia den Namen Alia gegeben hat. Und sie ist der Auffassung, dass es sich bei dem Mann, der auf der Felsmalerei zu erkennen ist, um den Inka-Gott Inti, also den Sonnengott, handelt“, stellte sie fest und schaute dabei ihren Kollegen an.
Erstaunt blickte Christen zuerst zu Alenia hinüber, dann zu Urs und am Ende zu seiner Kollegin.
„Im Ernst jetzt? Ein kleines Mädchen erklärt Euch, was auf diesen Fotos zu sehen ist? Ich weiss natürlich, wer Inti ist. Aber wie kommt Alenia auf die Idee, es könne sich bei dieser Darstellung um ihn handeln? Und wieso gibt sie der Schlange diesen Namen? Ich hoffe, es handelt sich bloss um einen Scherz, den ihr mit mir macht.“
„Nein, lieber Herr Professor, das ist kein Scherz. Bitte gehen Sie davon aus, dass meine Tochter genau weiss, wovon sie spricht. Ich muss noch hinzufügen, dass sie in Tiwanaku während Wochen von dieser Klapperschlange begleitet wurde und – ob Sie es glauben wollen, oder nicht – mit ihr auf einmalige Art und Weise kommunizieren konnte.“
Professor Christen schnappte nach Luft. War er jetzt nur noch von Wahnsinnigen umgeben? Er überlegte, wie er Urs auf bestimmte, aber höfliche Art hinauskomplimentieren konnte. Jedenfalls wollte er sich diesen Unsinn nicht weiter anhören.
„Tun Sie das nicht, Herr Professor“, meldete sich Alenia, „Wenn Sie wissen wollen, was alles bedeutet, dann müssen Sie meinem Vater und mir schon zuhören.“
Urs und Christine Völlmi blickten Alenia überrascht an und dann zu Professor Christen.
Alenia fuhr weiter: „Er überlegt sich, wie er Papa und mich loswerden könnte, weil er nicht an unseren Unsinn glaubt.“
Christen war rot angelaufen und blickte hilflos zu seiner Kollegin, die sich ihr Lachen nicht verkneifen konnte.
„Du musst wissen, Franz, dass Alenia nicht nur das Sprachtalent ihres Vaters geerbt hat, sondern auch die Fähigkeit besitzt, die Gedanken anderer Menschen zu lesen. Also sei bitte vorsichtiger mit deinen Überlegungen, wenn Alenia anwesend ist.“
„Wie …... was ist denn das gerade gewesen? Kann sie tatsächlich meine Gedanken lesen?“ fragte ein sehr verblüffter Professor Christen.
„Die Frage können Sie sich selber beantworten, Herr Professor“, meinte Urs lachend, „wenn es stimmt, was sie sagte, dann wissen Sie doch am besten, ob sie fähig ist, Ihre Gedanken zu lesen, nicht wahr?“
Christen sagte lieber nichts mehr und blickte fast ehrfurchtsvoll hinüber zu Alenia, die bereits wieder in die Fotografie auf dem Monitor vertieft war. Und es war Alenia, die auf den Reiter aufmerksam machte, der sich auf dem Saurier befand.
„Schau mal, Papa. Auf diesem riesigen Vogel reitet ein Mann!“ Sie hatte ihren Vater am Ärmel gezogen und auf die Stelle der Fotografie gezeigt, die schon in der Nacht für Aufregung bei den beiden Professoren gesorgt hatte.
Urs betrachtete sich die Stelle genauer und musste seiner Tochter recht geben.
„Tatsächlich, ich sehe es auch. Wann genau haben die Dinosaurier gelebt?“ fragte er die Paläontologin.
„Vor etwa 240 Millionen Jahren“, antwortete diese, „ausgestorben sind sie seit etwa 66 Millionen Jahren.“
„Und wie lange wissen die Menschen schon über die Existenz der Saurier?“ fragte er weiter.
Verlegen schaute die Paläontologin zu ihrem Kollegen: „seit etwa 2000 Jahren“.
„Also sowas, “ sagte Urs verdutzt, „dann sind also entweder die Felsenmalereien noch keine 2000 Jahre alt oder man erkannte schon viel früher als angenommen die Existenz der Dinosaurier. Verstehe ich das richtig?“
„Ja, das kommt so hin“, antwortete Professor Christen.
„Und die Menschen gibt es seit etwa zweieinhalb Millionen Jahren?“, fuhr Urs weiter. Als die beiden Wissenschaftler zustimmend nickten, blickte er nachdenklich auf die Malereien.
„Also wenn sich herausstellt, dass Ihr Messgerät nicht falsch gemessen hat und Anna zum selben Resultat gelangt, würde das doch bedeuten, dass es bereits vor 80 Millionen Jahren Menschen gab und diese zudem auf Dinosauriern geritten sind.“ Seine Schlussfolgerung löste abermals zustimmendes Kopfnicken aus.
„Geflogen sind“, korrigierte ihn Christine Völlmi, „Sie sind auf den Sauriern geflogen. Beim abgebildeten Exemplar handelt es sich um einen Quetzalcoatlus, einen Flugsaurier. Gewissermassen die Urahnen unserer heutigen Vögel.“
Urs nickte abwesend und betrachtete weiterhin die auf dem Monitor abgebildeten Felsenmalereien. Alenia stand dabei an seiner Seite und betrachtete die vergrösserte Fotografie ebenfalls. Dann blickte sie überrascht zu ihrem Vater und rief ganz aufgeregt:
„Die schreiben über dich, Papa!“
Nun hatte es den beiden Professoren komplett die Sprache verschlagen und sie setzten sich an den runden Konferenztisch, der in der Nähe des Fensters stand. Urs realisierte, dass sich beide zu fragen schienen, ob die Einladung an ihn wirklich eine gute Idee gewesen war.
„Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen das erklären. Aber es wird etwas dauern, denn es ist eine längere Geschichte. Zudem wird sie Ihnen verrückt vorkommen, aber sie dürfen gerne Anna Santoro kontaktieren und sie wird Ihnen bestätigen, dass alles so ist, wie ich es Ihnen gleich erzählen werde.“
Die Professoren äusserten sich nicht, sondern nickten ihm nur zu. Urs setzte sich zu ihnen an den Tisch und begann zu erzählen. Dabei liess er nichts aus und erklärte ihnen schliesslich, welche seine nächsten Schritte zur Erforschung der Herkunft der Menschheit sein würden. Dass er demnächst nach Ägypten reisen würde, um seine Nachforschungen fortzuführen.
„Wenn ich nicht wüsste, dass Sie vor einigen Jahren durch ein Naturphänomen zu Ihren Sprachfähigkeiten gelangt sind, würde ich Ihnen von dieser unglaublichen Geschichte wirklich kein Wort glauben. Aber die Tatsache, dass nicht nur Frau Santoro mit von der Partie war, sondern auch der mir sehr bekannte Archäologe Bischof Silvestri aus dem Vatikan, lässt mir gar keine andere Wahl, als Ihnen zu glauben. Und jetzt will also Ihre Tochter in der Felsenmalerei wirklich einen Text erkannt haben?“ Professor Christen hatte zuerst das Wort ergriffen und seine Kollegin stimmte ihm stumm zu, indem sie mehrmals mit dem Kopf nickte.
„Es handelt sich tatsächlich um einen uralten Text. Das kann ich Ihnen bestätigen. Es sind nicht nur Zeichnungen von Objekten und Gestalten aus der damaligen Zeit, sondern eine Mitteilung, oder besser, eine Prophezeiung an die Menschheit in ferner Zukunft“, erklärte Urs und zeigte dann auf die verschiedenen Zeichen, die vor vermuteten 80 Millionen Jahren angebracht worden waren.
„Gott Inti hat bestimmt, dass in ferner Zukunft ein Mensch zum Hüter der Geschichte wird. Er alleine wird bestimmen, wann seine Mitmenschen für die Wahrheit über ihre Herkunft bereit sind.“ Urs blickte zu den Professoren, während Alenia mit einem energischen Kopfnicken die Worte ihres Vaters bestätigte.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Stierli. Aber das tönt für mich nach einer Märchenerzählung. Soll ich jetzt allen Ernstes glauben, dass diese Zeichnungen in Wahrheit einen solchen Text darstellen und ausgerechnet Sie der sogenannte Hüter der Geschichte sein sollen? Ich bitte Sie, das ist doch unglaubwürdig. Als Wissenschaftler muss ich solche Aussagen strikte ablehnen.“
„Ich kann Sie verstehen, Professor. An Ihrer Stelle würde ich wohl auch so denken. Aber ich versichere Ihnen, dass alles genau so ist, wie ich es Ihnen vortrug. Lassen Sie doch Anna Santoro die Höhlen nochmals untersuchen und das Alter der Felsenzeichnungen feststellen. Sollten Sie recht behalten und sie sind nicht älter als ein paar hunderttausend Jahre, dann ziehe ich mich zurück und Sie werden nichts mehr von mir hören. Aber wenn Anna das Alter bestätigt, dann ist es zugegebener Weise doch eine grosse Sensation, die alles über den Haufen wirft, was die Wissenschaft bis heute gelehrt hat. Und es ergäbe sich enormer Erklärungsbedarf für all die Fragen, die daraus entstehen: Wer hat vor 80 Millionen Jahren die Zeichnungen angebracht? Warum wird ein auf einem Dinosaurier reitender Mensch dargestellt? Wie lange gibt es tatsächlich Menschen auf diesem Planeten? Woher kommen Sie, oder besser: Wie sind sie entstanden? Was war der wirkliche Grund für das Verschwinden der Dinosaurier?“
„Du wirst mir jetzt sicher sagen, Urs, dass du dazu eine Theorie hast, richtig?“ mischte sich Christine Völlmi in das Gespräch mit ein.
Urs druckste mit einer Antwort herum. Wieviel sollte er denn sagen? Auch für ihn waren es nur Vermutungen, die bisher mit gar nichts bewiesen werden konnten. Allerdings glaubte er, dass er mit diesen neu entdeckten Felsenzeichnungen seiner Aufgabe ein ganzes Stück näher gekommen war. Schliesslich ergriff er wieder das Wort.
„Eine vage Vermutung, vielleicht. Aber noch viel zu früh, um tatsächlich im Kreise der Wissenschaft darüber zu sprechen. Warten wir ab, was die nochmalige Altersbestimmung der Felsenzeichnungen ergibt. Danach bin ich bereit, mehr über meine Erkenntnisse zu sagen.“
„Ein kleiner Hinweis vielleicht?“ drängte ihn Christine Völlmi. Aber Urs liess sich nicht erweichen.
„Bitte, lasst uns das Gespräch vertagen, bis Annas Resultate vorliegen. Ich werde bis zu diesem Zeitpunkt ganz sicher nichts sagen.“ Er war aufgestanden, als Zeichen dafür, dass er dieses Gespräch vorerst beenden wollte.
„Na gut. Sie spannen uns damit gehörig auf die Folter, Herr Stierli. Werden Sie aber mit Anna Santoro sprechen und sie davon überzeugen, dass ihre Mitarbeit hier wirklich von grösster Bedeutung ist?“
„Natürlich, Herr Professor. Ich werde sie noch heute Abend anrufen und bitten, sich gleich persönlich bei Ihnen zu melden. Es ist anzunehmen, dass sie sich schon sehr bald auf den Weg machen wird.“
Urs bat darum, von den Zeichnungen mit seinem Handy Fotos machen zu dürfen und nach ein paar Abschiedsfloskeln verliess er, mit Alenia an der Hand, das Institut. Nicht ohne nochmals sein Versprechen bestätigt zu haben.
Als sie in der S-Bahn sassen, die sie nach Hause bringen würde, nahm Alenia seine Hand.
„Du hast ihnen aber nicht alles gesagt, Papa“, flüsterte sie ihm zu.
„Nein, Alenia, ich habe ihnen ganz bestimmt nicht alles gesagt. Dafür sind die beiden noch nicht bereit.“
„Und wann sind sie denn bereit?“ wollte seine Tochter von ihm wissen. „Das kann ich dir so nicht sagen. Aber ich weiss, dass ich es spüren werde, wenn es so weit sein wird.“
Viele Gedanken kreisten an diesem Abend in seinem Kopf. Anna hatte sofort zuigesagt, als er sie am Telefon bat, so rasch wie möglich die Höhlen in Venezuela unter die Lupe zu nehmen und das Alter der Felsenzeichnungen festzustellen. Sie rechnete damit, etwa eine Woche wegzubleiben, und Harry würde sich in der Zeit, zusammen mit ihrer Mutter, um die kleine Tochter kümmern. Auch Anna gelang es nicht, mehr Informationen aus Urs herauszukitzeln. Es blieb bei dem, was er bereits den beiden Professoren der Universität Zürich gesagt hatte.
Urs wollte gleich am nächsten Morgen Bischof Silvestri anzurufen. Er war die einzige Person seines Vertrauens, der er mehr erzählen wollte. Seit ihrer ersten Begegnung in Zürich vor sieben Jahren hatten sie nicht ungefährliche Abenteuer durchlebt, und es war eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden Männern entstanden. Urs vertraute dem Bischof vorbehaltslos und er wusste, dass sein Freund im Vatikan hundertprozentig hinter „seiner Geschichte“ stand, auch wenn diese mit der Kirchenlehre nicht vereinbar war. Mit diesen Gedanken lag er noch wach im Bett und es dauerte bis lange nach Mitternacht, ehe er endlich einschlafen konnte.
****
Am nächsten Morgen erwachte Urs sehr früh. Das gestrige Gespräch mit den beiden Professoren hatte ihn aufgewühlt und die ganze Nacht über in seinem Unterbewusstsein beschäftigt. Im Traum war ihm der Inkagott Inti erschienen, der ihn mit mahnenden Worten daran erinnerte, vorsichtig mit der Geschichte umzugehen. Wie einen Schal hatte er Alia, die gefährliche Klapperschlange, um seinen Hals gelegt, die ihn mit erhobenem Kopf und stechenden Augen so anblickte, als würde sie in die hinterste Ecke seines Gehirns sehen. Er hatte sich auch so gefühlt und sich im Schlaf unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt. Dann war Anuk hinzugetreten und hatte ihm mit beruhigenden Worten versichert, dass er nichts zu befürchten habe und die volle Unterstützung der Götter besitze, solange er sich an seine Aufgabe halte, die darin bestand, die Geschichte zu hüten.
Urs fühlte eine riesige Last, die auf ihm lag. Immer wieder die Hinweise auf den Hüter der Geschichte. Noch immer war ihm nicht klar, was am Ende damit gemeint war. Auch wenn er sich während der letzten beiden Jahre sehr viel Mühe gegeben hatte, diese „Geschichte“ zu vergessen oder zumindest in den Hintergrund zu drängen, war es ihm nicht gelungen, sie ganz aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Als ob die Götter dies nicht zulassen wollten. Beim Gedanken an die Götter musste er unwillkürlich lachen. War er jetzt schon soweit, daran zu glauben? Er hatte schon Mühe mit seinem christlichen Glauben gehabt, und jetzt spukten die alten Inkagötter in seinem Kopf herum. Das Ganze war irgendwie grotesk und er konnte alleine deshalb mit niemandem darüber sprechen. Die einzige Ausnahme war seine Tochter, die auf wunderliche Weise nicht nur seine Aufgabe als Hüter der Geschichte verstand, sondern auch dahinter blickte und ihn immer wieder mit Bemerkungen und Hinweisen dazu verblüffte. Manchmal kam es ihm so vor, als würde seine Tochter viel mehr verstehen als er selber, und es gab Augenblicke, wo er fühlte, dass sie ihn bei seinen Nachforschungen immer wieder auf den richtigen Pfad zurückbrachte, wenn er mit seinen Gedanken in eine Sackgasse geraten war. Er seufzte, blickte zu seiner schlafenden Frau hinüber und stand leise auf. Seine Uhr zeigte an, dass es erst halb sechs war. Trotzdem verliess er still das Schlafzimmer und ging hinunter in die Küche, wo er sich mit einer ersten Tasse schwarzem Kaffee an den Esstisch setzte. Er wartete bis sechs Uhr und nahm sein Telefon zur Hand. Er war sicher, dass der Bischof bereits an seinem Arbeitsplatz sitzen und er ihn mit seinem Anruf nicht aufwecken würde. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis sein Gesprächspartner sich meldete.
„Si, pronto?“ ertönte die freundliche Stimme Gaetano Silvestris.