Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Roman von der See. Ein Seefahrer bleibt der Liebe wegen an Land und heiratet dort. Gemeinsam richtet das junge Paar ein Strandhotel ein. Aber dann wendet sich die Frau einem anderen Mann zu ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 802
Veröffentlichungsjahr: 2012
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Liebe, alt wie die Welt
Robert Seitz
Inhalt:
Robert Seitz – Biografie und Bibliografie
Die Liebe, alt wie die Welt
Erster Teil - Die Wiege
Zweiter Teil - Der Planwagen
Dritter Teil - Die Hütte
Die Liebe, alt wie die Welt, Robert Seitz
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849636166
www.jazzybee-verlag.de
Deutscher Schriftsteller, geboren am 28. September 1891 in Magdeburg, verstorben am 22. April 1938 in Lörrach. Nachdem Seitz seine Kindheit in Magdeburg und im Harz verbracht hatte, nahm er 1906 eine kaufmännische Lehre in Magdeburg auf. 1909 fand er eine Anstellung als Expedient in der Magdeburger Zichorienkaffee und Schokoladenfabrik Bethge & Jordan. Schon früh zeigte sich Seitz literarisch interessiert und verfasste Gedichte. Durch einen Aufruf in der Magdeburger Presse gab Seitz 1919 den Anstoß zur Gründung der Magdeburger Künstlervereinigung Die Kugel, die von 1919 bis 1923 bestand und der Künstler wie Franz Jan Bartels, Max Dungert und Bruno Beye angehörten. 1921 veröffentlichte Seitz im Magdeburger Karl-Peters-Verlag einen Gedichtband mit expressionistischer Lyrik "Das Herz in den Augen". 1924 wurde Seitz nach Berlin versetzt. Ab 1927 wohnte er in der Künstlerkolonie Wilmersdorf. 1928 gab er seine kaufmännische Anstellung auf und wurde freier Schriftsteller. Seitz schloss sich dem Schriftstellerkreis an, der sich um den Verleger Victor Otto Stomps und dessen 1926 gegründeten Verlag Rabenpresse bildete. Dazu gehörten auch Horst Lange und dessen Frau Oda Schaefer, Peter Huchel, Werner Bergengruen, für kurze Zeit Joachim Maass, Walther G. Oschilewski, Jens Heimreich, Rolf Bongs, Werner Helwig, Eberhard Meckel und Hans Gebser, der in der Schweiz als Philosoph Jean Gebser bekannt wurde. Seitz schrieb ab 1928 für Zeitungen und Zeitschriften diverse Erzählungen und Beiträge, richtete jedoch auch Hörspiele und Opern für den Rundfunk ein. Er arbeitete mit Komponisten wie Paul Hindemith, Werner Egk und Paul Dessau zusammen. 1931 gab er zusammen mit Heinz Zucker die Lyrik-Anthologie "Um uns die Stadt" heraus. Thema der Arbeit, an der 93 überwiegend unbekannte Autoren mitwirkten, war das Verhältnis von Individuum und städtischem Lebensraum. Seitz absolvierte längere Reisen in ländliche Gegenden. Länger lebter er in Ostpreußen, Pommern und Danzig sowie in Dörfern der baltischen Küste. Seine literarische Arbeit wandte sich nun dem Verfassen von Erzählungen und Romanen zu. 1932 gelang ihm mit dem Novellenband "Bauernland" ein großer Erfolg. Auch in seinen weiteren Werken thematisierte er die Probleme der technischen Zivilisation und idealisierte die Natur. 1935 erhielt er für sein 1934 erschienenes Werk "Börshooper Buch" einen Akademie-Preis. Auf einer Reise nach Italien, die Studienzwecken dienen und seine beeinträchtige Gesundheit stützen sollte, verstarb Seitz 1938. Die Stadt Magdeburg hat eine Straße (Robert-Seitz-Straße) nach ihm benannt.
Wichtige Werke:
Das Herz in den Augen, Gedichte, 1921Kashata, Gedichte, 1926Tiere und eine Stadt, Gedichte, 1930Um uns die Stadt, 1931Bauernland, Novellenband, 1932Echo der Ebene, Gedichte, Verlag Die Rabenpresse, 1932Das Börshooper Buch, Roman, 1934Die Häuser im Kolk, Roman, 1935Der Leuchtturm Thorde, Roman, 1935Die Liebe, alt wie die Welt, Roman, 1936Der Ast, auf dem die Engel sitzen, Roman, 1937Wenn die Lamper herunterbrennt, Roman, 1938Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“ verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein. Im Gesamten ist dieser Text zu finden unter http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Seitz.
Eines Tages kamen viele Kinder nach Thorde. Knaben und Mädchen waren es, die zu dritt gingen und sangen. Sie kamen aus der Industriestadt, die weiter im Lande lag und deren Kirchtürme und Schornsteine bei klarem Wetter bis nach Thorde hin sichtbar wurden. Die Kinder waren auf dem weissen Dampfer bis zu dem Leuchtturm gefahren. Herr Mathiessen, der junge Lehrer, führte sie. Er war braun gebrannt und trug keinen Hut. Er sagte: "Da ist Thorde und da ist das Meer."
Die Mädchen begannen die winzigen roten und gelben Muscheln aufzusammeln, die zu Hunderten im Sand lagen. Die Knaben aber wollten den Leuchtturm besichtigen. Herr Mathiessen hätte ihnen gern den Gefallen getan, aber das Gehöft um den Leuchtturm war leer. Die Türe stand offen, doch kein Mensch war da. Nur ein Hund bellte.
Herr Mathiessen hatte Mühe, die Kinder wieder hinauszudrängen. Sie waren drauf und dran, den Turm auf eigene Faust zu erklimmen.
Nun standen sie alle unschlüssig vor der roten mannshohen Mauer, einige wollten fortlaufen, um den Wärter zu suchen, andere riefen schallend durch die hohle Hand. Sie sahen einen Mann auf dem Feld arbeiten und glaubten wohl, dass er der Gesuchte sein könnte.
Der Leuchtturmmauer gegenüber lag ein kleines strohgedecktes Haus. Ein junges Mädchen war vor die Türe getreten und betrachtete neugierig die vielen Kinder.
"Ohlik ist in Thorde", rief es.
Ohlik war wohl der Leuchtturmwärter. Herr Mathiessen hatte sich umgewandt und grüsste verwundert das junge Mädchen. Er wollte ein Gespräch beginnen, aber er musste an den Strand laufen, denn die Kinder fingen an, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und ins Wasser zu gehen.
Als er sie alle wieder beieinander hatte, war das junge Mädchen verschwunden. Herr Mathiessen wartete noch ein Weilchen, dann gab er das Zeichen zum Aufbruch.
Wie ein Hummelschwarm sangen die Kinder sich in das Dorf hinein. Sie waren alle blass und hohlwangig. Arme Kinder waren es, die in verräucherten Häusern hinter Fabriken wohnten. Sie hätten alle gemeinsam einen Namen tragen können, so ähnlich waren sie sich. Aber heute sangen sie, als hätte jedes von ihnen zehn Lungen. Es war ein freier Tag, die Sonne war da und ein Dorf, das Meer und das Vieh auf der Weide.
Sie sahen auch, dass auf dem Dache des Gasthauses eine Fahne wehte, und sie mussten lachen, weil ein grosser Vogel sich oben auf die Fahnenstange gesetzt hatte, als gehörte er dazu.
Der Wirt, der in der Türe stand, war furchtbar dick. Er hatte wohl viele Westen übereinander gezogen, anders konnten es sich die Kinder nicht erklären. Ihre Väter waren dünn wie die Heringe.
Der Wirt schüttelte Herrn Mathiessen die Hand und rief:
"Guten Tag, liebe Kinder!"
Es klang, als schmetterte eine Posaune, und man merkte, wie fleissig er an dieser Ansprache studiert hatte, so deutlich sprach er jede Silbe aus.
Die Kinder stellten sich im Halbkreis um Herrn Mathiessen und sangen.
Es hatten sich Leute angesammelt, die andächtig zuhörten. Das waren die Fischer von Thorde. Sie wohnten in dem Teil, den man das Dorf nannte, in den schmalen Strassen mit niedrigen Häusern nach dem Leuchtturm hin. Thorde selbst war eine Stadt, die an dem Flusse lag, der nahebei seinen Zugang zum Meere fand. Thorde hatte einen Hafen, den kleinere Seeschiffe oft anliefen. Die Fischer aber, die ausserhalb des Ortes wohnten, benutzten diesen Hafen nie. Sie zogen ihre Boote auf den Strand.
Hinter dem Gasthaus war ein grosser Garten. Da hatte der Wirt Lampions aufgehängt und Fähnchen. Die Fenster des Saales standen offen, und Herr Mathiessen liess einen hohen braunen Musikkasten spielen, darin alles versteckt war: Trompeten, Pauken, Flöten und Pfeifen. Es war eine herrliche Musik.
Zwischen den Bäumen war eine Schaukel befestigt, eine eigenartige Schaukel. An vier Stricken war sie aufgehängt, und man konnte in ihr bis in das grüne Blätterdach der Bäume fliegen.
"Das ist ja eine Wiege", rief ein Mädchen. Man sah es deutlich an den gebogenen Kufen.
Herr Mathiessen prüfte die Schaukel. Er lachte:
"Tatsächlich, eine Wiege."
Der Wirt erklärte es ihm.
"Die dänische Wiege", sagte er. "Vor vielen Jahren wurde sie einmal angeschwemmt. Das war ein merkwürdiger Tag. Manches Kind hier aus dem Dorf hat in dieser Wiege gelegen. Früher wurde sie oft ausgeliehen, aber das ist schon lange nicht mehr. Jahrelang lag sie oben bei mir auf dem Boden. Nun habe ich eine Schaukel daraus gemacht."
Ja, es war ein merkwürdiger Tag gewesen, als diese dänische Wiege bei Thorde angeschwemmt wurde. Man sagte "die dänische", weil man die eingebrannten Namenszüge als solche erkennen wollte.
Am frühen Morgen waren die Fischer damals mit vollen Netzen zurückgekommen. Lange war in Thorde kein so guter Fang gewesen. Das hatte eine grosse Lustigkeit gegeben, aber gegen Mittag verbreitete sich das Gerücht, dass ein Fischermädchen, namens Bieke, verschwunden wäre. Anfangs glaubte man, dass ihr etwas zugestossen war. Später aber stellte sich heraus, dass sie auf und davon ging, weil es ihr in dem kleinen Thorde zu eng werden wollte. Die Seeschiffe, die hin und wieder vorüberfuhren, hatten sie wohl davongelockt. Am Mittag also wurde Bieke vermisst. Während man noch nach ihr suchte, kam Boom Garde zurück. Er war dreissig Jahre von Thorde weggewesen. Nun hatte er ein Holzbein und zog wieder in das Haus, wo er als Kind herumgesprungen war. Das gab eine grosse Aufregung unter den Fischern. Auf einmal erlebte man an einem Tage mehr als sonst in einem Jahre. Nachts wurde dann die See laut, und am Morgen lag die Wiege am Strand. Boom Garde, der in der Welt herumgekommen war, sagte, dass sie von einem dänischen Schiff herrühren müsse. Er wollte ähnliche Wiegen schon gesehen haben. Auch der Name, am Seitenbrett eingekerbt, wäre ein dänischer, behauptete Boom Garde.
Der Wirt hatte recht, es war ein merkwürdiger Tag gewesen. Alles aber mündet wieder in das Alltägliche. Auch Bieke war nach Jahren zurückgekehrt, hatte alle Abenteuer der Welt vergessen, heiratete, begrub ihren Mann nach kurzer Zeit und wohnte nun mit ihrer Tochter Geesche in dem kleinen Haus gegenüber der Leuchtturmmauer.
Ja, alles mündet im Alltag. Boom Garde lebte still vor sich hin. Er schien nicht unzufrieden mit seinem Schicksal. Sein Holzbein sicherte ihm die Liebe der Kinder. Er setzte ihnen auseinander, wie alles mit dem Bein funktioniere. Sie sprachen überhaupt gern mit ihm über das Bein. Manchmal machte er seinen Scherz. Der Teufel hätte einmal mit einer Kiste nach ihm geworfen, erzählte er.
"Dabei ist das richtige Bein draufgegangen"
"Der böse Teufel", sagten die Kinder.
Manches von ihnen hatte in der dänischen Wiege gelegen, und wenn Boom Garde seinen gesprächigen Tag hatte, konnte er vielerlei Vermutungen zum besten geben.
"Sicher haben Kapitänskinder drin geschlafen", sagte er. Das konnte man schon glauben, denn die Wiege war gross, breit und mit vielen bunten Verzierungen.
Alles aber mündet im Alltag. Die Geschichte der Wiege war vergessen. Fremde Kinder, die aus der Industriestadt kamen, schaukelten nun darin im Garten des Gasthauses. Wohl drängten sich die Fischerkinder hinzu in ihren kurzen verblichenen Kitteln, mit ihren von Wind und Sonne verwaschenen Haaren, doch wagten sie nicht, den Schulkindern den Besitz streitig zu machen. Sie standen neugierig in kleinen Gruppen zusammen, so wie sie sich immer zusammenhielten, Kinderfamilien, wo ein älteres die jüngeren beaufsichtigte, sich erwachsen und verantwortungsvoll fühlte.
Die fremden Kinder bekamen Milch und Semmelbrot. Sie, die selber sonst von allen Glücksgütern des Lebens ausgeschlossen waren, sind heute die Bevorzugten. Sie dürfen Lampions tragen und Fähnchen. Für sie ist auch die Musik, die Herr Mathiessen immer wieder aus dem braunen Kasten hervorzaubert. Sie wissen fröhliche Spiele, Greif und Blindekuh. Sie singen und lärmen.
Die Kinder von Thorde aber stehen schweigend am Zaun.
Es sind jetzt auch Frauen und Mädchen gekommen, die zusehen wollen. Auf einmal steht auch das junge Mädchen unter ihnen, das Herr Mathiessen an der Leuchtturmmauer gesehen hatte.
"Ist Ohlik schon zurück?" fragt Herr Mathiessen und lacht dabei.
Das junge Mädchen wird rot. Geesche sagen die andern zu ihr.
"Geesche", sagt der junge Lehrer und lacht.
Wie rot sie geworden ist. Sie wohnt mit ihrer Mutter Bieke in dem letzten Fischerhaus am Leuchtturm. Vom Fenster aus kann sie nur die mannshohe Mauer sehen. Es wäre wohl schön, wenn sie aus dem Hause herauskäme. Ihre Mutter hat den Fischer für sie in Aussicht genommen, der ihr Boot betreut und die Netze, von denen sie leben. Aber Holms ist ein älterer Mann, der Geesches Vater noch gekannt hat. Zuverlässig ist er, und Geesche würde nichts auszustehen haben bei ihm. Doch sie ist jung. Achtzehn Jahre ist sie alt. Ach ja, es wäre schon schön, wenn sie aus dem Hause herauskäme.
Als Herr Mathiessen mit den Kindern in die Stadt zurück muss, gibt er Geesche die Hand. "Vielen Dank", sagt er. Geesche ist so verwirrt darüber, dass sie sich verlegen aus dem Garten drückt. Die anderen lachen und tuscheln. Da hat Herr Mathiessen schön was angerichtet.
An der Spitze der vielen Kinder marschiert er fröhlich davon. Zu dritt gehen die Knaben und Mädchen. Sie singen ein lustiges Lied. Unterhalb des Dorfes wartet der weisse Dampfer auf sie.
Die Kinder haben auch die Lampions und Fähnchen mitgenommen. Doch ein grosser gelber Papiermond ist zurückgeblieben. Den wollte Herr Mathiessen zur Erinnerung dalassen. Nun schaukelt er zwischen den Birken einsam an langer Schnur.
Die Kinder von Thorde haben sich jetzt der Wiege bemächtigt. Sie schwingen sich in das grüne Blätterdach. Sie wollen zeigen, dass sie es ebensogut verstehen wie die Schulkinder aus der Stadt.
Die Fischer sind in die Gaststube gegangen. Die Frauen aber stehen noch im Garten und sehen den Kindern zu.
Es ist ein warmer Abend geworden. Von der See her kommt ein Geruch von Tang und Fischen.
Ohlik war von seinem Weg nach Thorde zurückgekommen. Er hatte die Pfeife in Brand gesetzt. Die Lampen des Leuchtturms waren in Ordnung. Nun sprach er mit Bieke.
Man nannte Ohlik den Holzkapitän. Früher besass er ein eigenes Haus an den Holmen, war Eigentümer eines Schiffes, das in regelmässiger Fahrt mit Holzladungen unterwegs war, und betrieb ein Speditionsgeschäft, das seine Agenten in vielen Küstenplätzen hatte.
Man sagte, dass seine Frau zu teure Federn getragen hätte. Nun war sie seit Jahren tot. Aber mit den Federn war auch das Holz dahin, aus dem Ohlik ehemals manche tausend Taler zu münzen verstanden hatte.
Jetzt war ihm vom Hafenamt der Leuchtturm anvertraut worden. Dadurch wurde Ohlik bewahrt, bei einem anderen Reeder in Dienst zu gehen. Er war Kapitän wie zuvor.
In dem roten Steinbau hauste er allein. Hin und wieder sah Bieke nach dem Rechten. Dafür bekam sie manchmal ein Kleidungsstück, das Frau Ohlik getragen hatte und das der Kapitän nun in der Truhe aufbewahrte, die unter der Treppe stand.
Hin und wieder öffnete er in Biekes Beisein die Truhe.
In dem Schloss war ein Haken verrostet. Es schlug nur schwer zurück. Es war nicht leicht, diese Truhe zu öffnen.
"Da ist das gelbe Kleid", sagte er. "Damals tanzte sie noch die Gavotte."
Er strich über das gelbe Kleid.
Bieke hätte es gerne für Geesche gehabt, aber Ohlik hatte den Schatz schon wieder verborgen.
Manchmal jedoch schenkte er Bieke ein Kleidungsstück, eine Bluse oder einen Rock.
Die Truhe schien unerschöpflich.
Nun war Ohlik zurückgekommen und hatte sich in Thorde ein Messer gekauft. Ein Hirschfänger wäre es, sagte er. Es stand fest im Griff. Er zeigte es Bieke, aber sie hatte wenig Verständnis dafür.
Ohlik berichtete:
"Ich bin am Fluss langgegangen. Es kam ein Dampfer mit Musik."
"Auf den grossen Flüssen fahren die Dampfer oft mit Musik", antwortete Bieke.
"Du musst dich darin auskennen", sagte der Holzkapitän, "du bist ja in den Städten gewesen."
"Es werden die Schulkinder gewesen sein", meinte Bieke. "Sie wollten auch den Leuchtturm besichtigen."
Ohlik hätte diese Abwechslung gerne gehabt.
Sie werden wiederkommen", tröstete er sich.
"Sie sind fortgefahren mit Musik, du sagst es doch selber", beharrte Bieke.
Seit das Leben sie in das Haus gegenüber der Leuchtturmmauer gedrängt hatte, zerschlug sie gerne kleine Freuden.
Der Mann, der auf dem Felde gearbeitet hatte, kam jetzt hinzu. Es war Holms. Nun musste er nach den Netzen sehen. Mitternachts wollte er hinausfahren. Er blickte prüfend nach dem Himmel. Sommers müssen die Fischer, wenn unruhiges Wetter ist, oft dreimal nachts aufstehen, um nach dem Himmel zu sehen, und manchmal ist es ganz umsonst. Holms war in den letzten Tagen wenig zu Schlaf gekommen. Nun hatte er auch noch auf dem Felde gearbeitet, das Bieke gehörte. Man merkte ihm an, dass er müde war.
Er sagte: "Ich will mich noch etwas aufs Ohr legen."
"Die Netze sind klar", erwiderte Bieke.
Sie mussten ausgeklopft werden. Wenn ein Netz durch stürmische See allzusehr voll Dreck, Tang und Muscheln sitzt, wird es in heisser Sonne getrocknet, auf den Sand gelegt und geklopft. Man hatte jetzt oft stürmisches Wetter.
Ja, die Schulkinder hatten Glück gehabt, dass sie für ihren Ausflug diesen schönen Tag erwischten.
Holms zögerte noch etwas. Er sah Geesche kommen.
Er weiss, dass Bieke es gern sehen würde, wenn er sich Geesche zur Frau holte. Es ist auch schon zwischen ihm und Bieke darüber gesprochen worden. Sie hat auch vor ihrer Tochter kein Blatt vor den Mund genommen. Nun weiss Geesche es auch, dass sie Holms heiraten soll. Sie hat nichts dazu gesagt. Sie ist stiller geworden. Das ist ihre Antwort.
Bieke gibt nichts darauf. Aber Holms hat es gemerkt. Er behandelt Geesche vorsichtig. Er will ihr keinen Zwang antun. Freundlich will er zu ihr sein. Vielleicht, dass sie dann wieder gesprächiger wird.
Er sieht Geesche kommen, und obgleich er müde ist, überlegt er sich ein gutes Wort. Doch Geesche geht an ihnen vorbei ins Haus.
"Was hat sie denn?" fragt Bieke.
Dann ist auch Holms gegangen. Er hat einen schwerfälligen Gang. Wenn man seinen Rücken sieht, könnte man ihn für älter halten als er ist.
Bieke ist ärgerlich auf ihre Tochter. Es wird Zeit, dass man dem Mädchen einmal tüchtig den Kopf zurechtsetzt. Was bildet sich Geesche ein? Da ist das Haus, das Boot, das Netz und ein solider Mann.
Bieke hat ganz vergessen, dass sie vor vielen Jahren einmal auf und davon gegangen ist.
"Was will das Mädchen noch?" sagt sie zu Ohlik. "Holms ist ein nüchterner Mensch."
"Er ist zwanzig Jahre älter als sie", sagt Ohlik.
"Er ist im besten Alter", behauptet Bieke gereizt.
Sie wird nun auch ärgerlich auf den Leuchtturmwächter. Sie will ihm die Meinung sagen. Aber in diesem Augenblick hören sie Melitta rufen.
"Dole!" rief sie, "Dole!"
"Sie wird bei Boom Garde sein", antwortet Ohlik.
"Wo ist das Kind wohl sonst?" setzt Bieke hinzu.
Immer sind die Kinder um Boom Garde. Nur heute nicht, weil die Schule aus der Stadt da war und weil es vieles zu sehen gab. Die Kinder haben heute Boom Garde gar nicht vermisst. Bloss Dole sitzt bei ihm. Morgens schon läuft das Kind zu dem Alten. Manchmal versäumt es das Mittagbrot über seinen Erzählungen. Vier Jahre ist Dole alt, doch er behauptet, dass sie klüger wäre als die Elfjährigen.
"Das hast du von deiner Grossmutter", sagt Boom Garde. "Sie wohnt in dem Land in den Bergen. Sie hat einen schönen Namen. Wie heisst sie doch?"
"Emita", antwortet die Kleine.
"Was sind das für Namen", staunt Boom Garde. "Emita, Melitta, und du Dorothee. Aber für mich bleibst du Dole."
"Dole", wiederholt das Kind fröhlich.
Nun sitzen sie am Strand zwischen den Booten.
Rote Wolken hat der Abend gebracht. Davon ist die See rot. Weiterhin, draussen, schläft sie in einem grünen Schleier.
"Erzähl was", sagt Dole zu Boom Garde.
Sie ist unzufrieden mit ihm. Schweigsam ist er heute.
"Erzähl was!"
Aber er schweigt.
Manchmal nur greift er in die Tasche. Er holt ein Stück Papier hervor, das bunt ist wie ein Bild. Er betrachtet es, zerknüllt es und steckt es wieder ein.
"Was hast du da?" fragt Dole.
"Nichts", antwortet Boom Garde. Doch sie lässt nicht locker. Ja, nun muss Boom Garde es ihr zeigen.
Dole hat solch Bild noch nie gesehen.
"Dafür könntest du dir ein Schiff kaufen", sagt der Alte.
Das will Dole nicht glauben.
Es wäre eine Geldnote, erklärte Boom Garde. Ein Geldschein, der viele blanke Markstücke wert wäre.
Dole begriff das nicht. Boom Garde wusste nicht, wie er es dem Kinde klarmachen sollte.
"Gib her", sagte er, "du brauchst das noch nicht zu wissen."
Er wollte den Schein wieder in die Tasche stecken.
"Wo hast du das her?" fragte Dole.
"Die Post hat es gebracht", antwortete Boom Garde kurzhin.
"Schenk mir das Bild", bat Dole.
Der Alte erschrak. "Nicht doch", murmelte er.
Das Kind bettelte. Es war gewöhnt, dass Boom Garde ihm jeden Wunsch erfüllte.
"Es ist kein gutes Bild", sagte der Alte verwirrt.
"Ein schönes Bild ist es", beharrte das Kind.
Es hatte die Händchen ausgestreckt und wollte den Geldschein haschen. Boom Garde glaubte, mit Spass davon zu kommen. Er hielt den Schein hoch, versteckte ihn auf dem Rücken, liess ihn von der einen Hand in die andere gleiten, wunderte sich selbst darüber, wo der Schein wäre, und kramte in allen Taschen, scheinbar ohne ihn zu finden. So belustigten sie sich ein Weilchen.
"Nun ist's genug", sagte Boom Garde.
Er nahm an, dass das Kind den Geldschein bereits vergessen hätte. Dole sagte auch nichts mehr. Sie gingen dann dicht an das Wasser, weil der Alte als Ersatz für das Bild dem Kinde ein paar blanke Steine suchen wollte. Er nahm einen seltsam geformten Stein auf und liess ihn bellen.
"Da hast du einen Hund", sagte er.
Dole nahm den Stein nicht. Sie lehnte ihren Kopf dicht an Boom Garde und sagte mit flehentlichem Tonfall: "Du schenkst mir doch das Bild?"
Sie hatte es nicht vergessen.
Boom Garde seufzte. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Er sagte: "Glaub mir, Dole, es ist wirklich kein gutes Bild. Ich mag es selber nicht haben. Man hat es mir ins Haus geschickt. Nein, es ist kein gutes Bild."
Dole liess sich nicht beirren. Sie hatte behalten, was Boom Garde vorhin geäussert hatte.
"Ich will ein Schiff haben", sagte sie.
"Was will ein kleines Mädchen mit einem Schiff?" meinte Boom Garde. "Wenn du gross bist, werden viele Schiffe kommen, die dich holen wollen. Für kleine Kinder ist das Wasser zu gross. Da musst du noch warten."
"Du sollst mitfahren", antwortete Dole.
Darüber war Boom Garde gerührt: "Ei, du willst mich mithaben, kleine Hummel. Da werden wir zu deiner Grossmutter fahren. Die wird Augen machen, wenn sie dich sieht. Als sie das letztemal hier war, bist du noch ein kleines putziges Ding gewesen, das kein Wörtchen sprechen konnte. Jetzt kennst du schon ihren Namen."
"Ja, wir wollen zur Grossmutter fahren", entschied die Kleine. "Du musst gleich das Schiff kaufen."
Boom Garde hatte sich umständlich niedergesetzt. Dazu musste er sich immer mit grosser Vorsicht am Stock niederlassen. Nun sass er nachdenklich im Sand, sah vor sich hin und schien das Kind in diesen Augenblicken gar nicht zu beachten. Wenigstens antwortete er Dole nicht mehr auf ihre Bitten.
Nach einem Weilchen sagte er: "Du hast recht. Es soll ein Schiff sein."
Er holte den Geldschein aus der Tasche, strich ihn glatt und begann ihn kunstfertig zusammenzukniffen. Er legte die Hälften übereck, bog die Ränder um und wendete schliesslich sorgfältig alles. Nun war ein papierenes Schiff entstanden, das Boom Garde einen Dampfer nannte.
"Wir wollen ihn zu Wasser bringen", sagte er.
Da es für ihn zu umständlich war, gab er dem Kinde das Papierschiff und unterrichtete es, wie man dieses Schifflein behutsam auf das Wasser setzen müsse. "Du darfst aber nicht dabei ins Wasser fallen", ermahnte Boom Garde.
Dole betrachtete das Kunstwerk, dann tat sie eine kleine Muschel hinein und brachte das Papierschiff mit sorgsamen Fingerchen ins Wasser. Eine Welle kam, nahm es vom Sand weg, hob es auf und schaukelte mit ihm davon. Eine zweite Welle brachte das Schifflein zurück. Es hielt sich wacker, auch die Muschel lag noch darin.
Dole klatschte vor Vergnügen in die Hände. Boom Garde beobachtete fachmännisch den Vorgang. Wenn eine grössere Welle lang heranrollte, sagte er:
"Pass auf. Gleich geht es uns davon."
Es war klar, dass das Schifflein sich auf die Dauer in diesem Auf und Ab nicht halten konnte. Es schlug um, wurde patschnass, und die Muschel fiel heraus. Aber es kam jetzt nicht mehr bis an den Strand zurück, sondern es schwamm kieloben auf den sich ablösenden Wellen. Man konnte gut beobachten, wie es gegen seinen Untergang kämpfte.
Boom Garde und Dole merkten darüber nicht, dass Melitta herangekommen war.
"Da steckst du ja", rief sie und nahm das Kind am Arm. Sie war nicht unfreundlich mit der Kleinen. Es war nur die Hast, und weil sie mehrere Male vergebens nach Dole hatte rufen müssen.
Das Kind war auch gar nicht erschrocken.
"Wir haben ein Schiff", sagte es wichtig. "Das fährt zur Grossmutter."
"So ist es", bestätigte Boom Garde.
"Ihr beiden!" lachte Melitta. Sie freute sich, dass Dole an die Grossmutter dachte. Melitta hatte es gern, wenn sie von ihr sprechen konnte.
Sie wohnt in einem Stahlbad in den Bergen, pflegte sie zu sagen. Sie besitzt eine Villa in Juliusbad, gegenüber dem Schloss. Wenn ihr Töchterchen Dorothee herangewachsen wäre, sollte es ein paar Jahre bei der Grossmutter verbringen. In solchen Augenblicken nannte sie die Kleine Dorothee und nicht Dole.
"Wir haben das Schiff aus Geld gemacht", sagte das Kind.
"Was schwatzt du da?" brummelte Boom Garde.
"Aus buntem Geld", sagte das Kind.
Melitta sah Boom Garde fragend an, dann blickte sie auf das Papier, das ein Stück hin auf den Wellen schaukelte. Man konnte es kaum noch als Schiff ansprechen. Das Gefaltete hatte sich aufgelöst.
Melitta stutzte und trat dicht an das Wasser. Auf den vom Wolkenlicht rötlichen Wellen schwamm träge der bunte Geldschein.
Melitta starrte so gebannt hin, dass sich ihr Mund geöffnet hatte. Sie sah es deutlich: es war ein Geldschein. Jäh drehte sie sich zu Boom Garde um. Sie brachte kein Wort heraus. Der Alte nickte. Da raffte Melitta ihre Röcke hoch und watete ins Wasser. Hastig hatte sie ihre Schuhe abgestreift, so dass der eine von einer Welle ergriffen wurde. Boom Garde lachte. Dole aber wollte den Schuh festhalten, stolperte, und die nächste Welle netzte ihr Kleid. Da fing das Kind an zu weinen, doch hielt es krampfhaft den Schuh.
Melitta hatte den Geldschein erwischt. Sie stapfte zurück. Sie achtete nicht auf das weinende Kind. Sie wandte sich zu Boom Garde.
"Wem gehört das?" fragte sie heftig.
Der Alte druckste. Vielleicht machte es ihm Spass, nicht gleich zu antworten.
"Hä, wem?" rief Melitta.
Boom Garde begann sich zu erheben. Er humpelte auf Dole zu und streichelte dem Kind das Haar.
"Gleich kommt der grosse Fisch und frisst die Tränen", drohte er. "Happ, ist die Nase weg!"
Darüber musste Dole lachen.
Melitta wurde ungeduldig. Sie packte Boom Garde am Ärmel. Die durchnässte Geldnote hatte sie auf die flache Hand gestrichen.
"Nun?" forschte sie.
Boom Garde machte nicht viele Worte. Er sagte nichts weiter als: "Niemand."
Melitta fuhr auf. "Das Geld muss doch wem gehören. Es ist keine Kleinigkeit. So viel Geld!"
"Hol's der Teufel", knurrte Boom Garde.
Er hatte Dole an die Hand gefasst: "Komm!" Er ging mit ihr davon.
Melitta blieb einen Augenblick stehen. Sie betrachtete den Geldschein. Sie hielt ihn hoch. Sie prüfte wohl, ob er echt wäre. Dann lief sie hinter Boom Garde her.
"Muss ich es abgeben?" fragte sie. Sie sprach leise. Sie war dicht an seinem Ohr.
"Mach, was du willst", antwortete der Alte. "Ich hab kein Anrecht mehr daran. Es gehört der See. Schluss damit!"
Melitta schien sich noch nicht sicher.
"Wo hast du es her?"
Sie stellte dieselbe Frage wie vorhin das Kind.
"Das kann dir gleich sein. Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Es ist entschieden."
Melitta merkte, dass Boom Garde wütend wurde. Sie "wollte ihn nicht reizen. Schmeichelnd sagte sie:
"Ich werde es für Dole aufheben."
"Nicht für das Kind", antwortete Boom Garde erschrocken. "Es ist Teufelsgeld."
"Ach was", lachte Melitta, "Geld ist Geld! Ich kann es gut gebrauchen."
Nun wollte sie sich ausschütten vor Lachen. Sie war ganz närrisch vor Freude. Sie trug die Schuhe in der Hand. Zierliche Füsse hatte sie. Nicht so grobe wie die Fischermädchen. Sie hatte auch eine weisse Haut und achtete darauf, dass die Sonne sie nicht bräunte. Sie war stolz darauf, so zart wie Milch und Blut zu sein. Wie eine Miss, sagte ihr Mann immer. Er musste es wissen, er fuhr viel auf See. Er kam weit in die Welt.
Melitta ist an Boom Garde vorbei und an Dole nach Haus gelaufen. Sie steht am Herd und lässt den Geldschein auf einem Topfdeckel trocknen. Sie achtet ängstlich darauf, dass er nicht zu viel Hitze bekommt. Sie streift zärtlich mit der Hand darüber. Der Schein ist nun glatt und trocken. Keine Spur von der See ist mehr an ihm. Melitta lässt ihn in der Schürzentasche verschwinden.
In der Stube steht sie vor dem Spiegel. Sie ordnet das Haar. Einen Augenblick nur. Sie hat nicht viel Zeit. Das Geld hat eine grosse Melodie. Es ist, als sei ein Spielmann gekommen, der vor dem Fenster steht und lockt und singt. Melitta wiegt sich, trällert und lacht.
Auf dem Schrank verstaubt steht ein Segelschiff. Ein steiler Dreimaster, den Boom Garde zurechtgebastelt hatte, damals, als seine Hände noch geschickt waren für Messer und Zange. Über dem kühnen Segler der Meere aber hing die reitende sündige Frau aus dem Land in den Bergen. Grossmutter Emita hatte diese Hexe einmal mitgebracht, die auf einem Besen reitet. Nacktes Holz ist es, das an einem Bindfaden an der Decke aufgehängt wird. Nun hat die Hexe ihren Platz über dem schlafenden Schiff.
Ja, in Melittas Stube war das verwirrende Land aus den Bergen eingebrochen. Silber grub man aus seinen Erdschichten, das Innere der Felsen funkelte von Alabaster und an den Wegen lagen die Schmucksteine. Ein reiches Land sollte es sein, ein gesegnetes Land. Wie konnte man Emita beneiden, dass sie dort wohnen durfte.
Melitta zog hastig einen Kasten auf. Sie nahm eine Brosche heraus und befestigte sie am Tuch. Auch diese Brosche stammte aus jenem gepriesenen Land. Emita hatte sie einmal mitgebracht. Bräunliche Steine waren es, in dünnem Golddraht gefasst.
"Das sind Katzenaugen", hatte Emita gesagt. "Solche Steine findet man bei uns. Beliebte Schmuckstücke sind es. Sie werden gerne getragen."
Nun schmücken die fremden Steine das wollene Tuch, das Melitta trägt.
Boom Garde hat Dole an der Hand. Er ist unruhig. Was habe ich da angerichtet, denkt er. Ich hätte es ihr nicht lassen sollen. "Komm", sagt er zu dem Kind, "komm schnell. Es ist schon spät. Du musst ins Bettchen. Sonst kommt der Seehund und schnappt nach Dole."
Der grosse Seehund wird nicht kommen. Lange ist es her, dass der letzte vor Thorde gesehen wurde. Früher manchmal kam einer unbeholfen an den Strand. Dann schlugen ihn die Fischer tot. Als Öl für ihre Lampen brauchten sie das Seehundsfett. Bei solchem Licht wurden Netze gestrickt und gesponnen.
Damals war Thorde nicht grösser als wenige Fischerhäuser. Man baute selbst den Hanf für die Netze. In der Stube am Fenster stand damals die Spindel. Das alles ist längst vorbei.
Dole ist stehengeblieben. Sie trampelt eigensinnig mit den Füssen. Sie lässt sich durch den Seehund nicht einschüchtern, den Boom Garde heraufbeschwören will.
"Mein Schiff ist fort", brüllt das Kind.
Es ist ihm plötzlich klargeworden, dass die Mutter das Schiff weggeholt hat.
"Mein Schiff", brüllt Dole, "mein Schiff!"
Boom Garde tröstet:
"Es ist schon weit weggeschwommen. Kannst es glauben. Da hinten, siehst du, ganz hinten schwimmt es."
Dole steht auf den Zehen. Sie reckt den Kopf.
"Wo ist es?" fragt sie schluchzend. "Es soll zur Grossmutter fahren."
"Da ist es schon bald", behauptet Boom Garde. "Pass auf, schon ist es da."
Es gelingt ihm, das Kind allmählich zu beruhigen. Aber es ist viel Zeit darüber versäumt worden. Als sie nach Hause kommen, ist Melitta schon fort.
Boom Garde bringt Dole zu Bett. Das ist keine Kleinigkeit. Besonders, wenn man alt und unbeholfen ist und das Kind vorher noch sich allerlei Spiele ausdenkt.
"Fang mich", ruft Dole, und versteckt sich hinter dem Stuhl.
"Such mich", und schlüpft unter die Bettdecke.
Als Boom Garde zupacken will, ist sie schon fort. Hockt hinter dem Schrank und schreit: "Huh!"
Nein, sie macht es Boom Garde nicht leicht mit seinem schwerfälligen Bein. Schliesslich aber kommt doch der Schlaf, und der Alte atmet erleichtert auf. Über dieser lustigen Jagd hat er für Augenblicke Melitta vergessen. Er ist auch selber etwas müde geworden und druselt auf dem Stuhl. Es ist tatsächlich schon neun Uhr, als er seine Gedanken wieder beisammen hat. Die alte Standuhr schlägt gerade. Pagel hat sie einmal in Holland gekauft. Eine friesländische Uhr ist es, eine alte Uhr. Sie hat einen holpernden Schlag.
Neunmal schnarrt es im Uhrwerk. Boom Garde rappelt sich auf. Das Geld, denkt er. Was wird sie damit anstellen?
Er lacht. Zuzeiten hat sie den Satan im Leib.
"Den Satan", sagt er halblaut und gähnt. Er gähnt lange. Er muss die Müdigkeit erst ausatmen. Lange gähnt er.
Plötzlich fährt er auf. Es ging eine Türe.
Melitta? denkt er. Man hatte schon Sorge. Man kann nie wissen, was sie anstellt, wenn sie soviel Geld in den Fingern hat. Manchmal jedoch sind die Weiber vernünftiger, als man glaubt. Gut, dass sie da ist. Das viele Geld. Hätte was werden können. Boom Garde ist beruhigt. Nun reckt er sich wieder.
Aber es ist gar nicht Melitta.
Boom Garde reibt sich die Augen: "Du, Pagel? He, he, Pagel!"
Da steht er im blauen Anzug, mit der blauen Mütze, einen kleinen Koffer in der Hand.
Pagel.
Man hatte die Ladung schneller zusammenbekommen. So konnte man schon drei Tage früher in See gehen und war drei Tage früher zu Haus.
Melitta ist nicht da. Nein, sie ist nicht hier. Wo sie sein mag? Bei Bieke wohl. Wo soll sie sonst stecken? Die Weibsleute sitzen immer zusammen. Nun, sie wird schon kommen.
"Da ist Dole. Sie schläft. Weck sie nicht auf, Pagel. Kannst ihr morgen geben, was du mitgebracht hast. Man hatte seine Mühe, sie in Schlaf zu kriegen. Du lachst, Pagel? Ja, ja, der alte Boom Garde versteht schon. Alte Leute und kleine Kinder, das kann gut zusammen kramen. Wenn die Kinder grösser werden, wird's schon kniffliger. Manchmal soll's sogar unleidlich sein, hat man gehört. Nun, aber Dole ist ein gutes Kind. Ein kluges Kind. Das hat sie von ihrer Grossmutter."
"Mach kein Gesicht, Pagel. Du weisst schon, wie ich's meine. Siehst du, wir Männer. Was tun wir Männer? Wir schuften, wir haben harte Hände und müssen durch allen Dreck. Wir Männer, verstehst du, haben keinen Sinn für Feinkram. Das kann man uns nicht übelnehmen. Aber die Frauen, siehst du, die haben das. Kannst stolz sein auf Dole. Sie ist ein zierlicher Vogel."
"Was schwatzt du da alles, Boom Garde? Sonst bekommst du keine drei Worte heraus. Es hat wohl Machandel gegeben?"
"Machandel? Nein, nein, wo denkst du hin? Das hat man sich abgewöhnt. Manchmal ein Gläschen. Nun ja."
"Wo Melitta bleibt!"
Pagel wird ungeduldig. Er ist vier Monate auf See gewesen.
"Kann sie wissen, dass du schon da bist? Hättest du ihr Nachricht gegeben, wäre sie hier, und das Abendbrot stünde auf dem Tisch. Willst du was essen? Kannst sitzenbleiben. Ich weiss Bescheid in der Küche. Muss Dole oft eine Stulle schneiden. Bleib ruhig sitzen. Hier ist Tabak. Du willst nicht essen? Na schön. Zieh kein Maul, Pagel. Ich kenne Melitta. Sie ist nicht die Schlechteste. Ich halte nicht viel von Weibern. Mir hat der Teufel einmal mitgespielt. Der Teufel –"
Boom Garde kommt ins Stocken. Er blickt Pagel unsicher an. Er sagt: "Schwamm drüber."
Pagel wird aufmerksam.
"Was ist denn hier los?" fragt er. Dabei blickt er sich um. Aber alles steht an seinem Platz.
"Was soll denn los sein?" wundert sich Boom Garde.
Pagel ist aufgestanden. Er sagt: "Ich will Melitta holen."
"Warum denn? Sie wird schon kommen. Na ja, wenn du meinst. Frag einmal nach bei Bieke. Da ist sie bestimmt. Richtig, sie hat's gesagt. Ich geh zu Bieke, hat sie gesagt. Kannst glauben. Ich geh zu Bieke. Sie werden was zu schwatzen haben. Heute war eine Schule hier. Viele Kinder aus der Stadt. Sie wollten auch den Leuchtturm besteigen. Aber Ohlik war nicht da. Er war in Thorde. Da hat er ein Messer gekauft. Einen Hirschfänger nennt er es. Es steht fest im Griff. Musst es dir mal ansehen. Du willst also wirklich gehen?"
Boom Garde schwatzt noch in der Türe.
"Schön", sagt Pagel, "ich soll auch Ohlik einen Gruss bestellen. Mein Kapitän und er sind alte Bekannte."
Dann geht er den Weg zum Leuchtturm.
*
Die Fischer sitzen in der Gaststube. Der dicke Wirt lacht:
"Wir sind noch jung, wir sind noch nicht auf dem Nachhauseweg."
Einer der Burschen spendiert eine Lage. Die Jungen haben Geld in der Tasche, die Alten bloss ihren Fisch im Netz. Die Jungen arbeiten im Hafen von Thorde. Sie verdienen gutes Geld. Später lassen sie sich anheuern und fahren einige Jahre auf See. Wenn sie älter sind, werden sie nach Thorde zurückkehren. Dann nehmen sie eine Frau und werden auch an den Netzen sitzen. Jetzt aber führen sie noch das grosse Wort.
Der dicke Wirt ist vergnügt. Er hat zu tun. Er muss die Gläser füllen. Manchmal wischt er sich den Mund. Die Leute behaupten, er wäre sein bester Gast. Manchmal wischt er sich die Augen. Denn die Gaststube ist von Tabak verqualmt.
"Das ist ein Hecht", lacht der Wirt. "So einen im Netz und zwanzig Jahre alt."
Er pfeift durch die Zähne.
Mit der Hand schlägt er in den Qualm: "Platz für die Lunge!" Sein Gesicht ist krebsrot. Er hat den Kragen abgeknöpft und die Ärmel aufgekrempelt. "Ein anstrengender Tag heute. Schulkinder. Ja, ja, solche Schulkinder. Das will alles versorgt sein, versteht ihr? Meine Frau ist eine fixe Person. Sonst wär's gar nicht zu schaffen."
Er blickt zu ihr hinüber. Er weiss nicht, ob sie seine anerkennenden Worte gehört hat. Nein, sie hat seine Worte wohl nicht gehört. Sie sitzt mit einer Handarbeit auf dem Sofa tief unter der Lampe. Sie ist eine schmale scheue Frau. Er hat ihr allen Platz fortgenommen in der Ehe. Als sie heirateten, war er noch Kellner in dem Hotel am Bahnhof von Thorde. Damals war er noch schlank vom vielen Laufen. Aber die Ehe hatte bei ihm gut angeschlagen, wie man sagt. Nun war er selber Wirt und von Statur.
Seine Frau hiess Wanda.
"Verdirb dir nicht die Augen, Wanda!" rief er. "Sie muss immer fleissig sein", sagte er zu den Fischern.
Das waren seine Zärtlichkeiten.
Ab und zu hatte der Wirt in den Garten gesehen. "Man muss aufpassen, dass nichts passiert. Wenn ein Kind von der Schaukel fällt, ist der Teufel los." Er war froh, als die Mütter ihre Kinder nahmen und nach Haus gingen. Dann juchzten ein Weilchen noch die Mädchen auf der Schaukel, und die jungen Burschen überlegten, ob sie zu ihnen hinausgehen oder beim Bier bleiben sollten. Schliesslich begnügten sie sich damit, gegen das Fenster zu klopfen und zu den Mädchen hinauszudrohen.
Nun waren auch die Mädchen gegangen.
Die Burschen liessen die Gläser vollschenken und tranken. Die Fischer standen einer nach dem anderen auf, redeten noch ein paar Worte im Stehen und gingen. Das Wetter schien sich gut anzulassen. Sie wollten um zwölf hinausfahren. Die Jungen aber liessen sich die Karten geben. Der Wirt stellte auch den Würfelbecher auf den Tisch. Er setzte sich zu ihnen, etwas abseits, schräg auf den Stuhl und sah ihnen ins Spiel.
Die Jungen spielten schweigsam und hartnäckig. Manchmal nur fiel ein polterndes Wort. Der Wirt gähnte. Er war unzufrieden mit dem Kartenspiel. Es ging ihm zu langsam.
"Das hat keinen Leib und keine Seele", sagte er. Er schob seinen Stuhl an den Tisch heran und nahm selber die Karten.
"So", sagte er, "nun wollen wir der Alten mal das Haar kämmen."
Er knallte Karte für Karte auf den Tisch.
"Da geht einem der Hut hoch, was?!" schrie er.
Sie wurden jetzt hitzig beim Spiel. Sie tranken hastig hin und wieder. Sie liessen sich nicht aus den Augen.
Unter der Lampe sass die Frau und nähte.
Dann wurde die Türe aufgemacht und Melitta kam herein. Sie setzte sich zu der Frau an den Tisch. Man hatte kaum Notiz von ihr genommen. Nur der Wirt drehte sich flüchtig um und nickte. Die Frauen sprachen zusammen. Melitta betrachtete die Näherei.
"Eine hübsche Brosche", sagte die Wirtin.
"Ja", antwortete Melitta, "es sind Katzenaugen."
Sie nahm die Brosche ab und zeigte sie. Wirklich, eine schöne Brosche.
"Willst du sie haben?" fragte sie plötzlich.
Die Wirtin blickte Melitta verwundert an.
"Ich?" fragte sie.
"Ja", lachte Melitta, "ich schenk sie dir."
Was war denn mit Melitta los? Sie verschenkt ihre Brosche? Katzenaugen sind es aus dem Land in den Bergen.
"Schön sieht sie aus auf deiner roten Bluse. Wir kennen uns gut genug. Du kannst sie ruhig annehmen."
Die Wirtin zögert.
"Wir werden uns noch um die Brosche zanken", lacht Melitta.
Sie hat recht. Die Brosche sieht gut aus auf der Bluse.
"Zier dich nicht", ruft Melitta, "heut ist ein Glückstag!"
Ihre Hand huscht in die Schürzentasche. Der Geldschein ist noch da.
"Heut ist ein Glückstag", sagt Melitta. Ihre Augen sind unruhig.
"Ich weiss wirklich nicht", meint die Wirtin noch immer zaudernd. Aber dann bedankt sie sich. "Ich werd's schon einmal gutmachen. Ich weiss auch schon was."
Sie denkt an eine Spitze, die sie Melitta häkeln will, einen Spitzenkragen. Über diesen Einfall ist sie froh. Sie freut sich jetzt wirklich über die Brosche. Sie steht auf und füllt zwei Likörgläser.
"Sieh einer die Frauen an", sagt der Wirt gutgelaunt. Er hat das Spiel gewonnen und holt nun die Lage Bier, welche die anderen bezahlen müssen.
"Sieh einer an!" Er ist zu den beiden Frauen an den Tisch getreten. Er sieht sofort die Brosche.
"Was hast du denn da?"
"Das hat mir Melitta geschenkt", sagt die Wirtin etwas ängstlich. Sie weiss nicht, wie es ihr Mann aufnehmen wird. Aber der lacht vergnügt.
Dann fällt ihm wohl ein, dass es eine wertvollere Brosche sein könnte.
"Wir werden uns revanchieren", sagt er, "es ist eine schöne Brosche.
"Katzenaugen", sagt jetzt die Wirtin.
"Beinahe Natur", lobt der Wirt. "Wir werden uns revanchieren."
Er kommt mit frischen Gläsern. Er nimmt eine Flasche vom Regal und stellt sie auf den Tisch.
"Wir trinken doch gern einen", zwinkert er zu Melitta.
Die Wirtin gibt ihm einen Wink. Nimm doch die Flasche weg, bedeutet ihr Blick.
Aber der Wirt beachtet diesen Blick nicht. Er entkorkt die Flasche. Er reibt den Pfropfen gegen das Glas, dass es einen singenden Ton gibt. Er zieht den scharfen süsslichen Duft ein.
"Ein Mittel gegen die Zimperlichkeit", sagt er zu seiner Frau.
Nun stossen sie an und trinken.
Melitta schiebt ihr Glas wieder hin.
Doch Frau Wanda, die Wirtin, will nicht mehr trinken. Sie hat sich mit ihrer Näharbeit in die Sofaecke zurückgezogen und arbeitet langsam im matteren Licht.
Der Wirt erzählt jetzt von den Schulkindern. Das ist das grosse Ereignis. Er spricht auch von Herrn Mathiessen, dem Lehrer.
"Ich glaube, er hat Geesche den Kopf verdreht. Sie lief puterrot weg. Ein stattlicher Mann übrigens, der Lehrer. – Wann kommt denn Pagel zurück?" fragt er zwischendurch.
"In drei Tagen frühestens", antwortet Melitta. "Sie haben dieses Mal die Ladung nicht so schnell zusammenbekommen."
"Da ist er ja gut seine vier Monate weg gewesen", stellt der Wirt fest.
Melitta seufzt. Sie ist daran gewöhnt.
"Der Mensch gewöhnt sich an alles", sagt der Wirt. "Auch an das, was nicht ist."
Sie haben nun schon mehrere Glas getrunken. Die Wirtin möchte die Flasche gern fortnehmen, aber sie wagt es nicht.
Als sie das früher einmal versuchte, hatte sie einen Schlag auf die Hand bekommen. Das ist schon Jahre her, doch hat sie es nicht vergessen.
Damals war Pagel aufgesprungen und hatte den Wirt gepackt:
"Schämst du dich nicht?"
Darum ist der Wirt nicht so gut auf den Seefahrer Pagel zu sprechen. Er stichelt gerne, aber er versichert:
"Es bleibt alles im Scherz."
Nun, wo das Gespräch auf Pagel gekommen ist, sagt er zu Melitta: "Prost, Frau Kapitän!", feixt und sagt:
"Er wird's schon noch zum eigenen Schiff bringen. Gut Ding will Weile."
Das ist das, was Melitta sich immer gewünscht hat. Ein eigenes Schiff haben und ein eigenes Haus in einer grossen Hafenstadt. Als sie vor zehn Jahren heiratete, glaubte sie, diesen Wunsch rascher erfüllt zu sehen.
"Ein Seemann verdient gutes Geld", hatte Emita, ihre Mutter, damals gesagt. "Pagel ist ein solider Mensch, er wird bald Kapitän sein. Um solche Menschen wie Pagel reissen sich die grossen Reedereien. Ich habe auch einmal einen Kapitän gekannt. Ich weiss nicht mehr, wie er hiess. Das war zu der Zeit, als du geboren wurdest. Ich hatte damals andere Dinge im Kopf. Dein Vater war mit seiner Kapelle nach Rio gefahren. Er war ein grosser Künstler. Es war auch ein gutes Engagement. Erstklassig, sage ich dir. Er wäre berühmt geworden, dein Vater, aber er ist in Rio gestorben, der Arme. Gott habe ihn selig. Er starb am Sumpffieber, das ist eine schleichende Krankheit. Auch Robuste sterben daran. Dein Vater hatte einen empfindlichen Körper."
Melitta hatte Pagel geheiratet, weil Emita ihr zusetzte.
"Greif zu, Kindchen", hatte sie gesagt. "Ich bin deine Mutter. Ich würde dir nicht zureden, wenn ich nicht glaubte, dass es eine gute Partie wäre. Ihr habt euer eigenes Häuschen in Thorde. Welches Mädchen heiratet gleich ein eigenes Haus. Du weisst doch, dass ich dir nichts mitgeben kann. Was können wir Künstlerinnen schon ersparen? Ich konnte dich nicht einmal bei mir behalten. Eine Tänzerin mit einem Kind, und der Vater gestorben, das ist eine Katastrophe."
Das hatte Emita gesagt. Ja, sie konnte auch die Hände falten und sagen:
"Ich habe immer dein Bestes gewollt. Ich wollte dich frühzeitig ausbilden lassen, aber dann bekam ich das Engagement in das Ausland. Als ich zurückkam, war es zu spät für deine Ausbildung. Fünfzehn Jahre war ich im Ausland. Nun, das hab ich dir ja schon hundertmal erzählt. Es war der grösste Schmerz meines Lebens. Aber vielleicht ist es gut so, Künstlertum ist Glanz und Flitter, weiter nichts."
Darüber war Emita ins Weinen gekommen, damals, als sie Melitta verheiraten wollte.
Das war vor zehn Jahren gewesen, als Emita so sprach. Damals besass sie noch nicht die Villa in Juliusbad, in dem Land in den Bergen. Sie war vierzig Jahre alt und verdiente sich ihr Geld noch immer als Tänzerin in den Singspielhallen. Sie tanzte einen holländischen, einen schwedischen und einen spanischen Tanz. Später musste sie den spanischen Tanz aufgeben, weil er zu anstrengend war. Dafür tanzte sie einen langsamen Walzer.
Jetzt aber besitzt Emita das Haus gegenüber dem Schloss.
Melitta hatte Pagel geheiratet.
"Wir sind verschiedene Naturen", sagte sie zu dem Wirt.
"Er ist ein korrekter Mensch", warf die Wirtin dazwischen.
"Die Korrektheit in Person", antwortete der Wirt gereizt.
"Ich nehme es auch genau", sagte Melitta.
Der Wirt schob ihr ein volles Glas hin.
"Du hast anderes Blut", meinte er anerkennend.
Melitta trank. Sie hielt sich die Hand wie eine Serviette vor.
"Mein Vater war Künstler", sagte sie, "und meine Mutter –"
Die Wirtin unterbrach:
"Sie hat sich nicht viel um dich gekümmert."
Nein, das hatte sie nicht. Aber als Dorothee geboren wurde, war sie gekommen. In einem schwarzen seidenen Kragenmantel, die Tasche gefüllt mit lauter bunten Nichtigkeiten. Auch eine bronzene Kuhglocke war darunter mit einem verwischten Bild von Juliusbad.
"Die Kühe sind alle braun bei uns und tragen Glocken", erzählte Emita.
Sie hatte an der Wiege gestanden und zwölf funkelnde Talerstücke auf dem rosa Deckchen ausgebreitet.
"Kleine Prinzessin", hatte sie gesagt und das bronzene Glöckchen geläutet.
Damals war ja Emita schon reich. Sie wohnte in der Villa und hatte das Tanzen aufgegeben. Der alte Herr war aufgetaucht, der Millionär. Der treueste Freund ihres Lebens, wie sie ihn nannte.
"Sie hat sich nicht viel um dich gekümmert", sagte die Wirtin.
Melitta hatte Glas um Glas geleert. Immer schenkte der Wirt ihr wieder ein.
"Wir wollen uns nicht lumpen lassen", sagte er. "Es ist eine schöne Brosche. Wie heisst sie doch? Katzenstein. Trink, Melitta. Heute soll mal Sonntag sein."
Ja, Melitta hatte schon viel getrunken.
Sie beugte sich vor und streichelte der Wirtin die Hand.
"Was hätte sie wohl tun sollen?" fragte sie.
"Sie hätte dich zu sich nehmen können", sagte die Wirtin.
Das hatte Melitta auch oft gedacht. Wie anders wäre dann das Leben geworden. Sie sass ein Weilchen still da und blickte vor sich hin. Sie hatte verschwommene Augen. Plötzlich sprang sie auf, stemmte die Hände in die Hüften, torkelte etwas und rief:
"Ich hab auf feine Wäscherei gelernt und Glanzplätten."
Die jungen Burschen, die bis jetzt vor sich hingedöst hatten, fuhren auf und lachten.
Melitta wandte sich zu ihnen und schrie:
"Was lacht ihr? In meinen Kragen konnte man sich spiegeln!"
Die Burschen liessen nicht nach in ihrem dummen stolpernden Gelächter.
Sie trat zu ihnen an den Tisch und schrie:
"Dreckkerle!"
Die Burschen wieherten vor Vergnügen. Sie taumelte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem vorhin der Wirt gesessen hatte.
"Dreckkerl", sagte sie und fuhr dem einen Burschen durch das Haar. Es war volles blondes Haar.
"Gib mir was zu trinken", sagte sie zärtlich.
Der Bursche bot ihr sein Glas an. Es war halbvoll. Sie stiess das Glas um. Das Bier floss über den Tisch. Sie war wütend. Der Wirt beeilte sich, sie zu beruhigen. Er kam mit einem Likör.
"Ich hab's ja gewusst", seufzte die Wirtin.
Ach ja, sie kannte Melitta.
Da sass sie nun zwischen den Burschen und trank.
"Ihr könnt ihm nicht das Wasser reichen", sagte sie. "Er kennt die Welt und was wisst ihr? Nichts wisst ihr. Ihr habt keinen Horizont."
Manchmal liebte Melitta solche Worte.
Die Burschen versuchten, Witze zu machen. Sie liessen Melitta reden. Sie hatten ihren Spass daran und bestellten ein Bier nach dem andern. Der Wirt schmunzelte. Seit langem hatten sie nicht solche Zeche gemacht.
"Ihr könnt ihm nicht das Wasser reichen", lallte Melitta.
Sie hatte zuviel getrunken. Sie wollte mehr trinken. Der Wirt goss ihr nichts mehr ein. Er glaubte wohl, dass die Brosche nun bezahlt wäre. Er hatte eine ganze Flasche spendiert.
"Giess ein", forderte Melitta.
Der Wirt hielt die leere Flasche gegen das Licht.
Melitta griff plötzlich in die Schürzentasche. Der Geldschein – ja, der Geldschein war noch da. In der Tasche knüllte sie ihn zwischen den Fingern. Sie wollte ihn auf den Tisch werfen, aber sie besann sich. Sie strich über den Schein in der Tasche.
"Was hast du denn da?" fragte der Wirt neugierig.
Sie hatte die Hand fest um den Schein geschlossen. Sie fuchtelte mit der geschlossenen Hand durch die Luft. Sie barst fast vor Lachen. Ihr Körper schütterte hin und her.
Der Bursche, der neben ihr sass, wollte nach ihrer Hand greifen. Sie schlug ihm ins Gesicht. Dabei hatte sich ihre Hand geöffnet, und der Geldschein fiel auf den Tisch.
"Tausend!" schrie der Wirt.
Die Burschen starrten blöde auf den Schein. Melittas Nachbar hatte den Schlag vergessen. Er sah nur das Geld.
Melitta griff hastig zu. Sie verbarg blitzschnell den Schein. Sie blickte den Männern lauernd ins Gesicht. Sie hielt die Hand auf die Tasche gepresst.
Auf einmal ist es nicht mehr gemütlich in der Gaststube.
"Soll's noch eins sein?" fragt der Wirt beklommen, und nimmt den Burschen die leeren Gläser fort. Sie sind noch verdutzt. Sie geben keine Antwort. Der Wirt stellt ihnen die Gläser wieder hin.
Auch Melitta bekommt nun ihr Glas.
Die Wirtin hat ihre Arbeit zusammengepackt. Sie mag nicht mehr dasitzen und zusehen. Sie ahnt, dass dieser Abend nicht gut ausgehen wird.
"Hast du gesehen?" fragt der Wirt leise.
"Nein", antwortet die Wirtin. "Ich will's auch nicht."
Sie hatte den Vorgang deutlich beobachtet. Woher hatte Melitta wohl das viele Geld? überlegte sie.
"Wie spät ist es eigentlich?" fragt sie dann.
Vielleicht will sie Melitta daran mahnen, dass es Zeit ist, sich um das Kind zu kümmern.
Der Wirt blickt auf die Nickeluhr.
"Neun", sagt er. "Noch früh am Tage."
"Neun", wiederholt Melitta. Sie starrt ihn an.
"Still", sagt sie.
Sie sitzt einen Augenblick zurückgelehnt da, den Kopf nach der Tür. Dann wendet sie sich zu den Burschen und sagt:
"Ihr könnt ihm nicht das Wasser reichen."
Auf einmal seufzt sie. Es sind Tränen in ihren Augen. Für eine Minute scheint sie ganz verfallen –.
Die Wirtin hat ihre Arbeit genommen und ist hinausgegangen. Melitta zittert, als sie die Tür gehen hört. Sie sieht sich um. Die Wirtin war gegangen. Nichts weiter.
"Du hast ein unruhiges Herz", sagt der Wirt.
"Ach was", lacht Melitta.
Viele dürre Tage hat das Jahr. Wenn die Menschen Blumen wären, würden ihrer viele vertrocknen.
"Ach was", lacht Melitta. Sie zeigt auf eine Flasche, die der Wirt holen soll. Er macht auch keine Umstände mehr. Melitta hat ja einen Haufen Geld in der Tasche.
Die Burschen sollen mithalten.
"Du hast schönes Haar", lobt Melitta.
Es ist der, dem sie vorhin ins Gesicht geschlagen hat. Der Bursche streicht über das Haar. Er ist eitel. Er hat eine Braut. Ein Dienstmädchen in Thorde. Sein Vater wird es nie zugeben wollen. Er hat an Antje gedacht oder an Deeke, aber das Mädchen aus Thorde trägt seidene Strümpfe und Handschuhe, wenn sie sonntags zum Tanz geht. Der Bursche ist stolz auf seine Braut. Wenn es nicht anders geht, werden sie in die Industriestadt heiraten. Da wird es schon Arbeit geben, auf der Armaturenfabrik oder bei der Post. Orge heisst er – und Holms, der Geesche heiraten soll, ist sein Onkel.
"Du hast dickes Haar, Orge", sagt Melitta.
Es ist nun schon so, dass sie von jedem Glas trinkt.
Die Burschen fühlen sich bedrückt. Sie verstehen bloss mit ihren Mädchen umzugehen. Solch ein Mädchen nimmt man einfach um die Taille. Sie hocken wie Fische am Tisch, glotzend und stumm.
"Fischköpfe", sagt Melitta. "Was hast du für Gäste? Die haben alle schon mal im Meer gelegen."
"Sie haben zuviel Fische gegessen", grinst der Wirt. "Fische statt Muttermilch, das macht stumm. Aber wir", lacht er und schlägt sich aufs Knie. "Prost, Melitta!"
"Was ist denn mit dir los?" schreit Melitta. "Nichts ist mit dir los! Mit euch allen ist nichts los. Warum bin ich in Thorde geblieben. Meine Mutter hat ein Haus in den Bergen. Eine Villa, ein Schloss! Sie war eine grosse Tänzerin. Sie hat Geld in Hülle und Fülle!"
Der Wirt war ärgerlich über solche Protzerei. Auch weil sie ihn nicht gelten lassen wollte.
Er wusste, dass Emita selten nur Geld an Melittas Pflegemutter geschickt hatte. Frau Dahl war eine ruhige Frau gewesen und hatte sich nie darüber beschwert. Aber aus ihren Gesprächen hatte man gemerkt, dass es ihr oft schwer gefallen war, die Kinder durchzubringen. Sie hatte selbst noch eine Tochter gehabt, der sie in ihrer Liebe alles Gute tun wollte.
So sagte der Wirt:
"Mancher kann sein Geld gut verstecken."
Melitta griff in die Tasche und warf den Geldschein auf den Tisch.
"Hier!"
Da lag nun das Geld. Sie machte kein Hehl daraus. Der Wirt pfiff vor sich hin. Die Burschen johlten. Für das Geld, das Melitta da auf den Tisch geworfen hatte, hätten sie mehrere Wochen arbeiten müssen. Jetzt sahen sie, dass Geld eine Nichtigkeit war, die aus einer Schürzentasche auf den Tisch flatterte. Sie begrüssten es mit gröhlendem Gelächter. Der König, der die Welt regiert, war in den Dreck gezogen. Trunken waren die Burschen. Sie betatschten den Geldschein. Sie trieben ihren Spass damit. Der Bursche, der Orge hiess, klebte ihn mit Schnaps gegen seine Stirn.
"Ihr seid wohl verrückt", lachte der Wirt.
Er nahm dem Burschen den Schein weg, drehte ihn zu einer Tüte und blies darauf. Eine Besessenheit war über sie gekommen. Sie hatten zuviel Schnaps getrunken, und nun riss das viele Geld die letzte Wand ein.
"Solange wir leben, gibt's junge Hühner", schrie der Wirt.
Melitta war aufgestanden. Sie hielt sich am Stuhl.
"Der Millionär", kreischte sie, "sie haben Millionen!"
Sie schwatzte allerlei durcheinander. Die anderen hörten nicht hin. Nur der Wirt sagte:
"Eine spendable Frau. Alle Achtung."
Es schien, dass Melitta das Geld von ihrer Mutter geschickt bekommen hatte.
"Spendabel", rief Melitta und versuchte die Gläser wieder vollzuschenken, aber der Schnaps floss vorbei.
Der Wirt nahm ihr die Flasche aus der Hand.
"Schade um jeden Tropfen", sagte er.
Er hielt den Geldschein noch immer wie eine Tüte in der Linken. Melitta schlug ihm auf die Schulter.
"Geizkragen", schrie sie.
Sie riss ihm das Geld fort. Sie steckte es wieder ein. Die Burschen blickten verstört. Der Wirt hatte den Mund offen.
"Nicht doch", bat er.
Nun war das viele Geld wieder verschwunden. Die Männer glotzten sich an. War es überhaupt da gewesen? Der Glanz war verweht. Die Wände waren wieder da und zwischen diesen Wänden stand auf einmal Boom Garde.
Er war ausser Atem. Er japste.
"Pagel ist da!" japste er.
In seinem Gesicht zitterte eine grosse Unruhe. Da war's, was er befürchtet hatte: Melitta betrunken.
Der Wirt war mit einemmal nüchtern.
"Heiliger Donner!"
Melitta schien nicht gehört zu haben, was Boom Garde gesagt hatte. Der Wirt legte vorsichtig seine Hand auf ihren Arm und wiederholte:
"Pagel ist da. Sei vernünftig, Melitta, du hörst doch. Du musst jetzt gehen. Nimm dich doch zusammen."
Auch Boom Garde war zu Melitta herangetreten.
"Kindchen", bettelte er, "komm."
Sie mussten ihr lange zureden. "Eine böse Geschichte", jammerte Boom Garde. Dann aber machte sich Melitta los und ging. In der Türe wandte sie sich um:
"Ihr könnt ihm nicht das Wasser reichen", lallte sie.
Der Wirt machte Boom Garde aufmunternde Zeichen. Er wollte wohl, dass der Alte die Frau nach Hause brächte.
Aber Boom Garde hatte sich auf die Bank neben der Türe gesetzt. Es war die Bank für hastige Einkehrer, die nicht mehr Zeit haben, als für einen Schnaps notwendig ist. Da sass nun Boom Garde zwischen drinnen und draussen, hielt den Kopf gesenkt, und seine Stimme klang kläglich.
In dieser Nacht heulte ein Hund. Einsam auf entferntem Gehöft heulte er aus starrer Nacht.
Man sagt wohl, dieser Hund bellt den Mond an. Da ist etwas Unfassbares aufgestiegen für ihn am Himmel. Ein fremdes, unbekannt Blankes steht über ihm, tief im hohen Himmel regloser Mond.
Zuerst ist er dagegen angesprungen, hat getobt und bissig geschrien, aber die Kette, die ihn band, war zu kurz. Auch fühlte er wohl, dass seine Kraft nicht ausreichte zu solchem Sprung.
Nun steht er da, mutlos und voller Entsetzen, und was er ausstösst, ist ein klagendes Heulen.
Rundum von dem dunklen Gemäuer der starren Nacht hallt dieses Wimmern wider.