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In einem seiner größten Erfolge beleuchtet der Autor chronikartig das Leben in dem kleinen Fischerdorf Börshoop an der Ostsee. Protagonist ist der in der Fremde zu großem Reichtum gelangte Harms, der nicht mehr in seine angestammte Heimat zurück findet.
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Seitenzahl: 526
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Das Börshooper Buch
Robert Seitz
Inhalt:
Robert Seitz – Biografie und Bibliografie
Das Börshooper Buch
Das Börshooper Buch, Robert Seitz
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849636142
www.jazzybee-verlag.de
Deutscher Schriftsteller, geboren am 28. September 1891 in Magdeburg, verstorben am 22. April 1938 in Lörrach. Nachdem Seitz seine Kindheit in Magdeburg und im Harz verbracht hatte, nahm er 1906 eine kaufmännische Lehre in Magdeburg auf. 1909 fand er eine Anstellung als Expedient in der Magdeburger Zichorienkaffee und Schokoladenfabrik Bethge & Jordan. Schon früh zeigte sich Seitz literarisch interessiert und verfasste Gedichte. Durch einen Aufruf in der Magdeburger Presse gab Seitz 1919 den Anstoß zur Gründung der Magdeburger Künstlervereinigung Die Kugel, die von 1919 bis 1923 bestand und der Künstler wie Franz Jan Bartels, Max Dungert und Bruno Beye angehörten. 1921 veröffentlichte Seitz im Magdeburger Karl-Peters-Verlag einen Gedichtband mit expressionistischer Lyrik "Das Herz in den Augen". 1924 wurde Seitz nach Berlin versetzt. Ab 1927 wohnte er in der Künstlerkolonie Wilmersdorf. 1928 gab er seine kaufmännische Anstellung auf und wurde freier Schriftsteller. Seitz schloss sich dem Schriftstellerkreis an, der sich um den Verleger Victor Otto Stomps und dessen 1926 gegründeten Verlag Rabenpresse bildete. Dazu gehörten auch Horst Lange und dessen Frau Oda Schaefer, Peter Huchel, Werner Bergengruen, für kurze Zeit Joachim Maass, Walther G. Oschilewski, Jens Heimreich, Rolf Bongs, Werner Helwig, Eberhard Meckel und Hans Gebser, der in der Schweiz als Philosoph Jean Gebser bekannt wurde. Seitz schrieb ab 1928 für Zeitungen und Zeitschriften diverse Erzählungen und Beiträge, richtete jedoch auch Hörspiele und Opern für den Rundfunk ein. Er arbeitete mit Komponisten wie Paul Hindemith, Werner Egk und Paul Dessau zusammen. 1931 gab er zusammen mit Heinz Zucker die Lyrik-Anthologie "Um uns die Stadt" heraus. Thema der Arbeit, an der 93 überwiegend unbekannte Autoren mitwirkten, war das Verhältnis von Individuum und städtischem Lebensraum. Seitz absolvierte längere Reisen in ländliche Gegenden. Länger lebter er in Ostpreußen, Pommern und Danzig sowie in Dörfern der baltischen Küste. Seine literarische Arbeit wandte sich nun dem Verfassen von Erzählungen und Romanen zu. 1932 gelang ihm mit dem Novellenband "Bauernland" ein großer Erfolg. Auch in seinen weiteren Werken thematisierte er die Probleme der technischen Zivilisation und idealisierte die Natur. 1935 erhielt er für sein 1934 erschienenes Werk "Börshooper Buch" einen Akademie-Preis. Auf einer Reise nach Italien, die Studienzwecken dienen und seine beeinträchtige Gesundheit stützen sollte, verstarb Seitz 1938. Die Stadt Magdeburg hat eine Straße (Robert-Seitz-Straße) nach ihm benannt.
Wichtige Werke:
Das Herz in den Augen, Gedichte, 1921Kashata, Gedichte, 1926Tiere und eine Stadt, Gedichte, 1930Um uns die Stadt, 1931Bauernland, Novellenband, 1932Echo der Ebene, Gedichte, Verlag Die Rabenpresse, 1932Das Börshooper Buch, Roman, 1934Die Häuser im Kolk, Roman, 1935Der Leuchtturm Thorde, Roman, 1935Die Liebe, alt wie die Welt, Roman, 1936Der Ast, auf dem die Engel sitzen, Roman, 1937Wenn die Lamper herunterbrennt, Roman, 1938Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“
Zwischen Meer und See auf schmaler Landenge liegt das Fischerdorf Börshoop.
Wild haben sich die Dünen in das Land gewühlt. Unersättlich ist der Sand. Er frißt die kargen Feldstreifen und schiebt sich lauernd vor gegen die niedrigen Häuser, deren Wände sich unter dem Schilf und Rohr der tiefherabhängenden Dächer ducken. Eine Herde grimmiger Eber, die jäh vorbrechen will, das sind die Dünen von Börshoop.
Welcher Strand ist so einsam wie dieser. Grauer Möwenruf ist über den Wellen, und auf den Sandbergen hebt sich das krächzende Schreien der Krähen.
Auf kahlem Schiff, so erzählt man, wären einst die Menschen hierher gekommen. Verirrte waren es oder Flüchtlinge. Menschen mit hartem Schicksal wie dieses Land. Zähen Willens sind sie geblieben, haben Boote gebaut und die Netze geworfen. Düne und Meer, das war ihre Heimat, denn der Reichtum des Sees und die Fruchtbarkeit der Wiesen und Felder an seinem Rande wurde ihnen von Mächtigeren streitig gemacht, und erst nach vielen Jahren, als die Zeiten milder wurden, gestand man auch ihnen die Gerechtigkeit am See zu. Reiche Jahrzehnte kamen. Voll hingen die Netze von den Fischen des Sees. Freundlichere Häuser wuchsen empor. Kühe hatte man jetzt, und einige Pferde standen in den Koppeln. Auf den Feldern zum See hin war Saat und Ernte, und die Fischer, bisher nur zu Netz und Segel geschickt und zu dem Drehen des Windbocks, wenn die Boote auf den Strand gewunden wurden, waren nun der beiden segnenden Gebärden der Menschen des Landes teilhaftig geworden: des weiten Wurfes der Hand, wenn sie das Korn ausstreut, und des tiefen Schwunges der Arme, wenn sie die Halme im Sensenschnitt niederlegen, damit aus den reifen Körnern die braune Fülle des Brotes werde. Groß über das Ackerland ging die irdische Dreiheit: der Mensch, das Pferd und der Pflug.
Doch das alles blieb nur wenigen vorbehalten, die Verstand hatten, über den Rand des Bootes hinwegzusehen und rasch genug waren, die Grenzen abzustecken.
Eigentlich sind es nur drei Geschlechter gewesen, die alles einheimsten. Sterenbrink hießen sie, Pudmar und Mürk.
Die Sterenbrinks wissen zu heiraten, sagte man rundum. Große Herren waren sie geworden. Ihre Felder reichten bis zu den stolzen Gehöften von Bögerlant auf dem jenseitigen Ufer des Sees. Wenn sie in die alte Stadt Dranshop fuhren, traten sie reich und trotzig auf wie der Adel des Landes. Kriegsdienste nahmen sie, errangen Ehre und Auszeichnung und kamen weit in der Welt umher. Putzige Dinge brachten sie von ihren Fahrten nach Börshoop zurück. Krumme Heidensäbel, bunte Teppiche, Ketten und goldene Münzen. Sie stifteten der Kirche schwere messingene Leuchter und Altardecken, Holzschnitzereien und heilige Bilder. Ihre Grabmäler hatten sie an der steinernen Wand. Hohe Chorstühle stellten sie für sich und ihre Enkel auf. Man nannte sie die Herren von Börshoop, und die Pfarrherren von Bögerlant haben sich allzeit zu ihnen gehalten. Das waren die Sterenbrinks.
Aber die mächtigen Eichen zersplittern und die stolzen Geschlechter vergehen. Nun sind nur noch drei Schwestern da, die diesen Namen tragen. Karla, Syrrha und Vrena. Sie haben ihren Besitz einem Fremden in Pacht gegeben und wohnen in dem Hohen Haus, das ihr Vater sich auf der Rowen Düne bei Börshoop errichten ließ, dort wo der erste Sterenbrink seine armselige Fischerhütte hatte.
Vielerlei Gerede ist über die Schwestern im Umlauf. Unmutig sieht man ihnen nach, wenn sie zu den Festen nach Dranshop fahren. Sie werden das Letzte vertun, sagt man, und man wartet auf die Zeit, wo sie zu Fuß gehen werden. Sie werden das Schicksal der Mürk haben, die schon längst mit ihrem Reichtum fertig sind.
Jöken Mürk, der Alte, sitzt wieder vor kleinem Haus, flickt Netze oder hütet die magere Kuh auf dem Wiesenrain. Er weiß kaum noch, daß seine Vorfahren sich breit machten, herrschsüchtig waren und oft in Unfrieden mit den Sterenbrinks lebten. Das ist viel zu lange her, um es noch an den Fingern herzählen zu können. So schweigt man über das Wenige und vergißt es ganz.
Sein Sohn hatte es in der Armut nicht ausgehalten und war mit Frau und Kindern nach Dranshop gezogen, um dort einen Handel anzufangen. Aber er trug die Schwindsucht in sich und starb über allen Plänen und Hoffnungen. Seine Frau kam mit den Kindern zu Jöken Mürk zurück, einer Tochter, die Wine heißt, und einem Sohn, dem man den Namen Jan gegeben hat. Einige Jahre hat die Frau in Börshoop noch gelebt, aber der Kummer zehrte an ihr und das Herzeleid, und eines Tages mußte Jöken Mürk die Todkranke über den See nach Dranshop rudern, denn sie wollte in der Stadt sterben, wo auch ihr Mann begraben lag. Jan und Wine blieben bei dem Alten und sie fristeten zu dritt mühsam das Leben. So haben die letzten Mürk viel Tränen erfahren, weil das Schicksal alles Schwere für sie aufgespart hatte, das die Vorfahren nicht zu erdulden brauchten.
Nur die Pudmars haben sich durch alle Zeit gehalten. Zwar geht es nicht mehr so wohlhabend und behäbig wie in früheren Tagen, als sie noch in langem Rock, engen Hosen und hohen Schaftstiefeln einherschritten und sonntags breit auf der ersten Bank vor der Kanzel saßen. Aber da sie ihrem Pflug und ihrem Boot treu blieben und nie ehrgeizige Pläne hatten wie die Sterenbrinks oder die Mürks, so hielten sie ihr Gut zusammen und ihr Name hatte noch immer seinen guten Klang.
Jürgen Pudmar konnte zufrieden sein mit dem, was sein Vater ihm hinterlassen hatte.
Doch das Schicksal gibt nichts umsonst, und von den Pudmars hieß es, daß sie alle fünfzig Jahre dem See ein Opfer bringen müßten.
Als Jürgen Pudmar die Tochter eines der reichsten Bauern von Bögerlant heimführte, gab es eine Hochzeit, wie man sie seit Menschengedenken nicht gefeiert hatte. Marie Hingsten war schön, und sie fand sich willig mit dem kleineren Hof und Haushalt der Pudmars ab, denn sie liebte Jürgen und wünschte nichts dringlicher, als ihm eine gute Frau zu sein.
So wäre wohl alles gut und voll Glück gewesen, aber das Schicksal der Pudmars war unerbittlich, und noch ehe Marie ihr erstes Kind zur Welt bringen konnte, ertrank sie in einem Sturm, der jäh über dem See aufbrach.
Monatelang ging Jürgen wie ein Toter einher. Vielleicht wäre damals alles zugrunde gegangen, wenn nicht Maries Vater, Christof Hingsten, der seinen Hof schon dem Sohne überschrieben hatte, zu Jürgen gezogen wäre und sich der Wirtschaft angenommen hätte. Da er sich das Herrschen nicht abgewöhnen konnte, war er mit dem Sohn in Unfrieden gekommen, und der Junge war nun froh, daß er den Alten auf diese Weise los wurde. Christof Hingsten hatte bald das Regiment auf dem Pudmarschen Hofe, und Jürgen ließ ihn gewähren, denn der Schmerz um Maries Tod war noch nicht von ihm gewichen. Der Alte sah bald ein, daß eine Frau fehlte, die das Hauswesen zusammenhielt und so setzte er Jürgen zu, wieder zu heiraten. Aber da er nicht wollte, daß eine Frau auf den Hof käme, die seiner Tochter ebenbürtig wäre und ihn womöglich beiseite drängen würde, suchte er unter den Fischertöchtern ein tüchtiges Mädchen aus, das ohne Ansprüche als Frau auf dem Hofe dienen würde. Jürgen Pudmar willigte schweren Herzens und nur in der Hoffnung auf einen Erben endlich ein und heiratete nach Verlauf dreier Jahre Martha Deep, die Tochter der Mole Deep, die ein kleines Fischerhaus besaß und einen Räucherofen in den Dünen hatte, dessen Ertrag sie nach Dranshop auf den Markt schickte. Ihr Mann war vor Jahren auf dem Meere beim Fischfang umgekommen, und Mole Deep hatte ein hartes Leben. Da sie für ihre Tochter ein besseres erhoffte, so redete sie ihr zu dieser Heirat zu. Sie sah bald ein, daß Martha es in ihrer Ehe nicht leicht hatte, aber nun war es zu spät und man mußte den Himmel bitten, es einmal besser werden zu lassen. Sie selbst kam nur noch selten auf den Hof, nachdem sie sich mit Christof Hingsten seiner Eigenmächtigkeiten wegen erzürnt hatte, und auch ihre jüngere Tochter Hilke, die bei den Schwestern Sterenbrink diente, sprach nur hin und wieder bei Martha mit vor. Ihr Bruder, Peter Deep, aber kam nie. Er war unwillig über diese Heirat, denn er trug von seinen Vätern her die Armut und Rechtlosigkeit der Strandfischer im Blut, die dem Aufstieg und Wohlergehen der Seefischer, zu denen die Pudmars gehörten, feind waren. Viele im Dorfe neideten Martha Deep das Glück, nun auf dem angesehenen Hofe zu sitzen, aber sie taten unrecht daran, denn Martha war nicht glücklich und litt unter dem Gedächtnis, das Jürgen und der alte Christof der toten Marie bewahrten. Auch brachte sie statt des erhofften Sohnes eine Tochter zur Welt, und Jürgen Pudmar, der sie in den Monaten ihrer Schwangerschaft freundlich und fürsorglich behandelt hatte, wurde wieder fremd und zurückhaltend wie in der ersten Zeit ihrer Ehe.
So war viel herbes Leid und kalte Unlust auf dem Hofe der Pudmar und Christof Hingsten tat in seiner herrischen Art das Seinige hinzu, um eine Annäherung zwischen Martha und Jürgen zu erschweren, denn für ihn war noch immer die tote Marie die rechtmäßige Herrin, Martha jedoch nur die dienende Magd, die es als Glück zu empfinden hatte, den Namen tragen zu dürfen, der seiner Tochter bestimmt gewesen war.
Zu jener Zeit kam Rode Harms zurück. Er war lange Jahre auf See gefahren, hatte viele Länder gesehen und es in der Fremde zu Geld gebracht.
Von den Harms ist nicht viel zu erzählen. Der Großvater Robert Harms hatte noch im Hafen von Dranshop gearbeitet und als er auf die Vierzig ging, heiratete er eine Witwe, die einige Ersparnisse besaß. Mit dieser Frau kam er eines Tages über den See nach Börshoop und baute, fast außerhalb des Dorfes schon, sein kleines Haus. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Fischer zu werden, aber das erheiratete Geld reichte nicht aus, sich Rechte an dem See zu erwerben und so täglich eine reiche Beute edler Fische ohne Gefahren heimzubringen. Er mußte ein armer Strandfischer werden wie Per Stieven oder Christian Deep, konnte seine Netze nur auf dem Meere auswerfen und mußte sich mit den Fischen begnügen, die dicht an die Küste kamen, denn sein Boot war nicht seetüchtig genug, um weit hinauszufahren. Aber er hatte sein Handwerk lieb und vererbte diese Liebe auf seinen Sohn, Rudolf Harms, den man wegen seiner Gradheit und ehrlichen Gesinnung in Börshoop schätzte, obgleich sein Vater erst zugewandert war.
Rudolf Harms wünschte nichts mehr, als daß auch sein Sohn Rode Harms sich einmal mit diesem Erbe begnügen möge, aber Rode war immer ein hochfahrender Bursche gewesen, der sich große Dinge in den Kopf setzte und in dessen Gedanken viel zu sehr das bunte Leben der großen Stadt Dranshop rumorte, von dem sein Großvater noch viel zu erzählen wußte.
So hatte Rode Harms von kindauf eine Sehnsucht nach fremden Städten und den Ehrgeiz, aus der Enge des kleinen Fischerhauses herauszukommen.
Rudolf Harms erkannte mit Betrübnis diese Wünsche seines Sohnes, die über das Maß seiner Vorstellung hinausgingen.
Eines Tages kam es zu der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn.
Was sich zu allen Zeiten hart und gewaltsam abspielte, was bei den Großen und Mächtigen oft mit Krieg und Gericht endete, bei den Bescheidengeborenen mit lebenslanger Entfremdung, Tränen und Verwirrung ausgeht, dieser dunkle Bruch zwischen dem Alten und dem Jungen brach auch in das stille Haus der Harms wie eine Hölle. Die Mutter stand in schweigendem Jammer dabei, schlug die Schürze vor die Augen, um ihr Weinen nicht hilflos hinausströmen zu lassen. Alle ihre guten Worte waren lange verbraucht. Stumm war ihr Mund nun geworden und der Schmerz saß tief um die Lippen. Sie zitterte um den Sohn, der sich mit Bitten, Vorhaltungen und schließlich mit Vorwürfen gegen den Vater erhob, und sie zitterte um den Mann, der diesem Sohn wie eine verschlossene Wand gegenüber stand, junges aufschäumendes Verlangen nicht begriff und grübelnd über dieses ihm fremde Begehren sein einfältiges Denken nicht mehr in Gleichklang bringen konnte mit einem unabänderlichen Geschehen.
Rudolf Harms hatte in Jahren harter Arbeit, Gefahren und Entbehrungen seine kleine Welt aufgebaut, und nun stand sein Sohn vor ihm, stark und trotzig, die Hände geballt in der Tasche und schrie: "Ich spuck drauf!"
"Raus!" brüllte der Alte. Seine Faust zitterte, seine Füße, schon zum Sprung bereit, versagten. Er wankte und fiel auf den Stuhl. Die Frau lief hinzu und beugte sich über ihn. Unter ihrem Herzen ging der schwere Atem des Mannes.
In dieser Sekunde, da sie den Sohn verlor und den Mann wie ein todkrankes Kind in ihren Armen barg, wurde diese einfache ängstliche Frau emporgehoben aus dem kleinen Kreis ihrer Wirksamkeit. Sie wuchs zu einer der großen Dulderinnen, die keine Tränen mehr haben, sondern ihren Schmerz wie einen warmen schützenden Mantel über das stählerne Gleichmaß der Tage breiten.
Rode Harms hatte die Türe hinter sich zugeschlagen.
Die Frau erwähnte ihn mit keinem Wort mehr, aber sie betete für ihn, und alle Guttaten, mit denen sie jetzt den Mann umgab, waren wie das Abtragen einer Schuld, die sie für das Kind, das sie geboren hatte, auf sich nahm.
Sie sagte nichts dagegen, als Rudolf Harms eines Tages das Boot verkaufte und sein Leben mit kleinen Arbeiten hinzubringen begann. Sie sorgte dafür, daß das Essen da war, half hier und dort bei den Fischern, lief mit der Trage an den Strand, wenn sie vom Fange heimkehrten, schleppte mühsam die Lasten der Gerätschaften, pflanzte, hackte und jätete auf fremden Feldern gegen geringen Lohn, wusch und besorgte fremde Kinder, flickte fremde Netze und nähte an fremden Kleidern.
Rudolf Harms baute sich aus den Planken eines alten Bootes, das schon jahrelang morsch am See lag, einen Schuppen und in diesem halben Boot, an dessen Holz noch Tang und vertrocknete Wassergräser hingen, saß er stundenlang untätig, sah in das Land und sah nach Dranshop hinüber. Er ging nie wieder an den Strand. Das Meer war für ihn fortgeflossen in eine Welt, mit der er nichts mehr zu tun hatte.
Die Frau überlebte ihn um eine kurze Zeit. Sie begnügte sich mit einer Stube und vermietete die andere an Kiek Möns, eine alte Frau, die vielerlei Wissen hatte, wie man es aus dem Umgang mit der Natur und den Schicksalen eines langen Lebens erfährt. Kiek Möns kaufte später das Haus für eine kleine Summe, die sie Pfennig auf Pfennig durch viele Jahre sich abgekargt hatte, denn Frau Harms wurde leidend und kam in große Not.
Als es mit ihr zu Ende ging, hinterlegte sie bei dem Pastor von Bögerlant den Rest des Geldes, den Krankheit und Begräbnis übriglassen würden, für ihren Sohn Rode, damit er ein Gedenken vorfände, wenn er zurückkäme.
Aber Rode Harms blieb noch lange Jahre in den fremden Ländern, von denen er als Kind geträumt hatte, die er als Jüngling sich ertrotzte, und als Mann mit zähem Willen zwang, auch ihn teilhaftig werden zu lassen an ihren Schätzen.
Nun war er zurückgekommen nach Börshoop, um hier nach Fahrten, Irrungen und Erkenntnissen mit dem Gelde, das er draußen erworben hatte, seinem Leben einen festen Grund zu geben. Vielleicht hatte er sich oft ausgemalt, was sein Vater sagen würde, wenn er mit vollen Taschen einmal heimkehrte, welchen Stolz und welche Bewunderung für ihn die Mutter aufbringen möchte, wie man überhaupt in Börshoop Rode Harms wie einen großen Sohn empfangen würde. Diese Träume waren lange schon abgetan. Man steht eines Tages sinnend da und sagt einfach: "Ich werde einmal nach Hause fahren" – und man gibt keine großen Erwartungen darein, sondern nur die Sehnsucht, wieder über die Schwelle zu schreiten, auf der man als Kind spielte und an der man sich später auf Schritt und Tritt zu stoßen vermeinte. Man will liebe alte Hände noch einmal halten, sich über vertraute greise Gesichter beugen, und die Münder sollen nichts weiter sagen als: Da bist du.
So mag es auch Rode Harms gegangen sein, als er mit vierzig Jahren heimfuhr. In Dranshop erzählte man ihm von dem Tod seiner Eltern und in Bögerlant nahm er die kleine Erbschaft in Empfang, dieses letzte Zeichen einer besorgten Mutter.
Dann eines Abends klopfte er an das Haus, in welchem nun Kiek Möns wohnte.
Er hatte vergessen, daß man in Börshoop die Häuser offen hält, und daß er nur die Türe aufzuklinken brauchte. So wartete er, daß ihm jemand auftäte.
Dreimal mußte er gegen die Türe schlagen, dann erst öffnete Kiek Möns, noch verwundert über das Klopfen. Als sie den Städtischgekleideten sah, wischte sie die Hände an der Schürze ab und knickste unbeholfen. Der Mann griff nur an den Hut und trat an Kiek Möns vorbei in das Haus. Er sagte kein Wort, so erregt war er in seinem Herzen. Die Alte murmelte: "Dich sollte ich doch kennen."
Rode Harms, schon am Herd in der Diele, wandte sich um: "Ja, Kiek Möns, ich bin es."
"Rode Harms", sagte sie ein paarmal leise hintereinander. Sie plapperte den Namen noch vor sich her, als sie die Stubentür nun vor dem Heimkehrenden weit aufmachte.
Rode Harms nahm den Hut ab und trat in die Stube. Er sah auf alle Dinge, aber er kannte weder Tisch noch Bett, weder Stuhl noch den Sessel am Fenster. Auch der fromme Spruch an der Wand und die Uhr waren ihm fremd.
Nur der Spiegel erschien ihm bekannt. Er betrachtete ihn genauer, das halbblinde Glas und den abblätternden Goldrahmen, ausgebuchtet und mit aufgesetztem Schnörkel am oberen Rande. Das war der Spiegel, den sein Vater nach einem guten Fang einmal aus Dranshop mitgebracht hatte.
Nur der Spiegel noch – , alles andere in der Stube stammte aus Kiek Möns' Hausrat. Rode Harms sah in das blinde Glas und er sah einen ernsten Mann darin, dessen Lippen zuckten, obgleich sie fest aufeinander gepreßt waren, und dessen Augen langsam verschwammen. Auf einmal fühlte er, daß sein Blick blinder war als das Glas. Er strich mit Daumen und Zeigefinger hastig über seine Augen, legte die Hände dann zusammen wie ein einfältiges Kind und sagte nichts als: "Ja".
Niemand hatte eine Frage an ihn gerichtet, aber er antwortete, als wäre da eine Stimme gewesen, so wie einst: "Komm rein, es ist schon spät!"
"Nimm Platz, Rode Harms", bat jetzt Kiek Möns.
Sie schob ihm den Sessel an den Tisch und wartete, daß er sich setzte. Aber er blieb noch eine Weile stehen, starrte auf die alten Wände, darüber nun ein anderes Leben lag, starrte auf die Holzdielen, die nun unter anderen Schritten knarrten, und starrte zu dem Fenster hinaus, davor es Abend war. Die aufgehängten Fischernetze, näher zum Ufer hin, hingen wie ein grauer Schleier zwischen trockenen Weidenstämmen und dem wie Zelte aufgeschichteten Rohr.
Kiek Möns war in die Diele gegangen und holte aus dem Schrank Milch, Brot und etwas Butter. Sie stellte alles auf den Tisch.
"Es ist nicht viel, Rode Harms. Aber du sollst willkommen sein!" sagte sie.
Da setzte er sich, aß und trank.
"Nun bist du also da", begann Kiek Möns, als Rode Harms die leere Schüssel beiseite schob.
"Zweiundzwanzig Jahre fort", sagte er wie zu sich.
"Du mußt lauter sprechen, Rode Harms. Wenn man in meinen Jahren ist, summt einem soviel Altes im Ohr, daß das Neue nur schwer noch eindringt."
Sie fuhr mit der Schürze über die Holzplatte des Tisches, denn es lagen ein paar Brotkrumen da, um die Fliegen summten.
"Zweiundzwanzig Jahre war ich draußen", sagte Rode Harms jetzt laut, "es hat sich viel geändert."
"Der Mensch kommt und geht, wir können nichts dagegen tun, Rode Harms." Ihre Stimme zerbrach in einem rauhen Hüsteln. Dann schwiegen sie wieder.
Er hätte wohl gern nach seinen Eltern gefragt und wie sie gestorben wären, aber er fürchtete sich vor dieser Frage.
Kiek Möns sah ihn an und sagte: "Sie haben bei ihrem Sterben nicht mehr aushalten müssen als andere auch. Darüber darfst du ruhig sein. Auch das ist Gottes Lohn, wenn über Not und Kummer die graue Frau das Licht ausdrückt, und die Ewigkeit beginnt. Du bist noch mitten im Leben, Rode Harms, aber wenn einem wie mir das Schwelen schon in den Augen beißt, dann hat man nichts dawider, daß das Licht zu Ende geht. So ist das nun einmal und es ist wohl auch gut so."
"Ich wäre wohl früher gekommen", sagte Rode Harms, "aber man will gern was vor sich bringen, ehe man die Türe wieder aufmacht, aus der man hinausgewiesen wurde. Das ist ein schwerer Stachel, Kiek Möns. Ich habe oft gedacht, warum wohl die Mutter nichts abwenden konnte. Im Anfang hat sie zwar oft zum Guten geredet. Auch zum Vater für mich. Das muß man ihr lassen. Aber später hat sie immer nur für den Alten gesprochen. – Sei doch vernünftig, Junge, das war alles, was sie für mich hatte. Und noch später hat sie kein Wort mehr gehabt. Auch nicht, als der Alte mir die Tür wies. Da drüben auf dem Weg habe ich gestanden und gewartet, daß sie käme und mir ein paar Worte sagen möchte. Aber sie kam nicht. Da bin ich gegangen. Ganz weg. Wußte man denn, zu wem man hier sollte. Ich bin kein weiches Holz, das sich biegt. Nein, das bin ich nicht und keiner kann aus seiner Haut."
Er legte die Hände hart auf den Tisch.
Kiek Möns beugte sich vor: "Bist du bloß gekommen, das Alte aufzurühren?"
Er saß unbeweglich.
"In dieser Stube ist sie gestorben", fügte sie leise hinzu, "da drüben stand das Bett, das weißt du wohl noch."
"Du hast recht, Kiek Möns, lassen wir das ruhen." Rode Harms erhob sich. "Man muß allein seinen Weg gehen, zum Guten oder zum Schlechten. Das alles ist nun so und nicht anders. Du hast schon recht. Ich will nun in Börshoop bleiben. Aber darüber können wir morgen noch reden. Wenn du einen Platz für mich im Hause hast, dann wäre es für heute gut."
"Du kannst drüben in der Stube schlafen, Rode Harms."
Kiek Möns wollte alles herrichten, aber er hielt sie zurück.
"Ich habe meine Sachen noch in Bögerlant", sagte er, "morgen will ich das alles holen. Ich wollte auch bloß bis zum See gehen und erst morgen kommen. Aber dann hat es mich weiter getrieben. Nun ist man also da. Brauchst keine Umstände mit mir zu machen, Kiek Möns. Eine Bank genügt, auf der man sich ein bißchen ausstrecken kann. Ich habe oft hart geschlafen in den Jahren."
"Ein Bett ist noch da. Sollst es schon bequem haben." Sie nahm die Lampe und ging hinaus.
Er blieb in der Diele vor dem Spind stehen und zeigte auf einen Teller. "Da hab ich als Kind von gegessen", sagte er nachdenkend.
"Ja, der ist noch von deiner Mutter. Sie hat ihn immer apart gehalten. Das stimmt schon."
In der Kammer nahm sie einen Schlüssel von der Wand. Sie gab ihn Rode Harms. "Der ist für die Truhe da. Die kennst du wohl auch noch?"
Es war eine rotpolierte wurmstichige Truhe. Sie stand neben dem Ofen und eine Decke war darüber gebreitet.
"Damit sie keinen Schaden nimmt", sagte Kiek Möns, "und du sie so vorfindest, wie deine Mutter sie hinterließ. Ich habe sie nicht geöffnet. Das ist deine Truhe. Sie hat es so gewollt. Schlaf nun gut, Rode Harms, wo du wieder hier bist."
Sie deckte das Bett auf und strich die Kissen glatt. Die Lampe hatte sie auf den Tisch gestellt. "Die kannst du hier behalten. Ich finde mich schon so zurecht, man geht ja lange genug durch das Haus."
Sie sah noch nach, ob genug Öl auf der Lampe wäre. Dann ließ sie ihn allein.
Kiek Möns geht in ihre Stube zurück. Sie setzt sich auf den Stuhl, dem Sessel gegenüber, darauf Rode Harms gesessen hat. Sie hält die Hände unter ihrem schwarzen Tuch aufeinander gelegt. Sie sitzt still da. Dann nach einem Weilchen bewegen sich ihre Lippen. Sie sagt zu dem leeren Sessel hin:
"Du willst nun in Börshoop bleiben, Rode Harms. Möchte es dir nicht zu eng werden. Du bist einmal hinausgegangen aus dem Kleinen, aber es ist nichts größer geworden. Auch sagst du noch, das ist recht und das ist unrecht, und das Recht ist bei mir. Sowas mußt du nicht sagen, Rode Harms. Einer, der heimkehrt, soll die Türe segnen, die sich ihm auftut, er könnte sonst fremder werden, als er jemals war. Deine Mutter hat viel geweint um dich, Rode Harms, und deinem Vater ist es schwer angekommen. Er hat ein langes Sterben gehabt, weil da eine Dunkelheit war, durch die er sich nicht aus dem Leben finden konnte. Du hast nichts getan, ihm das leichter zu machen, Rode Harms. Das wollte ich dir noch sagen, damit du darüber nachdenkst der ewigen Seligkeit wegen und der Zeit, wo dein Fuß noch in dieser Irdischkeit wandelt. Du hast mir nicht die Hand geboten, als du kamst, Rode Harms, so hat es dich gezogen einzutreten. Aber willst du mir die Hand nicht bieten nun, damit dich nichts wieder hinauszieht. Ich bin alt und habe die Füße schon in der Erde. Das ist ein guter Anker vor Unrast."
Während Kiek Möns so vor sich hin ins Leere hineinsprach, klopfte der alte Jöken Mürk an das Fenster, dahinter Licht war. Da aber niemand öffnete, kam er mit Gepolter in das Haus und stieß in der Dunkelheit gegen Kiek Möns, die erschrocken aufgefahren war.
"Du hast Besuch", sagte Jöken Mürk verlegen, denn die Alte war ihm ärgerlich gekommen.
"Rode Harms ist da", antwortete sie kurz.
"Stimmt. Also doch", sagte er. "Dachte es schon. Ging da einer vorbei. Das ist doch Rode Harms, denke ich, wenn meine alten Augen mich nicht im Stich lassen. Ich hätte früher nachgefragt, aber wir mußten erst die Netze leermachen. Jan sitzt noch dabei und Wine. Viel Arbeit und nichts drin. War ein schlechter Fang, Kiek Möns. Schlimme Zeiten. Also der Rode Harms ist wieder da."
Kiek Möns forderte ihn nicht auf, näherzutreten. Sie schwieg überhaupt.
Da bat er: "Hätte ihn gern gesehen. Hab ihn doch immer auf den Knien gehabt, als er kaum übers Boot kucken konnte."
"Er schläft schon", sagte Kiek Möns. – – – "Wo?" – – – "Drüben." – – –
"Nein, da ist noch Licht. Darum habe ich ja geklopft. Dachte schon, daß noch wer im Hause auf ist. Nein nein, er schläft noch nicht."
Die Alte antwortete nicht.
"Man könnte schon noch bei ihm vorsprechen, Kiek Möns. Ich hab ihn doch von Kindsbeinen gekannt. So klein war er damals. Aber nicht wegzukriegen von mir. Kannst es glauben. Den ganzen Tag ging das, Ohm Jöken hin, Ohm Jöken her. Ein Bengel war das! Mit fünf Jahren schon, wenn es hieß, ins Boot, dann er voran. Konnte kaum richtig auf den Beinen stehen und wollte schon mit den Reusen ins Wasser. Wenn ein Fisch zappelte, hättst es mal sehen sollen. Er hatte keine Angst. I bewahre. Der hätte sich vor keinem Hecht gefürchtet Und die Hunde, damit ging er um wie ein Großer. Sie parierten ihm aufs Wort. Der Harras damals, ein bissiger Köter, so ein Bulldogg, mir ist er mal an die Waden gefahren. Aber vor dem Knirps kuschte er. Bloß zu pfeifen brauchte Rode Harms. Und neugierig war er. Alles wollte er wissen. Man hatte das gar nicht alles im Kopf. – Wir sollten doch mal reingehen zu ihm, Kiek Möns. Er wird noch gern ein bißchen schwatzen. Paß mal auf, was er für Augen über mich macht. Was meinst du? Wollen wir oder nicht? Ich meine, wir machens. Das ist eine Überraschung für den Rode Harms. Da freut er sich. Sollst mal sehen. Ich müßte ihn doch nicht kennen."
Ehe Kiek Möns noch groß was erwidern konnte, hatte Jöken Mürk die Tür zur Kammer aufgemacht und steckte den Kopf hinein.
"Liegst schon im Bett, Rode Harms? Rate mal, wer da noch kommt? Haha, das hättest du nicht gedacht, was? Der alte Ohm Jöken Mürk. Kaptän Mürk, wie der olle Andrees immer sagt. Da ist er, mein Junge."
Er war mit diesen Worten in die Kammer getreten, aber Rode Harms war nicht da. Er lag auch nicht im Bett.
"Ja, wo ist er denn, Kiek Möns?"
Die Alte stand hinter Jöken. "Er war doch hier", sagte sie betroffen und wandte sich nach allen Seiten. Die Truhe war zu, die Decke darüber gebreitet und der Schlüssel hing wieder an der Wand. Alles war so wie vorher. "Er war doch hier!" wiederholte sie noch einmal.
"Nun, er wird schon kommen. Wo soll er schon sein, wenn er hier war. Setz dich da hin, Kiek Möns."
"Es hat ihn was aus dem Haus getrieben", flüsterte Kiek Möns und stand ohne sich zu rühren.
Jöken Mürk hatte die Worte nicht gehört. Er saß breit auf dem Stuhl und schlug sich auf die Schenkel:
"Wenn er jetzt aber reinkommt, haha, kucken wird er. Das nenne ich Besuch, wos so spät ist."
Kiek Möns setzte sich nun auch, aber sie sprach nicht. Jöken Mürk wurde immer gesprächiger. Alles was er von Rode Harms wußte, stellte er mit weitschweifigem Wort in die Stille der Stube. Allmählich jedoch wurden seine Worte schwerer und ungefüger. Bald konnte die Zunge sie nicht mehr tragen, schleppte daran und stolperte, denn die Müdigkeit saß dahinter, und das ist ein schlechter Kutscher.
Rode Harms kam nicht und die beiden Alten warteten und waren schon etwas in Schlaf und hatten schwer, ihre Köpfe grade zu halten, und ließen sie zur Seite fallen oder nach vorn, sie wie es sich grad schickte. Manchmal, zuerst, fuhren sie mit einem Ruck hoch, sahen sich an und nickten. Dann aber überließen sie sich dem Schlummer, gnurrten und bliesen den Atem, bis draußen plötzlich im Nachbarhause ein Hund anschlug, ziellos, so wie Hunde zuweilen aus der Nacht heraus bellen. Da schreckten sie hoch, starrten sich an und reckten sich schmerzhaft. Die Lampe brannte niedrig. Es ging auf Mitternacht.
Und Rode Harms war nicht gekommen.
"Da sind wir richtig eingeschlafen", sagte Jöken Mürk verwundert und rieb sich die Knie. "Sollte mans glauben, ist sowas einem schon passiert?"
Sie erhoben sich schwerfällig. Der Schlaf saß in ihren alten Körpern und hatte ihre Gedanken so zugedeckt, daß es ihnen ganz aus dem Sinn war, weshalb sie mitternachts noch nicht in den Kissen lagen. "Sollte mans glauben?" brummelte Jöken Mürk noch immer und tastete sich durch die dunkle Diele. Er trat mit leisem Gestöhn ins Freie, denn seine Glieder waren noch nicht wieder wach. Der Schlaf hatte ihn ganz krumm werden lassen.
"Es ist kein Stern", rief er Kiek Möns hinter der schon geschlossenen Türe zu. "Tatsächlich. Eine Finsternis ist das. Kein Stern." Und er humpelte davon.
Durch das dunkle Börshoop ging Rode Harms. Die schmalen Wege waren leer. Die Häuser lagen still da. Nur ab und zu schlug ein Hund an, wenn der Schritt des Mannes lauter vorüberklang, aber er beruhigte sich bald wieder.
Rode Harms trägt eine Taschenuhr in der Hand. Es ist eine billige Uhr mit zerbeultem Gehäuse. Sie ist stehengeblieben um die Stunde, da Rudolf Harms starb. Die Mutter hat sie nie wieder in Gang gebracht. ›Damit du weißt, wann deines Vaters Stunde war‹ – so stand in dem Brief geschrieben, den Rode Harms obenauf in der Truhe gefunden hatte.
›Geliebter Sohn! Mein Herz geht schlecht und mit der Lunge ist es auch so. Wer weiß, wie es um mich steht. Da sollst du diesen Brief haben, wenn du wieder da bist und ich nicht mehr bin. Ich bete jeden Abend, du möchtest bald zurückkommen, daß ich dich noch einmal sehen kann. Aber ich will dich nicht betrüben mit meinem Herzleid. Wenn du nur gesund bist. Auch darum bitte ich oft den Himmel, er möge es gut mit dir machen.‹
Rode Harms hat den Brief in die Tasche geschoben, aber jedes Wort sitzt fest in seinem Gedächtnis. Es ist so, als spräche eine Stimme in ihm, innig und unbeholfen, so wie jeder Buchstabe hingeschrieben war.
›Auch hätte ich große Freude gehabt, von dir noch einmal zu hören. Aber wie Gott will. Dein Vater war sehr krank die ganze letzte Zeit, ehe es mit ihm zu Ende ging, doch er hat es ohne Aufwallung getragen. Gesprochen hat er nichts mehr. In der Nacht, wo ich ihm das Kissen niedriger legen mußte, forderte er sich die Uhr und hat sie nicht mehr aus der Hand gelassen. Aber bevor der letzte Krampf kam, gab er sie mir und sagte dazu deinen Namen. So sollst du sie nun haben nach seinem Willen. Auch seinen Mantel lege ich mit in die Truhe. Es ist ein guter Stoff und wird noch manches Jahr vorhalten. Auch die Stiefel. Wir haben ihn barfuß in den Sarg gelegt, damit ihm die Füße leicht sind auf seinem letzten Wege. Und eins von den neuen Hemden sollst du auch haben. Das andere haben wir ihm mitgegeben. Ich habe sie im letzten Winter vor seinem Tod genäht. Du magst es vielleicht gut gebrauchen.‹
Und diese andere Stimme in Rode Harms redet weiter, kleine zärtliche Worte, warm wie ein Herdfeuer, und mit einem ängstlichen Aufhorchen darin, ob nicht ein hartes unerbittliches Klopfen sie zerschlagen würde, ehe der letzte Satz gesagt wäre, jene allerletzte Bitte um Segen für den Sohn, der im Zorn gegangen war.
Dunkle stumme Nacht über Börshoop. Warum wird die See nicht laut und wirft sich tobend gegen den Strand. Warum ist das Kreischen der Möwen verklungen und das Krächzen der Krähen. Warum türmen sich keine Wolken auf und werfen Donner und Blitz über den Dranshoper See. Das alles wäre eine Wohltat gewesen für Rode Harms. Vielleicht hätte das Wetter die Stimme überschrien, die aus dem Unfaßbaren zu ihm spricht. Aber die See ist still und der Himmel schlummert in den Dunkelheiten.
"Ich wollte doch kommen, Mutter, aber wußte ich denn – – – ", sagt Rode Harms laut und bricht erschrocken ab. Die Stimme in ihm ist fort. Nur ein Lachen ist über ihm. Er blickt hastig empor. Es ist das Haus der Schwestern Sterenbrink auf der Rowen Düne. Licht ist auf dem Balkon und die Schwestern sitzen zusammen unter gelbem Schirm.
Rode Harms geht langsam weiter. Dann ist ihr Lachen nur noch wie ein ferner Vogelruf.
Vom Strand her kommt ihm ein Paar entgegen, versunken umschlungen. Sie gehen wie Schatten an Rode Harms vorbei, der hinter einen Strauch getreten ist.
"Und wenn deine Mutter hundertmal nein sagt, Hilke, ich hole dich doch", sagt der Mann.
"Sie gibts nie zu, Stim Kaat", sagte das Mädchen.
Und die beiden gleiten vorüber und ihre Stimmen gleiten fort. Über den Sandweg verrinnt es.
Überall ist es der gleiche Trotz und der gleiche Jammer, denkt Rode Harms, wendet sich um und geht zurück. Er biegt vor dem Haus, darin Kiek Möns wohnt und zu dem er heimgekehrt war, jäh ab in die Landstraße.
Die Liebe ist aufgestanden gegen ihn und sie, die alles versöhnen wollte, hat ihn seiner Schuld sich bewußt werden lassen. Er ist einmal in Haß fortgegangen, und er ist das zweite Mal hinausgeschlichen scheu und schuldig vor soviel Gutsein.
Rode Harms geht wieder den Weg zurück nach Bögerlant.
In den Dünen nicht weit von dem Hause der Schwestern Sterenbrink, so daß das Dach ziegelrot sich vor das Dorf stellt und keinen Ausblick nach dem Dranshoper See gestattet, steht der Räucherofen, der Mole Deep gehört. Hartes Gras weht darum, spitze zähe Halme, einige auch mit einem grauen Kranz von Staubfäden, denn es geht in die wärmeren Monate, und über dem niedrigen Birkengestrüpp, das wie ein Zaun den Rauchherd umschirmt, jagen sich weiße Schmetterlinge.
Um diese Zeit taumeln sie lichttrunken oft weit auf das Meer hinaus, flattern ihre Seligkeit über weiße Schaumkronen hin, senken sich lustvoll über silbernen Wellenstreif, bis eine Woge sie hinabzieht, mitreißt und an den Strand wirft in tödlichem Spiel.
Aber vor dem kleinen Räucherofen hält Zeit und Vergänglichkeit still. Da ist kein Tod, der sich wandelt in neue Geburt, kein Wachsen, Werden und Vergehen wechselnder Jahrzehnte. Die Uhr hat hier ihre Zeiger verloren und der Stundenschlag seinen mahnenden Ruf.
Aus rohen Backsteinen gefügt, mit Lehm bestrichen und innen mit Teer gesichert, der glänzend wie Lack den Rauch halten soll, darunter die Feuerstätte aus kreuzweis geschichtetem Buchenholz, so bescheiden in ihrer zeitlosen Einfachheit ist diese Werkstatt, die Mole Deep täglich ein paar Pfennige Verdienst geben soll.
Hier treffen sich die alten Leute von Börshoop, Fischer, deren Knochen zu steif geworden sind für Bootsfahrt und Fischfang, Frauen, die ihren Haushalt an jüngere abgaben und nun die wirblige Schar ihrer Enkel hüten. Wenn man mitten im Tag eine Lust zum Schwatzen hat, setzt man sich vor dem braunen Lehmofen zusammen und erzählt zum aberhundersten Mal Geschichten, die man schon zum hundertsten Mal gehört hat.
Andrees ist der jüngste in diesem Kreise. Er ist erst in den Fünfzigern, aber da er den Räucherofen bedient, weiß er sich als Mittelpunkt und trägt Geschichten zusammen, die er auf den kleinen Märkten der Umgegend hört, wenn ihn Mole Deep zum Verkauf der geräucherten Fische dorthin schickt.
Er hat Flundern und Dorsche aufgereiht, in den Ofen gehängt und die Tür geschlossen. Der Rauch muß nun die Arbeit vollenden.
Er wischt die Hände an der alten Jacke ab und zu gutem Gespräch aufgelegt, sieht er sich um, ob nicht jemand in dem Dünenweg auftaucht. Aber sein Blick wird verdrießlich, denn nur Jakob Tharden, der Schweigsame, geht vorüber. Den Garnsherrn nennt man ihn im Dorf. Das ist ein stolzer Name, denn Herr der Netze genannt zu werden, das setzt schon Hoheit und Würde voraus. Um Haupteslänge überragt Jakob Tharden noch jetzt mit seinen achtzig Jahren die anderen.
Als man ihm diesen Namen gab, krönte man die Armut in Börshoop, jene Armut, die sich nie armselig macht, sondern das harte Brot hinnimmt, ohne eine Bitte zu finden oder ein Wort der Klage.
Ein helles Singen hebt nun an. Alma Stieven geht an den Strand, um ihrem Vater am Boot zu helfen. Vierzehn Jahre ist sie alt, aber es gibt keine Frau in Börshoop, die das Haus besser zusammenhält als sie. Ihre Mutter ist seit Jahren tot. Auch hat das Leben für Per Stieven immer nur einen schmalen Napf gehabt. Da ist Alma der Singvogel über den grauen Tagen.
Und ihr Lied wandert an Andrees vorbei, klingt noch einmal wieder von den Dünen und wird mitgetragen in dem Rauschen der See.
Aber jetzt wird Andrees lebendig. Stim Kaat kommt. Er trägt die langen Wasserstiefel über der Schulter und will wohl mit Per Stieven hinausfahren. Aber das hat Zeit. Der Ärger hängt sich einem wie ein Drahtseil an den Fuß, daß man schleppt und schleppt und nicht loskommt. Stim Kaat schleudert die Langschäfte an die Lehmwand.
"Hol der Teufel die Mole Deep!" und er wirft sich neben Andrees ins Gras, spuckt aus. "Sie hat die Hilke schon düsig gemacht mit ihrem Geklöhn. Aber das sag ich, da gibts nichts! Und wenn die Alte kratzt und schreit! Soll sie ihre Dreier behalten und das Bett. Wir heiraten auf die glatte Hand."
Andrees schiebt den Kopf vor und schielt ängstlich nach allen Seiten.
"Hats denn wieder was gegeben?" flüsterte er.
"Gestern abend. Sie hat Hilke abgefangen. Wir wollten uns am Steg treffen. Das Mädchen war ganz verheult. Sie kann Gott danken, daß sie bei den Fräuleins ist und nicht den ganzen Tag bei dem Drachen im Haus. Seit der Pudmar die Martha hat, ist es ihr wohl in den Kopf gestiegen. Aber so dick sind die Protzen nicht gesät. Ihr Mann war doch auch bloß ein kleiner Fischer."
"Der Hochmut hat sie nicht," sagt Andrees leise, "kannst es glauben. Sie stöhnt und quergelt den ganzen Tag. Das stimmt schon. Aber hochmütig, nein, das ist sie nicht. Seit Christian Deep ertrunken ist, hat sie Angst vor dem Meer." Andrees hat sich dicht zu Stim Kaat gebeugt. "Du kannst dir nicht denken, was sie sich immer für Sorge macht, wenn Peter rausfährt. Dann ist sie gar kein Mensch mehr. Wie ein scheuer Hund schleicht sie rum. Hat sie ihrem Sohn doch einreden wollen, Maurer zu werden. Bloß damit er vom Wasser wegkommt. Lieber sieht sie ihn in Lohn und Brot bei Fremden. So ist die Frau. Das ist bloß die Angst, die an ihr reißt. Nein nein, Stim Kaat, gegen dich hat sie nichts. Ihrethalb könntest du Dünenarbeiter sein, das macht ihr nichts aus, aber deine Betätigung, mußt du wissen, da steckts. Könntest du es nicht an den Nagel hängen? Tüchtige Kerle wie du werden überall gesucht. Geh nach Dranshop, sag ich dir. Da gibt sie dir Hilke mit. Das kannst du glauben."
"Du bist ein Spökenkieker, Andrees. Was du dir so zusammenreimst. Ich sage dir, der Pudmar steckt ihr im Kopf. Meinethalb brauchte sie vor dem Wasser keine Angst zu haben. Wir werden unser Boot schon halten. Da müßte man ja kein Kaat sein. Die sind zäh wie Leder. Sowas frißt das Meer nicht."
"Verrufs nicht", erschrickt Andrees. "Bloß nicht so reden. Du bist ein unbändiges Blut, Stim Kaat. Solltest mal bei dem Garnsherrn in die Lehre gehen. Eben ist er vorbeigekommen. Der hat sein Lebtag den Mund nicht aufgemacht, aber von dir ist jedes zweite Wort eine Versündigung."
Alma kommt angelaufen. Per Stieven will nicht mehr warten. Zu zweit haben sie das Boot und fahren auf Teilung. Auch die Netze haben sie gemeinsam, und seitdem die alte Frau Kaat ihrem Mann im Tode nachgefolgt ist, hat ihr Sohn seine Kammer bei Stieven.
"So, dem Vater pressierts. Habt wohl nen Walfisch gesehen, Alma?"
Stim Kaat nimmt die Langschäfte und geht. "Teufel", flucht er noch.
Die beiden sind kaum in den Dünen verschwunden, als Mole Deep angehastet kommt. Hinter ihr trottet Jöken Mürk, kratzt sich am Ohr und macht Andrees Zeichen.
"Das war doch Stim Kaat eben. Was hat er hier schon wieder rumzuschnüffeln?"
Mole Deep ist einmal ein flinkes Mädchen gewesen, rasch zu jeder Arbeit und mit klarem Verstand. Als Christian sie nahm, konnte er sich keine bessere wünschen. Doch diese Flinkheit ist Unruhe geworden, als hielte sich immer etwas Feindliches für sie im Hinterhalt, das unverhofft vorspringen will und vor dem man ständig auf der Hut sein muß. Ihre Lippen bewegen sich in einem fort, aber es ist nur ein Zucken und Beben, wie bei einem Falter, dessen Flügel durchnäßt und den kein Sonnenstrahl mehr zu trocknen vermag. So flackert Mole Deep durch ihr Leben.
"Stim Kaat", wiederholt Andrees und brummelt etwas dazu.
"Er soll nicht immer der Hilke nachstellen."
"Wir sind auch mal jung gewesen", will Andrees begütigen.
"Willst wohl sagen, daß du auch Liebschaften gehabt hast?"
"Die meinens ernst, Mole Deep, kannsts glauben."
"Auf den hab ich grad für Hilke gewartet. Soll sich das Mädchen wohl schinden und plagen und eines Tages hat ihn das Meer, und was dann?"
"Es bleibt ja nicht jeder draußen. Kuck den Garnsherrn an oder da den Kaptän. Die sind ja auch immer wiedergekommen."
"Bis nach Schweden bin ich gesegelt und drüber raus. So'n Kerl war ich!" versichert Jöken.
"Du mußt dich schon breit machen, Mürk. Aber wo seid ihr denn gewesen in der Nacht, als Christian Deep ertrank? In euren Betten habt ihr gelegen. Und er hat draußen geschrien. Aber keiner war da. Bloß Brink, und der hat gedacht, es war eine Uhl, die schrie. Und da ist er weitergegangen und hat den Mann schreien lassen und schreien. Aber nun hat ihn das Meer selber geholt, und da wird er wohl wissen, wie 'ne Uhl schreit."
Mole Deep jammert und weint. "Peter, Peter", ruft sie ein paarmal halblaut dazwischen. Ihr Sohn kommt ihr wohl in den Sinn, der sich nicht von dem Meer trennen will.
Die beiden Männer stehen hilflos dabei und versuchen, sie zu beruhigen.
"Nun hat es sie wieder," sagt Andrees, "sie muß sich ausweinen, da hilft nichts."
Mit einem Mal ist Mole Deep wieder still, wischt die Augen mit ihrer Schürze und fährt mit dem Handrücken über Stirn und Kinn.
"Hilke solls besser haben. Du darfst das mit Stim Kaat nicht unterstützen, Andrees", sagt sie fast bittend.
"Wo werd ich dir denn zuwider sein, Mole Deep. Ich hab bloß gedacht, wo sich die beiden liebhaben. Aber du bist ja die Mutter."
"Laß nur, Andrees, ich weiß ja auch, Stim Kaat ist ein guter Mensch. Ein bißchen ungebärdig, aber doch guttätig. Und es ist mir ja auch leid um Hilke. Aber siehst du, Andrees, ich möchte sie gern in ein warmes Nest haben. Martha hats ja auch nicht leicht, aber sie hat doch nicht die Sorge, daß dem Mann was zustößt. Pudmar ist doch den ganzen Tag in der Wirtschaft. Was fällt einem da schon an!"
Jöken Mürk denkt: Ob das schließlich nicht was mit dem Rode Harms wäre? Wo er wieder im Land ist, wird er wohl eine Frau suchen. – Und er sagt laut:
"Da ist ja nun einer vor Anker gegangen in Börshoop."
Er zwinkert zu Mole Deep hin, aber die fährt ihn an:
"Willst dich wohl in anderer Leut Sachen drängen, Mürk. Bei mir kannst du keinen Kuppelpelz verdienen. Aber er muß ein Stattlicher geworden sein, der Harms. Wenn man das so hört, was Mürk erzählt."
Andrees hat den Mund auf.
"Ja ja", kichert Mürk.
"Wer sagt denn, daß der wieder hier ist?" fragt Andrees endlich.
"War doch bei Kiek Möns. Wir haben bis Mitternacht aufgesessen."
"Soll mans glauben, Kaptän, Rode Harms ist wieder da?"
"Das will ich dir sagen, Andrees." Jöken Mürk setzt sich zu ihm.
"Er macht gerade, als ob der Millionen mitgebracht hätte." Mole Deep geht ärgerlich fort.
Jöken Mürk will die Geschichte von Rode Harms' Heimkehr erzählen. Er ist damit schon seit dem frühen Morgen von Haus zu Haus gegangen.
Aber plötzlich trat ein Mann aus den Birken hervor. Er trug ein Gestell umgehängt, daran Besen, Bürsten und kleine Gegenstände, wie man sie täglich in der Wirtschaft braucht, befestigt waren.
Man kannte ihn gut. Er hieß Kog, aber die Leute nannten ihn nur den Danziger, denn er war vor Jahren aus jener Gegend zugewandert, hatte Haus und Boot erworben, dann aber, von Mißgeschick verfolgt, beides wieder verloren. Er fristete nun mit seinem kleinen Handel notdürftig das Leben.
"Kommst grade zu paß, Danziger, will eben dem Andrees was berichten. Wirst Augen machen. Denkst immer bloß, wo anders passiert was, aber nicht bei uns. Sollst diesmal dein Maul halten."
"Wird schon was Rechtes sein!" stichelt Kog und blinzelt Andrees zu.
"Was Rechtes, natürlich was Rechtes, so wahr ich Kaptän Mürk bin!"
"Deine Flotte schwimmt wohl hinter Grönland, hä?"
Andrees fahrt mit einem guten Wort dazwischen.
"War nicht so gemeint, Andrees", lacht Kog.
"Nämlich der Rode Harms ist wieder da! Was sagst du nun, Danziger?"
"Hast du ihn denn gesehen, Jöken Mürk?"
"So wahr ich hier sitze. Bei Kiek Möns ist er gewesen. Bis Mitternacht haben wir aufgesessen!"
"Hat einer schon gehört, daß ein Mensch an zwei Orten auf einmal sein kann?" sagt der Danziger. "Nun will ich dir was sagen. Ich habe nämlich mit Rode Harms zusammengesessen!"
Jöken Mürk erschrickt: "Du?"
"Jawohl! Und wenn ich auch bloß der Danziger bin und kein Kaptän, sondern nur ein Besenbinder, aber das soll wahr bleiben: Gestern nacht um Uhrer zwölf habe ich mit Rode Harms leibhaftig gesprochen!"
"Da soll doch – – – ", wettert Mürk, "und wo denn, wenns erlaubt ist?"
"In Bögerlant, Herr Kaptän, in Drüsels Wirtschaft."
"Also das ist ja – – – , Andrees, hörst du, er hat mit Rode Harms zusammen gesessen. Wo ich den Jungen doch auf den Knien gehabt habe! Ist wohl extra deinetwegen hergekommen, Danziger, hä?"
"Glaubs nicht," sagt der, "ich kann meine Worte auch wo anders loswerden, hätte euch sonst was Neues von ihm erzählen können. Da würdet ihr staunen, sag ich euch!"
"Wie er sich aufbläst", ärgert sich Mürk.
"Laß ihn doch erzählen, Kaptän," vermittelt Andrees, "wollen mal hören, was er weiß."
"Also wenn ich dir sage, Andrees – – – ", Jöken Mürk kann sich noch immer nicht beruhigen, aber er ist unsicher und fängt im stillen an, auf Kiek Möns zu zanken, weil er glaubt, daß die ihn an der Nase herumgeführt hat. Vielleicht war Rode Harms gar nicht bei ihr, und sie hat bloß geschwatzt, wie alte Weiber so tun. Das war ein schöner Reinfall, denkt er. Nun, man wird ja hören.
Kog aber fängt gar nicht so schnell an, seine Neuigkeit auszupacken. Er hat das Gestell mit den Bürsten und Besen abgenommen und macht es sich vor dem Räucherofen bequem, stopft die Pfeife und raucht bedächtig.
"Wie gehts denn mit dem Geschäft, Andrees? Ist der Fang gut? Was macht Mole Deep? Ist Hilke noch bei den Sterenbrinks? Von denen hört man ja auch so allerlei. Da ist ein Reeder in Dranshop. Behnke heißt er. Führt ein großes Haus. Da sitzen die Fräuleins wie die Fliegen. Vielleicht denken sie da 'ne gute Partie machen zu können. Es wird auch Zeit, daß sie sich nach was Sicherem umsehen. Man hat gesagt, daß es mit ihnen gar nicht mehr so gut stehen soll. Ihr Pächter ist ein toller Kerl. Spielt und sitzt hinter Frauen her. Der wird ihnen bald alles runterwirtschaften. Du kannst es mal der Hilke stecken, was man so erzählt. Vielleicht haben die Fräuleins ein bißchen Gehör auf sie. Haben sie denn den Kutscher noch, den Frems? Die Älteste kutschiert ja immer selbst. Man sieht ihn gar nicht mehr."
"Der hat jetzt den ganzen Tag im Garten zu tun. Da ist er noch. Er war ja schon beim alten Herrn Sterenbrink."
"Vielleicht wollen die Fräuleins ihn nicht mithaben, wenn sie in die Stadt fahren", sagt Kog, "ja, das ist 'ne alte Geschichte. Manchen sticht das Geld so, daß ers wie die Flöhe wegjagt. In meiner Heimat sagt man immer – – – "
Jöken Mürk unterbricht ihn ungeduldig: "Dein Maulwerk geht wies Fischlaichen. Bloß was Neues kommt ihm nicht vom Mund, was, Andrees? Will wohl ablenken von wegen Rode Harms!"
"Ich denke, Kaptän, du hast ihn selbst gesprochen. Was brauch ich da noch zu erzählen!"
"Nun leg doch schon los", redet Andrees ihm zu. Auch er ist schon ungeduldig geworden.
"Dann sollt ihrs hören. Rode Harms will nämlich hier eine Räucherei aufmachen!"
"Was sagst du?"
"Jawohl! Eine Räucherei, und zwar eine richtige Räucherei, eine Fabrik sozusagen. Funkelnagelneu wird das alles aufgebaut. Da könnt ihr einpacken mit eurem Lehmofen, Andrees!"
Der ist ganz stumm geworden, starrt nur auf den Danziger, und in seinen Augen duckt sich eine bange Angst.
Jöken Mürk aber schlägt die Hände zusammen.
"Das ist eine Idee! So war der Junge immer. Stets ins Große! Also hier in Börshoop. Na, da wird man staunen!"
Und ohne sich weiter um die beiden zu kümmern, stapft er davon. Er ist schon zwischen den Fischerhäusern. Werdet Augen machen, Nachbarn, was Kaptän Mürk euch jetzt für Post bringt. Da soll noch einer sagen, daß man den Rode Harms nicht kennt.
Andrees aber fragt langsam: "Ist denn das wahr, Kog?"
"So wahr ich hier sitze, Andrees. Gestern nacht, es ging schon auf zwölf, und ich sitze noch bei Drüsel an der Tonbank, da kommt Rode Harms rein. Ein bißchen verklammt, als wär ihm was quer gegangen. Aber solch Mensch hat ja auch seine Sorgen. Er kennt mich nicht. Ich bin ja erst nach ihm hierher gekommen. Aber Drüsel hat es mir später erzählt. Er ist vor ein paar Tagen schon mal in Bögerlant gewesen. Da war er beim Pastor, und nachher hat er bei Drüsel mit einem Herrn gesessen, der extra aus Dranshop gekommen war, und da haben sie gezeichnet und geredet. So neugierig konnte ja Drüsel nun auch nicht sein, aber das hat er doch gehört, daß es um eine Räucherei hier geht. Nun, warum nicht, wenn er es richtig anfängt, kann schon ein gutes Geschäft sein. Sowas muß natürlich im Großen aufgezogen werden, und nicht solch Klüterkram wie das hier von der Mole Deep. Hab ich ja immer gesagt. Was soll dabei rauskommen. Und dann der Sohn, der Peter, das ist doch kein Geschäftsmann! Da muß man schon ein bißchen wendig sein! Aber mit Rode Harms, das glaub ich! Wenn einer so in der Welt rumgekommen ist, dann kriegt er solche Sache schon in Schick!"
"Man scheint doch noch nichts Genaues zu wissen", versucht Andrees sich zu trösten.
"Das wird was, paß auf!", und der Danziger hängt seine Bürsten und Besen wieder um. "Ich hab mich hier schon ein bißchen verschwatzt. Die Frauen sind jetzt grade in der Küche. Da trifft man sie am besten. Wollen mal sehen, ob in Börshoop nicht ein paar Pfennige zu verdienen sind."
Nun ist Andrees allein. Er sitzt in sich verloren vor dem kleinen bröckelnden Räucherofen.
Man müßte es mit Mole Deep besprechen, denkt er. Aber noch ist es ja nicht so weit und vielleicht meint es der Himmel doch noch gut und macht einem diese kleine Welt nicht kaputt. Da hat man nun Tag aus Tag ein davor gesessen, auch winters, wenn einem der Schnee an den Schuhen fror. Und nun sollte das auf einmal nicht mehr sein? Wenn das wahr wird, was der Danziger sagt, dann kann man zumachen. Das schluckt einen dann einfach über. Für die Kleinen ist eben kein Platz. So ist das immer gewesen. Und das wird auch so bleiben.
Andrees legt etwas zittrig neue Buchenscheite ins Feuer, sitzt wieder da und horcht manchmal auf, als käme da schon ein Schritt, unaufhaltsam und bedrohlich.
Aber alles ist still, nur die Gräser sprechen. Denn wer sagt, daß die Gräser stumm sind?
Jetzt im Wind klirren und sirren sie, schwirren wie Bienengetön, und nun der Wind stärker über sie hingeht, reden sie wie der gläserne Klang des Libellenflugs.
Bis über die Dünen ist dieses schwingende Geflüster der Gräser.
Einige Tage darauf kam Rode Harms wieder nach Börshoop.
In jener Nacht, als er zum zweiten Male aus seinem Vaterhaus ging, das Herz hinschwankend zwischen dem Bewußtsein seiner Schuld und dem dunklen Aufbegehren um das Recht zu eigenem Willen und Tun, glaubte er, sich auf immer von der heimatlichen Schwelle trennen zu müssen. Segen wird Unsegen, wenn er allzu gütig den andern mit seiner erbarmenden Liebe überschüttet, so daß er klein werden muß vor übermächtiger Güte. Der sonst sichere Schritt stockt und strauchelt, und es ist so, als wäre ein neues Gehen zu lernen.
So empfand es auch Rode Harms vor der Erinnerung, die aus dem Brief der Mutter aufgestiegen war. Er sah nur noch die eigene Schuld und er würde in solchem Augenblick, wenn es ihm noch vergönnt gewesen wäre, die alte liebe Hand streicheln zu dürfen, mit heißen Tränen darüber gestürzt sein, obgleich es nicht seine Art war, einem Gefühl Ausbruch zu geben.
So war er nach jenem Tage in Bögerlant wieder angekommen, hatte die Nacht auf in der Drüselschen Wirtschaft gesessen und war erst schlafen gegangen, als der Wirt verlegen hustete und durch allerlei überflüssige Hantierung andeutete, daß es wohl Zeit wäre, für diesen Abend Schluß zu machen.
Am Morgen darauf in aller Frühe nahm Rode Harms einen Wagen und fuhr nach Dranshop. Er ging unschlüssig durch die Straßen der alten Ordensstadt und kam in das geschäftige Treiben des Hafens. Ein norwegisches Schiff hatte angelegt, und die Ladung wurde durch viele rastlose Hände gelöscht.
Man wird wieder in die Welt gehen, sagte sich Rode Harms, das würde das Beste sein.
Er suchte den Baumeister auf, mit dem er schon seine Pläne für Börshoop besprochen hatte, um nun alles rückgängig zu machen. Hier aber traf er den Reeder Behnke, der schon mit Interesse von Rode Harms' Absicht durch den Architekten gehört hatte und ihn zu der guten Idee beglückwünschte. Er hatte sich in herzlicher Weise mit Rode Harms bekanntgemacht und dieser hatte schnell ein gutes Vertrauen gefaßt. Als er nun zögernd mit seinem Entschluß herausrückte, redete Konsul Behnke begütigend auf ihn ein: "Sie werden doch eine so gute Sache nicht aufgeben, Herr Harms! Denken Sie, wie günstig Börshoop für ein solches Unternehmen liegt. Das Meer, der Dranshoper See mit seinem Fischreichtum. Auch dürfen Sie nicht vergessen, daß eine großzügige Anlage einen bedeutenden Aufschwung für den ganzen Ort bedeutet. Ich sehe Ihnen an, daß Sie der rechte Mann dazu sind. Die Fischer würden durch Sie profitieren und jeder Mensch ist ja seiner Heimat etwas schuldig. Wir sitzen auch schon durch Generationen in Dranshop und lassen das bißchen Verstand, das der Himmel uns gab, unserer Vaterstadt von Nutzen sein. Das ist Menschenpflicht. Ein Mensch wie Sie gehört vielen, weil er für viele denken kann, und hat nicht das Recht, sich in die Welt treiben zu lassen."