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Seitz lebte eine Zeit in Ostpreußen, Pommern und Danzig sowie in Dörfern der baltischen Küste. Vom Leben mit dem Meer aber auch von Entbehrung und Gefühlen handelt dieser Roman.
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Seitenzahl: 344
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Der Leuchtturm Thorde
Robert Seitz
Inhalt:
Robert Seitz – Biografie und Bibliografie
Der Leuchtturm Thorde
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Der Leuchtturm Thorde, Robert Seitz
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849636173
www.jazzybee-verlag.de
Deutscher Schriftsteller, geboren am 28. September 1891 in Magdeburg, verstorben am 22. April 1938 in Lörrach. Nachdem Seitz seine Kindheit in Magdeburg und im Harz verbracht hatte, nahm er 1906 eine kaufmännische Lehre in Magdeburg auf. 1909 fand er eine Anstellung als Expedient in der Magdeburger Zichorienkaffee und Schokoladenfabrik Bethge & Jordan. Schon früh zeigte sich Seitz literarisch interessiert und verfasste Gedichte. Durch einen Aufruf in der Magdeburger Presse gab Seitz 1919 den Anstoß zur Gründung der Magdeburger Künstlervereinigung Die Kugel, die von 1919 bis 1923 bestand und der Künstler wie Franz Jan Bartels, Max Dungert und Bruno Beye angehörten. 1921 veröffentlichte Seitz im Magdeburger Karl-Peters-Verlag einen Gedichtband mit expressionistischer Lyrik "Das Herz in den Augen". 1924 wurde Seitz nach Berlin versetzt. Ab 1927 wohnte er in der Künstlerkolonie Wilmersdorf. 1928 gab er seine kaufmännische Anstellung auf und wurde freier Schriftsteller. Seitz schloss sich dem Schriftstellerkreis an, der sich um den Verleger Victor Otto Stomps und dessen 1926 gegründeten Verlag Rabenpresse bildete. Dazu gehörten auch Horst Lange und dessen Frau Oda Schaefer, Peter Huchel, Werner Bergengruen, für kurze Zeit Joachim Maass, Walther G. Oschilewski, Jens Heimreich, Rolf Bongs, Werner Helwig, Eberhard Meckel und Hans Gebser, der in der Schweiz als Philosoph Jean Gebser bekannt wurde. Seitz schrieb ab 1928 für Zeitungen und Zeitschriften diverse Erzählungen und Beiträge, richtete jedoch auch Hörspiele und Opern für den Rundfunk ein. Er arbeitete mit Komponisten wie Paul Hindemith, Werner Egk und Paul Dessau zusammen. 1931 gab er zusammen mit Heinz Zucker die Lyrik-Anthologie "Um uns die Stadt" heraus. Thema der Arbeit, an der 93 überwiegend unbekannte Autoren mitwirkten, war das Verhältnis von Individuum und städtischem Lebensraum. Seitz absolvierte längere Reisen in ländliche Gegenden. Länger lebter er in Ostpreußen, Pommern und Danzig sowie in Dörfern der baltischen Küste. Seine literarische Arbeit wandte sich nun dem Verfassen von Erzählungen und Romanen zu. 1932 gelang ihm mit dem Novellenband "Bauernland" ein großer Erfolg. Auch in seinen weiteren Werken thematisierte er die Probleme der technischen Zivilisation und idealisierte die Natur. 1935 erhielt er für sein 1934 erschienenes Werk "Börshooper Buch" einen Akademie-Preis. Auf einer Reise nach Italien, die Studienzwecken dienen und seine beeinträchtige Gesundheit stützen sollte, verstarb Seitz 1938. Die Stadt Magdeburg hat eine Straße (Robert-Seitz-Straße) nach ihm benannt.
Wichtige Werke:
Das Herz in den Augen, Gedichte, 1921Kashata, Gedichte, 1926Tiere und eine Stadt, Gedichte, 1930Um uns die Stadt, 1931Bauernland, Novellenband, 1932Echo der Ebene, Gedichte, Verlag Die Rabenpresse, 1932Das Börshooper Buch, Roman, 1934Die Häuser im Kolk, Roman, 1935Der Leuchtturm Thorde, Roman, 1935Die Liebe, alt wie die Welt, Roman, 1936Der Ast, auf dem die Engel sitzen, Roman, 1937Wenn die Lamper herunterbrennt, Roman, 1938Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“ verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein. Im Gesamten ist dieser Text zu finden unter http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Seitz.
Es ging zum Herbst. Der See duftete. Die Luft hing voll Regen. Über die breiten Rücken ruhender Kühe hin waren die ersten Dächer des Dorfes sichtbar.
Unbeweglich stand Sparre, der Kuhhirt, unter dem Weidenbaum. Über ihm, im wirren Geäst, hockte eine Krähe, und ihm zu Füßen lag schläfrig der Hund.
Dann war der rostige Schlag einer Kirchuhr.
Die Krähe stob davon, der Hund reckte sich, und Sparre schob umständlich den Fuß vor.
Vom Weg her kam jetzt ein Lachen und Rufen. Die letzten Sommergäste fuhren ab. Lüßmanns Wagen war vollgepackt mit Menschen und Koffern.
Vor den Türen standen Frauen und Kinder und winkten. Auch einige Männer waren unter ihnen, Laabs der Schuster, Dan Lebbers der Kaufmann und der Gärtner Patzke, der den Sommer über den Badestrand zu beaufsichtigen hatte.
Segelfahrten gibt es in Sureiken und Waldwanderungen. Groß ist der See, und die Wälder ziehen sich weit in das Land hinein. Das hatte man am Meere nicht. Da war nackter steiniger Strand. Quallen kamen und schmieriger Tang, so sagten die Gäste. Das Meer ist unberechenbar. Es hat plötzliche Tiefen. Die Steine werden einem unter den Füßen fortgerissen. Dann ist nur noch Wasser, das nach dem Herzen greift. Stürme brechen jäh auf. Gewitter können tagelang über dem Meer sein. So sagen die Gäste. Aber in Sureiken ist der Sommer angenehm. Man kann im weichen Gras am Ufer liegen, in einem Boot im Schilf ausruhen. Wenn man ins Wasser steigt, ist eine gleichmäßig ruhige Bewegung. Es gibt nichts Lieblicheres als ein Bad in dem See bei Sureiken, sagen die Gäste.
Nun geht es zum Herbst und alles ist Abschied.
Die Leute von Sureiken stehen da, haben kleine Fähnchen in der Hand, die sie hin und her schwenken, und vom Wagen her ist ein Tücherwehen.
Ein kleines seidenes Taschentuch wird am heftigsten geschwenkt. Das gehört der jungen Tänzerin.
Dann ist das große rote Taschentuch des Postmeisters, der jedes Jahr kommt, einen viereckigen weißen Bart trägt und lustige Verse zu dichten versteht. Und es flattert groß zum Abschied der bunte Bademantel der Frau Wullke, die als letzte im Wagen sitzt, weil sie es da am bequemsten hat.
Das ist ein langes, langes Wehen von Tüchern und Fähnchen. Worte flattern dazwischen. Lebe wohl und auf Wiedersehen.
Dann hob Lüßmann die Peitsche. An der Schnur baumelte ein kleiner Blumenstrauß, den die Tänzerin noch schnell gepflückt hatte.
Lüßmann hob die Peitsche, die Pferde zogen an, und der Sommer fuhr aus dem Dorf.
Die Frauen standen noch ein Weilchen und schwatzten.
"Sie war diesmal gar nicht so lustig", sagte Frau Dahl, "wenn ich dran denke, im vorigen Jahr."
Sie meinte die Tänzerin.
"Aber sie hat getanzt, viel getanzt und schön getanzt", schwelgte Frau Laabs.
Frau Dahl bekam Tränen in die Augen: "Nun kommt der Winter."
Sie war die erste, die nach Hause ging, neugierig, was die junge Tänzerin, die bei ihr gewohnt hatte, dieses Mal vergessen haben könnte.
Im vorigen Jahre war es ein gesticktes Täschchen gewesen, das den ganzen Winter hindurch einen feinen Duft ausströmte. Sonntags hatte Frau Dahl es immer aus dem Kasten genommen, vor sich auf den Tisch gelegt und an die lustige Zeit gedacht, als die Boote noch mit bunten Laternen auf dem See fuhren, als der Mohn überall zwischen den Halmen stand, und die junge Tänzerin abends vor der Laube tanzte.
Der Gärtner Patzke war noch zu Dan Lebbers in den Laden getreten. Er trank sein Glas Bier und ließ sich eine Zigarre geben. Vor dem Ladentisch stand der Stuhl, auf dem täglich der alte Postmeister gesessen hatte.
"Ja ja", sagte Patzke, und blickte auf den leeren Platz. Er dachte wohl daran, daß ihn nun vorläufig kein Mensch mehr Himmelhund nennen würde. Er hätte es auch jedem anderen übel genommen, nur der Postmeister durfte sich das erlauben.
›Komm her, Himmelhund, trink!‹ – ›Auf Ihr Wohl, Postmeister!‹ – ›Sauf, Himmelhund, die Böttcher machen neue Fässer.‹ – ›Und die Küfer sind auch nicht faul!‹ – ›Das soll sein! Prost, Himmelhund!‹
So war das Gespräch jeden Vormittag gewesen, jeden Nachmittag und jeden Abend.
Patzke nahm die Mütze ab, die blaue Schirmmütze mit Flagge und Anker auf schwarzem Band.
"Die käme nun also wieder in den Schrank", sagte er. Auch das Messinghorn, das er an der Seite trug, und das Fernglas. Das waren die Zeichen seiner Würde als Badewärter. Mitte Mai wurde das alles aus dem Kasten hervorgeholt, durfte sich ein paar Monate im Sonnenlicht spreizen und verschwand wieder im Schrank, wenn Lüßmann mit den letzten Gästen davonrumpelte.
Dan Lebbers verpackte einige Badeschuhe, die keinen Käufer gefunden hatten. Auch ein paar übriggebliebene Badekappen tat er hinzu. Das alles wurde nun fest verschnürt und auf Lager gestellt bis zum nächsten Jahre.
"Ein guter Sommer", sagte Dan Lebbers, "man kann zufrieden sein."
Die Sommerstuben waren alle vermietet gewesen und auch sonst hatten die Gäste nicht gespart. Der Kaufmann stellte das mit einem Blick auf die leeren Regale fest. Das Dorf würde nun leidlich über den Winter kommen.
Es fiel jetzt ein feiner Regen.
"Nun werden sie noch naß", bedauerte Dan Lebbers. Lüßmanns Gefährt war ein offener Wagen, ein altmodischer Jagdwagen für zwölf Personen. Die beiden letzten Sitze ragten hoch über den anderen heraus. In gleicher Höhe mit ihnen war der Kutschbock, so daß die übrigen Sitze wie in einem Tal gebettet schienen. Lüßmann hatte den Wagen einmal billig gekauft. Er wollte immer schon ein neues Gefährt anschaffen, aber die Sommergäste waren auf diese alte Kalesche ganz versessen, die schließlich genau so zu den Eigentümlichkeiten des Dorfes gehörte wie das Rauchhaus und die Feuerspritze mit ihrer behäbigen Wassertonne.
Über dem See lag milchig grau der Regen. Das jenseitige Ufer war verhangen, man sah kaum die dunklen Boote. Der Regen fraß sich auch in die Bäume, schob sich wie blasser Nebel gegen die Häuser, breitete sich wie ein engmaschiges Netz über die Dorfstraße und lief in dünnen Fäden an den Fenstern hinab. Es war ein wehmütiger Regen, ein Regen, der ohne Ende schien. Da war nun der Herbst.
Patzke ging nachdenklich nach Hause. Er trug Fernglas und Messinghorn in der Hand. Er ging an dem Kirchhof vorbei, der von der Straße nur durch eine niedrige Steinmauer getrennt war. So waren die Toten kaum von den Lebenden geschieden. Die Gräber lagen wie Häuser an der Straße. Abends stand man an der Mauer und erzählte. Da konnten die Toten hören, was sie einmal in ihrer Jugend angestellt hatten. Mitternachts gingen Verliebte zwischen den grünen Gräberreihen. Der Tod hatte nichts Schreckhaftes für sie, er war nur ein anderes Leben. Wenn man bei Dan Lebbers einkaufen wollte, ging man, um den Weg abzukürzen, über den Kirchhof. Der Schulweg der Kinder führte hier entlang und Sonntags der Weg zum Tanz. Dieser Friedhof umgab etwas verwildert die Kirche, deren spitzer Turm weithin sichtbar war. Von der Kirche zum Pfarrhofe mußte man auf Holzbrücken über eine kleine Insel gehen, auf der sich eine gewaltige Eiche erhob. Nach dieser Stelle hatte das Dorf seinen Namen – Sureiken, saure Eiche. Es heißt, daß Mönche vor Zeiten, um die Allmacht ihres Gottes glaubhaft zu machen, auf dieser Insel eine uralte Eiche in wenigen Tagen verdorren ließen. Der alte Baum war gestürzt, aber ein neuer wuchs auf, nicht minder kräftig, unter dessen schattigen Ästen sich die Toten des Dorfes bargen.
Das Dorf selbst war eine lange Straße. Die Häuser der einen Seite wurden vom See begrenzt, die der anderen von weiten Feldern. Nach der Straße hin lagen die Gärten. Im Sommer war es ein bunter blühender Weg. Jetzt standen noch ein paar Sonnenblumen und ein paar Malven und einfarbige Astern, die sich im Regen duckten.
Frau Dahl saß am Fenster und hielt Patzke ein Paar Sandalen entgegen. Holzsandalen mit knallroten Leinenbändern. Es waren die Schuhe der Tänzerin. Frau Dahl klappte sie aneinander. Klapp klapp, das klang wie im Takt.
"Was sie für kleine Füße hat", rief Frau Dahl.
Patzke trat heran und stellte den einen Schuh in seine Hand. Er lachte. Im Regen stand er da und freute sich an dem kleinen Schuh der Tänzerin. Es war wie eine Erinnerung an eine lang vergangene Zeit und war doch erst gestern gewesen, daß diese Schuhe hier zum letzten Male vor der Laube im Takt sprangen.
"Die mußt du gut aufheben", sagte Patzke.
"Ich wickle sie ein", antwortete Frau Dahl.
"Daß bloß nichts herankommt", sagte Patzke noch einmal besorgt.
Dann ging er schmunzelnd weiter.
"Sie hat natürlich die Schuhe vergessen", sagte er zu Haus.
"Ach Gott", erschrak sich Frau Patzke. Sie wußte nicht, was ihr Mann meinte, aber es ist schlimm, wenn man die Schuhe vergißt.
"So klein", lachte Patzke und zeichnete beim Essen mit der Gabel einen winzigen Fuß auf den Tisch.
"Was denn?", fragte Frau Patzke. Er antwortete nicht darauf. Er sah über den Tisch fort zum Fenster hinaus. Draußen fiel noch immer der Regen.
*
Gegen Abend kam Lüßmann von der Bahn zurück. Er hatte einen Mann mitgebracht, ein Fahrrad und einen Rucksack.
"Das gehört zusammen", sagte er zu Dan Lebbers.
"Ein später Gast?" wunderte sich der Kaufmann.
"Er will bleiben", berichtete Lüßmann.
"Wieso?" erkundigte sich Dan Lebbers.
"Jawohl", nickte Lüßmann. Er wußte wohl nichts Genaues.
"Nanu?" sagte Lebbers und blickte nachdenklich zu dem Fremden hinüber.
Lüßmann besann sich. "Er hat wohl ein bißchen Geld." Dan Lebbers lachte: "Also was zu verlieren!" Sein Lachen war etwas gezwungen. Ein Mann kommt mit Geld nach Sureiken? Er will bleiben? – Was will der Mann? Vielleicht ein Konkurrent.
Der Gast, von dem sie sprachen, bemühte sich währenddessen, das Fahrrad vom Wagen zu heben und zu prüfen, ob es nicht Schaden genommen hätte. Dann kam er langsam zu Dan Lebbers in den Laden.
"So eine Bahnfahrt macht einen doch müde, wenn man an Luft gewöhnt ist", sagte er, "ich hätte lieber mit dem Rad fahren sollen."
"So ist's", bestätigte Lebbers.
"Ich kann es wohl im Flur stehenlassen?" fragte der Fremde.
"Hier gibt's Gott sei Dank noch keine Langfinger", sagte Dan Lebbers. Er war ärgerlich über die Frage.
"Es ist nicht überall so gemütlich in der Welt", antwortete der Fremde und setzte sich mit einiger Umständlichkeit. Den Rucksack legte er neben den Stuhl.
Dan Lebbers war hinter den Ladentisch getreten und musterte den Gast, der seinen Blick über die Eßwaren schweifen ließ, die in einem Glaskasten aufbewahrt lagen.
"Man hört so allerhand", nahm der Kaufmann das Gespräch wieder auf.
"Das soll sein", bekam er zur Antwort.
Dan Lebbers lachte: "Dem alten Pittelkow haben neulich in der Stadt die fixen Mädchen hundert Mark abgenommen. Vorher hatte er mit ihnen getrunken. Da hat er nun seine Schweine umsonst gefüttert."
"Wenn's weiter nichts ist", sagte der Fremde gleichmütig.
"Eine Stange Geld!" betonte Dan Lebbers und setzte sich zu ihm an den Tisch. Er wollte noch mehr von Pittelkow erzählen.
Der Gast unterbrach ihn. Er bestellte zu essen und zu trinken.
Dan Lebbers erhob sich mißmutig und holte das Gewünschte. Darauf zog er sich hinter den Ladentisch zurück und hantierte an den Flaschen herum.
Der Fremde sollte nicht glauben, daß er ihn ausholen wollte. Schließlich aber dauerte es dem Wirt doch zu lange.
"Schlechtes Reisewetter heute", begann er wieder, "die Sommergäste können einem leid tun. Heut sind die letzten abgefahren."
"Dann fände man hier wohl leicht eine Stube", meinte der Fremde. "Ihr wißt, daß ich hierbleiben will. Der Mann, der mich herfuhr, hat es Euch wohl erzählt."
"Ihr habt verflucht seine Ohren", sagte Dan Lebbers etwas verlegen.
"Ich hab's zwar nicht gehört", antwortete der Fremde, "aber ich konnt es mir denken. Der Mann – wie heißt er doch –"
"Lüßmann", warf Dan Lebbers ein.
"Richtig, Lüßmann", sagte der Fremde, "er ist alles in einer Person, hat er mir erzählt, Tischler, Fuhrunternehmer und Totenfrau."
"Jawohl, er wäscht auch Leichen", bestätigte Dan Lebbers. "Wovon soll der Mensch in Sureiken leben? Da hat jeder noch seinen Nebenberuf. Sommers werden die Wohnungen an Gäste vermietet und man wohnt selbst im Schuppen nebenan. Nein nein, hier ist kein Geld zu machen."
"Es ist überall das gleiche", sagte der Fremde, "entweder gelingt's einem oder nicht. Mancher kriegt aus zehn Kiefern bloß Brennholz, aber bei manchem langt eine zum Haus."
"So rasch laufen die Hasen nicht", lachte der Wirt, "auch in Sureiken gehört mehr dazu." Er seufzte: "Ihr könnt mir's glauben, man hat's hier nicht leicht. Da kann ich Euch ein Lied singen. Überall soll man Kredit geben. Fragt mal hier herum. Beim Schuster, beim Schneider, beim Schmied. Den ganzen Tag quält man sich und es kommt nichts bei raus." Er setzte sich wieder zu dem Fremden an den Tisch, legte ihm die Hand auf den Arm und fragte: "Ein Wort im Vertrauen, wie seid Ihr denn ausgerechnet nach Sureiken gekommen?"
Der Fremde hatte den Teller beiseite geschoben und sah den Wirt an.
"Einfach auf blauen Dunst", sagte er lustig, "ich hab's an den Knöpfen abgezählt."
"Da habt Ihr Euch aber schön verzählt, Herr", bemitleidete ihn der Wirt. "Zählt lieber noch einmal!"
"Habt Ihr Angst um Euer Geschäft?" lachte der Fremde.
"Ich, wieso? fuhr Dan Lebbers auf. "Das Geschäft besteht schon seine sechzig Jahre. Vorher war's ein Kramladen, ich hab was daraus gemacht. Seit zwanzig Jahren hab ich den Laden. Nein, uns hebt keiner so leicht aus dem Sattel. Sehen Sie, hier ist das Geschäft, und nebenan das Pensionshaus, das gehört auch dazu. Eine kleine, aber prima Wirtschaft: drei Kühe, acht Schweine. Na, wie steht man da?"
"In Sureiken ist also doch etwas zu verdienen", meinte der Fremde.
Dan Lebbers sah betroffen aus. "Wenn man hinterher ist", gab er zu.
"Also bleiben wir in Sureiken", entschied der Mann, zahlte und stand auf.
"Wo wollt Ihr denn über Nacht bleiben?" fragte der Wirt erstaunt.
"Ich hab hier Verwandtschaft", sagte der Gast.
"Also darum", antwortete der Wirt, "und wen, wenn man fragen darf?"
"Weshalb nicht? Es hängt keine Unehre daran. Ich hab hier einen Oheim. Kars –"
"Den alten Iben Kars?" unterbrach ihn Dan Lebbers.
"Derselbe", bestätigte der Fremde.
"Da will ich Euch was sagen", riet Dan Lebbers, "geht lieber erst bei Tag vorbei und fragt an, ob's genehm ist. Zur Nacht könnt Ihr ihm nicht ins Haus fallen." Dan Lebbers lachte.
"Das müßt Ihr schon deutlicher machen", sagte der Gast.
Der Wirt blickte ihn erstaunt an. "Wißt Ihr nicht, daß er vor kurzem erst wieder geheiratet hat?"
"Kein Wort", murmelte der Fremde. Er setzte sich wieder.
"So ist's", fuhr Dan Lebbers fort, "seine Magd hat er geheiratet, die Lisa. Ein gutes, zuverlässiges Mädchen. Sie war schon, ehe die Frau starb, bei ihm im Dienst. Ausgang Juni haben sie geheiratet. Ich weiß nicht, ob sie schon vorher was miteinander gehabt haben."
"Der alte Kars hat geheiratet? Er geht doch schon auf die Siebzig", wunderte sich der Fremde.
"Achtundsechzig, aber so!" sagte der Wirt und schlug mit der Faust auf den Tisch. Dann ließ er die Hand durch die Luft schnellen und pfiff dazu. "Damit war er immer rasch bei der Hand. Er hat manche Klage deswegen gehabt. Nun, Ihr werdet ja Euren Onkel kennen!"
"Bloß vom Hörensagen", antwortete der Gast. "Mein seliger Vater hat mir manches von ihm erzählt. Ich selbst war noch nie in Sureiken."
"Eben", meinte der Wirt nachdenklich, "dies Gesicht ist mir doch ganz fremd, aber jetzt, wo Ihr sagt, daß Ihr der Neffe seid, möchte ich meinen, es wäre eine gewisse Ähnlichkeit. Aber der alte Kars ist gut seinen Kopf größer, das heißt, Ihr seid auch nicht klein."
Bei diesen Worten hatte Dan Lebbers zwei Gläser mit Bier gefüllt und lud den Fremden ein.
"Da seid Ihr also nicht fremd hier", sagte er, "darauf wollen wir trinken."
Sie stießen an. "Ich will Ihnen einen Rat geben, Herr Kars, so darf ich wohl sagen?"
Der Gast nickte. "Christian Kars", sagte er.
"Also Herr Kars, wenn ich Ihnen einen Rat geben kann, ich werde oben für Sie ein Zimmer zurechtmachen lassen, und Sie bleiben die Nacht hier. Morgen können Sie dann weiter sehen."
Dan Lebbers hatte auf einmal Interesse an dem Fremden.
"Übrigens, wissen Sie, hab ich Ihren Vater gekannt. Hieß er nicht – warten Sie mal – Jürgen? Richtig, Jürgen Kars! Sehen Sie! Er war vor ein paar Jahren mal hier zu Besuch. Hatte er nicht so etwas wie eine kleine Bootswerft? An der Weichsel, glaub ich, stimmt's? Sehen Sie, na, da kenn ich ihn ganz genau. Er hat hier oft vorm Ladentisch gesessen. Ein guter, freundlicher Mann. Nun ist er also auch hinüber. Ja ja, das ist Menschenlauf. Wann hat er denn das Zeitliche gesegnet?"
"Vor drei Jahren schon", sagte Christian Kars.
"Also das war ja dann gleich nachher. Er sah damals auch schon kränklich ans. War's nicht Rheumatismus? Das legt sich leicht aufs Herz. Also vor drei Jahren. Eine kleine Ewigkeit. Nun dürfen Sie's mir aber nicht übelnehmen, Herr Kars, wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, ich meine, hier mit Ihrem Onkel?"
"Ich bin jahrelang auf See gefahren", antwortete Christian Kars.
"Na ja, natürlich", unterbrach ihn der Wirt. "Nun haben Sie's satt, die Seefahrerei! Natürlich, man kommt in die Jahre, wo man gern vor Anker geht. Wissen Sie, ich kenn einen Haufen Seeleute! Wenn die Ischias kommt, machen sie 'ne Kneipe auf. Na ja und natürlich, man geht dann nicht gern in ein wildfremdes Nest. Sie denken nun, Sie haben hier Ihren Oheim. Man setzt gern den Fuß zuerst auf eine bekannte Schwelle, ist's nicht so? Besonders, wenn man sich in der Welt rumgetrieben hat."
"Stimmt", antwortete Christian Kars, "fährst nach Sureiken, sagte ich mir, dahin bist du verwandt. Mein Vater hielt große Stücke auf den alten Kars. Er hat mir viel von ihm erzählt."
"Ihr Vater war eine Seele von Mensch", sagte Dan Lebbers, "das kann ich mir denken. Er wird bloß Gutes von Iben Kars gesagt haben. Ihr Vater hat von allen Menschen das Beste gedacht. Glauben Sie's mir, Herr Kars, ich weiß es. Ich entsinne mich jetzt ganz deutlich. Hier hat Ihr Vater gesessen. Wir haben oft zusammen gesprochen. Er war ein Mensch, den man nicht wieder vergißt. Sie sehen ja, er ist mir noch ganz gegenwärtig."
"Dann wird sein Gedächtnis mir wohl eine gute Aufnahme schaffen", sagte Christian Kars.
"Selbstverständlich, ganz ohne Frage", fiel der Wirt ein. "Aber kennen Sie die Menschen? Aus den Augen, aus dem Sinn, und wenn einer ganz und gar tot ist –! Wissen Sie, Herr Kars, mein Vater sagte immer, du darfst von den Menschen nicht zuviel verlangen. Es ist schon genug, wenn sie dir auf 'nen Taler richtig rausgeben. Wenn's Ihnen auf meinen Rat ankommt, Herr Kars, ich steh Ihnen natürlich zur Verfügung. Man kennt hier Land und Leute! Wer kauft schließlich nicht bei Dan Lebbers! Also auf mich dürfen Sie schon rechnen. Wie ich vermute, wollen Sie sich hier eine Existenz gründen?"
"Stopp", lachte Christian.
Der geschwätzige Wirt überhörte den Einwurf – "Ich will mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht kann ich Ihnen was Gescheites vorschlagen. Lachen Sie nicht, Herr Kars. Auch ein Gastwirt kann mal einen guten Einfall haben, und wenn er ganz und gar noch Kaufmann ist. Hahaha! Schließlich sind wir ja keine Fremden. Ihr Vater hat schon hier gesessen. Also Sie bleiben die Nacht da, Sie sind mein Gast!"
"Davon kann keine Rede sein", wehrte Christian.
"Dann gut", antwortete Dan Lebbers, "sagen wir, 'nen halben Taler. Das ist doch nicht zuviel?"
Er war schon mit dem Kopf aus der Tür und gab seine Anordnungen nach draußen. "Berta", rief er, "Zimmer fünf!"
Christian Kars überließ sich der Fürsorge des Wirtes. Er begann sich gemütlich zu fühlen, ging langsam durch den Laden, betrachtete prüfend dieses und jenes und nahm schließlich die Zeitung.
Es wurde jetzt auch lebendig bei Dan Lebbers. Patzke kam, um sein abendliches Bier zu trinken, und Ebers, der Photograph, war bei ihm. Auch er wäre schon heute abgefahren, aber es gab noch ein paar Aufnahmen zu entwickeln und mit der Post zu versenden.
Ebers war ein kurzatmiger runder Mann, der in der Welt herumgekommen war. Während der Sommermonate wohnte er bei dem Fischer Kloth. Er hatte sich dort ein kleines Atelier eingerichtet. Seit sieben Jahren kam er schon nach Sureiken. Ein paar Tage, ehe die ersten Sommergäste eintrafen, erschien Ebers mit Kasten, Stativ, Platten und Säuren. Er war verliebt in die Landschaft. Jeden Tag ging er mit dem Apparat an den See, um endlich eine Aufnahme zu machen. Aber jedesmal kam er unverrichteter Dinge zurück. "So schön wird's auf dem Bild doch nicht", sagte er, "es ist Sünde."
Nun setzten sich die beiden Männer zu Christian Kars. Es stand nur der eine Tisch im Laden.
"Diesmal hat sie die Schuhe vergessen", sagte Patzke zu Ebers, "so klein." Er zeigte die Größe mit Daumen und Zeigefinger. "Ich hab zur Dahl gesagt, daß bloß nichts dran kommt." Dann lachte er: "Hab mir schon was ausgedacht fürs nächste Jahr. Ich werde die Schuhe in einen Blumenstrauß stecken und der Postmeister soll mir einen Vers machen. Das gibt 'nen Spaß."
"Wenn sie bloß vorher nicht um die Schuhe schreibt", sagte Ebers.
"Das wird sie doch nicht!" Patzke war ganz erschrocken. Dann wendete er sich zu Christian Kars und erklärte ihm:
"Sie ist Tänzerin. Sie tanzt sogar in der Hauptstadt. Das Mädchen kann was. Sie nennt sich Emita, in Wirklichkeit heißt sie Rosa. Es ist ihr Künstlername. Hast du nicht ein Bild da?" fragte er Ebers.
Ebers zögerte. Er überlegte, ob er das Bild, das er zwischen Versicherungsscheinen und Geschäftsbriefen in der Seitentasche trug, hervorholen sollte. Er hatte sich heimlich einen Abzug gemacht. Den trug er nun bei sich, wie man eine letzte Sommerblume in ein Buch legt. Eigentlich hatte er die Tänzerin um ihre Unterschrift bitten wollen. Sie würde es ihm sicher nicht abgeschlagen haben, aber dann hätte er zugeben müssen, daß er ohne ihr Wissen sich das Bild verschafft hatte. Das aber wollte er nicht eingestehen. Ein Geschäftsmann muß korrekt sein, damit die Kundschaft das Vertrauen behält.
So sagte Ebers jetzt: "Ich hab leider kein Bild von ihr zurückbehalten, aber im nächsten Jahre wollen wir sie darum bitten. Es ist doch schön, wenn man eine Erinnerung hat."
Christian Kars interessierte sich nicht für die Tänzerin. Er hatte auf Patzkes Erklärung nicht geantwortet. Patzke ärgerte sich darüber:
"Es war auch eine Frau Wullke hier, die wog zwei Zentner." Er sagte das so, als wollte er damit andeuten: vielleicht interessiert dich das.
"Der Mensch kann nichts dafür, wenn er Leib hat", sagte Ebers, "ich war früher auch schlank wie 'ne Tanne."
"Das sollte auch nicht gesagt sein", erwiderte Patzke. Er wartete darauf, daß Christian Kars sich an dem Gespräch beteiligen würde. Er hätte ihn wohl auch gerne nach Woher und Wohin gefragt. Aber Christian verhielt sich still hinter der Zeitung.
"Es ist schön hier in Sureiken", wandte sich nun Ebers zu ihm, "ich bin weit herumgekommen, aber ich sage immer, Sureiken bleibt Sureiken. Wenn hier so ein goldner Sommerabend ist und drüben das Ufer, – da geht nichts drüber. Ich bin immer wieder von neuem entzückt, trotzdem ich doch allerlei gesehen habe. Auch mal ein Nordlicht auf der Insel Ösel. Es war wie ein Dom von Licht."
Patzke wollte ihn unterbrechen. Er hatte diese Schilderung schon oft gehört. Doch Ebers war begeistert:
"Zuerst war es bloß ein heller Schein, aber dann wölbte er sich und strahlte in allen Farben. Man stand darin wie in einem großen Raum." Seine Stimme klang gerührt über so viel Schönheit. Auch schienen ihm Tränen in die Augen zu treten. Patzke stieß gegen sein Glas und sagte: "Prost!" Er atmete auf, weil Berta, das Mädchen, hereinkam und in Ebers' Schilderung hineinrief: "Das Zimmer ist fertig!"
Patzke sah neugierig auf Dan Lebbers.
"Herr Kars übernachtet hier", erklärte der Wirt.
"Kars?" rief Patzke, "Kars? Doch nicht etwa –"
"Allerdings", sagte Dan Lebbers, "der Neffe!"
"Was, der Neffe? Der Neffe vom alten Kars? Wie kommen Sie denn hierher?" Patzke war in Aufregung geraten. Das war ein größeres Ereignis als die Abreise der Gäste.
"Herr Kars will in Sureiken bleiben", berichtete Dan Lebbers. Man merkte ihm die Genugtuung an, eine solche Nachricht verbreiten zu können.
"Ei du Donner", erstaunte Patzke. Er rieb sich ein Weilchen die Nase. Dann sagte er zu Christian Kars: "Sie müssen den Alten wie ein rohes Ei behandeln. Er hat keine Kinder, und da könnte er denken –"
Weiter kam Patzke nicht, Christian Kars hatte sich erhoben und sagte: "Guten Abend." Er ließ sich den Zimmerschlüssel geben und ging.
"Nun, wenn der Mensch keinen Rat annehmen will!" Patzke zuckte die Schultern.
"Ich fürchte auch, daß er's sich leichter denkt", sagte Dan Lebbers, "der Alte ist das Mißtrauen selbst, besonders, wenn man mit leeren Händen kommt. Nach Geld sieht der Neffe nicht aus. Er hätte zwar ein paar Ersparnisse, hat Lüßmann vorhin gesagt, aber was gilt ein Fingerhut bei vollen Säcken! Er will sich hier eine Existenz gründen. Ich meine, man kommt nicht mit 'nem Batzen Gold nach Sureiken. Das kriegt man auch woanders klein."
"Selbständig will er sich hier machen?" fragte Patzke, "hat er sich denn näher darüber ausgedrückt?"
"Er scheint noch nicht zu wissen, was", antwortete Dan Lebbers "er hat mich um Rat gebeten. Schließlich kennt man hier Land und Leute." Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: "Da ist gerade das Wetzelsche Grundstück zu kaufen. Man könnte da eine Gärtnerei anlegen. Gemüsebau, so was rentiert sich immer."
Er trank Patzke zu. Dabei stieß er Ebers in die Seite: "Paß auf, jetzt geht der kleine Gärtner hoch!"
"Damit bringst du mich nicht aus dem Häuschen", erregte sich Patzke. "Eine Gärtnerei? Er hat keine Frau, die Kränze binden kann wie meine. Sie hat in ihrer Jugend in einer städtischen Gärtnerei darauf gelernt. Aber was meinst du, Ebers, wir könnten hier noch einen Kaufladen gebrauchen, was? Ohne Konkurrenz wird der Mensch übermütig." Patzke strich sich den Mund. "Und jeden Tag Freibier!" sagte er.
Er trank Lebbers zu und sie stritten sich noch ein Weilchen.
"Ich wüßte, was ich täte", sagte Ebers. "Wenn ich nicht Photograph wär, würde ich einen Eierhandel anfangen. Rundum würde ich Eier aufkaufen. Die Bauern sind froh, wenn sie ihre ständigen Abnehmer haben. Sie wissen, Mittwochs kommt Ebers und holt die Eier!"
Dan Lebbers überlegte. Das war kein schlechter Gedanke. Vielleicht könnte er dies Geschäft mit Christian Kars Hand in Hand aufziehen. Er hatte auch schon Pläne darüber hinaus, aber er legte erst einmal die Stirne in Falten und sagte:
"Was wäre schon daran zu verdienen? Bleib lieber bei deinem Leisten, Ebers. Ihr Photographen habt Phantasie! Eier! Die paar Pfennige, die daran zu verdienen sind."
Ebers widersprach. Er wollte einen Zettel haben und den Verdienst überrechnen. Bei einem Ei so viel Pfennige, bei zehn Eiern so viel, bei hundert – was sagst du nun, Lebbers?
"Nichts", antwortete der Kaufmann. "Du hast nämlich an der Stiege Eier höchstens so viel!" Er verbesserte, über den Tisch gelehnt, mit einem langen Zimmermannsblei, das immer neben seiner Kasse lag, die Zahlen, die Ebers aufgeschrieben hatte.
Patzke amüsierte sich: "Der Kars wird schon wissen, was er will. Das mit der Existenz ist bloß pro forma, im Grund rechnet er wohl damit, beim alten Kars auf den Hof zu kommen."
"Warum soll's ihm nicht glücken?" meinte Ebers. "Ein Sohn ist nicht da. Ich hab mich immer gewundert, daß da keine Kinder sind."
"Die Frau war eine schwache Person", sagte Dan Lebbers, "aber er hat sie auf Händen getragen, wie man so sagt."
"Daß die Ehe gut gegangen ist", wunderte sich Patzke. "Er ist wie ein Stier."
"Darum fuhr er auch oft in die Stadt", lachte Dan Lebbers. Er fügte ernst hinzu: "Die Frau wußte es, aber sie hat nichts gesagt, weil sie doch immer leidend war. Und zu ihr, alles was recht ist, war er wie ein Vater. Sie hatte nichts bei ihm auszustehen."
"Ja ja, wo die Liebe hinfällt", meinte Patzke, nachdenklich über diese Erkenntnis. "Dazu kann man nichts sagen. Ich glaube, es kommt ihm nicht leicht an, daß keine Kinder auf dem Hofe sind. Vielleicht denkt er, daß Lisa ihm noch den Erben bringt."
"Das kriegt er fertig", platzte Dan Lebbers heraus, "er steckt uns noch alle ein."
Christian Kars stand am Fenster der kärglich eingerichteten Logierstube. Er hörte das Gelächter der drei Männer aus dem Laden. An den Sommergast, der bis vor kurzem hier gewohnt hatte, erinnerte noch ein vergessener Fahrplan.
Christian konnte über den See blicken, der blaß in der Dunkelheit lag, lautlos und ohne jeden Wellenschlag. Es war ein großer See, der, wie Lüßmann sagte, seine Stürme hatte und im Winter das Donnern des Eises.
Über viele Meere war Christian Kars gefahren, und sein Schlaf war von Rauschen und Dröhnen umklungen gewesen. Nun stand er an dem offenen Fenster und horchte hinaus gegen die weite Fläche des Sees. Aber das Wasser blieb still.
Ab und zu, gleichmäßig, huschte ein weißes Licht über den Himmel, kaum wahrnehmbar, und nicht größer als der fahle Flügel eines Vogels. Es war das Licht des Leuchtturms Thorde, weit weg am Meer.
Am nächsten Morgen schien das Dorf aus den Kopf gestellt zu sein. Auf allen Zäunen lagen rote und gestreifte Betten und Kissen ausgebreitet. Es war ein sonniger Vormittag, der seine gesunde Wärme in die Daunen und Federn tragen sollte. Aus den Höfen standen auch Möbelstücke umher. Man war dabei, die Wohnungen der Sommergäste nun wieder für den eigenen Bedarf gemütlich einzurichten. Die Straße glich einer großen Auktion, Stühle, Bilder, Sofas und Waschschüsseln waren herausgekommen, um sich zu präsentieren. Die Frauen hantierten mit Besen und Bürsten. Sie hatten Tücher um das Haar gebunden und die Ärmel weit aufgekrempelt. Zwischen ihnen lief der Sattler Kuhse herum, der hier und da Beschädigtes in Ordnung bringen sollte. Auch Lüßmann, der nun wieder als Tischler zu Ehren kam, hatte alle Hände voll zu tun.
Die Klopfer sausten lustig auf die Inletts nieder. Sie wollten das fremde Leben austreiben, das sich ein paar Monate lang darauf breitgemacht hatte. Der letzte Spuk der Sommergäste wurde verscheucht. Nun begann wieder das eigene Leben. Fast ein halbes Jahr lang hatte man sich selbst aufgegeben, sich fremden Wünschen eingeordnet, besorgt, jede Unzufriedenheit anderer aus dem Wege zu räumen. Man hatte, um das Geld für den Winter zurücklegen zu können, jede Art Unbequemlichkeit auf sich genommen, war vom eigenen Herd verdrängt gewesen und hatte sich wie ein Knecht mit dem Geringsten begnügt. Nun wurde man wieder sein eigener Herr. Das bekundete der weite Schwung der Arme, die Heftigkeit der Bewegungen und die lauten Worte, die von Hof zu Hof über die Nachbarzäune flogen. Auch die Kinder kamen wieder zu ihrem Recht, sie durften tollen und schreien.
Bei diesem geschäftigen Wirrwarr entging den Frauen der Fremde, der langsam über die Dorfstraße schritt. Es fiel ihnen nicht einmal auf, daß er hier und da stehenblieb, den Hantierungen zusah und dann unschlüssig weiterging, als wüßte er nichts Rechtes mit seinem Weg anzufangen.
Als Christian Kars am Morgen mit Dan Lebbers am Frühstückstisch gesessen hatte, mußte er eine lange Geschichte über seinen Ohm Iben Kars mit anhören.
"Iben Kars? Ein Hüne, sag ich Ihnen. Das Dorf könnte schon seine Vorteile durch ihn haben, aber er ist ein Querkopf, ein richtiger Bauer. Das dürfte er gar nicht hören. Unterm Großbauer tut er's nicht. Hofbesitzer. Jawohl, darauf hält er. Was er braucht, kauft er in Thorde. Das heißt, Sie dürfen nicht denken, Herr Kars, daß ich Ihnen das nachtrage. Nein nein, Dan Lebbers besteht auch ohne Iben Kars. Natürlich, manchmal tut es einem leid. Weiß Gott, ich würde 'ne Flasche Wein spendieren, wenn der Alte mal herfände, und wenn er bloß 'ne Zigarre kaufte. Es ärgert einen doch! Aber wissen Sie, ich glaube, da ist nichts zu machen. Er hält sich eben vom Dorf zurück. Was können wir Männer dafür, wenn die Frauen Redereien machen. Was kann ich als Wirt dafür, wenn meine Gäste beim Glas Bier ihre Gedanken austauschen. Schließlich muß man bedenken, Sureiken ist ein kleines Nest, da nehmen sie jeden mal zwischen die Zähne. Aber der Alte tut so, als hätte er 'ne Krone auf. Natürlich haben sie ihn in den Gemeinderat gewählt. Erster Schöffe ist er. Das Schulzenamt hat er abgelehnt. Was hat er gesagt? Ich will mir nicht allen Dreck ins Haus tragen lassen. Ja ja, so ist Ihr Onkel! Na, Sie werden ihn ja noch kennenlernen. Vorsichtig, sag ich, Herr Kars, besonders in Ihrem Fall, wo Sie so – entschuldigen Sie – so plötzlich auf die Rampe springen."
Das und mehr hatte Dan Lebbers gesagt. Wenn Christian Kars auch den Worten des Wirtes nicht allzuviel Bedeutung beimaß, so sah er doch ein, daß Iben Kars ein Mensch war, mit dem sich nicht leicht verkehren ließ.
Je mehr sich Christian dem Hofe des Oheims näherte, um so langsamer wurde sein Schritt. ›Er wird mich nicht erkennen, ich war noch ein Junge, als er mich das letztemal sah. Wenn er hartmütig ist, könnte er mich wie einen Fremden behandeln. Verlohnt's, sich dem auszusetzen? Aber er könnte erfahren, daß der Sohn seines Bruders hier ist und es übel vermerken. Also was hilft's, man soll nicht an der Schwelle umkehren.‹
Keine Zwiesprache ist umständlicher, als das Gespräch mit sich selbst. Man dreht sich im Kreise und ist bald wieder am Beginn. Schließlich geht man ohne Überlegung gradaus.
Christian Kars war nach Sureiken gekommen, um für das Geld, das er in den Jahren seiner Seefahrten hatte zurücklegen können, etwas Land zu kaufen. Er hoffte wohl, daß sein Onkel ihm im Anfang mit Rat und Tat zur Seite stehen wurde. Vielleicht hatte Christian Kars auch an das Erben gedacht. Iben Kars ist alt. Er geht auf die siebzig. Er hat keinen Sohn, der einmal den Hof übernehmen könnte. Das hatte Christian sicher in seine Überlegungen mit hineinbezogen. Warum soll auch ein Mensch das nicht tun? Man macht sich viele Rechnungen. Manche gehen glatt auf, andere geben einen Rest, der einen ein Leben lang schmerzen kann.
Christian Kars hat sich nicht weiter den Kopf darüber zerbrochen, wie es mit seiner Rechnung stehen wird. Als Seemann ist er gewohnt, sich dem Schicksal zu überlassen. Man kann nichts weiter tun, als dem Schiff den rechten Kurs geben. Was Sturm und Wetter dazu sagen, liegt nicht in des Schiffers Hand.
Christian haderte mit sich, daß er dem schwatzhaften Dan Lebbers zu viele Worte gestattet hatte. Er ist unmutig, daß er überhaupt auf das Gespräch eingegangen war. Aber es ist wohl so, daß ein Seemann, der auf dem Wasser klar und eindeutig zu denken und reden vermag, auf dem Lande leicht übertölpelt wird, wie es auch den Seevögeln geschieht, diesen kühnen Schwimmern, die auf dem Strande jedem kläffenden Hund ausgeliefert sind.
Christian Kars war durch Felder gegangen und kam nun an die Chaussee. Hier begann das Anwesen des alten Iben Kars. Das Haus, das weiter zurücklag und von dem festen Gemäuer der Scheunen und Ställe umgeben war, stand inmitten eines geräumigen Wirtschaftshofes. Bis zu der Wielingschen Mühle, deren Flügel sich in der Ferne langsam drehten, reichten die Äcker und Wiesen des Iben Kars. In der Umgebung wurde das Besitztum seiner Lage wegen allgemein der "Chausseehof" genannt.
Es mußte eine stolze Freude sein, das alles sein eigen nennen zu können: Die Pferde, die mit breitem Schritt, harte Pflüge hinter sich, über das Land gingen. Die Kühe, die satt und trächtig in den Wiesen standen, mutwillige Schweine, die über die Furchen stoben, und schwere Gänse, plump, mit schlagenden Flügeln in großem Geschnatter. Dazwischen eifriges Hühnervolk, das im hastigen Fressen die Köpfe nicht vom Boden losbekam, und eine Schar friedlicher Enten, die wackelnd einem warmen Fleck in der Sonne zustrebte.
Christian Kars sah das alles mit aufmerksamen Blicken. Er nahm die Mütze ab und atmete tief den Duft des letzten Heus, darin noch einmal Klee und vielerlei würzige Gräser zu leben schienen.
Dann schritt er langsam auf das große Tor zu.
Es ging auf Mittag. Lisa, die junge Frau, besorgte das Essen. Unter der großen Schürze trug sie ein dunkles Kleid. Die Ärmel saßen ungeschickt, und auch sonst schien das Kleid nicht für sie geschaffen zu sein.
Lisa hörte den festen Schritt des Bauern im Flur. Sie beeilte sich mit ihrer Arbeit. Iben Kars war in die Stube gegangen, rückte den Stuhl mit großem Geschurr, prustete etwas und ließ dann ein behagliches Stöhnen hören.
"Wo bleibt's Essen?" rief er.
"Gleich", antwortete hastig Lisa.
Während sie dann die Schüssel füllte, ging die Flurtüre. Ein Schritt war auf der Diele und darauf ein Klopfen.
Iben Kars rief: "Herein!"
Seine Stimme klang unwillig. Er liebte keine Störungen um die Mittagszeit.
Die Tür zwischen Stube und Küche stand offen, und Lisa sah nun einen Mann im Türrahmen stehen, nicht ganz so groß wie Iben Kars, aber doch breit und kräftig. Er mochte in den Dreißigern sein.
Sie hatte sein Gesicht vorher nie gesehen und überlegte, wo sie es in ihren Gedanken unterbringen sollte. Sie betrachtete es aufmerksam.
Plötzlich wandte sie sich verlegen ab, der Mann hatte den Kopf nach der halbgeöffneten Türe gewendet, doch konnte er von seinem Platz aus Lisa nicht sehen.
"Guten Tag, Ohm Kars", sagte jetzt der Fremde.
Lisa horchte verwundert auf. Weil sie aber fürchtete, bemerkt zu werden, zog sie die Türe leise ins Schloß. Sie blieb dicht an der Türe stehen und wartete darauf, was Iben Kars antworten könnte. Doch schwieg er lange.