Schoko-Pillen - Petra Scheuermann - E-Book

Schoko-Pillen E-Book

Petra Scheuermann

0,0

Beschreibung

Tanja Eppstein ist Inhaberin der Chocolaterie Schoko-Traum in der Heidelberger Altstadt. In Schoko-Pillen wird sie in ihren zweiten Kriminalfall verwickelt. Plötzlich steht sie selbst im Fadenkreuz der polizeilichen Ermittlungen. Und dieses Problem lässt sich nicht mit einer heißen Anti-Kummer-Schokolade lösen. Zwei ehemalige Drogenabhängige sterben an einer Überdosis Heroin. Max, Tanjas Hilfe im Schoko-Traum, mutmaßt, dass da jemand nachgeholfen haben könnte. Mussten die beiden jungen Männer sterben, weil sie zu viel über die Geschäfte eines Crystal-Meth-Dealers wussten? Nach einem Drogenfund im Schoko-Traum werden Tanja und Max verhaftet. Jetzt sehen sie sich gezwungen, auf eigene Faust zu ermitteln. Unvermutet bekommt der Fall eine ganz neue Dimension. Als Tanja sich beim Besuch auf dem größten Weinfest der Welt, dem Dürkheimer Wurstmarkt, in den Profiler Cem verliebt, fährt ihr Gefühlsleben mehr als einmal Achterbahn. Dieser mit leichter Feder geschriebene Schoko-Krimi steigert sein Tempo rasant und wartet auf mit zahlreichen überraschenden Wendungen. Mit leckeren Schokoladen-Rezepten zum Ausprobieren. Ort der Handlung: Heidelberg und die Pfalz

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1

»Ehrlich Tanja. alle deine Träume werden wahr! Du kannst dir wünschen, was du willst und schon bekommst du es.« Meine Freundin Birgit strahlt mich an, als hätte sie mir soeben zu sechs Richtigen mit Superzahl gratuliert.

»Endlich! Auf diese Mitteilung habe ich ein Leben lang gewartet. Alle meine Wünsche werden erfüllt? Egal was? Echt jetzt?« Ich sehe meine Glücksfee skeptisch an.

»Das Universum ist tatsächlich in der Lage, alle deine Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Es funktioniert, glaube mir.«

Meine Freundin Biggi nervt ständig mit einem anderen Esoterik-Tick. Noch vor Kurzem waren die Tarot-Karten ihr Steckenpferd, inzwischen scheint der Kosmos dran glauben zu müssen.

Birgit hat mal wieder diese engelartige Ausstrahlung meiner Großmutter, wenn die früher zu Weihnachten in die Rolle des Christkinds schlüpfte. »Also, eine Kollegin von mir, die hat sich im Universum einen roten Ferrari gewünscht. Und stell dir vor, abends kommt ihr Mann nach Hause und schenkt ihr einen roten Ferrari.«

Ich sehe meine Freundin sehr ungläubig an. »Wahnsinn! So schnell geht das?« Wer glaubt denn so was? Ich jedenfalls nicht.

»Dumm war nur«, schiebt Biggi nach, »dass es ein Spielzeugauto war.«

»Ach Gott, der Kosmos ist aber auch doof.«

Der strafende Blick meiner Freundin trifft mich mit voller Härte. »Du musst deine Wünsche einfach so präzise wie möglich formulieren, dann passiert so etwas nicht. Und am besten ist es, wenn du dir was Persönliches wünschst. Also nicht den Weltfrieden oder so.«

»Logo, man soll das Universum nicht mit Unmöglichkeiten überfordern.«

Meine heiße Anti-Kummer-Schokolade ist kalt geworden, ich sollte mir wünschen, dass sie wieder warm wird. Allerdings wäre es extrem ungünstig, meine, an das Universum geäußerten Wünsche zu vergeuden. Vielleicht funktioniert das ja wie bei der Fee im Märchen und ich habe nur drei Wünsche frei und einen habe ich dann schon für heiße Schokolade verschwendet. Nicht auszudenken! Lieber trinke ich den Rest meines kalten Kakaos aus und nehme mir noch eine Praline Süße Sünde.

»Und sonst kann ich jetzt einfach drauflos wünschen? Ich sage einen Wunsch und schwupp geht er in Erfüllung?«, versichere ich mich.

Mit diesem ganzen Hokuspokus kann ich wenig anfangen.

»Jaaa, so in etwa.« Birgit greift nach einer Cappuccino-Praline, die mag sie am liebsten.

»Dieses Wünschen, hieß das früher nicht beten?« Ich bin aber auch wieder eine alte Zweiflerin.

»Na ja, das geht so ähnlich, ist jedoch eine andere Bestellhotline. Tanja, echt, es funktioniert, das haben schon Hunderttausende Menschen ausprobiert. Du musst nur ein paar kleine Regeln beachten.«

»Aha, ich hab’s gewusst! Jetzt kommt das Kleingedruckte.«

Birgit macht ein sehr ernstes Gesicht, als wäre sie eine Lehrerin, die der kleinen dummen Tanja die Welt erklären müsse. »Regeln gibt es für alles, auch für die Bestellungen im Universum. Die erste Regel, die es zu beachten gilt, heißt: Du musst deinen Wunsch möglichst präzise formulieren.«

»Klar, nicht so wie im Falle deiner Kollegin mit dem Ferrari.«

Ich greife mir eine weitere Praline Süße Sünde, eine geht noch. Meine neuste Kreation aus Zartbitterkuvertüre und kandierten Ingwerstückchen ist der Hammer. Auf meiner Zunge breitet sich der herbe, tiefe Geschmack der Zartbitterschokolade aus und vermischt sich mit der süßen Schärfe des kandierten Ingwers.

»Hm!« Ich stöhne laut vor Wonne.

»Es gibt eine bestimmte Art, in der du deine Bestellungen formulieren musst«, belehrt mich meine Freundin. »Nehmen wir zum Beispiel an, du wünschst dir ein Haus, dann darfst du nicht sagen: Ich will nicht mehr in dieser Mietwohnung hausen. Verneinungen kennt der Kosmos nämlich nicht.«

»Nee, klar jetzt. Woher soll der Kosmos so etwas wie Verneinungen kennen?«

Meinen unqualifizierten Einwurf übergeht Biggi professionell, stattdessen fährt sie unbeirrt fort: »Also, wenn du zum Beispiel ein Einfamilienhaus in der Nähe von Heidelberg dein Eigen nennen willst, dann sagst du: Ich besitze ein Einfamilienhaus in der Nähe von Heidelberg mit zehn Zimmern. Danke!«

Vor meinen Augen sehe ich eine alte, verfallene Bruchbude, die mir von einer bis dato unbekannten Tante vererbt wurde. Der Abriss dieser Villa wird mich finanziell in den vollständigen Ruin treiben. Nein –, lieber nicht ausprobieren!

»Dann weiß das Universum genau, wie es deine Bestellung auszuführen hat. Und zum Schluss deines Wunsches formulierst du einen Dank, quasi als Vorschusslorbeeren an den Kosmos. Das ist wichtig.« Sie greift nach der letzten Praline auf dem Tellerchen. Meine Freundin schlägt heute ganz schön zu.

»Wie?«, sage ich, während ich erneut mehrere von Biggis Lieblingspralinen in ihrer unmittelbaren Nähe platziere. »Ich soll sagen: Ich besitze ein Haus. Aber ich habe es doch noch gar nicht! Und bedanken soll ich mich auch im Vorfeld, obwohl das Universum eindeutig in Lieferverzug ist und weder den Eingang meiner Bitte bestätigt, noch einen genauen Termin der Wunschrealisierung zu nennen bereit ist?«

Also Esoterik ist nicht mein Ding, entweder bin ich dafür zu normal oder mir fehlt es an Fantasie. Meine vier Semester Jurastudium könnten sich zudem kontraproduktiv auf meinen Glauben in diese ominösen Geheimlehren auswirken.

»Du musst das aber so formulieren, weil auf diese Weise deine Gedanken zu Energie werden. Dein Wunsch kann sich hierdurch materialisieren.«

»Mein Wunsch kann sich was? Materialisieren? Nee, oder?«

»Ja, materialisieren«, bestätigt Birgit.

Dies ist mir zu hoch, eindeutig nicht meine Welt. Daher sage ich: »Alles klar. Kann man seine Bestellungen ans Universum auch im Internet aufgeben oder gibt’s dafür vielleicht ’ne App?«

»Tanja, du bist unmöglich!«

Birgits Smartphone dudelt. Es ist ihre Tochter. Die beiden haben sich vor einigen Wochen zum ersten Mal nach sieben Jahren gesehen, seitdem ist meine Freundin zur Hochform aufgelaufen. Sie hat sich neue Klamotten gekauft und ist dabei, ihre Wohnung zu renovieren.

Ich packe in der Zwischenzeit herbstliche Pralinenpäckchen.

Warum sollte ich das mit dem Wünschen nicht doch einmal ausprobieren? Spontan sage ich in Gedanken: »Ich habe einen Mann aus meinem privaten Umfeld näher kennengelernt. Danke!«

Natürlich denke ich bei meinem Wunsch an Cem, der mir am Morgen eine SMS aus Berlin zukommen ließ, mit dem Inhalt, dass er dort als Profiler einer Sonderkommission zugeteilt sei, wir uns aber am übernächsten Wochenende bei unserem Schokoladen-Seminar in Mannheim sehen werden. Ja, Cem ist schon ein toller Mann, den würde ich zu gerne näher kennenlernen, und wenn mir der Kosmos dabei behilflich sein kann, warum eigentlich nicht?

Die Tür geht auf und unsere gemeinsame Freundin Stefanie schwebt in den Schoko-Traum ein. Ich muss allerdings zweimal hinsehen, damit ich sie erkenne, ihr schulterlanges bis gestern blondes Haar ist knallig himbeerrot gefärbt. Sofort muss ich an meine Tochter denken, Alina hat in der letzten Woche ihre Haarfarbe von grün auf pechschwarz geswitcht. Die natürliche Haarfarbe meiner Tochter ist ein kräftiges kastanienbraun, das ihr sehr gut steht und hervorragend mit ihren großen dunkelbraunen Augen korrespondiert. Meiner Meinung nach, die selbstverständlich niemanden interessiert, schon gar nicht mein Pubertier Alina. Okay, sie ist vor einigen Wochen sechzehn geworden. Aber Steffi müsste der Pubertät inzwischen entwachsen sein. Müsste! Ich kräusele das Geschenkband einer herbstlich verpackten Pralinenschachtel und lege diese zu den anderen auf das Regalbrett.

»Steffi! Wie siehst du denn aus? Hast du dir deine Haarfarbe beim Kosmos bestellt?«, will ich wissen.

Wenn das Ergebnis vom universellen Bestellservice so aussieht, dann sollte ich davon die Finger lassen. Ich habe gleich gewusst, dass diese Wünscherei einen Haken hat. Garantiert hat sie sich als Haarfarbe rot gewünscht und das kam dabei heraus.

Das mit den Sternschnuppen hat bei mir auch nie funktioniert, nur ein einziges Mal. Da saß ich mit meinem Exmann zusammen oben auf dem Königstuhl, unsere schöne Stadt Heidelberg und die nächtliche Rheinebene lagen uns erleuchtet zu Füßen. Das war so verdammt romantisch, dann waren da diese Sternschnuppen, die wir gezählt haben und ich habe mir ein gemeinsames Leben mit Oliver gewünscht. Das habe ich bekommen. Dumm nur, dass er achtzehn Jahre später mit einer anderen Praktikantin Sternschnuppen zählen musste.

Birgit beendet ihr Telefonat. Ihr Kommentar zum neuen haarlichen Outfit unserer gemeinsamen Freundin: »Nee, diese Farbe wurde garantiert nicht vom Universum geliefert. Oh Gott, Steffi!«

»Göttin bitte, so viel Zeit muss sein! Universum? Was hat das denn mit meiner Haarfarbe zu tun?«

Ich kläre sie kurz auf, über die brandaktuelle Konkurrenz von Zalando und Co. Sie hat auch schon von diesem kosmischen Bestellservice gehört und teilt, wie erwartet, meine Skepsis.

Dann belehrt sie uns: »Himbeerrot ist die derzeit angesagte Farbe.«

»Na ja?« Biggis Blick spricht Bände.

»Aha«, bemerke ich.

»Mensch Mädels, ihr beide seit immer so konservativ. Seht euch doch mal an, ein bisschen Aufpeppen könnte euch nicht schaden. Ihr könntet ruhig mal was Neues ausprobieren. Wenn es euch nicht gefällt, könnt ihr’s ja wieder ändern.«

»Sollen wir uns wie du jeden Monat neu erfinden?«, kontert Birgit.

»Klar, lieber jeden Monat neu erfinden, als immer die gleiche Trutsche sein.«

Biggi echauffiert sich: »Ja, ja, wir sind also altmodisch und bieder.«

Um einen Themenwechsel einzuleiten, will ich von Stefanie wissen, was ihr elf Jahre jüngerer Lover macht.

»Oh, Jonas ist sooo süß. Und, ihr glaubt es nicht, aber wir haben nächtelangen Sex. Wir beginnen im Bett und nach Stunden haben wir uns durch alle Zimmer meiner Wohnung gearbeitet und durch das gesamte Kamasutra gleich mit. Ich bekomme einen Orgasmus nach dem anderen. Ehrlich Mädels, so viele Höhepunkte in einer Nacht hatte ich noch bei keinem anderen Mann. Jonas ist der tota-le Wahnsinn!«

Biggi rollt die Augen und schüttelt den Kopf: »Das wäre mir viel zu anstrengend: Die ganze Nacht! Und einen Orgasmus nach dem anderen.«

»Stimmt, das klingt nach Leistungssport und besonders sportlich war ich noch nie«, pflichte ich ihr bei. »Außerdem bin ich der Meinung, dass nächtelanger Sex eindeutig überbewertet wird.«

Stefanie steckt sich eine Praline Süße Sünde in ihren knallrot geschminkten Mund und flötet: »Ihr beide habt echt keine Ahnung!« Dabei trägt unsere gemeinsame Freundin diesen Kennerblick zur Schau, um den ich sie ehrlich beneide.

Auch Birgit greift sich eine weitere Praline. »Was hat doch gleich Madonna über junge Männer und Sex gesagt?«

»Madonna«, werfe ich ein, »sagte: Ich bevorzuge junge Männer. Sie wissen zwar nicht, was sie tun – aber sie können es die ganze Nacht.«

Steffi stellt fest: »Das stimmt! Madonnas Aussage kann ich voll und ganz bestätigen.«

»Madonna hat ja dauernd so junge Hüpfer, die kann sich die auch leisten.«

»Mensch Biggi, was soll das denn heißen«, Steffi entrüstet sich, »dass ich mir die nicht leisten kann oder was?«

»Oh Mädels, lasst gut sein. Kommt, greift zu meiner neuen Pralinenkreation Süße Sünde und ich rühre für uns alle eine Anti-Kummer-Schokolade«, versuche ich zu vermitteln.

»Nee danke, ich brauche jetzt einen doppelten Espresso.« Steffi macht auf beleidigt und stakst auf ihren mörderischen High Heels zur Kaffeemaschine.

»Und was ist mit dir, Birgit?«

»Deine Anti-Kummer-Schokolade nehme ich sehr gerne an.«

In diesem Augenblick kommt Max, meine Hilfe im Schoko-Traum, zur Tür herein. Er war bei seiner Psychologin, der stattet er zwei Mal pro Woche einen Besuch ab, zusätzlich nimmt er regelmäßig an den Treffen einer Selbsthilfegruppe teil. Seit einigen Monaten ist er nämlich clean, er nimmt keine harten Drogen mehr, wenn ich das richtig sehe, auch keine weichen.

Schnell ziehe in mich in die Küche zurück und rühre für uns drei meine Lieblingsköstlichkeit. In einem Topf erhitze ich ausreichend Milch, die ich mit viel Vanille, etwas Kardamom und einer Prise Ingwerpulver würze und mit Honig süße. Hierin löse ich die Zartbitterkuvertüre auf.

Wenn ich daran denke, dass ich zu Beginn heftige Ressentiments gegen Alinas Freund hegte. Na ja, welche Mutter zeigt sich darüber erfreut, dass ihre pubertierende Tochter mit einem Junkie befreundet ist? Und dann musste ich – meiner Alina zuliebe – diesen Max auch noch in meinem Laden anstellen. Entgegen den schlimmsten Befürchtungen verwandelte Max den Schoko-Traum nicht in den Hauptdrogenumschlagplatz in der Heidelberger City. Dieser junge Mann hat sich unzweifelhaft geändert und inzwischen ist er als Hilfe in der Chocolaterie nicht mehr wegzudenken. Max ist ein Verkaufstalent, der finanziert sich quasi selbst. Auch auf meine Tochter besitzt er einen außergewöhnlich guten Einfluss, seit sie mit ihm befreundet ist, haben sich ihre Noten deutlich verbessert. Dieser Junge redet Alina ins Gewissen, sie soll lernen und man glaubt es nicht, aber das Kind setzt sich tatsächlich auf den Hosenboden und lernt. Was mein Exmann und ich mit jahrelangem Zureden nicht geschafft haben, erledigt Max in wenigen Minuten im Handumdrehen.

Pralinen genießend sitzen wir einige Minuten später vor unseren vollen Tassen.

»Ich kann jetzt Süßigkeiten essen, so viel ich will, und nehme trotzdem ab.« Zur Demonstration öffnet Biggi ihre neue große Handtasche und befördert aus einem der hundert Fächer ein rotes Pillendöschen hervor. Schnell steckt sie sich eine kleine weiße Kugel in den Mund.

»Wie viel hast du denn damit schon abgenommen?«, will Stefanie wissen.

Mich interessiert, was das für Tabletten sind. »Und welche Pillen nimmst du da zu dir?«

»Das ist ein Tipp von meiner Kollegin Ilse.«

»Seit wann seid ihr beide denn so dicke?«, will ich wissen, denn Ilse ist die Person in Birgits Berufsleben, über die sie sich am meisten aufregt.

»Also passt auf: Diese Pillen sind echt spitze. Die funktionieren! Ehrlich! In der letzten Woche habe ich schon zwei Kilo abgenommen.«

»Echt jetzt?« Das kann ich gar nicht glauben, denn Biggi ist immer auf irgendeiner Diät und bis jetzt hat sie noch nie, tatsächlich noch nie, auch nur ein einziges Gramm abgenommen, im krassen Gegensatz zu ihrer Geldbörse.

»Ja, Frau Ungläubig, ich sage doch: Diese Pillen wirken. Das sind Schlankheitspillen aus dem Internet. Die Firma hat einen eigenen Webshop und dort kann man die Wunderdroge bestellen.«

»Und was ist da genau drin?«, will Max wissen, schließlich ist er Experte in Sachen Drogen.

»Geheimrezept. Würde doch sonst jeder einfach nachmachen, wenn die die Zusammensetzung veröffentlichen.«

»Wie?«, fragt er nach. »Du weißt nicht mal, was in den Dingern drin ist? Da wäre ich an deiner Stelle aber vorsichtig, ich meine, diese Pillen können doch Nebenwirkungen haben und deine Gesundheit in ungeahnter Weise beeinträchtigen.«

Biggi sieht gewichtig auf ihre Uhr: »Oh sorry, ihr Lieben, ich muss. Meine Mittagspause ist leider um.« Und schon verabschiedet sich unsere gemeinsame Freundin und entschwindet aus der Chocolaterie.

»Nie und nimmer hat die zwei Kilo abgenommen, das redet die sich schön«, lästert Stefanie.

Damit dürfte sie wohl recht haben, auch ich habe da so meine Zweifel an Birgits Wunderdroge.

»Übrigens, wenn einer von euch beiden ein Tattoo bei Jonas stechen lassen möchte, sagt mir Bescheid, dann macht er euch einen Sonderpreis.« Und schon reißt sich Steffi das Dekolleté frei und zeigt ihre neueste Errungenschaft auf ihrer rechten Brust: ein kleines rotes Herz mit einem Pfeil.

Eigentlich finde ich das höchst pubertär, aber ich behalte meine Ansicht für mich, schließlich möchte ich Stefanie weiterhin zu meinen besten Freundinnen zählen dürfen. Ich sehe schon kommen, irgendwann, wenn Jonas Vergangenheit ist, wird sie ihre Tattoos bereuen. Kein Wunder, dass diese Studios zum Entfernen von Tattoos inzwischen Hochkonjunktur haben.

Wenige Minuten, nachdem Stefanie den Laden verlassen hat, kommt ein Freund von Max. Die beiden kennen sich von der Drogenszene. Philipp nimmt seit drei Jahren keine harten Drogen mehr, und seitdem auch Max clean ist, sind die beiden eng befreundet.

Max und ich unterhalten uns weiter über Biggis Wunderpillen. Er sagt: »Ich kann nicht verstehen, dass sich Menschen, die nicht auf Droge sind, Pillen in den Mund stopfen, von denen sie nicht einmal wissen, was drin ist. Das ist doch krank, irre krank. Und dann noch, um abzunehmen. Das erklär mir einer.«

Klar, so etwas kann ein gertenschlanker junger Mann nicht verstehen. Woher auch?

»Manchmal wirfst du dir Pillen ein und weißt nicht, dass die drastische Nebenwirkungen haben. Du hast keine Ahnung warum, aber plötzlich bist du krank, richtig krank. Verdammte Scheiße!« Philipp setzt seinen Becher heiße Anti-Kummer-Schokolade so hart auf den Unterteller, dass der noch verbleibende Kakao zur Hälfte herausschwappt, gleichzeitig haut er mit seiner linken Faust auf den Tisch.

»Mensch Phil, warum tillst du denn so aus?«, will sein Freund wissen.

»Weil ich die Schnauze voll habe. So verdammt voll. Jetzt ist Schluss! Du Max, ich muss jetzt los, aber können wir reden? Ich muss dir was Wichtiges stecken. Heute Abend? Ich komm bei dir vorbei.«

»Alles klar, bis dann.«

Und weg ist Philipp.

Max sieht mich irritiert an. »Der war irgendwie ganz schön grell drauf, richtig verpeilt. Hast du das jetzt kapiert?«

»Keine Ahnung, ich habe seine Reaktion auch nicht verstanden.«

Der Schoko-Traum füllt sich, Max und ich arbeiten Hand in Hand bis Ladenschluss.

Zu Hause betrete ich das Bad: Blut! Im Waschbecken: Blut. Auf der Klobrille: Blut. Auf dem Boden: Blut. Überall Blut!

2

»ALINA! ALINA!«, schreie ich panisch und renne in ihr Zimmer. Sofort denke ich, dass meine Tochter sich jetzt auch noch selbst verletzt. Irgendwie traue ich diesem Kind alles zu, warum weiß ich auch nicht. Eigentlich ist Alina viel vernünftiger als ich immer denke. Ihr Zimmer ist leer. Erst jetzt registriere ich, dass eine Blutspur am Boden ins Nachbarzimmer führt.

»LUCAS!« Ich reiße die Tür auf. Mein Sohn liegt auf seinem Bett, das Gesicht mit einem gelben Waschlappen bedeckt.

»Lucas, was ist passiert?« Mein Panikpegel ist extrem hoch und meine Stimme im Schreimodus.

»Ach nichts, Mama«, behauptet der Mund unter dem sich bewegenden Waschlappen.

»Das sieht aber gar nicht nach nichts aus.«

Ich hebe den Waschlappen ein wenig an und gebe einen spitzen Schrei von mir. Lucas’ Gesicht besteht nur noch aus Nase. Augen: Fehlanzeige! Mund: Fehlanzeige! Seine Nase ist riesig, ich würde mal sagen, sie ist doppelt so dick wie heute Morgen, mindestens, und schillert in den Farben Blau bis Violett.

»Ich will wissen, wer das war und warum! Sofort!«, sage ich sehr bestimmt. Normalerweise prügelt sich mein siebzehnjähriger Sohn nicht mit seinen Mitschülern, aus dem Alter ist er raus. Das dachte ich zumindest bis heute.

»Das war Erdal.«

»Du hast dich mit einem Türken geprügelt? Wieso das denn?«

»Na ja. Ist nicht so wichtig, Mama.«

»Nicht so wichtig? Ich will wissen, was los war. Auf der Stelle!«

Ich setze mich auf den Rand des Bettes und lege meine rechte Hand auf den Arm meines Sohnes.

»Also … das war wegen Hülya.«

»Wegen Hülya? Ihr habt euch wegen einer Frau geprügelt?«

Irgendwann musste das passieren. Mein Sohn wechselt seine Freundinnen häufiger als seine Unterhosen. Es wundert mich, dass das nicht schon viel früher geschehen ist.

»Hast du ihm die Freundin ausgespannt?«

»Nee Mama, Hülya ist seine Schwester. Sie darf natürlich vor der Ehe nicht mit Jungs rummachen und außerdem ist sie quasi schon mit einem weitläufigen Verwandten verlobt.«

»Sie haben sie als Kind in der Türkei verlobt?« Ich bin entsetzt.

»Nee, der ist nicht aus der Türkei, der wohnt in Speyer. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist sie nicht wirklich mit dem verlobt, aber sie wurde ihm schon als Kind versprochen, oder besser seinen Eltern.«

Ich streiche meinem lädierten Sohnemann immer wieder beruhigend über den Arm.

»Das war voll krass. Auf dem Nachhauseweg von der Feriennachhilfe hat der mir vor der Heiliggeistkirche aufgelauert und dann ist der ohne Vorwarnung auf mich zugegangen und hat mich voll frottiert.«

»Frottiert?«

»Er hat mir seine Rechte ins Gesicht gedonnert.«

»Hoffentlich ist die Nase nicht gebrochen.«

»Nee, nee, die ist nur dick.«

»So ganz ohne Vorwarnung? Das ist ja übel. Du hast hoffentlich nicht zurückgeschlagen?«

»Ich wollte, aber ich hab nur in der Luft rumgefuchtelt. Hab ja nix mehr gesehen, alles sofort angeschwollen wie bekloppt. Erdal hat mich vor zwei Tagen gewarnt. Da hatte er sein Auto neben mir auf der Straße angehalten, die Scheibe runtergelassen und gesagt, ich soll die Finger von seiner Schwester lassen, sonst würde ich das schwer bereuen.«

»Aha! Also nicht ganz ohne Vorwarnung.«

»Ich liebe Hülya.«

»Lucas, du hast jede Woche eine neue Freundin.«

»Ja, aber das mit Hülya ist anders, ganz anders, das ist was Ernstes.«

Ich sehe unsere Scheidungs-Familie schon zum Antrittsbesuch bei einer türkischen Großfamilie im Wohnzimmer sitzen. Na, das kann ja heiter werden!

»Was Ernstes? Lucas, wenn du drei Tage mit einem Mädchen zusammen bist, dann ist das bei dir eine echt lange Beziehung.«

»Wir sind schon seit zwei Wochen zusammen, na ja, jetzt nicht mehr.«

»Gibst du so schnell auf? Soll ich mal mit den Eltern reden?«

»Hat sich erübrigt. Hülya hat mir vor zehn Minuten eine SMS geschickt; sie hat Schluss gemacht.«

»Sie hat per SMS eure Beziehung beendet?« Schöne Freundin! Aber … »Vielleicht hat sie einfach Angst um dich.«

Lucas ist am Boden zerstört. Normalerweise ist er derjenige, der seine Freundinnen auf diese üble Art beendet. Ich liebe meinen Sohn sehr, aber er hat es verdient, dass es einmal andersherum ist. Immerhin weiß er jetzt, wie sich seine Verflossenen fühlen, wenn er sie per SMS, per WhatsApp oder per Was auch immer abserviert.

»Wenn sie so viel Angst um mich hätte, dann hätte sie ja anrufen und fragen können, wie es mir geht.«

Ich gehe ins Bad, um den blutdurchtränkten und warm gewordenen Waschlappen zu wechseln.

»Ist Hülya das hübsche Mädchen, das am ersten Ferientag mit im Schoko-Traum war, dann ist ja immerhin keine Kopftuchtürkin?«, rufe ich vom Bad aus.

»Aauaa«, jammert Lucas, als ich den kalten, feuchten Waschlappen auf sein Gesicht lege. »Ja, das war Hülya. Du willst wissen, ob sie eine Muslima ist? Bis du jetzt plötzlich ausländerfeindlich?«

»Nein, aber man darf doch mal nachfragen.«

»Sie trägt in der Schule meist kein Kopftuch, aber wenn sie die Schule verlässt, dann bindet sie es sich oft um. Ich glaube, das macht sie wegen ihres Bruders, vor dem hat sie mehr Angst als vor ihrem Vater.« Mit geschlossenen Augen sagt er: »Aber egal, ist ja eh vorbei.«

»Mensch Schatz, du musst mit ihr reden. Wenn du sie wirklich magst, dann musst du um sie kämpfen. War sie nur wieder so eine Eroberung, dann sieh das als Lehrgeld an.«

Meine schöne Tochter kommt nach Hause, ich beschließe, für uns drei jetzt erst mal ein anständiges Abendessen zuzubereiten. Für meinen Sohn heißt das ein großes Steak mit überbackenen Kartoffeln, für Alina im Gegensatz dazu ein großer Salat, vielleicht mit Käse, auf jeden Fall: ohne totes Tier. Also haue ich für Lucas ein großes Steak und für mich ein kleines Steak in die Pfanne, für Alina backe ich ein Stück Schafskäse, dazu gibt es Kartoffelgratin und viel, viel Salat.

Am nächsten Morgen hat Lucas immer noch eine übergroße, geschwollene Nase. »Du solltest zum Arzt gehen«, schlage ich ihm vor, aber er schüttelt nur den Kopf.

»Halb so schlimm, Mama.«

Alina ist jetzt schon den zweiten Tag ganz in Schwarz gekleidet. Ich überlege, ob ich sie darauf ansprechen soll, entscheide mich jedoch dagegen. Pubertät ist schon eine anstrengende Zeit – für Kinder und Eltern. Mit ihren schwarz geschminkten Augenringen sieht das Mädchen Jahre älter aus. Sie trinkt ihre warme Sojamilch in kleinen Schlückchen aus ihrer großen Müslischale mit der Aufschrift: Ich ess kein Mäh und kein Muh! Und du?

Nachdem sich meine Tochter in Richtung Feriennachhilfe verabschiedet hat, nehme ich meinen Sohnemann noch einmal zur Seite und versichere ihm, dass ich jederzeit für ihn da sein werde, falls er mich brauche.

»Isch waiß Momo«, sagt er Leberwurstbrot kauend und daher etwas unartikuliert.

Am Vormittag kommt Vanessa in den Laden, die Frau von Philipp, sie hat wie immer Mia, ihr sechs Monate altes Baby, dabei. Vanessa ist sehr aufgeregt, sie will mit Max reden.

Ich verziehe mich in die Küche und rühre für uns alle eine Anti-Kummer-Schokolade.

Dort höre ich Vanessa fragen: »Hat Phil die Nacht bei dir übernachtet? Er war doch gestern Abend bei dir zum Quatschen.«

»Nee, der hat nicht bei mir gepennt. Phil wollte gestern Abend mit mir reden, aber er ist nicht gekommen.«

»Er war heute Nacht nicht zu Hause. Seit gestern Nachmittag versuche ich, ihn auf seinem Handy zu erreichen. Das ist ausgeschaltet. Ich verstehe das nicht.«

Max versucht, Vanessa zu beruhigen, aber ich bemerke an seiner flattrigen Stimme, dass auch er sich Sorgen macht.

In der Mittagspause laufe ich zum Supermarkt und schleppe drei volle, schwere Tüten nach Hause, da unser Kühlschrank schon wieder fast leer ist.

Als ich die Haustür öffne, sehe ich, wie Blockwart Grantler Poststücke in die Briefkästen der Hausbewohner einwirft.

»Sind Sie jetzt bei der Post, Herr Grantler?«

Unser Hausmeister winkt ab: »Ach, wissen Sie, diese Briefträger werden immer unverschämter, die schmeißen einfach alle Briefe bei mir ein und ich muss sie dann verteilen.«

»Das ist ja dreist. Aber danke, dass Sie sich um die Briefe kümmern.«

»Bitte, bitte, man macht ja so einiges als Hausmeister.«

Sieh mal einer an, der Blockwart Grantler, der kann ja auch nett und hilfsbereit sein. Völlig neue Züge, die ich an diesem Mann entdecke.

Am Nachmittag öffnet sich die Tür des Schoko-Traums, und ein etwa fünfundvierzig Jahre alter Mann mit kurzem dunkelblondem Stoppelkopf betritt den Laden. Er trägt einen modernen Anzug und ein weißes Hemd, in seinen Schuhen kann man sich spiegeln. Irgendwie geht eine dezente Eleganz von ihm aus.

Mit einem umwerfenden Lächeln sagt er: »Ich bin ein heißer Schokoladen-Junkie.«

Na ja, der sieht schon heiß aus, denke ich, aber da realisiere ich zum Glück, dass er heiße Schokolade meint. Ich werde ein bisschen rot, biete ihm jedoch an, dass er gerne eine heiße Schokolade probieren könne. Er möchte gleich zwei verschiedene Sorten kosten: die Anti-Kummer-Schokolade und meine Konzentrations-Schokolade Denk-Schok. Ich setze mich mit ihm an den hinteren Bistrotisch. Er ist begeistert und lobt meine beiden Schokoladen-Mischungen sehr.

»Endlich mal echte Qualität! So etwas außergewöhnlich Leckeres habe ich schon lange nicht mehr getrunken.«

Das hört man gerne; ich freue mich über jeden Kunden, der meine Arbeit gebührend zu würdigen weiß.

Der Heiße-Schokoladen-Junkie erzählt mir, dass es ihn für ein halbes Jahr beruflich nach Heidelberg verschlagen habe. Seit drei Monaten wohne er jetzt hier. Meinen Laden erst heute entdeckt zu haben, bedaure er sehr.

Mit zwei gefüllten Tüten verlässt er den Schoko-Traum.

Später sitzen Max und ich an einem kleinen Bistrotisch mit unserer heißen Schokolade, als Vanessa in den Laden stürmt. Sie ist völlig aufgelöst, vor lauter Weinen und Schniefen verstehe ich fast nichts. Nur so viel: Philipp ist tot. Ich verziehe mich in die Küche, Vanessa braucht dringend eine Anti-Kummer-Schokolade, auch wenn die bei dieser Art Problemen wenig helfen wird.

»Die Polizei behauptet, Phil sei an einer Überdosis Heroin gestorben. Das ist doch völliger Blödsinn. Mensch, er ist seit drei Jahren clean, der hat doch überhaupt keine Drogen mehr angerührt nach seiner Langzeittherapie. Nicht einmal einen Joint hat der gedampft, auch Alkohol hat er fast keinen getrunken.«

Max hat seinen Arm um Vanessa gelegt.

»In einer Stunde soll ich in der Pathologie sein. Ich muss Phil noch einmal sehen, sonst glaub ich das nicht.«

»Ich komme mit«, sagt Max entschieden.

»Danke!« Ich reiche Vanessa ein neues Papiertaschentuch. »Ich bin froh, wenn du mitkommst, ich weiß nicht, wie ich das durchstehen soll.«

Nach wenigen Minuten verlassen die beiden die Chocolaterie. Mia bleibt bei mir, sie liegt satt und selig in ihrem Kinderwagen und schläft. Zum Glück versteht sie noch nicht, was um sie herum passiert.

War Philipp gestern deshalb so komisch drauf? Hatten die Drogen, die er genommen hatte, Nebenwirkungen? Aber er ist doch an einer Überdosis Heroin gestorben. Vielleicht war die Droge mit Gift versetzt, einmal habe ich so etwas in der Zeitung gelesen. Sicherlich ist er rückfällig geworden und die Dosis, die er sich gespritzt hat, war zu hoch für seinen drogenentwöhnten Körper. So etwas hört man immer wieder. Hat Phil nicht gestern so etwas geäußert in der Art, dass er die Schnauze voll habe und dass jetzt Schluss sei. Das klingt fast ein bisschen nach Selbstmord. Aber er kündigte auch an, dass er Max etwas Wichtiges mitteilen müsse. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich hoffe, dass sich alles als eine Falschmeldung herausstellen wird und Philipp quicklebendig ist. Es wäre schrecklich, wenn Mia jetzt ohne ihren Vater aufwachsen müsste und die zweiundzwanzigjährige Vanessa schon Witwe wäre.

Alle meine Kunden bewundern die schlafende süße Mia.

Später holt Max das Baby ab.

»Ich habe Vanessa zu ihren Eltern nach Schlierbach gebracht, dort fahre ich jetzt auch Mia hin. Vanessa ist völlig fertig. Ob sie allerdings realisiert hat, dass Phil tot ist, wage ich zu bezweifeln. Wir haben ihn da in der Pathologie liegen sehen, aber das war alles so unwirklich. Ich kann das selbst nicht glauben. Philipp war komisch drauf gestern, aber doch nicht auf Droge. Wann soll der denn rückfällig geworden sein? Das ist doch völliger Quatsch.« Einen Selbstmord kann sich Max überhaupt nicht vorstellen. »Warum sollte er das tun? Schließlich gab es die beiden Frauen Vanessa und Mia in seinem Leben, die er über alles liebte.« Und depressiv, sagt Max, sei Philipp noch nie gewesen, eher ein begnadeter Optimist.

Tja, man weiß halt nicht, was jemand tatsächlich tief im Innersten fühlt. Oft sind die lustigsten Menschen in Wahrheit die traurigsten. Der Schauspieler Robin Williams, zum Beispiel, gab so oft in seinem Leben den Clown, erheiterte mit seinen Filmen und Shows ein Millionenpublikum, und das, obwohl er immer wieder gegen seine Alkohol- und Drogensucht gekämpft und sich in seiner größten Verzweiflung das Leben nahm.

Ich räume meinen Laden auf, stelle das Geschirr in die Spülmaschine und schließe den Schoko-Traum ab.

Unterwegs läutet mein Handy. Es ist die Festnetznummer meiner Eltern, aber da mein Vater das Telefonieren hasst, kann es nur meine Mutter sein. Ich wette, sie will mir wieder etwas über meine Schwester Yvonne erzählen. Ich drücke das Gespräch weg und verstaue das Mobiltelefon in meinem Rucksack.

3

Zwei Tage später rühre ich in der Mittagspause zu Hause Schoko-Peeling an und höre dabei den Rhein-Neckar-Funk. Seit meine beste Kundin Gisela von Lingenthal vor einigen Monaten als Schoko-Leiche, von oben bis unten mit meinem Schokoladen-Peeling beschmiert, ihr Leben aushauchte, verkaufe ich das Zehnfache von dem Zeug. Was mal wieder zeigt: Auch Negativ-Werbung zahlt sich aus.

Gerade als ich das Radio ausschalten will, beginnt eine Reportage zum Thema Drogenkonsum in der Metropolregion Rhein-Neckar. Die Anzahl der Drogentoten sei in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen, wobei es immer noch eine konstant hohe Zahl derer gäbe, die von harten Drogen abhängig seien. Auch von einem Drogentoten vor wenigen Tagen in Heidelberg ist die Rede.

Bewaffnet mit dem Schoko-Peeling-Nachschub, mache ich mich etwas zu spät auf den Weg zu meinem Laden. Im Hausflur sehe ich, dass der Postbote dem Grantler einen dicken Packen Briefe in die Hand drückt. Das ist ja die Höhe. Kann der die Post nicht selbst zustellen? Das ist doch sein Job und nicht der vom Hausmeister. Ich überlege kurz, ob ich für Grantler Partei ergreifen soll, entscheide mich dagegen, da ich schon viel zu spät dran bin.

Als ich den Laden fast erreicht habe, sehe ich, wie sich Hauptkommissar Rauenberg mit seinem Cocker Spaniel in die andere Richtung entfernt. Ich laufe ihm hinterher. Warum eigentlich? Na ja, man weiß ja nie, ob man die Polizei noch einmal braucht.

»Ach, Frau Eppstein, das ist schön, dass Sie noch kommen.«

Ich kraule Brunetti hinter dem rechten Ohr, während ich meinen Laden aufschließe. Der schwarze Teufel wedelt schon aufgeregt mit seinem Schwanz. Ich gehe als Erstes in die Küche und hole einige Hundeleckerli aus der untersten Schublade neben der Spüle, ich fülle auch den Wassernapf und stelle ihn vor meinen Liebling. Bei mir wird Service großgeschrieben, auch für Hunde. Und Brunetti ist eine ganz, ganz liebe Spürnase, im Gegensatz zu seinem engstirnigen Herrchen.

»Ich brauche dringend eine Tasse Denk-Schok. Nach dem Genuss einer Tasse heißer Konzentrations-Schokolade fällt mir das Denken immer ganz leicht. Da fügen sich automatisch alle noch nicht eingesetzten Puzzleteile an den für sie vorgesehenen Platz.«

Max betritt den Schoko-Traum. Er hat sich am Vormittag mit Vanessa getroffen, um ihr zu helfen, sie muss noch so viel erledigen, wegen Philipps Beisetzung.

Ich stelle unsere drei Tassen Denk-Schok an den hinteren Bistrotisch. Da sich zurzeit keine Kunden in der Chocolaterie aufhalten, können wir dem Kommissar einige Minuten unserer kostbaren Zeit widmen. Brunetti will noch ein Leckerli. Na gut, diesen sehnsüchtigen Augen kann ich unmöglich widerstehen.

Wir versuchen, dem Hauptkommissar zu erläutern, dass Philipp in den letzten drei Jahren keinerlei Drogen zu sich genommen habe und wir uns daher eine Überdosis Heroin als Todesursache schwerlich vorstellen können.

»Ja, das kann man oft nicht verstehen und es macht einen betroffen.«

Noch einmal werfen wir verschiedene Fragen auf.

»Jetzt versuchen Sie beide doch nicht, einen Fall zu konstruieren, wo es keinen gibt.« Rauenberg belehrt uns: »Ja, es ist tragisch, wenn ein so junger Mann stirbt und ein kleines Kind und eine junge Frau zurücklässt. Aber er war drogenabhängig, das kann tödlich sein, das weiß jeder Junkie, der sich Heroin in die Venen spritzt.«

»Und wenn er ermordet wurde?«, gibt Max zu bedenken.

Rauenberg lacht laut auf und schüttelt unablässig den Kopf: »Glauben Sie mir, ich habe noch nie von einem Drogenabhängigen gehört, der ermordet wurde. Sich umzubringen, das schaffen die Junkies völlig ohne fremde Hilfe.«

Der Kommissar trinkt seine heiße Schokolade aus. »Ich muss leider los. Habe gleich noch einen Termin in Ladenburg.«

Bevor er geht, kauft er für sich noch eine Dose Denk-Schok und ein Päckchen mit Alkohol-Pralinen, als Geburtstagsgeschenk für seine Tante Rosi.

»Klar, der Bulle glaubt uns kein Wort.«

»Na ja, Max«, gebe ich zu bedenken, »wir wissen ja auch nicht, was passiert ist.«

»Aber ich bin mir verdammt sicher, dass Phil nicht auf Drogen war. Ich meine, das hätte ich doch gemerkt.«

Abends führe ich ein längeres Gespräch mit Lucas. Wie es scheint, hat er sich tatsächlich in dieses türkische Mädchen verknallt, doch jetzt will sie nichts mehr von ihm wissen.

»Ich glaube, du hattest recht, Hülya hat Angst, ihr großer Bruder könnte mir was antun.«

»Hast du mit ihr darüber gesprochen?«

»Nee, die macht, als wäre ich Luft. Aber gestern in der Mathe-Nachhilfe, da habe ich ganz genau gesehen, dass sie heimlich immer wieder in meine Richtung geguckt hat. Und ihre Freundin Jenny, die ist in der Pause zu mir gekommen und hat gesagt, dass wir so gut zusammengepasst hätten und sie glaubt, dass mich Hülya immer noch sehr mag. Aber es ginge halt nicht, weil ich kein Türke sei.«

»Dich hat’s aber ganz schön erwischt.« Ich streiche Lucas sanft über sein kurzes Haar.

»Ach, Mama, die Hülya ist echt eine Granate.«

»Habt ihr …«

»Nein Mama, noch nicht.«

»Na, zum Glück. Sonst hätte dich ihr Bruder erschießen müssen, um die Familienehre wiederherzustellen.«

»Mensch Mama, jetzt mach aber mal halblang!«

Alina kommt nach Hause und wirft die Tür ihres Zimmers hinter sich mit Karacho ins Schloss.

Vorsichtig öffne ich ihre Zimmertür: »Alina, mein Schatz, ist alles in Ordnung?«

»Ach, nix ist in Ordnung. Der Max hat überhaupt keine Zeit mehr für mich, der hängt nur noch mit dieser Vanessa rum.«

Ich setze mich zu meiner Tochter aufs Bett. »Du bist ja eifersüchtig.« Ich versuche, ihr zu erklären, dass es ganz normal ist, dass sich Max jetzt um die Witwe seines verstorbenen Freundes kümmert. Alina zuzelt an ihrem Lippenpiercing, wie immer, wenn sie Angst hat oder unsicher ist. »Du musst deshalb nicht eifersüchtig sein, Alina. Das ist doch ein netter Zug von Max, dass er sich kümmert.«

»Ich weiß nicht. Ich finde, er kümmert sich ein bisschen viel.«

»Gib ihm etwas Zeit. Vanessa braucht in dieser schweren Situation Freunde um sich, die für sie da sind.«

Ich drücke meine Tochter ganz fest und sorge dann mal fürs Abendessen.

Drei Tage später kommt Vanessa mit Mia in den Schoko-Traum. Sie teilt uns mit, dass die Obduktion Philipps abgeschlossen sei und eindeutig ergeben habe, dass er an einer Überdosis Heroin verstorben sei. Max will wissen, ob Vanessa irgendwelche Drogen in der gemeinsamen Wohnung gefunden habe.

»Nein, ich habe alle möglichen Verstecke durchsucht, doch gefunden habe ich nichts. Wann soll er denn die Drogen genommen haben? Er war doch immer ganz normal. Im Obduktionsbericht war von mehreren Einstichstellen die Rede. Ich verstehe das nicht.«

»Dann wäre das nicht sein erster Schuss nach dem Rückfall gewesen. Das kann ich nicht glauben.« Max schüttelt den Kopf.

»Die Polizei hat gesagt, es sei alles klar, es gäbe keinen Grund irgendwelche Ermittlungen aufzunehmen.« Vanessa nippt an ihrer heißen Schokolade.

»Na ja, da kann ich die Bullen sogar verstehen.« Max runzelt die Stirn. »Es sieht in der Tat klar aus. Aber ich wüsste zu gerne, warum Phil in den letzten Tagen vor seinem Tod so grell drauf war.«

»Ja, er war komisch drauf in diesen Tagen.« Vanessa wischt sich eine Träne aus ihrem Gesicht. »Bei jeder Kleinigkeit ist er gleich voll abgegangen. Hat sich ständig aufgeregt, wegen nichts. Normalerweise haben wir uns nie gestritten, aber in den letzten Tagen war dies immer wieder der Fall. Ich mache mir jetzt solche Vorwürfe deswegen.«

Vanessa setzt die Tasse wieder ab, die sie gerade zum Trinken angesetzt hat. »Max, vielleicht hat er tatsächlich einen Rückfall gebaut und wollte mit dir darüber reden. Vielleicht ist das die Erklärung für sein verändertes Verhalten.«

»Das glaube ich nicht. Ich bin sicher, ich hätte gemerkt, wenn er Drogen genommen hätte. Er wollte mir irgendetwas Wichtiges sagen, aber garantiert nicht, dass er einen Rückfall gebaut hat. Es muss etwas anderes gewesen sein, etwas, das ihn sehr aufgewühlt hat.«