Das Böse darf nicht siegen - Petra Scheuermann - E-Book

Das Böse darf nicht siegen E-Book

Petra Scheuermann

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Beschreibung

Das Böse darf nicht siegen enthält vierzehn kriminelle Kurzgeschichten der Autorin, die seit 2010 in diversen Anthologien bei verschiedenen Verlagen erschienen sind. Tatort ist meist die Rhein-Neckar-Metropolregion. Die Bandbreite reicht von humorvollen Krimis über historische Bezüge bis zu Texten, die zum Nachdenken anregen. Ob es um Polizisten geht, die das Recht selbst in die Hand nehmen, um ein bitterböses ICE-Abenteuer oder um Flucht und Vertreibung, garantiert werden Sie die Geschichten nicht so schnell wieder vergessen. Tauchen Sie ein in ein besonderes Leseerlebnis!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Das Projekt wurde gefördert durch ein Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg

Inhaltsverzeichnis

Ein Fall für die Mordkommission?

Rabenmutter

Gertenschlank

Flammen des Verrats

Honigkuchen und Bankenkrise

Das Böse darf nicht siegen

Die Fratze des Teufels

Eine Vergangenheit, die nie vergeht

Nachts, wenn die Schatten kommen

Maries drittes Leben

Der Geschmack von Sushi und das Wesen des Krimis

Eine fast vergessene Schuld

Fröhliche Weihnacht überall

Die DNA-Analyse

Literaturverzeichnis

Über das Buch

Über die Autorin

Ein Fall für die Mordkommission?

Wenigstens einen richtigen Verhörraum hatte ich erwartet und zwei Kommissare, die guter und böser Bulle mit mir spielten. Stattdessen saß ich in diesem mickrigen Büro in der Polizeiinspektion Friedrich-Ebert-Straße und musste warten, bis Herr Bauer, ein Endfünfziger mit fahler, ungesunder Gesichtsfarbe, Zeit für mich hatte. Während er in seinen Computer tippte, besah ich mir den schmucklosen Raum. Es gab zwei mit Akten beladene Schreibtische, der eine Arbeitsplatz allerdings war leer. An der vergilbten Wand klebten mehrere Fotos böser Jungs, die mich mit finsteren Blicken durchlöcherten.

Endlich notierte der Polizist meinen Namen und meine Anschrift.

Gleichgültig schaute mich Herr Bauer an: »Es geht um einen Mord?«

Bestimmt war er vom Kriminaldauerdienst, der Polizist sah entsprechend müde aus.

All meinen Mut nahm ich zusammen und presste hervor: »Ich habe meine Schwiegermutter ermordet.«

Jetzt war’s raus.

»Ihre Schwiegermutter?«, fragte der Beamte teilnahmslos.

»Meine Schwiegermutter und Florian Silbereisen«.

Endlich kam Leben in ihn. »Sie haben ihre Schwiegermutter ermordet und«, er machte kunstvoll eine Pause, »und Florian Silbereisen?« Jetzt sah er mich sehr interessiert an. »Gestern beim Dirndlfest der Volksmusik hat der Silbereisen noch gelebt. Na ja, war wahrscheinlich eine Aufzeichnung.« Der Spott in seiner Stimme war unverkennbar.

»Ja, wahrscheinlich. Aber diesen Volksmusikanten meine ich nicht.«

»Ach, schade eigentlich.«

Sein Interesse an mir war augenblicklich erloschen.

»Florian Silbereisen war der Dackel meiner Schwiegermutter Magda«, sagte ich, um das Ganze zu beschleunigen.

»Der Hund Ihrer Schwiegermutter heißt Florian Silbereisen?«

»Hieß«, verbesserte ich ihn.

»Stimmt, Sie haben ihn ja umgebracht, ihn und ihre Schwiegermutter. Wie haben Sie das denn angestellt?«

»Sie sind in den Aufzugsschacht des Frankenthaler Seniorenstifts Am Speyerer Tor gestürzt, erst Silbereisen und dann meine Schwiegermutter.«

»Haben Sie die beiden hinuntergestoßen?«

»Natürlich nicht.«

»Dann haben Sie sich an der Technik zu schaffen gemacht?«

»Nein«, stellte ich klar, »mit so einem technischen Zeugs kenne ich mich doch nicht aus.«

Mit der rechten Hand wischte ich mir die Schweißperlen von der Stirn. Am liebsten hätte ich jetzt einen Rückzieher gemacht, aber dafür war es eindeutig zu spät. Ich erzählte, dass meine Schwiegermutter mit Silbereisen in Richtung des großen Glasaufzugs ging, während ich die Tür ihres Apartments abschloss.

Meine nächsten Worte waren mir peinlich: »Und dann dachte ich: Warum stürzt die alte Wachtel nicht mit ihrem Scheißköter den Aufzugsschacht runter. Und schon passierte es.«

»Wie, Sie haben das nur gedacht, gar nichts getan?«

»Nein, aber …«

»Frau Ruhdolf, das ist kein Fall für die Mordkommission. Sie scheinen mir etwas überspannt zu sein.«

Ja, ja, ich weiß, eigentlich hätte ich jetzt auch den anderen Mord gestehen müssen, aber ich dachte an meinen Mann und an die Schlagzeilen in der Zeitung mit den großen Buchstaben.

»Mit dem Oberstaatsanwalt Ruhdolf sind Sie nicht verwandt?«, wollte er jetzt wissen.

»Verwandt nicht«, sagte ich, »aber verheiratet.«

Ein feistes Lachen huschte über sein Gesicht, als er sich laut auf die Schenkel schlug. Schnell hatte er sich wieder gefangen und sagte ganz förmlich: »Warten Sie bitte hier, ich benachrichtige Ihren Mann.«

Hinter der Verbindungstür zum Nachbarzimmer, durch die der Polizist verschwunden war, hörte ich schallendes Gelächter. Wenn ich in dieser Situation noch den Mord an Frau Unger, der Klassenlehrerin meines Sohnes Tobias, gestanden hätte, dann hätten die mich doch gleich in die Psychiatrische Abteilung der Stadtklinik verfrachtet. Frau Unger wollte unseren Jungen nicht in die dritte Klasse versetzen. Aber unser Tobi ist so ein sensibles Kind. Diese Frau hätte doch nicht nur die Psyche unseres Buben, sondern seine gesamte Karrierelaufbahn zerstört. Als die Lehrerin nach dem erfolglosen Gespräch auf ihr Fahrrad stieg, dachte ich: Hoffentlich wird diese impertinente Person von einem Auto überfahren.

Johann kam mir in den Sinn. Bestimmt wird er wieder behaupten, an allem sei nur diese Literaturgruppe schuld. Seit meiner ersten Teilnahme schrieb ich humoristische Krimis und darüber konnte mein Mann überhaupt nicht lachen. Wohlweislich veröffentlichte ich meine Bücher unter einem Pseudonym.

Mit Karacho wurde die Tür aufgerissen und Johann stob durch den Raum: »Bist du jetzt völlig übergeschnappt. Verdammt A-N-I-T-A! Hast du deinen Verstand verloren?«

Mein Mann schrie mich an und fluchte, beides tat er sehr, sehr selten; eigentlich war er mehr der ruhige, besonnene Typ. Und meinen Namen hatte er ausgesprochen, als würden sich die einzelnen Buchstaben gar nicht kennen. Johann riss mich vom Stuhl hoch und schob mich durchs Büro. Wie eine Schwerverbrecherin verfrachtete er mich in unseren Wagen, beim Einsteigen schützte er meinen Kopf, so wie das die Polizisten im Film immer machen. Da war ich mir sicher, er würde mich in den Frankenthaler Knast bringen. Aber stattdessen hielt er den Wagen am Wormser Tor an.

»Du gehst auf der Stelle zu Frau Sonnleitner, einer Psychologin. Die wird dir diesen Mist ausreden.«

»Es ... es tut mir leid«, stotterte ich.

»Da vorne um die Ecke ist der Eingang«, sagte er nur kalt.

Eine Psychologin, was sollte ich der denn erzählen?

Frau Sonnleitner war faltenlos, blond, vollbusig, spindeldürr, kein Haar wellte sich ungefragt in eine falsche Richtung.

»Ei, bittschön, setzen Sie sich doch.« Ihr österreichischer Dialekt war unverkennbar. »No, schildern‘S mal Ihr Problem.«

Überheblich saß sie da und sah auf mich und mein Problem herunter. Ich wurde immer kleiner, dicker, dümmer und hässlicher. Nach gefühlten fünf Stunden verließ ich diese Praxis, nicht ohne einen neuen Termin erhalten zu haben. Zwanzig Stunden sollten ausreichend sein, wenn ich es an Kooperation nicht missen lassen würde. Bis zum nächsten Mal sollte ich mir morgens vor dem Aufstehen und abends vor dem Zubettgehen dreißig Mal sagen: »Ich bin unschuldig.« Frau Sonnleitner wollte mein Problem hauptsächlich mit Suggestion heilen.

Auf dem Weg nach Hause zu unserem Häuschen in Studernheim übte ich schon mal im Bus: Ich bin unschuldig. Ich bin ... Genau dreißig Mal sagte ich es in Gedanken; auf keinen Fall wollte ich etwas falsch machen. Und tatsächlich, Unschuld war es nicht, was sich in mir ausbreitete, aber immerhin ein Gefühl von etwas weniger Schuld.

Johann schrie mich sofort wieder an: »A-N-I-T-A! Meine Mutter ist in den Aufzugsschacht gefallen; es war ein Unfall. Wie konntest du dem Polizisten so einen Blödsinn erzählen? Ich hoffe nur, dass nichts nach draußen dringt, sonst: Gnade dir Gott! Seit du das erste Mal in dieser Literaturgruppe warst, bist du nicht mehr gescheit. Diese Krimis steigen dir in den Kopf. Lass dir eines gesagt sein: Du wirst an keinem dieser Literatentreffen mehr teilnehmen, nur über meine Leiche!«

Jetzt musste ich erst einmal meine Nerven beruhigen, daher bereitete ich als Abendessen mein Lieblingsgericht Verheiratete zu. Das selbstgemachte Zwetschgenkompott passte hervorragend zu den Kartoffeln, Mehlspatzen und den gerösteten Brotwürfeln.

Seit drei Wochen ging ich nun zweimal wöchentlich zu Frau Sonnleitner und plauderte dort aus meinem Ehe-Nähkästchen, schließlich war diese Psychologin für meinen Seelenmüll zuständig. Morgens, abends und zwischendurch suggeriere ich fleißig. Inzwischen war ich mir sicher, auch wenn mich meine Therapeutin vom Gegenteil überzeugen wollte: Mein Mann hatte eine Affäre! Mit seiner neuen Kollegin. Nein, ich las nicht heimlich seine SMS oder WhatsApps, ich sah mir auch nicht seine E-Mails an. Ich wollte es gar nicht so genau wissen. Und dann sah ich die beiden. Im Fernsehen. Nur eine Sekunde lang. Händchenhaltend. Bei einer Dokumentation über ein Fallschirmevent auf Teneriffa. Von wegen internationaler Juristenkongress! Fallschirmspringen war ihr großes Hobby. Überall in ihrer Praxis prangten an den Wänden diese Bilder von in der Luft schwebenden, zu einem Paket geschnürten Menschen.

Am Tag vor Heiligabend stand Herr Bauer vor unserer Haustür. Er erklärte mir, dass Johann bei einem gemeinsamen Fallschirmsprung mit einer gewissen Frau Sonnleitner sein Leben verloren habe. Während der Polizist mit mir sprach, suggerierte ich ununterbrochen: Ich bin unschuldig, ich bin unschuldig, ich bin ...

Schlagartig wurde mir klar, dass dieses Erlebnis mein Leben von Grund auf verändern wird. Und ich schwor mir, nie wieder etwas Böses über ein anderes Lebewesen zu denken. Während ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden, fiel mir ein, dass es Zeit wurde, zur Krimilesung meiner Literaturgruppe aufzubrechen.

Verheiratete

Für zwei Personen

Zutaten

400 g Kartoffeln

250 g Mehl

125 ml Wasser

1 Ei

1 Prise Salz

Brotreste

50 g Butter

Zubereitung

Die Kartoffeln schälen, klein schneiden und in Salzwasser garen. Für die Mehlspatzen einen Teig aus Mehl, Wasser und dem Ei herstellen. Wasser mit Salz aufkochen und den Teig mit einem Esslöffel in das Wasser laufen lassen. Die Mehlspatzen so lange ziehen lassen, bis sie an der Wasseroberfläche schwimmen.

Die Brotreste zu kleinen Würfeln schneiden und in einer Pfanne in der Butter rösten.

Die Kartoffeln mit den Mehlspatzen und den gerösteten Brotwürfeln in einer Schüssel anrichten.

Zu den Verheirateten passen Apfelbrei oder Kompott (z.B. Zwetschgenkompott).

Rabenmutter

Sarah setzt sich am Mainufer auf eine Bank. Ein Rabe fliegt über das Dach eines anlegenden Ausflugsschiffs. »Ob Raben tatsächlich schlechte Mütter sind?«, fragt sich Sarah. Das Passagierschiff spuckt unzählige Touristen aus seinem schützenden Maul wie ein Buntbarsch seine Jungen, wenn die Gefahr vorüber ist. Die Touristen werden einen Stadtrundgang machen und dann in Miltenberg zu Mittag essen. Sie haben Glück, es ist ein wunderschöner Frühlingstag mit einer Sonne, die alles überstrahlt. Zum ersten Mal nach langer Zeit fühlt sich Sarah wieder jung und lebendig. In diesem Augenblick ist es, als wäre sie in das Leben einer anderen jungen Frau geschlüpft, der noch alle Türen offenstehen. Sie schiebt die langen Ärmel ihrer Bluse hoch und genießt die Sonnenstrahlen auf ihrer nackten Haut.

Auch damals, als sie mit ihren Eltern nach Miltenberg zog, war es Frühling. Überall blühten die Forsythien gelb wie Neid. Sie hatte sich so sehr gefreut, mit ihren Eltern in das Häuschen zu ihrer Großmutter zu ziehen. Sie liebte ihre Oma Monika, Miltenberg und das kleine Fachwerkhaus. Und endlich durfte sie zur Schule gehen.

Sarah steht auf und geht in Richtung Marktplatz. Sie macht extra einen Umweg, um nicht an dem Haus vorbeigehen zu müssen. In der Nähe des Marktplatzes setzt sie sich in ein Café und wählt ein Stück Linzertorte. Die Großmutter hatte immer Linzertorte gebacken. Der Geruch des Kuchens steigt Sarah in Nase, als würde Oma Monika die Torte vor ihren Augen aus dem Backofen holen. Warum hatte sie der Großmutter damals nichts gesagt? Hatte sie Angst, dass sie ebenso reagieren würde wie die Mutter?

Sarah steckt den ersten Bissen Kuchen in den Mund. Die Torte ist eine Enttäuschung, schmeckt nicht wie die von Oma. Warum ist alles in ihrem Leben eine Enttäuschung? Warum kann sie nicht auch einmal Glück haben? Warum haben das immer nur die anderen?

Alle wunderten sich damals über ihre schlechten Noten. Sie hatte sich doch so sehr auf die Schule gefreut.

Noch heute fühlt Sarah die Ohrfeige der Mutter auf ihrer Wange. Tagelang glühten damals die Finger ihrer Mutter für alle sichtbar wie ein Feuermal. »Du Lügnerin, sag so etwas nie wieder! Nie mehr wieder!«, schrie die Mutter. Endlich hatte Sarah sich getraut, zu sagen, was der Vater mit ihr machte, wenn die Mutter spät abends zum Putzen außer Haus war. Sarah wischt sich über die Augen, als könnte sie so die Vergangenheit auslöschen.

Rabenmutter.

So werden sie sie nennen. Niemand wird ihr Tun verstehen. Niemand. Dabei hat sie sich auf das Kind gefreut, war so glücklich gewesen, als der Arzt sagte, dass es ein Mädchen werden würde.

Ein Mädchen.

Sarah hätte die ganze Welt umarmen können. Als der Arzt seinen Fehler bemerkte, war es für eine Abtreibung viel zu spät. Es war ein Junge. Wie hätte Sarah ihn großziehen können? Er wäre doch irgendwann ein Mann geworden. Das musste sie verhindern. Kein Mensch wird verstehen, was sie getan hat. Dabei musste sie es tun. »Rabenmutter« werden die anderen zu ihr sagen.

Artikel im »Untermain-Kurier« vom 21. März 2012

Am Vormittag des 20. März 2012 konnten Taucher im Main kurz vor der Staustufe Heubach die Leiche eines Säuglings bergen, der nach bisherigem Stand der Ermittlungen von seiner Mutter mit Tötungsabsicht in den Main geworfen wurde.

Die Polizei war von einem Vogelkundler benachrichtigt worden, der am gegenüberliegenden Ufer eine Frau beobachtet hatte, die sich auffällig verhielt und ein Bündel in den Main warf. Vorsorglich informierte er die Polizei. Wahrscheinlich lebte das Baby zu diesem Zeitpunkt noch. Nach Ermittlungen der Polizei wurde die 19-jährige Sarah K., die Mutter des Kindes, noch gestern Nachmittag in ihrer Frankfurter Wohnung verhaftet. Sie schweigt bisher zu den ihr zur Last gelegten Anschuldigungen.

Gertenschlank

Um Punkt zehn Uhr reicht Gerti ihrem Chef – wie jeden Tag – ein Stück selbstgebackene Latwerg-Käse-Torte, die neuesten Verkaufszahlen der Firma Scholze und die heutige Presseschau. Aus der knallroten Thermoskanne auf dem Schreibtisch schenkt Gerti ihrem Herrn Erwin eine Tasse Kaffee ein und erntet ein dankbares Lächeln. Sie weiß, wenn ihr Chef erst einen Blick in die aktuellen Verkaufszahlen geworfen hat, wird sich seine Miene verfinstern. Auch die Pressenachrichten sind alles andere als ermutigend. Es sind schwierige Zeiten für das kleine Mannheimer Pharmaunternehmen Scholze, das den Börsengang noch vor der Banken- und Finanzkrise gewagt hat.

Gerti tippt die Briefe schnell nach Diktat. Flink und kompetent geht sie ihren täglichen Aufgaben als Chefsekretärin nach. Als rechte Hand des Geschäftsführers hat sie alles im Griff, auch wenn Frau Engel, die neue Sekretärin des stellvertretenden Geschäftsführers, versucht, das Gegenteil zu beweisen. Alles weiß die Engel besser. Nur sie kann alle Computerprogramme aus dem ff, nur sie weiß, wie man einen Geschäftsbrief nach Norm schreibt, nur sie kennt die Form eines Vorstandsprotokolls. Immer wieder fragt sich Gerti, wie die Firma Scholze seit fünfundfünfzig Jahren ohne Frau Engel bestehen konnte.

Insgesamt hat Gerti hundertzwanzig Überstunden angehäuft, schließlich ist sie unabkömmlich in der Firma Scholze. In der Dienstbesprechung schlägt der stellvertretende Geschäftsführer, Herr Lauer, vor, dass alle Mitarbeiter bis zum Jahresende ihre gesamten Überstunden auf Null fahren sollen. Gerti denkt nicht im Traum daran, dass dies auch auf sie zutreffen könnte. Umso erstaunter ist sie, als sie zwei Stunden später in einer Unterschriftenmappe ein Schreiben vorfindet, in dem alle Mitarbeiter aufgeführt sind, die ab sofort ihre Überstunden abbauen müssen. In dieser Liste steht Gerti ganz oben, neben ihrer Stundenzahl prangt ein dickes rotes Ausrufezeichen. Aber was soll Herr Erwin denn ohne mich machen? Gerti verehrt ihren Chef. Er ist ein Gentleman der alten Schule, dick und gemütlich. Leider ist er seit einer Ewigkeit verheiratet, sonst hätte Gerti sich ihn längst unter den Nagel gerissen.

Am nächsten Morgen wird sie zu Herrn Lauer gerufen. Er drückt ihr einen Urlaubsantrag in die Hand und sagt, dass sie ab dem nächsten Tag für drei Wochen beurlaubt sei, freiwillig oder unfreiwillig. Gerti ist entsetzt.

»Selbstverständlich bin ich gerne bereit, meine Überstunden – wie immer – dem Unternehmen zu schenken.«

»Hören Sie, Frau Knobel, ich möchte mich nicht wiederholen. Bitte übergeben Sie Ihre Tätigkeiten an Frau Engel, die Sie die nächste Zeit vertreten wird.«

»Aber ...«

»Kein Aber, Frau Knobel. Überhaupt kein Aber. Bitte schließen Sie die Tür, wenn Sie gehen. Danke!«

Gerti hat es die Sprache verschlagen. Als sie ins Büro von Herrn Erwin kommt, und ihm alles berichten will, sagt der nur: »Ja, Frau Gerti, ich weiß. Es sind schwere Zeiten angebrochen, äußerst schwere Zeiten.«

Da kommt auch schon die Engel, um mit Gerti die Übergabe zu machen. Es dauert länger als sonst, denn diesmal will die Engel alles ganz genau von Gerti wissen. Sicherlich, denkt Gerti, macht das die Engel, um mich noch ein bisschen mehr zu demütigen.

Dann sitzt Gerti zuhause in Käfertal. Was soll sie drei lange Wochen machen? Zum Glück ist jetzt Pflaumenzeit. Gerti kocht kiloweise Latwerg ein. Fast zwei Wochen lang köcheln Stunden um Stunden unzählige Töpfe mit einer zähen, dunklen Masse in Gertis Küche. Das Geheimnis von Gertis Latwerg ist, dass sie das Pflaumenmus noch einige Stunden länger und somit dickflüssiger einkocht, dazu kommt ihre Extraportion Zimt. Gerti mag diesen süßlichen Duft, der tagelang schwer durch ihre kleine Wohnung wabert. Das Latwerg benötigt sie hauptsächlich für ihre Latwerg-Käse-Torte. Sie bedeckt einen Käsekuchen mit einer Schicht, der dann, ähnlich einer Linzer-Torte mit Teiggittern belegt wird. Und dann ab in den Backofen. Das Rezept dieser Spezialität hat Gerti von ihrer Großmutter geerbt.

Nach der Einkochaktion bleibt Gerti noch eine Woche Urlaub. Jetzt löst sie Kreuzworträtsel auf Kreuzworträtsel und schickt die Lösungen ein.