Das Bild im Spiegel - Dorothy L. Sayers - E-Book

Das Bild im Spiegel E-Book

Dorothy L. Sayers

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Beschreibung

Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey wirft Licht auf die Abgründe der englischen Gesellschaft – und Spirituosenvertreter und Weinkenner Montague Egg gerät an neue geheimnisvolle Fälle! Da ist zunächst Robert Duckworthy, der seit einem Bombenangriff unter zeitweiligem Gedächtnisschwund leidet. Als die Zeitungen von der Ermordung einer Frau berichten, führen Indizien die Polizei geradewegs zu ihm … Außerdem ist da der aufgelöste Ethnologe Langley, der in einem Dorf inmitten der Pyrenäen von einer vermeintlich verhexten Amerikanerin hört, doch schließlich feststellen muss, dass es sich um eine alte Bekannte handelt, die sich allerdings in kurzer Zeit von Kopf bis Fuß verändert hat. Auch die Geschichte um die Perlenkette einer jungen Dame, die ihr auf mysteriöse Weise entwendet wird, ist Ansporn für Lord Peters wachen Verstand. Und Montague Egg, der eigentlich nur einem Mädchen beim Verkauf seines Kätzchens helfen wollte, wird schon kurze Zeit später herausfinden, warum an einem Tag zahlreiche Katzen und ein Mann ihr Leben lassen mussten …

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Seitenzahl: 322

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Dorothy L. Sayers

Das Bild im Spiegel

und andere überraschende Geschichten

Aus dem Englischen von Otto Bayer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Amateurdetektiv Lord Peter Wimsey wirft Licht auf die Abgründe der englischen Gesellschaft – und Spirituosenvertreter und Weinkenner Montague Egg gerät an neue geheimnisvolle Fälle!

 

Da ist zunächst Robert Duckworthy, der seit einem Bombenangriff unter zeitweiligem Gedächtnisschwund leidet. Als die Zeitungen von der Ermordung einer Frau berichten, führen Indizien die Polizei geradewegs zu ihm … Außerdem ist da der aufgelöste Ethnologe Langley, der in einem Dorf inmitten der Pyrenäen von einer vermeintlich verhexten Amerikanerin hört, doch schließlich feststellen muss, dass es sich um eine alte Bekannte handelt, die sich allerdings in kurzer Zeit von Kopf bis Fuß verändert hat. Auch die Geschichte um die Perlenkette einer jungen Dame, die ihr auf mysteriöse Weise entwendet wird, ist Ansporn für Lord Peters wachen Verstand.

Über Dorothy L. Sayers

Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1983, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, und sie gehört neben Agatha Christie und P.D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des Jahrhunderts.

Inhaltsübersicht

Das Bild im SpiegelDie unglaubliche EntführungDie rote KöniginLageskizze des Ballsaals«Das meine ich ...Die PerlenketteGift im GlasSpürnasenMord am MorgenEiner zuvielMord im CollegeMaher-Schalal-HaschbasDer Mann, der sich auskannteWasserspiele

Das Bild im Spiegel

Eine Lord Peter Wimsey-Geschichte

Der kleine Mann mit der Schmachtlocke schien so in das Buch vertieft, daß Wimsey es nicht übers Herz brachte, sein Eigentumsrecht geltend zu machen; er zog sich statt dessen einen zweiten Sessel heran, stellte sein Glas in bequemer Reichweite ab und versuchte, so gut es ging, sich mit dem Dunlop-Reiseführer zu unterhalten, der wie üblich auf einem der Tische in der Hotelhalle lag.

Der kleine Mann hatte die Ellbogen fest auf die Sessellehnen gestützt und hielt den roten Krauskopf gebannt über die Seiten gebeugt. Er atmete schwer, und wenn es ans Umblättern ging, legte er den dicken Band auf den Schoß und nahm für diese Aufgabe beide Hände zu Hilfe. Kein «großer Leser vor dem Herrn», entschied Wimsey.

Als der Mann die Geschichte zu Ende gelesen hatte, blätterte er umständlich zurück und las einen Absatz aufmerksam noch einmal. Dann legte er das immer noch offene Buch auf den Tisch und erhaschte dabei Wimseys Blick.

«Verzeihung, Sir», sagte er mit seiner etwas dünnen Stimme und deutlichem Cockney-Akzent, «ist das Ihr Buch?»

«Macht überhaupt nichts», antwortete Wimsey gnädig. «Ich kenne es auswendig. Hab’s sowieso nur bei mir, weil man so schön ein paar Seiten darin lesen kann, wenn man für die Nacht in so einem Nest wie diesem hier festsitzt. Wo immer man es aufschlägt, findet man irgend etwas Unterhaltsames.»

«Dieser Wells», fuhr der Rothaarige fort, «von dem kann man doch wirklich sagen, daß er ein sehr raffinierter Schriftsteller ist, nicht wahr? Großartig, wie realistisch er alles darstellt, und dabei kann man sich bei einigen von den Dingen, die er beschreibt, kaum vorstellen, daß sie tatsächlich möglich sein sollen. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte hier; würden Sie etwa sagen, daß so etwas einem Menschen wie Ihnen – oder mir – tatsächlich passieren könnte?»

Wimsey verrenkte den Hals, um einen Blick auf die Seite zu werfen.

«Das Plattner-Experiment», meinte er, «das ist doch die Geschichte von dem Lehrer, der in die vierte Dimension gepustet wurde, und als er wiederkam, waren seine rechte und linke Körperseite vertauscht, ja? Nein, ich glaube nicht, daß so etwas im wirklichen Leben vorkommen könnte, aber es ist natürlich faszinierend, mit der Vorstellung von einer vierten Dimension zu spielen.»

«Na ja –» Der Mann stockte und sah scheu zu Wimsey auf. «Das mit der vierten Dimension verstehe ich ja nicht so richtig. Ich wußte gar nicht, daß es so was gibt, aber für Leute, die etwas von Wissenschaft verstehen, erklärt er das sicher sehr einleuchtend. Aber diese Rechts-Links-Geschichte, also, da weiß ich, daß sie stimmt. Aus Erfahrung, wenn Sie mir glauben.»

Wimsey hielt ihm sein Zigarettenetui hin. Der kleine Mann wollte instinktiv mit der Linken zugreifen, schien sich dann aber zu besinnen und streckte die Rechte aus.

«Da, bitte, sehen Sie. Ich nehme immer die linke Hand, wenn ich nicht lange überlege. Genau wie dieser Plattner. Ich gehe dagegen an, aber es nützt offenbar nichts. Das würde mich aber nicht weiter stören – es ist ja nichts von Bedeutung, und viele Leute sind Linkshänder und denken sich gar nichts dabei. Nein, es ist nur diese furchtbare Angst, daß ich nicht weiß, was ich womöglich alles anstelle, wenn ich in dieser vierten Dimension bin, oder was das sonst ist.»

Er seufzte tief.

«Es macht mir solche angst. Es bringt mich fast um.»

«Wie wär’s, wenn Sie es mir erzählten?» meinte Wimsey.

«Ich rede nicht gern darüber, weil die Leute denken könnten, bei mir wäre eine Schraube locker. Aber es geht mir ganz schön auf die Nerven. Jeden Morgen frage ich mich beim Aufwachen, was ich in der Nacht getrieben habe und ob es auch der Tag im Monat ist, der es eigentlich sein müßte. Ich habe keine Ruhe, bis ich die Morgenzeitung gesehen habe, und nicht einmal dann kann ich sicher sein …

Also gut, ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie es nicht lästig oder aufdringlich finden. Das Ganze fing damit an –» Er unterbrach sich und sah sich nervös in der Halle um. «Es ist niemand zu sehen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Sir, einmal kurz Ihre Hand hierherzulegen –?»

Er knöpfte seine ziemlich geschmacklose zweireihige Weste auf und legte eine Hand auf die Stelle seiner Anatomie, an der man gemeinhin das Herz vermutet.

«Aber gern», sagte Wimsey und kam der Bitte nach.

«Fühlen Sie etwas?»

«Nein, eigentlich nicht», sagte Wimsey. «Was sollte ich denn fühlen? Vielleicht eine Schwellung oder so etwas? Falls Sie aber Ihren Puls meinen, den fühlt man besser am Handgelenk.»

«O ja, da fühlen Sie ihn auch», sagte der kleine Mann. «Aber versuchen Sie es doch jetzt mal auf der andern Seite, Sir.»

Wimseys Hand tastete gehorsam nach der anderen Seite.

«Ja, hier glaube ich ein leichtes Flattern zu spüren», sagte er nach kurzem Schweigen.

«Ja? Aber dort würden Sie es doch eigentlich nicht erwarten, sondern auf der andern Seite, oder? Trotzdem ist es hier. Ich habe das Herz auf der rechten Seite, und das wollte ich Sie mit eigenen Händen fühlen lassen.»

«Ist es Ihnen durch eine Krankheit verrutscht?» fragte Wimsey mitfühlend.

«Sozusagen. Aber das ist noch nicht alles. Meine Leber sitzt auch auf der falschen Seite, und ebenso alle meine übrigen Organe. Ich habe mich von einem Arzt untersuchen lassen, und der hat gesagt, bei mir ist alles verkehrt herum. Den Blinddarm habe ich links – das heißt, da hatte ich ihn, bis man ihn mir herausgenommen hat. Wenn wir jetzt unter uns wären, könnte ich Ihnen die Narbe zeigen. Der Chirurg hat sich ganz schön gewundert, als man ihm das von mir sagte. Hinterher hat er gemeint, es sei ziemlich schwierig für ihn gewesen, sozusagen linksherum operieren zu müssen.»

«Ungewöhnlich ist das sicher», sagte Wimsey, «aber ich glaube, so etwas kommt hin und wieder vor.»

«Nicht so wie bei mir. Das ist nämlich bei einem Luftangriff passiert.»

«Bei einem Luftangriff?» fragte Wimsey fassungslos.

«Ja – und wenn dabei sonst nichts mit mir passiert wäre, würde ich mich noch froh und dankbar damit abfinden. Achtzehn Jahre war ich damals und gerade eingezogen. Vorher hatte ich bei Crichton in der Holborn – Sie haben sicher schon davon gehört, ‹Crichton-Werbung wird bewundert› – in der Packerei gearbeitet. Meine Mutter wohnte in Brixton, und ich war auf einem Urlaub von der Grundausbildung in die Stadt gefahren. Ich hatte ein paar Freunde von früher besucht und wollte zum Abschluß noch abends ins Stoll, mir einen Film ansehen. Es war nach dem Abendessen – ich hatte gerade noch Zeit, in die letzte Vorstellung zu gehen, und kürzte vom Leicester Square über den Covent Garden Market ab. Na ja, und wie ich da so ging – rums! – da fiel eine Bombe, mir direkt vor die Füße, wie mir schien, und dann war es eine Weile nur noch schwarz um mich.»

«Das war doch der Luftangriff, bei dem Odham in Schutt und Asche gelegt wurde, nicht?»

«Ja, es war der 28. Januar 1918. Also, bei mir war, wie gesagt, alles futsch. Als nächstes weiß ich nur wieder, daß ich irgendwo im hellen Tageslicht herumspazierte, um mich her grüner Rasen und Bäume und neben mir Wasser, und wie ich dorthin gekommen war, wußte ich ebensowenig, wie der Mann im Mond weiß, wie er da oben raufgekommen ist.»

«Großer Gott!» entfuhr es Wimsey. «Und Sie meinen, das war die vierte Dimension?»

«Nein, der Hyde Park. Das merkte ich dann, als ich meine fünf Sinne wieder beieinander hatte. Ich spazierte am Ufer des Serpentine entlang, und da stand eine Bank, auf der ein paar Frauen saßen, und in der Nähe spielten Kinder.»

«Waren Sie bei der Detonation zu Schaden gekommen?»

«Es war nichts zu sehen und zu fühlen außer einem großen blauen Fleck an einer Hüfte und Schulter, als ob ich gegen irgendwas geflogen wäre. Ich war ziemlich baff. Verstehen Sie, der Luftangriff war mir völlig aus dem Gedächtnis entschwunden, und ich konnte mir nicht erklären, wie ich hierhergekommen und warum ich nicht bei Crichton war. Ich sah auf die Uhr, aber die war stehengeblieben. Ich hatte Hunger. Ich faßte in die Tasche und fand da etwas Geld, aber es war nicht soviel, wie ich hätte haben müssen – nicht annähernd. Aber ich hatte das Gefühl, etwas zu mir nehmen zu müssen, also verließ ich den Park durch das Tor am Marble Arch und ging in ein Lyons. Dort bestellte ich mir zwei verlorene Eier auf Toast und ein Kännchen Tee, und während ich darauf wartete, nahm ich eine Zeitung zur Hand, die jemand auf einem Stuhl liegengelassen hatte. Tja, und das gab mir dann den Rest. Das letzte, woran ich mich erinnerte, war, daß ich am achtundzwanzigsten aufgebrochen war, um ins Kino zu gehen – und als ich das Datum auf der Zeitung sah, war es der dreißigste Januar! Mir waren irgendwo ein ganzer Tag und zwei Nächte abhanden gekommen!»

«Schock», meinte Wimsey. Der kleine Mann akzeptierte die Erklärung und gab ihr seine eigene Deutung.

«Schock? Das kann man wohl sagen. Es war der Schock meines Lebens! Das Mädchen, das mir die Eier brachte, muß mich für meschugge gehalten haben. Ich fragte sie, was für ein Wochentag sei, und sie sagte: ‹Freitag.› Da gab’s also gar nichts zu rütteln.

Nun, ich will mich bei dieser Geschichte nicht zu lange aufhalten, denn das dicke Ende kommt erst noch. Irgendwie brachte ich mein Essen hinunter, und dann ging ich zum Arzt. Er fragte mich, woran ich mich denn als letztes erinnerte, und ich erzählte ihm von dem Kino, worauf er fragte, ob ich bei dem Luftangriff draußen gewesen sei. Ja, und da fiel mir dann alles wieder ein. Ich erinnerte mich, wie die Bombe gefallen war, dann aber an nichts mehr. Er sagte, ich hätte einen Nervenschock erlitten und ein wenig das Gedächtnis verloren, und so was komme oft vor und ich brauchte mir deswegen keine Sorgen zu machen. Dann wollte er mich noch rasch untersuchen, ob ich irgendwie verletzt worden sei. Er fing also an, mich mit dem Stethoskop abzuhorchen, und auf einmal sagte er: ‹Nanu, Sie haben ja das Herz auf der falschen Seite, junger Mann!›

‹Wie bitte?› antwortete ich. ‹Das höre ich aber zum erstenmal.›

Er hat mich dann also ziemlich gründlich untersucht und mir danach gesagt, was ich Ihnen vorhin sagte, daß nämlich bei mir innen drin alles verkehrt herum sei, und dann wollte er alles mögliche über meine Familie wissen. Ich sagte ihm, daß ich ein Einzelkind gewesen und mein Vater tot sei – er war von einem Lastwagen überfahren worden, als ich zehn war – und daß ich bei meiner Mutter in Brixton wohnte und so weiter. Und er meinte, ich sei ein ungewöhnlicher Fall, aber deswegen brauche man sich keine Sorgen zu machen. Abgesehen von meiner totalen Verdrehtheit sei ich kerngesund, und dann meinte er, ich solle nach Hause gehen und mir ein paar Tage Ruhe gönnen.

Na ja, das tat ich, und danach fühlte ich mich völlig in Ordnung und dachte, damit sei die Sache erledigt – außer daß ich natürlich meinen Urlaub überzogen und in der Garnison einige Mühe hatte, das denen klarzumachen. Ein paar Monate später wurde dann mein Jahrgang an die Front geschickt, und ich bekam noch einmal Abschiedsurlaub. Nun, und in dieser Zeit wollte ich einmal im Corner House an der Strand eine Tasse Kaffee trinken, unten im Spiegelsaal – Sie kennen ihn sicher, wenn man die Treppe hinuntergeht –»

Wimsey nickte.

«All die großen Spiegel ringsum. Als ich zufällig einmal in den Spiegel neben mir schaute, sah ich eine junge Dame, die mich anlächelte, als ob sie mich kennte. Das heißt, ich sah ihr Spiegelbild, wenn Sie verstehen. Jedenfalls konnte ich mir keinen Reim darauf machen, denn ich hatte sie noch nie gesehen, also beachtete ich das nicht weiter, weil ich dachte, sie müsse mich mit irgend jemand anderm verwechselt haben. Außerdem glaubte ich zu wissen, zu welcher Sorte Frauen sie gehörte, obwohl ich damals noch nicht so alt war und meine Mutter mich streng erzogen hatte. Ich schaute also weg und trank meinen Kaffee weiter, als plötzlich eine Stimme ganz dicht neben mir sagte:

‹Hallo, Rotfuchs – willst du mir nicht guten Abend sagen?›

Ich sah auf, und da stand sie vor mir. Sie wäre sogar hübsch gewesen, wenn sie sich nicht so angemalt hätte.

‹Bedaure›, sagte ich ziemlich steif, ‹ich kann mich nicht an Sie erinnern.›

‹Aber Rotfuchs!› sagte sie. ‹Mr. Duckworthy – und das nach Mittwoch nacht!› Und dabei hatte sie so etwas Spöttisches im Ton.

Es störte mich ja nicht so sehr, daß sie mich Rotfuchs nannte, denn so sagt man eben zu einem, der solche Haare hat wie ich, aber daß sie meinen Namen so parat hatte, ich kann Ihnen sagen, das war für mich ein gelinder Schrecken.

‹Sie scheinen zu glauben, wir kennen uns, Miss›, sagte ich.

‹Na, das würde ich wohl meinen, du nicht?› versetzte sie.

So! Ich brauche hier nicht ins einzelne zu gehen. Aus dem, was sie sagte, hörte ich heraus, daß sie glaubte, mich eines Abends kennengelernt und mit zu sich nach Hause genommen zu haben. Und am meisten ängstigte mich, daß sie sagte, es sei in der Nacht des großen Bombenangriffs gewesen.

‹Du warst es›, sagte sie, indem sie mir ein wenig verwundert ins Gesicht starrte. ‹Natürlich warst du es. Ich hab dich doch gleich erkannt, als ich dein Gesicht im Spiegel sah.›

Natürlich konnte ich nicht gut behaupten, daß es nicht so gewesen sein konnte. Ich wußte doch sowenig wie ein ungeborenes Baby, was ich in dieser Nacht angestellt hatte. Aber es hat mich schon furchtbar aufgeregt, denn ich war doch damals ein unschuldiger Jüngling und hatte noch nie etwas mit einem Mädchen gehabt, und darum meinte ich auch, wenn ich so etwas getan hätte, müßte ich doch davon wissen. So hatte ich das Gefühl, etwas Unrechtes getan und für mein Geld nicht einmal den vollen Gegenwert bekommen zu haben.

Ich wimmelte sie mit ein paar Ausflüchten ab und zerbrach mir den Kopf darüber, was ich sonst noch alles angestellt haben mochte. Sie hatte mir über den Morgen des neunundzwanzigsten hinaus auch nichts sagen können, und die Vorstellung, daß ich womöglich noch andere sonderbare Sachen getrieben hatte, beunruhigte mich ein bißchen.»

«Das glaube ich gern», sagte Wimsey und drückte auf den Klingelknopf. Als der Kellner kam, bestellte Wimsey für sie beide etwas zu trinken und richtete sich darauf ein, Mr. Duckworthys Abenteuer zu Ende anzuhören.

«Viele Gedanken habe ich mir dann aber doch nicht mehr darüber gemacht», fuhr der kleine Mann fort. «Wir wurden an die Front geschickt, und ich bekam meinen ersten Toten zu sehen, ging vor meiner ersten Granate in Deckung und bekam den ersten Vorgeschmack vom Grabenkrieg; da hatte ich für die sogenannte Selbstbeobachtung nicht mehr viel Zeit.

Die nächste komische Sache passierte dann im Feldlazarett in Ypern. Ich hatte im September bei Caudry während der Cambrai-Offensive ein schlimmes Ding erwischt – war bei einer Minenexplosion halb verschüttet worden und muß fast vierundzwanzig Stunden bewußtlos dagelegen haben. Als ich zu mir kam, lief ich irgendwo hinter der Front herum und hatte ein böses Loch in der Schulter. Irgendwer hatte es mir verbunden, aber daran hatte ich gar keine Erinnerung. Ich irrte lange umher, ohne zu wissen, wo ich war, bis ich schließlich auf einem Verbandsplatz landete. Dort flickten sie mich zusammen und schickten mich weiter ins nächste Lazarett. Ich hatte ziemlich hohes Fieber und weiß als nächstes erst wieder, daß ich im Bett lag und eine Krankenschwester sich um mich kümmerte. Der Kerl im Bett nebenan schlief. Ich fing ein Gespräch mit dem im übernächsten Bett an, und der sagte mir, wo ich war. Plötzlich wachte der andere auf und sagte:

‹Mein Gott, bist du’s wirklich, du rothaariges Dreckschwein? Was hast du mit meinen Sachen gemacht?›

Ich sage Ihnen, das war wie ein Schlag vor den Kopf. Ich hatte den Mann mein Lebtag noch nicht gesehen. Aber er schimpfte weiter auf mich ein und machte einen solchen Krach, daß die Schwester kam, um nachzusehen, was da los war. Die andern Männer hatten sich in ihren Betten aufgesetzt und spitzten die Ohren – so etwas hatte die Welt noch nicht erlebt.

Was ich von dem Geschimpfe schließlich mitbekam, war in Kürze dies: Er hatte mit jemandem, von dem er behauptete, ich wär’s gewesen, in einem Bombentrichter gelegen, und die beiden hatten eine Weile miteinander geredet, und als er dann schwach und hilflos war, hatte der andere ihm seine Uhr, Geld, Revolver und was sonst noch alles weggenommen und war damit abgehauen. Eine richtige Gemeinheit war das, und ich hätte ihm nicht verdenken können, daß er so einen Wirbel darum machte, wenn es gestimmt hätte. So aber sagte ich mit Nachdruck, daß ich das nicht gewesen sei, sondern jemand anders mit meinem Namen. Er sagte, er erkenne mich wieder – er und der andere hätten einen ganzen Tag zusammen dagelegen, und er kenne jeden einzelnen Gesichtszug von dem andern und könne sich nicht irren. Anscheinend hatte der Kerl ihm aber gesagt, er gehöre zu den Blankshires, während ich anhand meiner Papiere nachweisen konnte, daß ich zu den Buffs gehörte, und schließlich entschuldigte er sich und sagte, daß er sich geirrt haben müsse. Er starb dann sowieso ein paar Tage später, und wir waren uns alle einig, daß er wohl ein bißchen phantasiert haben mußte. Die beiden Divisionen kämpften in dieser Schlacht Seite an Seite, und es war gut möglich, daß sie ein bißchen durcheinandergeraten waren. Ich versuchte hinterher herauszubekommen, ob ich womöglich einen Doppelgänger bei den Blankshires hatte, aber dann wurde ich nach Hause geschickt, und bevor ich mich wieder ganz hochgerappelt hatte, war der Waffenstillstand unterzeichnet, und danach habe ich mich dann nicht mehr bemüht.

Nach dem Krieg kehrte ich an meinen alten Arbeitsplatz zurück, und alles schien sich ziemlich einzurenken. Mit einundzwanzig verlobte ich mich mit einem richtig braven Mädchen und glaubte, alles sei eitel Sonnenschein. Und eines Tages – aus war’s! Meine Mutter war inzwischen gestorben, und ich lebte für mich allein in Untermiete. Na ja, und eines Tages bekam ich einen Brief von meiner Zukünftigen, in dem sie mir schrieb, sie habe mich am Sonntag in Southend gesehen, und das reiche ihr. Zwischen uns sei alles aus.

Nun hatte ich mich dummerweise an besagtem Wochenende nicht mit ihr treffen können, weil ich die Grippe hatte. Es ist schon grausam, so allein und krank in Untermiete zu wohnen und niemanden zu haben, der sich um einen kümmert. Man könnte da einfach sterben, und niemand würde was merken. Ich hatte nur ein unmöbliertes Zimmer, verstehn Sie, und keine Zugehfrau, und so war ich die ganze Zeit mutterseelenallein, obwohl es mir ziemlich dreckig ging. Aber meine Angebetete, die sagte, sie hätte mich in Southend mit einer anderen Frau gesehen, und wollte keine Widerrede gelten lassen. Natürlich habe ich sie gefragt, was sie denn ohne mich in Southend zu suchen gehabt habe, und da war’s dann ganz aus. Sie schickte mir den Ring zurück, und damit war, wie man so sagt, das Kapitel abgeschlossen.

Aber was mich am meisten beunruhigte, war meine Unsicherheit, daß ich nicht einmal wußte, ob ich nicht tatsächlich in Southend gewesen war, ohne es zu wissen. Ich glaubte zwar, ich hätte halb schlafend und krank in meinem Zimmer gelegen, aber daran erinnerte ich mich nur wie durch einen Nebel. Und da ich wußte, was ich zu andern Zeiten schon getrieben hatte – na ja! So oder so konnte ich mich an nichts deutlich erinnern, außer an Fieberträume. Ganz vage konnte ich mich entsinnen, stundenlang irgendwo herumgelaufen zu sein. Im Delirium, dachte ich, aber ebensogut konnte ich im Schlaf gewandelt sein. Auf irgend etwas Konkretes konnte ich mich nicht stützen. Es tat mir sehr weh, meine Zukünftige auf diese Weise zu verlieren, aber darüber hätte ich noch hinwegkommen können, wenn da nicht noch die Angst gewesen wäre, daß ich allmählich den Verstand verlor oder so etwas.

Sie mögen das alles für dummes Zeug halten und sagen, daß ich mit einem andern Mann meines Namens verwechselt worden war, der mir zufällig auch noch sehr ähnlich sah. Aber jetzt will ich Ihnen noch etwas erzählen.

Um diese Zeit fing es an, daß ich furchtbare Träume hatte. Eines hatte mir immer angst gemacht – es hatte mich schon als kleinen Jungen geängstigt. Meine Mutter, die sonst so eine brave Frau war, ging hin und wieder gern ins Kino. Gewiß waren die Filme damals nicht, was sie heute sind, und ich glaube, sie würden uns ziemlich primitiv vorkommen, wenn wir sie noch einmal sehen könnten, aber damals fanden wir sie großartig. Ich glaube, ich war sieben oder acht, als sie mich einmal in so einen Film mitnahm – jetzt fällt mir auch der Titel wieder ein – Der Student von Prag hieß er. Was in dem Film vorkam, weiß ich nicht mehr, aber er handelte von einem jungen Studenten, der sich dem Teufel verkaufte, und eines Tages kam sein Bild eigenmächtig aus dem Spiegel und fing an, schreckliche Untaten zu begehen, so daß jeder glaubte, er sei das gewesen. Zumindest glaube ich, daß es so war, aber die Einzelheiten weiß ich nicht mehr, denn es ist schließlich so lange her. Was ich aber so schnell nicht vergessen werde, ist die Angst, die ich hatte, als ich diese schreckliche Gestalt aus dem Spiegel kommen sah. Es war ein grausiger Anblick, und ich habe geweint und geschrien, bis meine Mutter schließlich mit mir hinausgehen mußte. Monate und Jahre danach habe ich noch davon geträumt. Ich träumte, ich sähe in einen großen, hohen Spiegel, den gleichen wie der Student in dem Film, und nach einer Weile sah ich, wie mein Spiegelbild mich anlächelte, und ging darauf zu und streckte die linke Hand aus, und mein Spiegelbild kam mir mit ausgestreckter rechter Hand entgegen. Und dann drehte es sich plötzlich um – das war der furchtbare Augenblick –, kehrte mir den Rücken zu und ging in den Spiegel zurück, wobei es mich über die Schulter angrinste, und plötzlich wußte ich, daß es der wirkliche Mensch und ich nur das Spiegelbild war, und ich wollte ihm nach in den Spiegel, aber dann wurde alles um mich herum grau und neblig, und ich wachte in Angstschweiß gebadet auf.»

«Höchst unangenehm», sagte Wimsey. «Diese Legende vom Doppelgänger ist eine der ältesten und verbreitetsten, die es gibt, und sie macht mir immer wieder angst. Als ich ein Kind war, hatte meine Kinderfrau eine Angewohnheit, mit der sie mir schreckliche Angst einjagte. Wenn wir fortgewesen waren und sie gefragt wurde, ob wir jemandem begegnet wären, sagte sie jedesmal: ‹O nein – niemand Hübscherem als uns.› Wenn ich hinter ihr her tapste, hatte ich jedesmal eine Heidenangst, wir könnten um eine Ecke biegen und uns plötzlich einem Paar gegenübersehen, das uns auf verteufelte Weise ähnlich sah. Natürlich wäre ich lieber gestorben, als irgend jemandem zu erzählen, in was für eine Angst mich das versetzte. Kinder sind komische kleine Wesen.»

Der kleine Mann nickte nachdenklich.

«Also», fuhr er fort, «etwa um diese Zeit kamen die Alpträume wieder. Zuerst nur in größeren Abständen, aber sie wurden immer häufiger. Schließlich kamen sie jede Nacht. Kaum hatte ich die Augen zu, da war schon der lange Spiegel da, und die Gestalt kam grinsend auf mich zu, immer mit ausgestreckter Hand, als ob sie mich packen und in den Spiegel hineinziehen wollte. Manchmal wachte ich von dem Schrecken auf, aber andere Male ging der Traum weiter, und ich taumelte stundenlang durch eine sonderbare Welt, neblig und dämmrig, mit lauter schiefen Mauern wie in diesem Film von ‹Dr. Caligari›. Reiner Irrsinn war das. So manche Nacht habe ich dagesessen und nicht gewagt, mich schlafen zu legen. Ich wußte ja nichts. Ich schloß immer die Schlafzimmertür ab und versteckte den Schlüssel, vor lauter Angst, daß ich – nun ja, ich wußte eben nicht, was ich womöglich anstellen würde. Aber dann las ich in einem Buch, daß Schlafwandler sich sehr gut die Stellen merken, wo sie im Wach zustand etwas versteckt haben. Also hatte das auch keinen Sinn.»

«Warum haben Sie sich nicht jemanden gesucht, der mit Ihnen zusammenwohnt?»

«Das hab ich ja.» Er zögerte. «Ich lernte eine Frau kennen – sie war ein liebes Ding. Da hörten die Träume auf. Drei Jahre lang genoß ich seligen Frieden. Ich habe sie sehr gern gehabt. Verdammt gern sogar. Dann ist sie gestorben.»

Er trank den letzten Schluck Whisky und mußte ein paarmal mit den Augen zwinkern.

«An einer Grippe. Einer Lungenentzündung. Ich bin fast daran zerbrochen. Und hübsch war sie auch …

Danach lebte ich dann wieder allein. Es war mir arg. Ich konnte nicht – ich wollte nicht –, aber die Träume kamen wieder. Schlimmer. Ich träumte jetzt, daß ich Dinge tat – na ja! Aber das tut jetzt nichts zur Sache.

Und eines Tages passierte es am hellichten Tag …

Ich ging zur Mittagszeit die Holborn entlang. Ich arbeitete immer noch bei Crichton, war inzwischen Leiter der Packerei geworden und kam ganz gut zurecht. Es war ein scheußlicher Tag, erinnere ich mich – düster und regnerisch. Ich wollte mir die Haare schneiden lassen. Auf der Südseite der Straße, etwa auf halber Strecke, ist ein Friseursalon – so einer, zu dem man durch eine lange Passage kommt und auf eine Spiegeltür mit goldener Inschrift zugeht. Sie wissen, was ich meine.

Ich ging hinein. Die Passage war beleuchtet, so daß ich sehr gut sehen konnte. Als ich auf den Spiegel zuging, sah ich, wie mir mein Spiegelbild entgegenkam, und ganz plötzlich überfiel mich dieses scheußliche Gefühl aus meinen Träumen. Ich sagte mir, das sei doch alles Unsinn, und griff nach der Klinke – mit der linken Hand, weil die Klinke auf dieser Seite war und ich immer noch die linke Hand nahm, wenn ich nicht lange überlegte.

Das Spiegelbild streckte natürlich die rechte Hand aus – das war ja ganz in Ordnung so –, und ich sah meine eigene Gestalt in Schlapphut und Regenmantel – aber das Gesicht – o mein Gott! Es grinste mich an! Und dann drehte es mir plötzlich den Rücken zu – genau wie im Traum – und ging von mir weg, wobei es über die Schulter zurückschaute –

Ich hatte die Hand an der Tür; sie ging auf, und ich fühlte nur noch, wie ich stolperte und über die Schwelle fiel.

Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich wachte in meinem eigenen Bett auf, und ein Arzt war bei mir. Er sagte, ich sei auf der Straße in Ohnmacht gefallen, und man habe ein paar Briefe mit meiner Adresse bei mir gefunden und mich nach Hause gebracht.

Ich erzählte dem Arzt alles, und er sagte, meine Nerven seien sehr angegriffen, und ich solle mir eine andere Arbeit suchen und mehr an die frische Luft gehen.

Bei Crichton hat man sich sehr anständig benommen. Ich wurde zur Inspektion der Außenwerbung abgestellt – Sie wissen ja, da fährt man von Stadt zu Stadt und kontrolliert die Reklamewände und meldet beschädigte oder schlecht plazierte Plakate. Man stellte mir einen Morgan zur Verfügung, mit dem ich herumfahre. Diese Arbeit mache ich auch jetzt noch. Mit den Träumen ist es besser geworden. Aber ich habe sie immer noch. Vor ein paar Nächten war es erst wieder soweit. Das war einer der schlimmsten, die ich je hatte. Ich war irgendwo, wo es dunkel und neblig war. Ich hatte den Teufel – mein anderes Ich – aufgespürt und kämpfte mit ihm. Ich fühle jetzt noch, wie ich meine Finger um seinen Hals legte – und mich selbst umbrachte.

Das war in London. In London geht es mir immer schlechter. Dann bin ich hierhergekommen …

Sie verstehen jetzt sicher, warum mich das Buch interessiert. Die vierte Dimension … ich habe noch nie davon gehört, aber dieser Wells scheint sich genau auszukennen. Sie sind doch ein gebildeter Mann. Wahrscheinlich waren Sie auf dem College und so weiter. Was halten Sie denn davon?»

«Wissen Sie», meinte Wimsey, «ich halte es für wahrscheinlicher, daß Ihr Arzt recht hatte. Die Nerven und so.»

«Schon, aber das erklärt doch nicht, daß ich jetzt inwendig so verdreht bin. Sie haben vorhin etwas von Legenden gesagt. Es gibt ja Leute, die meinen, daß die Menschen im Mittelalter eine ganze Menge wußten. Ich glaube zwar nicht an Teufel und so etwas, aber vielleicht waren ein paar davon genauso geplagt wie ich. Ganz bestimmt hätten sie nicht soviel davon geredet, wenn sie es nicht so empfunden hätten, verstehen Sie? Aber ich möchte nur wissen, ob ich nicht irgendwie zurückkommen kann. Ich kann Ihnen sagen, es lastet ganz schön auf meiner Seele. Nämlich, daß ich nie genau Bescheid weiß.»

«An Ihrer Stelle würde ich mir darüber nicht so viele Gedanken machen», sagte Wimsey. «Ich würde weiter viel an die frische Luft gehen. Und ich würde heiraten. Dann wäre jemand da, der Sie im Auge behalten könnte. Und vielleicht würden auch die Träume wieder aufhören.»

«Ja. Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Aber – haben Sie das neulich von diesem Mann gelesen? Der hat seine Frau im Schlaf erwürgt. Nun stellen Sie sich vor, daß ich – es wäre doch furchtbar, wenn einem das passierte, nicht? Diese Träume …»

Er schüttelte den Kopf und starrte gedankenverloren ins Feuer. Wimsey stand nach einem kurzen Schweigen auf und ging in die Bar. Die Wirtin, der Kellner und das Barmädchen standen dort und steckten die Köpfe über der Abendzeitung zusammen. Sie unterhielten sich angeregt, verstummten aber abrupt, als sie Wimseys Schritte hörten.

Als Wimsey zehn Minuten später in die Halle zurückkam, war der kleine Mann nicht mehr da. Wimsey nahm seinen Automantel, den er über einen Sessel geworfen hatte, und begab sich nach oben in sein Zimmer. Langsam und bedächtig zog er sich aus, schlüpfte in Schlafanzug und Morgenmantel, zog die Evening News aus der Tasche seines Automantels und studierte eine Weile aufmerksam einen Artikel auf der ersten Seite. Kurz darauf schien er einen Entschluß zu fassen, denn er stand auf und öffnete vorsichtig die Zimmertür. Der Korridor war leer und dunkel. Er knipste eine Taschenlampe an und ging leise weiter, den Blick auf den Boden geheftet. Vor einer der Türen blieb er stehen und betrachtete ein Paar Schuhe, das zum Putzen dastand. Dann probierte er leise die Tür. Sie war verschlossen. Er klopfte behutsam.

Ein roter Kopf erschien.

«Kann ich mal kurz reinkommen?» fragte Wimsey im Flüsterton.

Der kleine Mann ging zurück ins Zimmer, und Wimsey folgte ihm.

«Was gibt es denn?» fragte Mr. Duckworthy.

«Ich möchte mit Ihnen reden», sagte Wimsey. «Legen Sie sich wieder zu Bett, denn es könnte eine Weile dauern.»

Der kleine Mann sah ihn erschrocken an, tat aber wie geheißen. Wimsey zog seinen Morgenmantel fest um sich, klemmte sich das Monokel ins Auge und setzte sich auf die Bettkante. Er sah Mr. Duckworthy ein paar Minuten wortlos an, dann sagte er:

«Passen Sie auf. Sie haben mir heute abend eine merkwürdige Geschichte erzählt. Aus irgendeinem Grunde glaube ich Ihnen. Möglicherweise zeigt das nur, was für ein Esel ich bin, aber ich bin so geboren, und daran läßt sich jetzt auch nichts mehr ändern. Eine freundliche, vertrauensselige Natur et cetera. Haben Sie heute abend die Zeitung gelesen?»

Er drückte Mr. Duckworthy die Evening News in die Hand und richtete sein Monokel noch starrer auf ihn.

Auf der Titelseite war ein Foto. Darunter stand fettgedruckt und eingerahmt, um es noch deutlicher hervorzuheben:

Scotland Yard möchte dringend mit der oben abgebildeten Person in Verbindung treten, deren Foto in der Handtasche von Miss Jessie Haynes gefunden wurde, nachdem man letzten Donnerstagmorgen ihre Leiche erwürgt auf dem Barnes Common entdeckt hatte. Das Foto trägt auf der Rückseite die Inschrift: «J. H. in Liebe von R. D.» Jeder, der den Mann auf dem Foto erkennt, wird gebeten, sich sofort mit Scotland Yard oder einer anderen Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen.

Mr. Duckworthy blickte auf den Artikel und wurde so weiß, daß Wimsey glaubte, er würde in Ohnmacht fallen.

«Nun?» fragte Wimsey.

«O mein Gott, Sir! O Gott! Jetzt ist es endlich doch passiert.» Er wimmerte auf und stieß die Zeitung schaudernd von sich. «Ich habe immer gewußt, daß so etwas passieren würde. Aber so wahr ich lebe, ich weiß nichts davon.»

«Aber der Mann auf dem Foto sind Sie doch, nicht?»

«Das auf dem Foto bin ich, ja. Aber wie ich dahingekommen bin, weiß ich nicht. Ich hab mich seit Ewigkeiten nicht mehr fotografieren lassen, darauf schwöre ich jeden Eid, außer einmal bei Crichton zu einer Gruppenaufnahme. Aber ich sage Ihnen, Sir, Gott ist mein Zeuge, daß es Momente gibt, in denen ich nicht weiß, was ich tue, und das ist die reine Wahrheit.»

Wimsey nahm das Porträt Zug um Zug unter die Lupe.

«Ihre Nase, also – die steht ein bißchen nach rechts – wenn Sie mir die Bemerkung nicht übelnehmen –, und das tut sie auch auf dem Foto. Das linke Augenlid hängt ein wenig herunter. Stimmt auch. Die Stirn scheint hier auf der linken Seite deutlich einen Höcker zu haben – sofern das nicht beim Drucken passiert ist.»

«Nein!» Mr. Duckworthy schob seine in Unordnung geratene Schmachtlocke beiseite. «Er ist sehr auffällig – und häßlich, finde ich, darum trage ich das Haar darüber.»

Ohne die rote Locke in der Stirn war die Ähnlichkeit mit dem Foto noch verblüffender.

«Mein Mund ist auch schief.»

«Richtig. Zieht sich links ein wenig nach oben. Sehr attraktiv, so ein schiefes Lächeln, finde ich – in einem Gesicht wie dem Ihren. Ich habe schon erlebt, daß so etwas ausgesprochen finster aussah.»

Mr. Duckworthy setzte ein mattes, schiefes Lächeln auf.

«Kennen Sie dieses Mädchen, diese Jessie Haynes?»

«Nicht bewußt jedenfalls. Ich habe nie von ihr gehört – das heißt, ich habe natürlich in den Zeitungen von dem Mord gelesen. Erwürgt – du lieber Gott!» Er streckte die Hände vor sich aus und betrachtete sie traurig.

«Was soll ich machen? Wenn ich fort könnte –»

«Das geht nicht. Man hat Sie unten in der Bar erkannt. Wahrscheinlich wird jeden Augenblick die Polizei hier sein. Nein –» als Duckworthy aus dem Bett zu springen versuchte – «lassen Sie das. Das führt zu nichts und bringt Sie nur in noch schlimmere Ungelegenheiten. Verhalten Sie sich ruhig und beantworten Sie mir ein paar Fragen. Zunächst einmal, wissen Sie, wer ich bin? Nein, woher auch? Mein Name ist Wimsey – Lord Peter Wimsey –»

«Der Detektiv?»

«Wenn Sie es so ausdrücken wollen. Nun hören Sie zu. Wo haben Sie in Brixton gewohnt?»

Der kleine Mann nannte ihm die Adresse:

«Ihre Mutter ist tot. Haben Sie sonst noch Verwandte?» Ich hatte noch eine Tante. Sie kam, glaube ich, irgendwo aus Surrey. Tante Susan habe ich sie immer genannt. Aber ich habe sie seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen.»

Verheiratet?»

«Ja, ja – Mrs. Susan Brown.»

«Schön. Waren Sie schon als Kind Linkshänder?»

«O ja, zuerst schon. Aber meine Mutter hat mir das abgewöhnt.»

«Diese Neigung kam dann nach einem Luftangriff wieder. Und waren Sie als Kind jemals krank – ich meine so, daß Sie einen Arzt brauchten?» «Mit vier Jahren hatte ich die Masern.»

«Wissen Sie noch, wie der Arzt hieß?»

«Ich war im Krankenhaus.»

«Ach so, natürlich. Erinnern Sie sich an den Namen des Friseurs in der Holborn?»

Die Frage kam so unerwartet, daß sie Mr. Duckworthy im ersten Augenblick ganz perplex machte, doch nach einer Weile meinte er, der Name sei Biggs oder Briggs oder so ähnlich.

Wimsey dachte einen Augenblick nach, dann sagte er:

«Ich glaube, das ist alles. Bis auf – o ja! Wie heißen Sie mit Vornamen?»

«Robert.»

«Und Sie versichern mir, daß Sie nach Ihrem besten Wissen nichts mit dieser Geschichte zu tun haben?»

«Ja», sagte der kleine Mann, «das kann ich beschwören. Nach bestem Wissen. O mein Gott! Wenn ich doch nur ein Alibi vorweisen könnte! Das wäre meine einzige Chance. Aber sehen Sie, ich habe solche Angst, daß ich es wirklich getan haben könnte. Meinen Sie – glauben Sie, man würde mich dafür hängen?»

«Wenn Sie beweisen können, daß Sie nichts davon wußten, dann nicht», sagte Wimsey. Er verkniff sich den Zusatz, daß sein Bekannter auch dann wahrscheinlich den Rest seines Lebens im Irrenhaus Broadmoor verbringen werde.

«Und wissen Sie», sagte Mr. Duckworthy, «wenn ich wirklich mein Leben lang herumlaufen und Leute ermorden sollte, ohne es zu wissen, wäre es sogar viel besser, sie würden mich aufhängen und fertig. Es ist eine schreckliche Vorstellung.»

«Schon, aber Sie waren es ja vielleicht gar nicht.»

«Ich kann es jedenfalls nur hoffen», sagte Mr. Duckworthy. «Hören Sie – was ist das?»

«Die Polizei, nehme ich an», sagte Wimsey obenhin. Er stand auf, als es an die Tür klopfte, und rief laut: «Herein!»

Der Wirt, der als erster eintrat, schien ziemlich verdutzt über Wimseys Anwesenheit.

«Kommen Sie nur herein», sagte Wimsey leutselig. «Treten Sie näher, Sergeant; und Sie auch, Konstabler. Was können wir für Sie tun?»

«Bitte», sagte der Wirt, «bitte machen Sie kein Aufsehen, wenn es sich vermeiden läßt.»

Der Polizeisergeant kümmerte sich um beide nicht, sondern ging zum Bett und baute sich vor Mr. Duckworthy auf, der in sich zusammenschrumpfte.

«Das ist der Mann», sagte er. «Also, Mr. Duckworthy, entschuldigen Sie die späte Störung, aber wie Sie wohl schon in der Zeitung gelesen haben, suchen wir die Person, die Ihrer Beschreibung entspricht, und der Augenblick ist günstig. Wir möchten –»

«Ich war’s nicht!» rief Mr. Duckworthy verzweifelt. «Ich weiß nichts davon –»

Der Konstabler zückte sein Notizbuch und schrieb: «Noch bevor ihm eine Frage gestellt wurde, sagte er: ‹Ich war’s nicht.›»

«Sie scheinen ja bestens Bescheid zu wissen», meinte der Sergeant.