Die Häuser am Kolk - Robert Seitz - E-Book

Die Häuser am Kolk E-Book

Robert Seitz

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Beschreibung

Ein Roman vom rauen Leben am Meer. Oft wurde Seitz und seine Schreibweise mit Knut Hamsun verglichen.

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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Die Häuser am Kolk

Robert Seitz

Inhalt:

Robert Seitz – Biografie und Bibliografie

Die Häuser am Kolk

Die Häuser am Kolk, Robert Seitz

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636159

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Robert Seitz – Biografie und Bibliografie

Deutscher Schriftsteller, geboren am 28. September 1891 in Magdeburg, verstorben am 22. April 1938 in Lörrach. Nachdem Seitz seine Kindheit in Magdeburg und im Harz verbracht hatte, nahm er 1906 eine kaufmännische Lehre in Magdeburg auf. 1909 fand er eine Anstellung als Expedient in der Magdeburger Zichorienkaffee und Schokoladenfabrik Bethge & Jordan. Schon früh zeigte sich Seitz literarisch interessiert und verfasste Gedichte. Durch einen Aufruf in der Magdeburger Presse gab Seitz 1919 den Anstoß zur Gründung der Magdeburger Künstlervereinigung Die Kugel, die von 1919 bis 1923 bestand und der Künstler wie Franz Jan Bartels, Max Dungert und Bruno Beye angehörten. 1921 veröffentlichte Seitz im Magdeburger Karl-Peters-Verlag einen Gedichtband mit expressionistischer Lyrik "Das Herz in den Augen". 1924 wurde Seitz nach Berlin versetzt. Ab 1927 wohnte er in der Künstlerkolonie Wilmersdorf. 1928 gab er seine kaufmännische Anstellung auf und wurde freier Schriftsteller. Seitz schloss sich dem Schriftstellerkreis an, der sich um den Verleger Victor Otto Stomps und dessen 1926 gegründeten Verlag Rabenpresse bildete. Dazu gehörten auch Horst Lange und dessen Frau Oda Schaefer, Peter Huchel, Werner Bergengruen, für kurze Zeit Joachim Maass, Walther G. Oschilewski, Jens Heimreich, Rolf Bongs, Werner Helwig, Eberhard Meckel und Hans Gebser, der in der Schweiz als Philosoph Jean Gebser bekannt wurde. Seitz schrieb ab 1928 für Zeitungen und Zeitschriften diverse Erzählungen und Beiträge, richtete jedoch auch Hörspiele und Opern für den Rundfunk ein. Er arbeitete mit Komponisten wie Paul Hindemith, Werner Egk und Paul Dessau zusammen. 1931 gab er zusammen mit Heinz Zucker die Lyrik-Anthologie "Um uns die Stadt" heraus. Thema der Arbeit, an der 93 überwiegend unbekannte Autoren mitwirkten, war das Verhältnis von Individuum und städtischem Lebensraum. Seitz absolvierte längere Reisen in ländliche Gegenden. Länger lebter er in Ostpreußen, Pommern und Danzig sowie in Dörfern der baltischen Küste. Seine literarische Arbeit wandte sich nun dem Verfassen von Erzählungen und Romanen zu. 1932 gelang ihm mit dem Novellenband "Bauernland" ein großer Erfolg. Auch in seinen weiteren Werken thematisierte er die Probleme der technischen Zivilisation und idealisierte die Natur. 1935 erhielt er für sein 1934 erschienenes Werk "Börshooper Buch" einen Akademie-Preis. Auf einer Reise nach Italien, die Studienzwecken dienen und seine beeinträchtige Gesundheit stützen sollte, verstarb Seitz 1938. Die Stadt Magdeburg hat eine Straße (Robert-Seitz-Straße) nach ihm benannt.

Wichtige Werke:

Das Herz in den Augen, Gedichte, 1921Kashata, Gedichte, 1926Tiere und eine Stadt, Gedichte, 1930Um uns die Stadt, 1931Bauernland, Novellenband, 1932Echo der Ebene, Gedichte, Verlag Die Rabenpresse, 1932Das Börshooper Buch, Roman, 1934Die Häuser im Kolk, Roman, 1935Der Leuchtturm Thorde, Roman, 1935Die Liebe, alt wie die Welt, Roman, 1936Der Ast, auf dem die Engel sitzen, Roman, 1937Wenn die Lamper herunterbrennt, Roman, 1938

Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“

Die Häuser am Kolk

I.

Wenn es zum Herbst ging, kamen die Möwen bis zu den Häusern im Kolk. Sie saßen auf dem Geländer der Holzbrücke, die über den Wasserlauf führte oder umkreisten die breiten Kähne, die hin und wieder sich langsam vorbeischoben, um ihre Ladung nach der Zuckerfabrik hinter dem Damm zu bringen und von dort mit neuer Fracht wieder auf die Reise zu gehen. Die heiseren Schreie der Möwen erfüllten tagsüber die schmale Straße. Seit Jahrhunderten sind sie die Gefährten der Seeleute, sie bewachen die Einfahrt und Ausfahrt der Schiffe, fast ist es so, als wären die bangen Abschiedsgrüße der Frauen am Ufer während all der Zeit in den Klang der Möwenstimme übergegangen, ihre Besorgnis, ihre Angst und ihre Warnung.

Diese plumpen, zärtlichen Vögel schwebten, von gleichmäßigem Flügelschlag gehalten, wie eine weiche Wolke über dem Leben im Kolk.

"Die Möwen sind da", sagte der Invalide Anton Olkers. Er war verwundert darüber, daß es schon so spät im Jahre sein sollte, denn in dem winzigen Garten neben Barbe Wiels Haus blühte noch eine Rose so, als könnte sich der Sommer nicht vom Kolk trennen.

Barbe Wiel stand vor der Türe und nickte zu Olkers hin.

"Die Möwen sind da", wiederholte sie. Ihre Sprache war betulich und trug jede Neuigkeit wie ein großes Ereignis.

"Es geht zum Winter, die Möwen kommen schon von der See", sagte der Invalide noch einmal nachdenklich, ehe er an der Frau vorbei über die Brücke ging. Unter seinem schwerfälligen Schritt klang die Brücke dumpf wie ein Faß. Die Möwen stoben von dem Geländer auf. Für einige Minuten war ein wirres Kreischen.

Atze Uhlig öffnete die Tür seines Ladens und sah neugierig in den schwirrenden Möwenschwarm. Er hielt noch die Schaufel in der Hand, die er zum Abwiegen des Mehls gebrauchte.

"Die Möwen sind da", sagte er vergnügt vor sich hin.

Wenn es zum Herbst ging, waren die faulen Monate des Sommers vorbei, in denen man nie wußte, wie die Menschen eigentlich lebten. Erst wenn die Tage kälter wurden, besannen sie sich darauf, daß sie auch Petroleum, Wolle und vielerlei Dinge gebrauchten, die Uhlig zu verkaufen hatte. Das alles gab es in seinem Laden. Es war erstaunlich, wie Atze Uhlig all diese Schätze in Regalen, Säcken und Fässern in dem engen Raum untergebracht hatte, so daß immer noch Platz für Menschen war, die beim Einkauf einen kleinen Schwatz liebten.

Barbe Wiel aber hatte das Recht, stundenlang auf einem Stuhl zwischen den Fässern zu sitzen und an allen Gesprächen teilzunehmen. Dafür stellte sie abends für ihn einen Teller Suppe bereit, zu dem er die Zutaten lieferte, und später noch eine Tasse Kaffee, bei der man die Neuigkeiten durchsprach, die man im Laufe des Tages in dem Laden gehört hatte. Sie besorgte ihm auch die Wäsche und half ihm, so gut es ging, die Stube in Ordnung zu halten.

Atze Uhlig ließ sich ihre Obhut gefallen. Wenn man vierzig Jahre lang am Schürzenband der Mutter gelaufen ist, hat man kein Zutrauen mehr zu jungen flattrigen Röcken.

In ihrer letzten Stunde hatte die alte Frau Uhlig den Sohn der Umsicht ihrer Nachbarin anvertraut, und es wäre undenkbar gewesen, daß einer von beiden sich dem Wunsche der Sterbenden entzogen hätte.

So war alles im gleichen Schritt geblieben. Oft wundert man sich, wie wenig durch den Tod eines Menschen sich ändert. Eine Türe öffnet sich, ein Mensch wird hinausgetragen, aber ein anderer tritt herein und das Leben geht weiter.

Uhlig stand am Geländer und warf den Möwen Brocken zu. Dabei ließ er die Ladentüre nicht aus dem Auge. Die Vögel schienen über seiner ausgestreckten Hand mit schlagenden Flügeln in der Luft zu stehen. Er lockte sie, aber sie waren noch zu vorsichtig, um ihm das Brot aus der Hand zu nehmen.

Hinter dem Damm tauchte ein Kahn auf, der mit langer Stange von einem Mann in der Mitte des Wassers gehalten wurde, damit die Planken nicht mit der Steinwand des Ufers in Berührung kämen.

"Holla, Atze Uhlig!"

"Du, Löders, wieder im Land?"

"Mit Kohlen für die Zuckerfabrik. Ich komme nachher zu dir."

"Tu das, wir haben uns lange nicht gesehen."

Der Kahn glitt schwerfällig vorbei.

"Da bist du ja", sagte Uhlig später, als Löders in den Laden trat.

Zuerst wird hin und her geredet. Wie lange haben wir uns nicht gesehen, sagt man. Weiß Gott, wie die Zeit vergeht, und alles gut bei Wege? – Nun ja, so so. – Es sind böse Zeiten und jeder hat sein Päckchen zu tragen. Man muß zusammenhalten, versichert man einander.

Darauf trinkt man eins. Machandelschnaps ist immer gut. Auch am frühen Morgen. Wenn es, wie jetzt, auf Mittag geht, belebt er den Appetit.

"Nehmen wir noch einen", sagt Löders, "einen für den Magen, einen fürs Herz. Das macht Mut."

Er hat sich auf das Faß gesetzt und sieht zu, wie Uhlig das Mehl abwiegt.

Es ist alles gesagt.

Nach einem Weilchen beginnt Löders:

"Du kennst mich von Kind auf, Atze", sagt er, "wir sind Freunde."

"Das sind wir", antwortet Uhlig und wiegt weiter ab.

Es ist schönes weißes Mehl, schneeweiß ist es und ohne jedes Tüpfelchen.

"Da ist kein Mausdreck zwischen", sagt Uhlig.

Aber Löders hört nicht hin. Er will sich in seinem Gedankengang nicht stören lassen. Er geht jetzt grade aufs Ziel los.

"Jawohl, wir sind Freunde. Das sind wir", wiederholt er.

Er hat was auf dem Herzen, denkt Uhlig, das merke ich doch, und aus seiner Gutmütigkeit heraus fragt er:

"Wo brennt's, Löders?"

Ja, das ist eine verteufelte Geschichte. Man hat Pech gehabt. Man hängt bei seinem Geldgeber. Aber man wird schon wieder rauskommen. Gott sei Dank ist man ja kein Kerl, der sich unterkriegen läßt. Aber im Augenblick sitzt man doch verflucht drin. Wenn man jetzt jemand hätte, der einem unter die Arme greifen könnte. Er kriegt alles auf Heller und Pfennig wieder. Dafür wird man schon grade stehen.

"Du hast wohl zufällig nichts flüssig, Atze?"

"Ich würde es ohne Bedenken tun. Das sei gesagt. Aber nun ist's solche Sache, Löders. Man lebt selbst von der Hand in den Mund. Auch muß man immer wieder was einkaufen und bar bezahlen. Wenn man erst anfängt, Kredit zu nehmen, dann schnürt's einem bald den Hals zu. Wie soll man hier in dem kleinen Laden auch zu Reichtümern kommen? Ist ja alles nur ein Pfenniggeschäft."

"Weiß ich, weiß ich, Uhlig. Kenn ich selber! Was kommt heute schon dabei heraus, selbst wenn man sich von morgens bis abends schindet. Was hilft's. Trinken wir noch einen."

Nun geht er, die Hände auf dem Rücken, nachdenklich auf und ab.

Die Kinder von Stam Öffgen kommen in den Laden.

Als andere noch Milchbrei und Pamps bekamen, hat Stam sie schon mit Heringen gefüttert. "Erst fressen wir sie, dann fressen sie uns", sagt er von den Fischen. Sein Vater und sein Großvater sind draußen ertrunken, und jedesmal, wenn er wieder auf See geht, sagt er zu seiner Frau: "Ein Jahr warte wenigstens."

Florentine Öffgen ist eine bleiche schmale Frau. Sie hat vom Leben nichts mitbekommen als ihren Namen.

"Tina" wird sie von ihrem Manne gerufen. Er ist stolz darauf, daß ihr Vater bei der Post angestellt war und daß sie selbst im Hause eines Reeders gedient hatte.

Damals, als Stam Öffgen sie kennenlernte, war er bei der Marine. Sie tanzten sonntags zusammen. Tina war ein Mädchen, mit dem man sich sehen lassen konnte. Als sie dann heirateten, zogen sie in die Stadt, denn Tina wollte nicht auf dem Dorfe leben. Stam Öffgen hatte gedacht, sich selbständig zu machen, ein Boot zu kaufen und auf Fischfang zu gehen. Auch ein kleines Haus hätte man haben können, einen Garten und ein Stück Vieh. Nun mußte er sich Arbeit in der Stadt suchen und kam in der Zuckerfabrik an. Es war schließlich gleichgültig, auf welche Weise man seinen Lebensunterhalt verdiente. So dachte er anfangs, aber bald stellte er mit Verwunderung fest, daß ihm eine Unruhe im Herzen saß.

"Ich werd' mich schon gewöhnen", dachte er, doch gewöhnte er sich nicht.

Als ihn der Vorarbeiter einmal mit harten Worten antrieb, warf er die Arbeit hin. "Ich werd' mir doch von so einer Landratte nichts sagen lassen", schimpfte er zu Haus.

Nun fuhr er schon jahrelang auf Schleppkähnen bis in die Hafenstadt und ließ sich dort auf großen Schiffen anheuern. Er konnte in vielen Sprachen radebrechen, und wenn er zwischendurch auf Tage oder Wochen zu Hause war, saß er bei Atze Uhlig im Laden und erzählte von fremden Städten.

Man mußte annehmen, daß er die ganze Welt schon bereist hätte. So genau konnte er das Land beschreiben, aus dem Zimt und Ingwer kamen, oder ein anderes, darin Kaffee und Kakao ihren Ursprung hatten. Er war auf Petroleumdampfern gefahren und auf schwedischen Seglern. Er verstand es, solche Berichte in anschaulicher Art zu geben, nicht etwa mit einem Schwall von Worten, sondern in kurzen, beinahe nackten Sätzen, so daß jeder Zuhörer darüber hinaus seine Phantasie spielen lassen konnte. Man hörte ihm gerne zu, und wenn er da war, gaben die Kunden noch ein halbes Stündchen darauf.

Atze Uhlig mußte oft verwundert den Kopf schütteln: so also sieht die Welt aus.

Das war Stam Öffgen. Er brachte seiner Frau bunte Tücher mit. "Sie hält was auf sich", sagte er, "ihr Vater war bei der Post." Aber Tina trug diese Tücher selten. Es war wohl so, daß sie mit ihrem Leben nicht zufrieden war.

Die beiden Kinder, die nun bei Atze Uhlig im Laden stehen, werden Gitti und Köppje genannt. Der Junge hält ein zerrissenes Zeitungsblatt in der Hand. Er ist hinter jedem Papierschnitzel her, um ihn schwimmen zu lassen. Er nimmt sich keine Zeit, erst ein Schiffchen zu falten, wie es die Schwester gerne möchte. Es genügt ihm, wenn es schwimmt.

Manchmal wirft er auch ein Stück Bindfaden von der Brücke ins Wasser.

"Das ist meine Angel", sagt er. Er kommt mit der Hosentasche voll Steinen nach Hause. "Soviel habe ich gefangen", ruft er und zählt die Steine auf den Tisch.

"Eins, zwei, drei, fünf."

"Vier", verbessert ihn Gitti, aber er bleibt dabei und beginnt von neuem: "Eins, zwei, drei, fünf." Er verlangt auch, daß die Schwester ihm die Fische kocht. "Das sind Steine", sagt Gitti. – "Fische sind's", behauptet Köppje. Er wird ärgerlich, weil es die Schwester nicht glauben will, trampelt mit dem Fuß und sein runder Kopf wird rot.

"Du mußt dir die Hände waschen", mahnt Gitti.

"Nein", sagt er und spreizt die schmutzigen Finger. Er ist stolz darauf, daß sie schwarz sind und daß man sieht, wie er tagsüber zwischen den Teerstricken herumgekrochen ist.

"Willst du einen Bonbon haben?" fragt Atze Uhlig.

Köppje nimmt das Zuckerstück und steckt es in die Tasche. Da hinein tut er zunächst einmal alles, was er ergattert. Später wird es sich entscheiden, was er mit den Dingen anfängt.

Als die Kinder aus dem Laden sind, lacht Uhlig:

"Das wird mal ein tüchtiger Bursche, der Köppje."

Seine Gedanken sind mit den beiden Kindern beschäftigt, daß ihm das Gespräch von vorhin ganz aus dem Sinn kommt.

"Es sind die Kinder von Stam Öffgen", sagt er, "die Mutter kann froh sein, daß sie so verständig sind. Sie geht waschen, da sind die Kinder allein. Wenn der Mann zurückkommt, bringt er Geld mit, aber das reicht nicht lange. Er hat eine lockere Hand."

"Ja, das Geld", sagt Löders, "da hinkt der Hase. Das ist schon eine Not."

Eine ganze Weile ist nichts als das Klappern der Waage, auf der Uhlig wieder das Mehl abwiegt.

"Wie gesagt", beginnt Löders von neuem, "ich hab' gedacht, sprichst mal bei deinem alten Freund Uhlig vor. Vielleicht weiß der einen Weg. Ich kann mir schon denken, daß du nichts auf der hohen Kante hast, aber es könnte ja sein, daß du als Geschäftsmann, der Land und Leute kennt, einem einen Fingerzeig hättest geben können. Nun, wenn's nicht ist, schadet nichts. Darüber wollen wir in gutem Einvernehmen bleiben."

"Halt", sagt Uhlig.

Löders, der das leere Glas zwischen den Fingern gedreht hat, stellt es plötzlich hin.

"Was?" fragt er und sieht hastig auf.

"Ja", sagt Uhlig. "Das wär's vielleicht. Komm doch heute abend noch mal. Ich will mit Schowe sprechen."

"Schowe?" fragt Löders.

"Er hat wieder Acker an die Zuckerfabrik verkauft", erzählt Uhlig, "der weiß schon, wie man Geld macht. Die wollen ja weiter bauen. Ein neues Maschinenhaus soll dahin. Es war ein schönes Ackerstück, aber die Fabrik fragt nicht danach, die frißt bloß."

"Er hat doch viel in den letzten Jahren verkauft", sagt Löders.

"Da sitzt die Frau hinter. ›Mein Mann ist Hausbesitzer‹, sagt sie, ›er macht Geldgeschäfte.‹ Krieg keinen Schreck, Löders, ein Halsabschneider ist er nicht. Das bleibt alles in seinen Grenzen. Aber sie möchte gerne, daß er was Besseres vorstellt als Ackerbürger. Sie geht auf den Rentier los. Du hast wohl schon gesehen, der große Dunghaufen auf dem Hof ist auch schon weg."

"Ja", sagt Löders. Er hat das leere Glas genommen und dreht es wieder nachdenklich zwischen den Fingern. "Es sollte mich ja wundern", setzt er hinzu, "ich habe mit Schowe mein Lebtag keine zehn Worte gesprochen. Du kennst ihn ja besser, vielleicht tut er's."

"Heute abend", sagt Uhlig noch einmal, als er mit Löders schon vor dem Laden steht.

Über dem Damm ist Sonne und der Kolk ist ganz hell. Die Möwen sitzen jetzt auf dem Geländer zum Unterdamm. Ein Kahn fährt vorüber. Vom Deck flattert Wäsche. Ein Hund läuft bellend auf und ab vor der Kajüte. Der Schiffer grüßt laut herüber.

Löders ist gegangen. Er geht mit großem, ein wenig wiegendem Schritt, den Kopf hält er gesenkt. Auch der Rücken ist etwas gebeugt. Er hat Sorgen, denkt Atze Uhlig.

*

Das Haus, darin Uhlig wohnt, ist ein dreistöckiges graues nüchternes Haus. Es hat einen breiten Torweg, damit Schowes Wagen und Ackergeräte ein- und ausfahren können. Dieses Haus ist vor Jahren auf Betreiben von Frau Schowe gebaut worden. Ursprünglich stand hier ein kleines einfältiges Haus, worin zu ebener Erde der Ackerbürger Schowe wohnte, während in dem engen Obergeschoß Frau Uhlig mit ihrem Sohne lebte. Auf dem Hof hinter dem Hause zwischen den Stallungen und den Remisen hat Atze Uhlig seine Kindheit verbracht. Damals war von der Stadt nicht viel zu merken. Man lebte auf dem Lande. Frau Uhlig war mit der alten Frau Schowe befreundet. Sie half auf den Feldern mit, in den Kartoffel- und auf den Rübenäckern. Es gab Erntetage, an denen man nach schwerer Arbeit in der Küche bei Schinken und gebratenen Kartoffeln saß. Oft wurde auch Kuchen gebacken und den Kaffee, den man dazu trank, brannte man selbst. Vor dem Hause fuhren die Kähne vorbei nach der Zuckerfabrik. Aber damals hatte die Fabrik nur einen Schornstein und die Gebäude waren zum größten Teile noch Fachwerkbauten. Es war eine Fabrik, die nichts verschlang, eher war es eine gemütliche Werkstatt, darin gekocht und gesiedet wurde.

Wenn der alte Schowe seine Zuckerrüben dorthin fuhr, war für den kleinen Atze Uhlig jedesmal ein Festtag. Er stand dabei, wenn die drolligen, vielgestalteten Rüben in den großen Vorratsraum geschippt wurden, und war glücklich, wenn er von dem Lagerverwalter braunen Kandiszucker geschenkt bekam. Während der Hauptzeit arbeitete seine Mutter wochenlang in der Fabrik, denn der Vater war früh gestorben und die Mutter mußte jeden Pfennig Verdienst mitnehmen. Für Atze war das eine schöne Zeit. Er konnte dann auf dem Fabrikhof spielen, mit den Kindern des Portiers und des Inspektors. Abends ging er mit seiner Mutter nach Hause, und sie hatte immer irgend etwas von ihrer Arbeit zu erzählen. Für Atze stand es fest, daß die Zuckerhüte, die man zu Weihnachten beim Kaufmann sah, alle samt und sonders ihr Dasein einzig und allein seiner Mutter zu verdanken hatten.

Das war die Kindheit.

Nun war das alte einfältige Haus niedergerissen und an seiner Stelle erhob sich das neue, dessen Mietserträge pünktlich von Herrn Schowe einkassiert wurden. Bis zum Unterdamm reichten jetzt die Mietshäuser, in denen Menschen monatlich ihren Zins entrichten mußten, nur um in dieser sonderbaren Welt ein Unterkommen zu haben, vier Wände, die ihnen niemals zu eigen gehören würden und für die sie am Ende ihres Lebens eine Geldsumme ausgegeben hatten, mit der sie, wenn das Schicksal sie nicht von der Hand in den Mund leben ließe, längst eigenen Grund und Boden hätten erwerben können.

In dem Hause des Herrn Schowe wohnten Menschen, denen es schwerfiel, die Miete aufzubringen, obgleich man nicht hätte sagen können, daß diese Miete übermäßig hoch gewesen wäre. Es war sogar den andern Häusern gegenüber ein bescheidener Mietssatz. Frau Schowe drängte wohl oft auf eine Erhöhung, aber ihr Mann wehrte sich dagegen, weil er nicht wollte, daß es von ihm hieße, er zöge einem Mitmenschen das Fell über die Ohren.

An dieses Haus grenzte ein Ackerstück, das auch Schowe gehörte. Es wurde nicht sonderlich ausgenützt, es diente mehr für den Gemüsebedarf. Früher wurde es von der alten Frau Schowe mit besonderer Liebe bestellt, aber jetzt verwendete man wenig Mühe darauf. Es war auch ein Stück Land, das für eine Spekulation kaum in Frage kam. Wenn überhaupt einmal, so würde es doch lange Jahre dauern, bis man auf den Gedanken käme, aus dem Kolk eine neuzeitliche Straße erstehen zu lassen.

Auf der anderen Seite dieses Feldstreifens lag das Haus der Barbe Wiel. Wenn man auf dem Damm stand, hatte es den Anschein, als verkröche sich dieses Haus in die Erde. Eigentlich war es nur ein Dach, das wie ein brauner Pilz aus dem Boden wuchs. Hier lebte Barbe Wiel mit ihren freundlichen fünfzig Jahren.

Wie man ein Jahr in Jahreszeiten einteilt, so hatte auch sie ihr Leben eingeteilt, nach ihrer Mutter, nach ihrem Manne und nun, da beide tot waren, hieß der Herbst ihres Lebens Atze Uhlig.

Als sie jetzt aus der Türe trat, sah sie Löders die Stufen zu dem Boot heruntersteigen.

Sie hat einen dicken grauen Rock an, darüber eine blaue Schürze. Über der Bluse mit den ausgebuchteten Ärmeln trägt sie ein schwarzes Tuch. Ihr Haar ist glatt gestrichen. Von dem Tuch, das sie umhat, trennt sie sich nur selten. Was gegen die Kälte gut ist, hilft auch gegen die Hitze, sagt sie. So trägt sie es sommers und winters. Aber es ist noch ein anderes. Dieses Tuch hat ihr Leben mitgelebt. Es hat Schluchzen gehört und Lachen, aber es hat wohl mehr Tränen erfahren als Freuden. Dieses Tuch ist weich wie ein guter Abend. Es umschmiegt zärtlich die kleinen Wirrnisse eines einfachen Herzens.

Als Barbe Wiel zu Uhlig in den Laden kommt, fragt sie:

"War das nicht Löders?"

"Wir haben einen Schnaps getrunken", sagt Uhlig.

"Daß er sich mal wieder sehen ließ", antwortet Barbe Wiel und setzt sich auf den Stuhl, der zwischen den Fässern steht. "Er ist ein Gernegroß", ihm paßte es hier nicht. Immer hatte er Flausen im Kopf. Bald dies, bald das. Er hätte mit seiner Erbschaft einen Laden aufmachen sollen wie du, aber statt dessen muß es ein Kahn sein. Abends geht's dann in die Hafenkneipe, das kennt man. Ich möchte wissen, was von dem Geld noch da ist."

"Schowe hat den Acker verkauft", lenkt Uhlig ab.

"Seine Tochter bekommt jetzt Klavierunterricht", sagt Barbe Wiel.

Uhlig lacht. "Wally", lacht er belustigt.

Wenn Wally Schowe die Treppe herunterkommt, schüttert das Haus. Sie muß rosa Kleider tragen. Junge Mädchen sind wie der Frühling, sagt Frau Schowe. Sie hat es irgendwo gelesen. Im Winter geht Wally Schowe eingezwängt in knapper Pelzjacke. Sie bekommt Schlittschuhe über den Arm gehängt und wird mit ihren Freundinnen auf die Eisbahn geschickt. Wally treibt Sport, nennt das die Mutter.

Wenn der große Hausbesitzerball ist, kommt die Friseuse schon vormittags. Wally soll einen griechischen Knoten haben, sagt die Mutter.

Es ist auch ein junger Mann da, der Wally verehrt. Herr Peine ist ein höflicher Mensch, urteilt Frau Schowe. – "Er hätte Sattler werden sollen wie sein Vater", sagt ihr Mann, "so nennt er sich Kaufmann und ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Was ist schon ein Kaufmann, der kein eigenes Geschäft hat. Wenn's seinem Chef paßt, setzt er ihn an die Luft."

"Herr Peine hat sein Vielliebchen verloren", berichtet Wally, "er hat mir dies Bild geschenkt." Es ist das Bildnis einer Sängerin im Silberrahmen. Es wird auf dem Klavier stehen, das Frau Schowe anzuschaffen beabsichtigt.

Manchmal kommt Wally in Uhligs Laden und kauft eine Tüte Zuckerwerk. Das darf niemand wissen. Zucker macht dick, hat die Mutter gewarnt.

Wally hat große Hände und dumme langsame Finger. Nun wird sie Klavierspielen lernen.

Wenn Atze Uhlig während der Geschäftszeit eine Besorgung hat, bleibt Barbe Wiel so lange im Laden.

"Ich will nur mal schnell zu Schowe hinaufspringen", sagt Atze Uhlig etwas verlegen.

"Was ist denn?" fragt Barbe Wiel.

"Ich soll für Löders was fragen", gesteht er zögernd, "ich hab's ihm versprochen."

"Wohl Geld?" erkundigt sich Barbe Wiel, aber Uhlig ist schon aus dem Laden.

"Guten Tag, Herr Uhlig", sagt Wally und errötet. Sie wird immer leicht rot.

Sie läßt Uhlig vor der Korridortüre stehen und ruft in die Stube hinein:

"Herr Uhlig ist da!"

Vom Sofa her sagt Schowe: "Kommen Sie herein, Uhlig!"

Die eine Ecke des Zimmers ist ausgeräumt.

"Da soll das Klavier hin", sagt Schowe, "es kommt morgen."

"Nußbaum mit goldenen Leuchtern", setzt Frau Schowe hinzu.

"Ich störe doch nicht?" fragt Uhlig.

"Sie kommen wegen des Kellers", sagt Schowe, "das können wir gleich perfekt machen. Ich denke, fünf Mark im Monat ist nicht zu viel. Da haben Sie eine schöne Niederlage."

"Jawohl", antwortet Uhlig.

"Wenn ihr es schriftlich gemacht habt, können wir essen", sagt Frau Schowe und geht hinaus.

Atze Uhlig atmet auf. Er hätte im Beisein der Frau kein Wort wegen Löders herausgebracht. Nun will er die Zeit wahrnehmen, solange sie draußen ist.

Er sagt: "Ein Wort noch, Herr Schowe!"

"Fünf Mark ist doch billig."

Schowe schiebt Uhlig den Vertrag hin. Alles muß seine Ordnung haben.

"Es ist nicht deswegen. Ich habe da einen Freund. Löders heißt er. Er fährt auf eigenem Kahn. Sie kennen ihn doch?"

"Löders? Löders?" überlegt Schowe. "Richtig, der!" Dabei bewegt er die Finger, als wollte er Löders' langes Gesicht in die Luft zeichnen.

"Stimmt", sagt Uhlig.

Dann trägt er die Schwierigkeit vor, in die Löders vorübergehend geraten wäre. Er steht für jeden Pfennig grade. Da ist nichts zu verlieren.

"Was erzählen Sie mir das?" brummelt Schowe.

"Ich dachte, daß Sie ihm aus der Klemme helfen könnten", sagt Uhlig bescheiden. "Sie haben doch jetzt das Geschäft mit der Zuckerfabrik abgeschlossen, wie man erzählt."

Schowe ist geschmeichelt, daß man sich an ihn wendet und daß die Nachbarschaft etwas von seinen Geldgeschäften ahnt. Er steht auf und geht mit langsamen Schritten durch das Zimmer.

"Lieber Freund, was das hier alles kostet! Nein, so leid mir's tut, es geht nicht."

"Wir sind alte Freunde von Kind auf, Löders und ich", sagt Uhlig, "da muß man einer für den andern einstehen. Ich hätte es ihm selber gegeben, wenn ich's hätte. Tun Sie mir den Gefallen, Herr Schowe."

"Lieber Freund", antwortet Schowe wieder und verstummt.

Uhlig ist unruhig, daß Frau Schowe jetzt vielleicht in das Zimmer kommen könnte.

"Sie sind ein Mensch mit Herz", sagt er, "die ganze Gegend weiß es."

Schowe legt Uhlig die Hand auf die Schulter. "Ich bin jetzt über fünfzig und habe schwer gearbeitet in meinem Leben. Das ist bekannt. Ich kann doch mein Geld nicht so weggeben. Gehört denn Löders der Kahn?"

"Selbstverständlich", sagt Uhlig.

"Das muß man wissen", entscheidet Schowe. "Wenn ich es täte, wäre es nur Ihretwegen. Ich kenne Sie genau. Sie sind ein zuverlässiger Mensch. Aber Löders kenne ich nicht. Da müßte ich einen Bürgen haben."

"Wenn Sie meinen", wirft Uhlig ein.

"Gut", sagt Schowe. "Wenn ich Ihre Unterschrift mitbekomme, können wir drüber sprechen. Über die Prozente werden wir uns schon einigen."

"Meine Unterschrift?" wundert sich Uhlig.

"Ihre. Sie halten doch Löders für gut? Sonst wären Sie ja wohl nicht für ihn hergekommen. Es ist auch nur für alle Fälle."

"Natürlich", sagt Uhlig.

"Abgemacht, ich komme heute abend zu Ihnen hinunter. Wir wollen keine Frauensleute dazwischen haben."

Schowe streckt seine Hand aus. Für ein paar Sekunden hängt sie derbe und schwer in der Luft. Dann schlägt Uhlig ein.

"Und, wie gesagt, der Keller ist wirklich preiswert", sagt Schowe im Korridor.

Die Tür schlägt dann zu und das schlecht verkittete Fenster klirrt.

*

Jedes Jahr Ende November ging der Invalide Anton Olkers mit einem Rucksack in die Stadt. Er hatte eine Anzahl Bekannte, von denen er vorjährige zerbrochene Spielsachen abholte, die er für wenig Geld zu Weihnachten wieder in Ordnung brachte, frisch bemalte und oft so aufs neue herrichtete, daß die Kinder sie kaum wiedererkannten.

In diesem Jahre gab es für ihn nicht viel zu tun. Das Geld war knapp und die Väter machten sich selbst an die Reparaturen, um den Groschen Arbeitslohn zu sparen. So hatte Olkers außer einem Holzpferd, das nur noch drei Beine besaß, und einem Segelschiff, dessen Mast abgebrochen war, nichts mitbekommen. Doch hatte ihm der Inspektor der Zuckerfabrik in Aussicht gestellt, ihn als Weihnachtsmann zu seinen Kindern zu rufen, wenn er sich auf Brummen und Poltern verstünde und den Kleinen mit ermahnenden Fragen den leibhaftigen Knecht Ruprecht vortäuschen könnte.

Der alte Olkers ging mit hartnäckigem Eifer an dieses Studium. Er wollte seinen Auftraggeber nicht enttäuschen. Von Barbe Wiel ließ er sich aus weißen Wollfäden einen langen Bart herrichten. Auch sollte sie ihm Watte wie Schneeflocken auf den Mantel heften.

In diesen Tagen wichen die Kinder von Stam Öffgen nicht von der Seite des Invaliden. Das Mädchen wollte sich überall behilflich zeigen und hatte allerhand Vorschläge, wie man wohl Antons alten Mantel noch schöner herrichten könnte.

"Ihr dürft mich aber nicht verraten", sagte der Alte.

Einmal, mitten in all den Vorbereitungen, kam es ihm in den Sinn, daß Gitti und Köppje vielleicht selbst noch an die Wunder der Weihnachtszeit glauben könnten, darum sagte er entschuldigend:

"Man muß Knecht Ruprecht etwas Arbeit abnehmen. Es könnte sein, daß er bei den vielen Kindern irgendwo aufgehalten wird."

Köppje antwortete:

"Er soll einen Esel haben, der alles trägt."

Anton erschrak etwas über diese Worte. Er sann ein Weilchen nach.

"Grade der Esel ist oft schuld", behauptete er endlich. "Er hat seine schwere Last und oft liegt der Schnee sehr hoch. Da geschieht es dann, daß Knecht Ruprecht nicht mit der Zeit auskommt."

Köppje sah aufmerksam zu, wie der Invalide mit einer feinen Säge ein Bein für das Holzpferd herzustellen versuchte. Als er damit fertig war, ergab es sich, daß dieses vierte Bein zu groß geraten war. So mußte wieder ein Stückchen abgesägt werden. Das Pferd hatte zierliche schwarz lackierte Hufe, und Anton stritt lange mit den Kindern, weil sie behaupteten, daß der Huf des neuen vierten Beines größer wäre als die anderen.

"Das sieht man doch", sagte Köppje.

Schließlich nahm der Invalide ein Taschenmesser und schnippelte an dem Huf, bis Köppje endlich zufrieden war.

Während dieser Zeit erzählte der Junge alles, was sich an seltsamen Geschichten über die heiligen Wesen, die um die Weihnachtszeit die Menschenkinder beglücken wollen, in seinem Kopfe angesammelt hatte.

Als er dann abends mit der Schwester die Treppe hinaufstieg, lachte er plötzlich.

"Das ist ja alles nicht wahr", behauptete er. Aber am nächsten Tage saß er wieder bei dem Invaliden und berichtete merkwürdige Geschichten.

"Ich habe ihn selber gesehen", sagte er, als Anton den Bart umband, den ihm Barbe Wiel angefertigt hatte.

"Sein Bart ist viel länger und weißer", sagte Köppje.

In diesen Tagen erzählten die Kinder auch, daß ihr Vater zum Fest kommen würde.

"Er bringt mir Muscheln mit", sagte Köppje, "ich will auch einen großen Fisch haben."

Sie freuten sich, daß der Vater zurückkam, aber sie machten nicht viel Wesens davon. Sie waren zu sehr daran gewöhnt, daß er kam und ging.

Tina Öffgen kam in dieser Zeit später als sonst nach Hause. Überall wurde zu dem Fest noch einmal gewaschen und reine gemacht, und es gab an allen Ecken zu helfen. Sie war müder als sonst, und wenn sie sich an den Tisch setzte, um das Brot zu essen, daß Gitti schon aufgetragen hatte, geschah es oft, daß sie einschlief. Wenn sie dann die Kinder zu Bett gebracht hatte, war sie zu müde, um sich auszuziehen. Sie setzte sich in ihren Kleidern wieder auf den Stuhl, stützte den Kopf und schlief ein. Oft wachte sie erst mitten in der Nacht auf. Dann war das Feuer im Ofen erloschen und die Nachtluft zog eisig durch das gesprungene Fenster, dessen Riß mit Seidenpapier verklebt war. Tina schrak hoch, weil das Licht noch brannte und wieder ein paar Pfennige nutzlos vertan waren. Sie löschte hastig die Lampe und schlich leise in die Kammer, damit die Kinder nicht erwachten. Sie kleidete sich im Dunkeln aus und stieß sich oft an der harten Kante des Bettes. Wenn sie in die rauhen Kissen kroch, war es wie ein Verstecken.

So war es Tina Öffgen vom Schicksal bestimmt, die heilige Zeit vor Weihnachten zu erleben.

Ein paar Tage vor dem Weihnachtsfest kam Stam Öffgen. Er war groß und gesund. Man merkte ihm an, daß er von der See kam und daß die starke Luft des Meeres seine Lungen gefüllt hatte. Er brachte eine große Muschel für Köppje mit, einen geschnitzten Kasten für Gitti und ein Tuch für seine Frau. Er stand mitten in der Stube, hob die Kinder hoch und setzte sie lachend wieder nieder. Er legte seinen Arm um Tina, klopfte ihr die Wangen und sagte:

"Du siehst schmal aus."

Dann setzte er sich, trank Kaffee und aß von dem Kuchen, den die Frau noch im letzten Augenblick gebacken hatte. Er behielt den ersten Schluck Kaffee im Munde, so als überlegte er, ob dieser braune Trank es wert wäre, hinuntergeschluckt zu werden.

"Es ist nur wenig Zichorie darin", sagte Tina.

Stam Öffgen nickte. Er trank die Tasse langsam leer. Er sah seine Frau an, er nickte wieder und ließ sich eine zweite Tasse einschenken.

"Ich habe dir noch etwas zu beichten", sagte er. "Es ist eine dumme Geschichte. Man hat mir in Marseille das Geld gestohlen."

Tina Öffgen erschrak, aber sie faßte sich und antwortete nichts als:

"Ja."

Sie blickte ihren Mann nicht an, denn sie fürchtete, daß er seinen Kopf senken könnte.

Er wollte ihr erzählen, wie es mit dem Gelde gewesen wäre und daß er den estnischen Koch in Verdacht hätte, aber Tina unterbrach ihn:

"Wir wollen jetzt nicht davon sprechen. Du brauchst dir keine Sorge zu machen. Ich habe ein paar Mark zurückgelegt. Vor Weihnachten gibt es ja immer etwas zu verdienen."

"Du bist eine tüchtige Frau", sagte Stam Öffgen.

Er streichelte ihre Hand, die für die rote aufgesprungene Haut zu fein gegliedert war. Damals als Stam Öffgen Tina kennen lernte, hatte er sich oft über ihre Hände gewundert: "Man sieht ihnen gar nicht an, daß sie arbeiten."

Aber nun waren sie von dem ewigen Waschen und den ätzenden Seifenlaugen wund und zerrissen. Es tat Tina Öffgen weh, als der Mann ihr die Hand drückte. Doch ließ sie sich nichts merken.

Später ging Stam Öffgen zu Atze Uhlig in den Laden. Barbe Wiel half hinter dem Ladentisch. Die Kunden kamen und gingen. Es war noch allerhand einzukaufen für das Fest.

Stam Öffgen hatte sich auf eine Kiste in die Ecke gesetzt und ließ sich von jedem begrüßen.

"Wieder da?" fragten die Nachbarn, und er erzählte von seiner Fahrt.

"Was du alles zu sehen bekommst", sagten die Nachbarn.

Mitten drin in einem solchen Gespräch rief Stam Öffgen plötzlich zu Uhlig hin:

"Weißt du, wen ich in Hamburg getroffen habe?"

Uhlig war mit dem Bedienen der Kunden beschäftigt und antwortete nicht sofort.

"Einen alten Bekannten", sagte Stam Öffgen. Er nahm es nicht weiter übel, daß Uhlig seine Frage überhört hatte.

"Einen alten Bekannten", sagte er. "Löders. Du kennst ihn ja. Er hat es satt, sich hierzulande zu quälen. Solch Kahn bringt ja auch nicht viel ein."

Atze Uhlig hielt jäh inne. Er war gerade dabei, ein Stück Zeug abzuschneiden. Er klappte die Schere hastig zusammen.

"Wen?" fragte er.

"Löders", sagte Stam Öffgen, "er hat sich anheuern lassen."

Atze Uhlig bewegte sich nicht. Die Nachbarin, für die das Stück Zeug bestimmt war, sah ihn verwundert an.

Barbe Wiel lachte:

"Er macht ein Gesicht, als käme Post aus Frankreich."

Uhlig stand noch immer stumm da.

Stam Öffgen sagte:

"Löders will nach Amerika. Das ist kein dummer Gedanke. Er kann's sich schon leisten, er ist ledig. Andere haben Frau und Kinder."

Uhlig öffnete langsam die Schere und begann wieder das Stück Zeug abzuschneiden.

"Es wird schief", rief die Nachbarin, "er hat kein Augenmaß mehr."

Barbe Wiel sah ärgerlich hin.

"Gib her", sagte sie. Sie schnitt mit umständlicher Vorsichtigkeit weiter.

"Ich muß Lichter heraufholen", sagte Uhlig leise.

Er ging aus dem Laden. Barbe Wiel schüttelte den Kopf.

"Das hätte doch Zeit bis nachher", sagte sie zu der Nachbarin.

Uhlig ging in den Keller, den er von Schowe zugemietet hatte. Es war ein grauer, mürrischer Keller gewesen, darin Spinnen gehaust hatten und Würmer. Aber unter Barbe Wiels Fegen und Scheuern hatte sich dieser trübe Raum in ein freundliches Gelaß verwandelt. Nun standen auf sauberen Regalen die Vorräte, die Uhlig für seinen Laden gebrauchte. An dem Tage, an welchem dieser Keller in Benutzung genommen wurde, hatte sich Barbe Wiel gar nicht von dem Anblick trennen können, den er nun bot:

"Du hättest ihn schon früher mieten sollen", hatte sie gesagt.

"Was Gutes kommt immer zurecht", gab Uhlig zur Antwort. "Es geht vorwärts, wir haben uns vergrößert."

Nun stand er in diesem Keller inmitten seiner kleinen Welt, die sauber geordnet aus Holzgestellen ihm entgegenwuchs. Es waren bescheidene Dinge aus aller Herren Ländern. Getrocknete Früchte, die auf großem Schiff gekommen waren, Gewürze, unter fremder Sonne gereift, Heringe von Island und Zündhölzer aus Schweden. Darüber hatte er oft versucht, mit Barbe Wiel zu reden.

"Was alles so zusammen kommt", hatte er gesagt. "Das liegt nun hier in meinem Laden."

Barbe Wiel konnte nicht viel damit anfangen.

"Das gibt es doch bei jedem Kaufmann", hatte sie geantwortet.

Uhlig war immer vergnügt gewesen, wenn er einen Grund fand, in seinen Keller hinabzusteigen. Nun stand er da, sah in die leere Luft und sagte nur:

"Löders ist fort."

Er kauerte sich auf den Schemel. Seine Gedanken liefen hin und her. Was ist das für eine Welt? Man kommt ihr freundlich und offenherzig entgegen und sie bedient sich eines Freundes, um einen zu Fall zu bringen.

Auch ein Schönwettermorgen hat schon seine List in sich, denkt Atze Uhlig, das sollte man mit vierzig Jahren gelernt haben. Man hatte gut geschlafen, seinen Kaffee getrunken und ging dann an die Arbeit. Die Möwen waren auch schon früh auf den Beinen und warteten auf ihre Brocken.

Man warf Krumen von seinem Frühstücksbrot hoch in die Luft und sie fingen es im Fluge. Auf einmal tauchte am Damm ein Kahn auf. ›Holla, Atze Uhlig!‹ – ›Du, Löders, wieder im Land?‹ – ›Ich komme nachher mal zu dir, Uhlig.‹ – ›Schön, schön‹, – so hatte es begonnen. ›Wir sind Freunde gewesen von Kind auf‹, hatte Löders gesagt, ›kannst du mir nicht helfen?‹ – Da war man zu Schowe gegangen und hatte alles in Bewegung gebracht. ›Ich will aber Ihre Unterschrift‹, hatte Schowe gesagt. Am Abend waren dann die beiden, Löders und Schowe, zu ihm in den Laden gekommen. Schowe hatte den Schuldschein schon ausgestellt. ›Du schreibst noch immer wie gestochen, Atze Uhlig. Schon auf der Schule warst du der Beste. Also dann dank ich auch. Ich wußte ja, auf dich kann man sich verlassen. Wenn du selbst einmal –‹, das hatte Löders gesagt. ›Schon gut, schon gut, Löders, lassen wir das.‹ – ›Wie gesagt, Uhlig, es ist kein Risiko für dich. Ich halte die Frist pünktlich inne, präzise auf Heller und Pfennig.‹ – ›Schon gut, Löders!‹ – Nun war er also fort. Er hatte sich anheuern lassen. Dann war also auch der Kahn nicht mehr da. ›Er gehört Ihnen doch, Löders?‹ hatte Schowe gefragt. ›Selbstverständlich, Herr Schowe!‹ – ›Nun, ich kann mich ja auf Uhlig verlassen!‹

Damit war Schowe gegangen. Ein Vierteljahr war vorbei. Man hatte noch ein Vierteljahr Zeit. Sechs Monate genügen, hatte Löders gesagt, es ist ja nur eine momentane Verlegenheit.

Warum sitze ich hier? denkt Atze Uhlig. Was ist schon passiert? Es ist ja noch Zeit. Er wird bis dahin zurück sein. Er kann das Geld auch schicken. Das wird er schon tun. ›Wir sind ja Freunde von Kind auf‹, hat er gesagt.

Ich bin doch kein Mädchen, das sich gleich einen Schreck einjagen läßt, aber es hat mir doch den