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Tanja Eppstein, Inhaberin der Chocolaterie Schoko-Traum, hat mit dem Geschäft, ihren beiden pubertierenden Kindern und einer neuen Liebe alle Hände voll zu tun. Dennoch begibt sie sich in gefährliche Ermittlungen auf eigene Faust. Diese offenbaren eines der dunkelsten Geheimnisse der ehemaligen DDR. Theo Maier, ein Stammkunde Tanjas, wird verdächtigt, im letzten Jahr zwei Frauen brutal vergewaltigt zu haben. Obwohl er in einem spektakulären Prozess freigesprochen wird, glaubt niemand an seine Unschuld. Sein Leben wird zum Spießrutenlauf. Er erschießt sich. Doch in Tanja nagen Zweifel. War Maier tatsächlich der Täter? Wieso mochte er plötzlich keine Zartbitterschokolade mehr? Wer war der Mann in der Bar? Und weshalb ließ der Täter die Schoko-Engel an den Tatorten zurück? Heißhunger auf Schokolade? Stillen Sie ihn mit den Krimis um Tanjas Schoko-Traum, restlos kalorienfrei, jedoch spritzig, humorvoll und spannend. Mit leckeren Schokoladen-Rezepten zum Ausprobieren. Ort der Handlung: Heidelberg und Berlin
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Tanjas Weihnachts-Trüffel ›Nugat-Traum‹
Tanjas heiße Trinkschokolade ›Weiße Weihnacht‹
Tanjas vegane Schoko-Spezialitäten
Mit dem verklärten Blick einer Fernsehwahrsagerin belehrt uns Birgit: »Die Engel sind Boten des Himmels und sie werden geschickt, um euch zur Seite zu stehen, sie helfen und beschützen euch in allen Lebenslagen.«
Biggi lebt mit dem Engelkult ihren neuesten Esoteriktick aus und natürlich muss sie ihre besten Freundinnen, Stefanie und mich, in ihre angelesene Mystik einführen. Ich bin nicht sehr empfänglich für diese Art Geheimlehren, aber manchmal ängstigen mich Birgits Weissagungen doch, besonders, wenn sie mir mal wieder orakelt, der Tod befinde sich in meiner unmittelbaren Nähe.
»Die Engel sind imstande, alle Fragen, die heiß auf eurer Seele brennen, zu beantworten.«
»Na, das ist doch mal eine klare Ansage!«, stelle ich fest.
Steffi nippt an ihrer heißen Schokolade Weiße Weihnacht und stöhnt ein wenig. Die neuste Schokoladenkreation kommt bei meinen Freundinnen und Kunden sehr gut an.
Birgit greift sich eine Cappuccino-Praline, bevor sie mit ihren Erläuterungen fortfährt: »Die Himmelsboten sind überall, neben uns, über uns …«
»Autsch! Aua!«, schreit Stefanie mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie presst ihre rechte Hand fest auf ihren linken Unterbauch.
»Was ’n los?«, wollen Birgit und ich gleichzeitig sehr besorgt wissen.
»Mist, eben hat mich so ein blöder Engel in den Bauch geboxt.«
»Box ihn doch zurück«, schlage ich belustigt vor.
Biggi sieht uns grimmig an. »Mädels, euch fehlt eindeutig der spirituelle Ernst.«
»Allerdings, der spirituelle Jonas ist mir weitaus lieber.« Wir lachen.
»Tja Steffi, das kann ich mir nur zu gut vorstellen, dass du einen jungen, attraktiven Lover und somit eindeutig einen Bengel, den Engeln vorziehst«, lästere ich.
Birgit hat es schon schwer mit uns beiden. »Mensch, die Engel können euch nicht berühren, die haben Astralkörper, die gehen durch euch hindurch und ihr durch sie.«
»Stimmt, das habe ich schon einmal in einem Spielfilm gesehen. Da ist ein Sportwagen mitten durch einen Engel gefahren.« Grinsend bestätige ich die Aussage unserer Eso-Freundin. »Biggi, sag dass du diesen Quatsch, den du uns hier erzählst, nicht tatsächlich glaubst«, insistiere ich. Langsam beginne ich, mir Sorgen um unsere gemeinsame Freundin zu machen.
»Ja, ja, ich gebe zu, man muss das bildlich gesprochen sehen. Die Engel sind mehr als eine Art Beistand gedacht, quasi als Hilfe, um uns selbst zu helfen.«
Das beruhigt mich doch etwas. Ich hatte schon die schlimmsten Befürchtungen.
Birgit mischt einen kleinen Stapel Karten.
»Das sind meine Engel-Karten. Insgesamt habe ich hier dreiunddreißig Bilder mit verschiedenen Himmelsboten. Es gibt mehrere Möglichkeiten, mit ihnen in Kontakt zu treten. Da ihr beide noch sehr ungeübt darin seid, die Engel um Rat zu fragen, würde ich euch vorschlagen, zunächst die Himmelsboten, die sich in eurer unmittelbaren Nähe aufhalten, kennenzulernen. Hierzu muss jede von euch drei Karten ziehen, aber nacheinander. Und die Karten müsst ihr langsam aussuchen, damit ihr den richtigen Engeln auch die Möglichkeit gebt, euch zu finden.« Stefanie beginnt.
Birgit hat den Stapel aufgefächert mit verdeckten Bildern auf dem Bistrotisch verteilt. Steffi sucht drei Karten aus und legt sie vor sich auf den Tisch.
Jetzt nimmt Biggi die erste der drei Karten auf.
»Der Engel der Hingabe.«
»Na, das passt doch, Stefanie. Sogar der Himmel weiß, dass du mit deinem jungen Liebhaber Joans nächtelang wilden Sex hast.« Ich bin beeindruckt vom Wissen der Engel.
»Hör ich da ein klein wenig Neid heraus?«
»Nein, nein, ich gönne dir deinen Bengel Jonas. Ehrlich! Und den nächtelangen wilden Sex auch.«
Stimmt nicht so ganz, natürlich beneiden Biggi und ich unsere gemeinsame Freundin um ihr wildes und reges Sexleben. Ich wäre allerdings schon froh, wenn ich überhaupt mal wieder mit einem männlichen Wesen Sex hätte, der müsste nicht einmal besonders wild und auch nicht nächtelang sein. Cem wäre hierzu genau der Richtige. Spätestens seit dem zweiten Pralinenseminar, welches wir gemeinsam in der Schokoladen-Akademie in Mannheim besuchten, ist Cem der Traum meiner schlaflosen Nächte. Schade, aber aus irgendeinem Grund kommt bei uns beiden immer etwas dazwischen. Noch vor zwei Wochen waren wir mal wieder ganz kurz davor. Wir lagen schon nackt nebeneinander im Bett und dann schrillte Cems Smartphone. Mister Superwichtig musste auf der Stelle zurück nach Berlin. Aus welchen Gründen auch immer konnte oder wollte der Mann meiner Träume das alles nicht näher erläutern. Ich erfuhr lediglich, dass Cems umfangreiche Kenntnisse als Profiler unerlässlich seien. Und ehe ich bis drei zählen konnte, lag ich mutterseelenallein in meinem Kingsize-Bett. Warum nur habe ich mein Single-Bett ausgetauscht?
Birgit sieht uns an und schüttelt den Kopf. Da ich meinen eigenen Gedanken nachhing, habe ich nicht allen ihren Ausführungen folgen können, ich nehme an, es fehlt uns mal wieder an spirituellem Ernst.
»Der Engel der Hingabe bewahrt außerdem deine und die Geheimnisse der Menschen um dich herum. Auch deinen spirituellen Weg erweitert er.«
»Oh je, Steffi, da hat das arme himmlische Wesen aber eine Menge zu tun, wenn es deinen spirituellen Weg erweitern muss«, sage ich und greife zu einer Weihnachtspraline in Form eines Tannenbaums.
»Mich würde die Sache mit den Geheimnissen mehr interessieren. Hat Jonas ein Geheimnis vor mir? Und wenn ja, welches?«
»Steffi, so läuft das nicht. Du hörst einfach zu, was ich dir über die Engel in deiner Nähe zu berichten habe. Nachfragen werden nicht beantwortet. Du kannst in einer ruhigen Stunde den Engel der Hingabe um seinen ausführlichen Rat bitten.«
»Also ich bezweifle stark, dass der bereit ist, mir mehr zu erzählen als du.«
Birgit hat diesen strengen Deutschlehrerinnenblick, während sie die nächste Karte herumdreht.
»Der Engel des Lichts. Er hilft Dinge aufzudecken, die bis dato im Dunkeln lagen. Oft kommt es mit seiner Hilfe zu einer Umkehr. Begrenzungen, Tabus, aber auch Beziehungen werden mit seiner Gunst neu definiert.«
»Ich nehme an, auch das legst du mir nicht näher dar.«
»Nee, Steffi, da musst du dir schon selbst Gedanken zu machen.« Jetzt nimmt Birgit die letzte Karte zur Hand.
»Der Engel der Einsicht. Tja, mit seinem Beistand wirst du neue Erkenntnisse erfahren und auch annehmen können. Er hilft dir, Irrwege zu vermeiden und wieder auf den richtigen Pfad zu finden. Du kannst ihm voll und ganz vertrauen. Er wird dich führen.«
»Es wird auch Zeit, Steffi, dass du wieder auf den richtigen Pfad kommst«, gebe ich meinen Senf dazu.
»Und das war’s jetzt, oder was?« Stefanie ist eindeutig enttäuscht.
»Ich finde, du hast eine Menge von mir oder besser den Engeln erfahren; jetzt musst du ihre Anwesenheit nur noch annehmen und dich von ihnen führen lassen. Und wie gesagt, in einer ruhigen Stunde, kannst du sie um detaillierte Auskunft bitten.«
»Isch glaab joh, des wärd nix mit denne Engel un mir.« Stefanie rutscht, seitdem sie mit Jonas zusammen ist, der in ihrer Geburtsstadt Ludwigshafen lebt, immer mal wieder ins pfälzische Platt. Sie lässt eine ihrer Lieblingspralinen, einen Baileys-Trüffel, zwischen ihren weinrot geschminkten Lippen verschwinden.
Jetzt komme ich dran; wieder fächert Birgit ihre Karten auf den Tisch. Ich nehme bewusst langsam drei Karten und lege sie verdeckt vor mich hin.
Biggi nimmt die erste Karte auf und dreht sie sehr bedächtig um. »Der Engel der Gerechtigkeit. Durch dein Zutun, Tanja, wird jemand Gerechtigkeit erfahren. Dieses himmlische Wesen wird dir bei der Bewältigung der Aufgabe zur Seite stehen.«
»Mensch Tanja, bestimmt ermittelst du wieder in irgendwelchen Fällen.« Zu Biggi gerichtet sagt Steffi: »Sorry, ich bin ja schon still.«
Diese wirkt äußerst konzentriert, während sie meine zweite Karte aufdeckt. »Der Engel der Erkenntnis. Mit seiner Unterstützung gelingt es dir, Wahrheiten zu sehen, die andere nicht wahrnehmen können. Er gibt dir die Kraft und die Ausdauer, für deine Meinung einzustehen und dein Gegenüber von ihr zu überzeugen.«
»Gerechtigkeit und Erkenntnis, nicht schlecht.« Ich bin gespannt auf den Dritten im Bunde.
Ich sehe Biggi erwartungsvoll an, während sie meine letzte Karte zur Hand nimmt. »Dein persönlicher Schutzengel. Er wird in der nächsten Zeit mehr als sonst auf dich aufpassen müssen, da du dich in sehr große Gefahr begeben wirst. Aber –, Tanja, keine Angst, dein Schutzengel ist da. Er öffnet dir die Augen und schärft deine Sinne.«
»Danke, Biggi«, sage ich, »das war tatsächlich sehr interessant. Und klingt doch gar nicht so schlecht.« Obwohl bei dem Gedanken an die sehr große Gefahr, in die ich mich begeben werde, ist mir doch wieder mulmig zumute. Aber mir fällt gerade noch rechtzeitig ein, dass ich an diesen Mumpitz überhaupt nicht glaube. Ehrlich nicht! Nicht die Bohne!
Die Tür meiner Chocolaterie geht auf und Frau Burghardt, eine Stammkundin, tritt ein. Stoppelkurze Haare. Wo ist ihre lange, weit über die Schultern reichende, blonde Pracht geblieben? Die Frau sieht Jahre älter aus. Bislang habe ich sie auf fünfunddreißig geschätzt, jetzt tendiere ich eher zu fünfundvierzig. Die meisten Frauen sehen mit kurzen Haaren jünger aus, auf meine Kundin trifft dies eindeutig nicht zu.
»Oh, Ihre schönen Haare sind ja so kurz«, sage ich mit unverhohlener Enttäuschung zu ihr.
»Es wurde Zeit, mich zu verändern. Nach der Scheidung musste das einfach sein.« Sie strahlt uns an.
»Das kenne ich nur zu gut. Nach meiner Scheidung eröffnete ich den Schoko-Traum.«
»Na, da verdanken wir Ihrem Mann all diese vielen Köstlichkeiten.« Frau Burghardt blickt sich im Laden um.
»So weit würde ich jetzt nicht gehen«, sage ich, während ich eine schwarze Pralinenbox mit den von ihr ausgesuchten Schoko-Spezialitäten befülle. »Mein Ex hasst Süßigkeiten, besonders Schokolade.« Wir lachen.
»Wissen Sie, so ein Kurzhaarschnitt hat ja nur Vorteile, die Haarwäsche geht rascher, der Friseurbesuch ist kürzer. Und billiger!«, betont die Kundin. »Mit kurzen Haaren wird man auch nicht so schnell vergewaltigt. Hatten die beiden Frauen, die letztes Jahr in Heidelberg diesem Monster in die Fänge geraten sind, nicht lange blonde Haare?«, fragt die Kundin in meine und auch in die Richtung meiner Freundinnen gewandt.
»Stimmt, ich erinnere mich«, sagt Steffi. »Im letzten Jahr sind zwei Frauen, im Abstand von wenigen Tagen vergewaltigt worden.«
Der Täter konnte verhaftet werden, zumindest kann ich mich daran erinnern, das in der Zeitung gelesen zu haben.
Nachdem Frau Burghardt den Laden verlassen hat, meint Biggi: »Der Verbrecher ist doch gefasst, die gute Frau hätte sich doch nicht so verschandeln müssen.«
»Das ist ja wieder klar, wenn Frauen kurze Haare tragen, sehen sie verschandelt aus. Riecht nach Feminismus, gell? Oder schlimmer, nach einer Lesbe«, ereifert sich Steffi.
»Mensch, mach doch nicht gleich eine politische Demonstration draus. Die sah mit ihrer Langhaarfrisur eindeutig besser aus«, verteidigt sich Biggi.
»Und jünger. Kommt, greift euch eine meiner neu kreierten Weihnachtspralinen und ich koche uns schnell noch eine Anti-Kummer-Schokolade.«
Stefanie schaltet – gefühlt – zum hundertsten Mal ihr Smartphone ein und blickt auf das Display.
»Erwartest du einen Anruf?«, will ich wissen.
»Ach, ich weiß auch nicht. Jonas ruft nicht zurück. Vielleicht hat er Stress im Tattoo-Studio. Das brummt wieder ganz gut.« Stefanie wechselt das Thema: »Habt ihr gelesen, in zwei Tagen beginnt der Prozess gegen diese Bestie, die letztes Jahr die Frauen vergewaltigt hat. Stellt euch vor, der beharrt immer noch auf seiner Unschuld, obwohl ihn beide Frauen eindeutig erkannt haben.«
Während ich eine mir unbekannte Kundin bediene, höre ich, wie Birgit sagt: »Na, die werden dem schon den Prozess machen. Wisst ihr, ich bin ja für Schnipp-schnappalles-ab.«
»Ach, Sie reden von dem Vergewaltiger. Bei mir bräuchte der keinen Richter. Rübe ab und gut«, mischt sich jetzt meine etwa sechzig Jahre alte Kundin ein.
Biggi und Steffi pflichten ihr bei.
»Und, in Indien gibt es die Todesstrafe. Nützt das was? Ich meine, das ist doch keine Abschreckung«, sage ich, während ich die verschiedenen Artikel in die Kasse eingebe. Ich bin der Meinung, so ein Thema darf man nicht zu einseitig sehen.
»Aber gerecht ist das«, beharrt die Pralinenkäuferin.
Während ich ihr das Wechselgeld herausgebe, will ich wissen: »Und was ist, wenn es mal den Falschen trifft?«
Steffi zuckt mit den Schultern, sieht den Baileys-Trüffel in ihrer Hand an und bemerkt ungerührt, während sie hineinbeißt: »Kollateralschaden.«
Die Käuferin stimmt ihr zu und auch Biggi nickt heftig.
Nachdem die Kundin die Chocolaterie verlassen hat, stelle ich fest: »Ihr macht es euch zu einfach.«
»Mensch Tanja, so einer macht das doch wieder und wieder. Der kommt nach ein paar Jahren raus und die nächste Frau muss dran glauben. So einer hat einfach kein Recht mehr zu leben; er hat es verwirkt.« Birgit geht mit ihrer leeren Kakaotasse zum Kaffeeautomaten und drückt energisch auf Cappuccino. »Die Frauen sind auf ewig traumatisiert, so was vergisst du dein Leben lang nicht mehr. Rübe ab und Schluss! Das ist bei so einem Typen die einzige Präventionsmaßnahme.« Sie hat sich richtig in Rage geredet, ihr Gesicht ist purpurrot und ihre Hände zittern.
»Mensch Mädels, ihr seid heute echt radikal unterwegs.« Ich finde, dass die beiden etwas heftig reagieren. Und diese Rübe-ab- und Todesstrafediskussion geht mir allmählich auf die Nerven.
»Du immer mit deiner Sucht nach Gerechtigkeit.« Biggi teilt heute gewaltig aus.
»So ein Quatsch«, verteidige ich mich. »Ich finde nur, dass jeder Mensch einen fairen Prozess verdient.«
Steffi kontert: »Jetzt redest du schon wie dein Ex.«
»Wenn man so lange mit einem stadtbekannten Strafverteidiger verheiratet war, färbt das halt ab«, spottet Biggi.
»Ihr vergesst, dass ich selbst einmal vier Semester Jura studiert habe.«
»Ja, bevor du dir zwei Kinder von dem Herrn Anwalt hast andrehen lassen.« Birgit sieht mich kampfeslustig an. Warum ist die denn heute so aggressiv?
»Andrehen ist vielleicht nicht richtig ausgedrückt.« Meine fast erwachsenen Kinder Alina und Lucas sind schließlich mein ganzer Stolz, auch wenn das Zusammenleben mit zwei Pubertieren für das Muttertier nicht immer einfach ist.
»Bereust du es manchmal, dass du dein Jurastudium nicht wieder aufgenommen hast?«, will Birgit jetzt mit sanfterer Stimme wissen.
»Na ja, es gab mal eine Zeit, da habe ich es ein bisschen bereut. Aber inzwischen weiß ich nicht, warum ich darüber traurig sein sollte. Ich habe mir mit dem Schoko-Traum meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt.«
»Stimmt«, pflichten mir beide Freundinnen bei, bevor sie sich verabschieden und mir einen schönen Abend wünschen. Ehe sie das Geschäft verlassen, steckt sich jede schnell noch eine ihrer jeweiligen Lieblingspralinen in den Mund.
Ich räume meinen Laden auf, säubere die Kaffeemaschine, stelle das Geschirr in die Spülmaschine und schließe den Schoko-Traum ab.
Auf meinem Weg nach Hause pfeift mir ein kalter Wind um die Ohren. Gefühlt sind die Temperaturen schon unter null, obwohl uns der Wetterbericht ein goldenes Oktoberende versprochen hat.
Am nächsten Morgen holt Lucas freiwillig die Zeitung von unten aus dem Briefkasten, normalerweise ist das mein Part. Er legt die Tageszeitung auf den Küchentisch.
»Das glaube ich nicht!« Auf der ersten Seite prangt das Bild meines Stammkunden Theo Maier. Er soll derjenige sein, der die beiden Frauen vergewaltigt hat. »Das kann nicht sein. Maier ist ein Eigenbrötler, aber dieser Mann ist eine Seele von Mensch. Der einzige Trieb, der bei dem ein bisschen aus dem Ruder läuft, ist sein Schoko-Trieb. Er ist ein astreiner Schokoladen-Junkie. Maier ist der allerletzte Mann, dem ich zutraue, dass er einer Frau Gewalt antut.«
»Der Allerletzte, also traust du mir das eher zu als dem?«, frotzelt Lucas und zieht gekünstelt eine beleidigte Schnute.
»Okay, Maier ist der zweitletzte Mann, dem ich so etwas zutraue. Zufrieden?«
»Ich bin krank«, sagt Lucas unvermittelt, während er herzhaft in sein dick mit Leberwurst beschmiertes Vollkornbrot beißt.
Er sieht mitnichten krank aus. »Krank, was hast du denn?«, will ich daher wissen.
»Kopfschmerzen. Ich kann heute nicht zur Schule gehen. Schreibst du mir eine Entschuldigung?«
»Vielleicht solltest du eine Kopfschmerztablette nehmen, dann wird das schon wieder«, schlage ich vor.
»Geht nicht. Erstens möchte ich nicht grundlos Drogen nehmen und zweitens schreiben wir heute Mathe, wenn ich die Klausur versaue, wäre echt blöd.«
Auf einmal möchte mein Sohn nicht grundlos Drogen nehmen. Also, das sind ja vielleicht neue Töne.
»Aber wenn du zu Hause bleibst …«
»Kann ich später, wenn ich gesund bin, die Arbeit nachschreiben.«
Irgendwie leuchtet das sogar mir ein, wahrscheinlich hat er zu wenig für die Matheklausur gelernt.
Alina poliert ihren Nasenring sowie ihre zahlreichen Piercings und verabschiedet sich in Richtung Schule. Meine Tochter trägt wieder ihr volles Grufti-Outfit, ganz in Schwarz gekleidet und geschminkt, mit dicken schwarzen Augenringen, als hätte sie nur noch wenige Tage zu leben. Auch ihre pechschwarzen Haare konkurrieren mit dem tiefschwarz ihrer Fingernägel. Das Kind sieht so aus, seit sie mit diesem Vampir Fynn befreundet ist.
Lucas verschwindet wieder ins Bett.
In Ruhe lese ich den Bericht in der Zeitung. Der Täter soll äußerst geplant und brutal vorgegangen sein. Die erste Vergewaltigung fand bei helllichtem Tag auf dem Bergfriedhof statt. Der zweite Tatort befand sich unweit der Haltestelle Bergfriedhof, hinter einer Paketstation. Die Hände des zweiten Opfers fesselte er auf dem Rücken mit einem Kabelbinder, bevor er sich an der Frau verging. In beiden Fällen hätte er sich vor der Tat in einen gelben Schutzoverall gehüllt, der an einer bestimmten Stelle aufgeschnitten war, zudem habe er dünne Gummihandschuhe, einen Mundschutz und eine Maske getragen, sowie ein Kondom benutzt. Hierdurch hätten die ermittelten Beamten wenig Beweismaterial sicherstellen können. An den Tatorten habe kurz nach den Verbrechen ein Regenschauer eingesetzt, sodass auch dort keine Spuren mehr vorhanden waren. Beide Frauen hätten sich auch erst Tage nach der Vergewaltigung bei der Polizei gemeldet. Lediglich eine blaue Wollfaser wurde sichergestellt. Jedoch konnte darauf keine DNA des Täters identifiziert werden. Die Maske habe er allerdings in beiden Fällen erst angezogen, nachdem die Frauen sein Gesicht gesehen hatten. Der Grund hierfür sei für die ermittelnden Beamten unklar. Bis jetzt gehe die Polizei von der Annahme aus, dass er gesehen werden wollte, aber warum die Maske? Beide Frauen hatten Theo Maier unzweifelhaft als den Täter erkannt. An dem jeweiligen Ort des Verbrechens ließ er einen geköpften Schoko-Engel zurück. Dem Engel hatte er den Kopf abgebrochen und die beiden Teile am Tatort abgelegt. Die ermittelnden Beamten gehen davon aus, dass dies als Warnung an die Frauen gedacht gewesen sei. So wie es scheint, hatten die geköpften Engel ihre Wirkung nicht verfehlt, denn das erste Opfer zeigte die Straftat mit einer Verspätung von drei Tagen an und die zweite Frau meldete sich erst nach zwei Tagen bei der Polizei.
Maier! Unmöglich! Diesem Mann traue ich eine derart brutale Tat nicht zu. Einmal, als ein Mann seine Frau in der Fußgängerzone geschlagen hatte, war Maier dazwischen gegangen. Der Mann hatte ihn krankenhausreif geschlagen. Aber Maier sagte, er würde sich jederzeit wieder für Schwächere einsetzen. Keiner hätte das Recht, einem anderen Menschen Gewalt zuzufügen.
Immer, wenn ich an diesem Tag im Schoko-Traum keine Kunden bediene, muss ich an Herrn Maier denken. Das alles ist unvorstellbar für mich. Aber, man steckt nicht drin, in den Männern, würden meine Freundinnen sagen.
Einige Tage später sitze ich in der Mittagspause zu Hause am großen Esstisch vor einem Teller mit Bratkartoffeln und Rührei.
Im Rhein-Neckar-Funk wird über den zu Ende gehenden spektakulären Vergewaltigungsprozess berichtet. Eine Journalistin erläutert, dass Maier heute Vormittag freigesprochen worden sei. »In dubio pro reo«, hätte der Richter gesagt. Im Zweifel für den Angeklagten. Die Skatfreunde von Maier und die Wirtin seiner Stammkneipe hätten ausgesagt, dass er an den fraglichen Tagen bei der wöchentlichen Skatrunde gesessen und das Lokal nicht vor vierundzwanzig Uhr verlassen habe. Die Staatsanwaltschaft sei zunächst davon ausgegangen, dass dies Gefälligkeitsaussagen für Maier seien, die im Prozess leicht zu erschüttern wären. Es konnte jedoch den Zeugen nicht nachgewiesen werden, dass sie die Unwahrheit gesagt hatten. Maier wurde nicht deshalb freigesprochen, weil der Richter an seine Unschuld glaubte, sondern weil die Zeugenaussagen nicht zu widerlegen waren.
Ich bin erleichtert, denn ich habe mir niemals vorstellen können, dass dieser Mann zu solchen Verbrechen fähig ist. Obwohl, die Frauen scheinen ihn eindeutig erkannt zu haben. Jetzt, nach seinem Freispruch, wird die Polizei sicherlich nicht mehr so einseitig ermitteln. Bestimmt klärt sich bald alles auf, sodass sich Maiers Unschuld herausstellen wird.
Kurz nachdem ich im Schoko-Traum angekommen bin, betritt Hauptkommissar Rauenberg mit seinem Cocker Spaniel den Laden. Wie meistens ist der Polizist mit Bluejeans und einem legeren Sakko begleitet.
Während ich den Wassernapf und Leckerli für Brunetti richte, will der Polizist wissen: »Wo ist denn Max Bleibtreu?«
»Der hilft Vanessa beim Umzug.«
»War ihr Mann Philipp nicht einer der beiden toten ehemaligen Drogenabhängigen mit der Überdosis …«
»Ja! Sie ziehen in eine Art Wohngemeinschaft«, erläutere ich. »Ob zwischen Vanessa und Max eine feste Beziehung entsteht, wird sich zeigen. Ich glaube, Max mag die beiden Frauen sehr.«
Rauenberg sieht mich irritiert an.
»Vanessa und ihre Tochter Mia«, schiebe ich nach.
»Schon tragisch, dass diese junge Frau so früh Witwe wurde und das Kind ohne seinen Vater aufwachsen muss.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Ich brauche dringend eine Tasse Denk-Schok.«
»Vielleicht sollte der im Fall Maier zuständige Kommissar auch eine größere Menge Denk-Schok trinken«, schlage ich vor.
Natürlich versteht Rauenberg nicht, was ich meine. Ich versuche, es ihm zu erklären. Auch er hält Theo Maier eindeutig für schuldig.
Ich stelle unsere beiden Tassen an den hinteren Bistrotisch, da sich zurzeit keine Kunden in meiner Chocolaterie aufhalten, setze ich mich zu dem Kommissar. Brunetti, der Polizeicocker, bekommt noch ein Leckerli und ich kraule ihn hinterm Ohr. Sobald ich damit aufhöre, stupst er mich mit seiner kalten nassen Schnauze so lange an, bis ich ihn weiter kraule. Schon überredet! Ich teile Rauenberg meine Zweifel an Maiers Schuld mit.
Er jedoch hält mich für naiv. »Ach, Frau Eppstein, man kann doch nicht in die Menschen reinsehen. Glauben Sie mir, was ich da schon alles erlebt habe! Sehen Sie sich diesen Hund an, er kann nicht lügen. Aber die Menschen … da könnte ich Ihnen was erzählen.« Der Kommissar blickt mich bedeutsam an.
»Maier ist eine Seele von Mensch, ich kann mir das nicht vorstellen. Nie und nimmer kann der einer Frau Gewalt antun.« Ich trinke einen Schluck heiße Schokolade.
»Ich habe schon einige Seelen von Menschen erlebt, Frau Eppstein, diese Männer und Frauen sahen allesamt aus, als könnten sie keiner Fliege was zuleide tun. Und wenn jemand bei denen auf einen bestimmten Knopf drückte, wurden die zu einer reißenden Bestie.«
Ich werde nachdenklich. Na ja, vielleicht hat der Mann recht, er ist schließlich Hauptkommissar und hat da so seine Erfahrungen. Ich bin oft etwas leichtgläubig, Naivität hat mir früher schon meine Mutter, nicht zu Unrecht, vorgeworfen.
Rauenberg trinkt seine heiße Schokolade aus. »Ich muss leider schon wieder los.«
Bevor er geht, kauft er für sich noch eine Dose Denk-Schok.
Mir fällt auf, dass dies unsere erste Begegnung war, in der wir nicht miteinander gestritten haben. Komisch! Möglicherweise lag es daran, dass er mich wegen Maier ins Grübeln brachte. Das stimmt natürlich, man kann nicht in die Menschen hineinsehen, und bei vielen sind bestimmte Knöpfe vorhanden, wenn man da draufdrückt, rasten sie aus. So gut kenne ich Herrn Maier auch wieder nicht.
Später kommt Max in den Schoko-Traum. Morgen würde er den Rest erledigen und nächste Woche will er mit Vanessa zu Ikea, um noch einige Möbel zu besorgen.
»Das Kinderzimmer ist auf jeden Fall schon fertig.« Max hat es in einem zarten Grünton gestrichen. Die kleine Mia wird sich dort garantiert wohlfühlen. Er geht ins Lager, um die neuen Berge von Pralinenschachteln und Schokoladen fürs Weihnachtsgeschäft einzuräumen.
Ich bin froh, dass die drei nach Neuenheim gezogen sind. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Vanessa zunächst überlegt, Heidelberg zu verlassen, weil sie hier so vieles an ihn erinnert. Aber dann entschied sie sich genau aus diesem Grund dafür, hierzubleiben. Im Fall ihres Umzugs wäre Max sicherlich mit ihr fortgezogen. Das wäre ein sehr großer Verlust gewesen. Max ist als Hilfe in der Chocolaterie nicht mehr wegzudenken. Obwohl ich ihn ja nur meiner Tochter zuliebe eingestellt habe, damals, als er Schmuck und Geld der toten Frau von Lingenthal gestohlen hatte. Zu dieser Zeit war er heroinabhängig. Inzwischen lebt Max drogenfrei. In zwei Wochen findet jedoch die Verhandlung wegen dem gestohlenen Schmuck und Geld statt. Dass sich die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens immer so lange hinziehen muss, ist schon ärgerlich. Jetzt soll Max für eine Tat bestraft werden, die er quasi in einem anderen Leben beging. Ich glaube, er hat ganz schön Muffensausen vor dem Prozess. Nun, der Spruch: ›Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand‹ ist nicht so verkehrt. Immerhin hat er mit Oliver einen guten Strafverteidiger. Denn auch, wenn mein Ex als Ehemann eine Niete war und auch als Vater nicht so der Brüller ist, als Strafverteidiger ist er ein Ass. Es wird ihm hoffentlich gelingen, den Jungen aus der Sache herauszupauken. Mir ist bewusst, dass Max nicht ewig im Schoko-Traum arbeiten wird. Er möchte sein Abitur nachholen und danach studieren, eventuell Sozialarbeit. Ich hoffe sehr, dass er auch während seiner Schulausbildung und des Studiums bei mir im Geschäft aushelfen wird. Er ist ein genialer Verkäufer, ohne ihn wären meine Einnahmen sehr viel bescheidener.
Bevor ich mich auf den Heimweg mache, kontrolliere ich noch schnell mein Handy. Inzwischen bin ich schlimmer als Steffi. Ständig krame ich mein Mobiltelefon hervor, um zu sehen, ob mir Cem eine Nachricht geschickt hat. Ich fühle mich verliebt wie ein Teenager. Umso rarer sich Cem macht, umso seltener er anruft, umso spärlicher seine Nachrichten bei mir ankommen, umso mehr scheint meine Liebe zu ihm zu wachsen. Das ist doch grotesk. Typisch Frau! Ein Mann würde sicher nach dem Motto handeln: Aus den Augen, aus dem Sinn. Und was mache ich? Ich schmachte nach Cem, ich verzehre mich nach einem kurzen Telefonat, nach einer Mini-SMS. Das ist doch nicht normal. Nein, würde Steffi sagen, normal ist das nicht. Verliebtheit ist ein extrem schwerer Virus, ähnlich einer echten Grippe. Und wie bei einer schweren Grippe durchläuft man verschiedene Stadien, in denen die Symptome unterschiedliche Ausprägungsgrade zeigen, von den ersten kleinen Anzeichen bis zum hohen Fieber mit Halluzinationen. Das Positive an einer Virusgrippe ist, sie verläuft in der Regel sehr viel harmloser als eine Verliebtheit und sie ist auch viel schneller überstanden.
Abends auf dem Nachhauseweg begegnet mir in der Fußgängerzone Maier. Er sieht verändert aus. Erst auf den zweiten Blick bemerke ich, dass dies an seinem Dreitagebart liegen muss. Schon von Weitem sehe ich ihn und lächle ihm aufmunternd zu. Auf Höhe der Providenzkirche bleibe ich stehen und warte auf ihn. Er sieht durch mich hindurch, als würde er mich nicht erkennen, und geht grußlos an mir vorbei. Ich überlege, ob ich ihm hinterherlaufen soll, um ihm zu sagen, dass ich ihn für unschuldig halte, aber er war so … ich weiß auch nicht, so fremd, dass ich von meinem Vorhaben Abstand nehme. Der Mann hat eine Menge durchgemacht, da muss man verstehen, wenn der mit seinen Gedanken woanders ist.
In der Luft liegt Schnee. Im Schwarzwald hat es heute Nacht geschneit. Laut Wettervoraussage könnte der Schnee morgen auch bei uns liegen bleiben.
In unserem Zuhause streiten sich meine Sprösslinge schon wieder über Fleischkonsum. Ich höre gerade noch, wie mein Sohn zu seiner Schwester sagt: »Lass mich doch mit deiner Gemüseideologie zufrieden, du Graspflücker.« Kurz danach höre ich einen Knall, die Zimmertür meiner Tochter.
Die Winterjacke habe ich noch nicht ausgezogen, als mein Sohn sich an mich wendet: »Eh, Mama, kannst du mal ’nen Zwanziger abdrücken, ich muss zum Kopfgärtner.«
»Wohin musst du?«, frage ich irritiert.
»Na, zum Kopfgärtner.« Lucas greift sich dramatisch in seine Haarpracht und erläutert: »Zum Friseur natürlich.«
Kinder nein! Woher haben die nur immer diese Ausdrücke? Schon zücke ich meine Geldbörse. Alina kommt aus ihrem Zimmer, sie braucht auch noch Geld für den Schulausflug und flugs ist in meinem Portemonnaie wieder die übliche Ebbe.
Am nächsten Tag habe ich Max noch einmal freigegeben. Es ist Samstag und Alina vertritt mich von elf bis zwölf Uhr im Schoko-Traum, da Oliver ein Gespräch mit mir in einem Café vereinbart hat. Einen genauen Grund für diese Unterredung hat er mir nicht genannt, ich nehme an, es geht um unsere Kinder.
Der wenige Schnee, der heute Morgen die Erde und die Hausdächer wie mit Puderzucker bestreute, ist inzwischen völlig weggetaut. Man kann ihn nicht einmal mehr erahnen. Es sieht vielmehr so aus, als würde sich heute noch die Sonne zeigen.
Aus der wahrscheinlich längsten Kuchentheke Heidelbergs, die keinen einzigen Wunsch offenlässt, suche ich mir ein Stück Schoko-Sahnetorte aus. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Über zehn Minuten sitze ich hier schon im beheizten Wintergarten und komme mir vor, wie bestellt und nicht abgeholt. So war das früher ständig. Mein Exmann musste immer noch einen wichtigen Termin oder ein dringendes Telefonat zu Ende zu führen. Der bekannte Strafverteidiger denkt, er könne sich das erlauben. Bei mir aber nicht! Nicht mehr! Ich sehe auf die Uhr und beschließe, dass ich exakt in fünf Minuten das Café verlassen werde. In der Zwischenzeit schaue ich zum zehnten Mal auf mein Handy. Wieder keine Nachricht von Cem.
Da kommt Oliver um die Ecke gehetzt in einem mir unbekannten taubengrauen Anzug, sieht fast maßgeschneidert aus, kann ich mir bei dem Sparbrötchen gar nicht vorstellen. Und mit diesem Hemd ist unzweifelhaft er der Boss, wenn auch nicht Hugo. Beim Friseur war er auch. Da steckt eine neue Praktikantin dahinter. Könnte ich drauf wetten!
»Sorry, Tanja, ich habe versucht, pünktlich zu sein, doch … du weißt ja.«
Ja, ich weiß! Ein »Na, wie geht es deiner neuen Praktikantin?« kann ich mir nicht verkneifen.
»Lass uns nicht streiten, Tanja. Wir sind hier, um das Weihnachtsfest zu besprechen.«
Das Weihnachtsfest? Es war damals auch kurz vor Weihnachten, als ich ihn in der Kanzlei mit einer zwanzigjährigen Praktikantin beim Blowjob an seinem Schreibtisch erwischte. Das klassische Klischee. Nun ja, eigentlich hätte ich mir ja denken können, dass irgendwann so etwas passieren wird, schließlich war ich auch einmal Praktikantin in Olivers Kanzlei. Mein Ex hatte damals so komisch reagiert, als ich zur Tür reinkam. Bei unserer Unterhaltung war er fahrig und ständig nestelte er unter dem Tisch herum. Aus Blödsinn sagte ich lachend: »Man könnte meinen, die neue Praktikantin sitzt unter deinem Schreibtisch und bläst dir einen.« Daraufhin lief Oliver feuerrot an, sein Gesicht glühte derart rot, dass ich kurzzeitig überlegte, einen Notarzt zu rufen. Stattdessen wagte ich, sehr ungläubig, einen Blick unter den Schreibtisch. Und was ich dort sah, machte mich zunächst sprachlos. Ich musste zweimal hinsehen, um es zu glauben. Dort saß tatsächlich die neue Praktikantin bei der Arbeit. Tja, Oliver ist halt ein Mann von Welt, ganz Clinton. Aber: Schwamm drüber!
»Ich möchte, dass wir alle zusammen Weihnachten feiern.« Mein Exmann strahlt mich an wie ein Honigkuchenpferd.
»Alle zusammen? Wer sind denn alle zusammen?«, will ich skeptisch wissen.
»Na wir, die Kinder, meine Eltern, deine Eltern und …«, er räuspert sich, »und meine neue Lebensgefährtin.«
»Du meinst jetzt aber nicht dieses blutjunge Ding, das nicht viel älter aussieht als unsere Tochter?«
»Tanja, bitte!«
Tanja bitte! Nein danke, möchte ich sagen. Ich will weder ein Weihnachtsfest mit dir feiern, noch mit deinen schrecklichen Eltern und schon gar nicht mit dieser Lolita. Deshalb hat er den Grund des Gesprächs geheim gehalten, er wusste, wenn er mir das zuvor gesagt hätte, säßen wir hier nicht zusammen.
»Bitte Tanja, lass uns das doch wie Erwachsene handhaben.«
Wie Erwachsene? Dass ich nicht lache!
Mein Handy klingelt. Soll es doch klingeln, denke ich, halte es aber nicht lange aus. Alina hat mir diesen schrecklich schrillen Retro-Klingelton eingespeichert. Wieso können die Kinder nicht ihre Finger von meinem Handy lassen?
»Geh ruhig ran«, sagt Oliver großzügig,
Die Nummer meiner Schwester. Wir haben vor einigen Wochen nach zwanzigjährigem Nicht-miteinander-reden zum ersten Mal telefoniert. Ich drücke das Gespräch weg und wende mich wieder meinem Ex zu.
»Auf diese Art Weihnachtsfest kann ich liebend gerne verzichten. Die Kinder sind schließlich nicht mehr drei. Wir müssen uns nicht als Großfamilie einträchtig um eine geschmückte Nordmanntanne gruppieren und Oh du Fröhliche, oh du Selige singen und so tun, als hätten wir uns alle wahnsinnig lieb.«
»Die Kinder würden sich freuen.«
»Hast du sie gefragt?«
»Ja, das habe ich. Sie haben beide gesagt, dass es ihnen so am liebsten wäre.«
»Ist das wahr?« Ich lege die Kuchengabel zur Seite.
»Ja, das hast du nicht für möglich gehalten, stimmt’s?«
Stimmt. Aber ich kann keine Antwort geben, mir hat es die Sprache verschlagen, was nicht oft vorkommt. Selbst die leckere Schoko-Sahnetorte schmeckt mir nicht mehr, ich stochere lustlos in meinem Rest herum.
Wir einigen uns darauf, dass ich mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lasse. Ich muss zunächst ein Wörtchen mit Alina und Lucas wechseln. Die beiden hätten ja mal was sagen können, wenn sie sich diese Art Weihnachtsfest wünschen.
Als ich den Schoko-Traum betrete, stürmt Alina auf mich zu und umarmt mich. »Mama, endlich bist du wieder da. Stell dir vor, dieser Vergewaltiger war hier und hat eingekauft. Igitt, ist der unangenehm. Der hat mich Mäuschen genannt. Nur weiße Schokolade hat er gekauft, die andere schmecke ihm nicht.«
»Er hat nur weiße Schokolade gekauft? Alina du musst dich irren, das war nie und nimmer Maier. Der mag nur Zartbitterschokolade. Der würde auch niemals Mäuschen zu dir sagen, das ist ein ganz Netter.«
»Also nett geht anders. Der ist ein ganz schmieriger Kerl. Dem möchte ich auf keinen Fall nachts irgendwo begegnen.«
Ich versuche, Alina davon zu überzeugen, dass es nicht Maier gewesen sein kann, aber sie besteht darauf, dass er haargenau so aussah wie der auf dem Foto in der Zeitung, nur mit Dreitagebart.
Nachmittags kommt eine Kundin in den Laden und erzählt mir, dass sich die Studentin Jennifer Uhlig, das zweite Opfer des Verdächtigen Maiers, umgebracht hätte. Eine Nachbarin hätte ihr das berichtet, die wiederum hätte eine Freundin und die hätte es von ihrer Schwester erfahren, die wohne in der Nachbarschaft des Opfers.
»Kann mir einer sagen, wieso die dieses Monster freigelassen haben? Also wissen Sie, meinetwegen könnten die für so einen die Todesstrafe wieder einführen. Was soll man den noch in den Knast stecken, hat der doch gar nicht verdient, lebt dort nur auf unsere Kosten.«
»Herr Maier wurde freigesprochen, da er jeweils ein wasserdichtes Alibi für die Tatzeiten aufwies. Er konnte nicht der Täter sein, wenn dem so wäre, hätten die ihn behalten.«
»Ach wissen Sie, unsere Gerichte taugen doch nichts mehr. Die Richter sind doch alle viel zu weich. Ruckzuck schafft es einer dieser Rechtsverdreher, jeden Schuldigen freizubekommen.«
Gelegentlich fällt es mir schwer, ruhig zu bleiben. Man muss sich in einem Geschäft manchmal Dinge anhören!
Dass sich diese junge Frau umgebracht hat, ist allerdings sehr tragisch.
Abends höre ich, wie Alina in der Küche zu Lucas sagt: »Besser, du redest mit Mama, sie muss es doch irgendwann erfahren.«
»Was muss ich erfahren?«
Zunächst betretenes Schweigen, dann sagt Lucas: »Ach, äh … nix.«
Alina sieht ihren Bruder unsicher an. Mir fällt auf, dass meine Tochter keinen Nasenring und statt dem obligatorischen schwarzen T-Shirt ein grünes trägt.
»Ich habe doch gehört, dass Alina gesagt hat: ›Besser, du redest mit Mama‹«
»Nee, nee, da hast du was falsch verstanden. Sie hat gesagt: ›Besser, du redest mit Manni‹«
»Aha!«
»Ja, ähm, Manni macht am Samstagabend Party und äh ... ich will da nicht hin. Also nicht, dass ich jetzt eine Partyschranke bin, aber bei dem kommen immer krass viele Partyparasiten, das läuft immer schnell aus dem Ruder.«
»Wer ist denn dieser Manni?«, frage ich interessiert.
»Ach, das ist einer aus der Mathe-Nachhilfe.«
Von einem Manni habe ich noch niemals irgendetwas gehört. Ich könnte schwören, dass Alina Mama