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Tanja Eppstein ist stolze Besitzerin der Chocolaterie Schoko-Traum in der Heidelberger Altstadt. Bei heißer Schokolade und köstlichen Pralinen löst sie die kleinen, manchmal auch die großen Probleme ihrer Kunden und Freundinnen. Erschlagen, von oben bis unten mit Schokoladen-Peeling beschmiert, liegt Tanjas beste Kundin in ihrem Wellnessbad. Zu eigenen Ermittlungen sieht sich Tanja gezwungen, als die Polizei den Freund ihrer Tochter als mutmaßlichen Täter verhaftet. Zu dumm nur: Statt ihrem Hauptverdächtigen kräftig auf den Zahn zu fühlen, verliebt sich Tanja in ihn. Aber ist er tatsächlich unschuldig? Wo hielt sich der Neffe der Toten zur Tatzeit auf? Und was hat es mit diesem Testa-Spaß auf sich? Frech und spritzig geschrieben macht dieser spannende Schoko-Krimi Lust auf mehr. Mit leckeren Schokoladen-Rezepten zum Ausprobieren. Ort der Handlung: Heidelberg und Frankfurt am Main
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
»Der Tod muss nicht unbedingt mit Sterben in Verbindung gebracht werden; er kann auch eine umwälzende Veränderung ankündigen.« Biggi sieht mich mit einer übergroßen Portion Mitleid an, während sie mir diese Weisheit verkündet.
»Wie bitte?« Ich frage mich, was meine Freundin mir damit sagen will.
Ungerührt fährt Birgit fort: »Allerdings in dieser Konstellation und so oft, wie der Tod bei dir heute vorkommt, solltest du dich auf einen Sterbefall in deiner unmittelbaren Nähe einstellen.«
Ich glaube ihr kein einziges Wort.
Jetzt dreht sie eine weitere Tarotkarte um und stellt wichtigtuerisch fest: »Tanja, dieser Tod wird dein Leben von Grund auf verändern.«
»Na klasse, Birgit! Vielen herzlichen Dank! Das war jetzt richtig hilfreich, wenn ich gleich überfahren werde, dann kann ich hoffentlich schnell noch denken: Siehst du, die Biggi, die große Kartenleserin, hat’s gewusst!«
»Mensch Tanja, du wirst nicht sterben. Der Tod ist nur in deiner Nähe.«
Danke, aber auch! Ich registriere, wie sich meine gute Laune von mir verabschiedet.
Meine Freundin dreht die restlichen Karten um.
Verdammt! Ich glaube, mir wird schlecht! Auf einer der Karten sehe ich einen Mann am Boden liegend, durchbohrt von zehn Schwertern. Sicherlich hätte schon eines gereicht, um ihn zu töten. Der Typ ist so etwas von mausetot. Sagte Biggi nicht etwas von Karten, die meine nahe Zukunft zeigen würden, bevor sie diese aufgedeckt hat? Ein Herz, durchbohrt von drei Schwertern, ist auf der Karte daneben abgebildet. Na klasse! Da scheinen ja rosige Zeiten auf mich zuzukommen.
»Tanja, du wirst viel Kraft für diese Prüfung brauchen.«
»Wenn ich so mausetot sein werde, wie der Typ da, dann nützt mir die stärkste Kraft nichts mehr.«
»Diese Karten sehen negativer aus, als sie in Wirklichkeit sind. Es könnte zum Beispiel eine bestimmte Vorstellung in dir sterben. Da kommt eine Liebe auf dich zu, aber vielleicht verliebst du dich in den Falschen. Und …«
Biggis Blick verdunkelt sich.
»Und was?«, will ich ängstlich wissen.
»Diese neue Liebe steht mit dem Tod in Verbindung. Für dich Tanja ist es wichtig, dass du bereit bist, Neues in deinem Leben zuzulassen. Du wirst diejenige sein, die handeln muss, nur so kann sich alles aufklären und zum Guten fügen.«
Natürlich glaube ich nicht an diesen Hokuspokus, aber jetzt ist mir doch etwas mulmig zumute. Nur weil die rheinländische Birgit mal wieder ihr Arm Tier hatte und schlecht drauf war, wollte ich ihr einen Gefallen tun, daher habe ich mich auf diesen Blödsinn eingelassen. Und jetzt fühlt sich meine Freundin eindeutig besser und mir geht es schlecht. Klar, sie hat mir ihr mieses Karma einfach übergestülpt. Ich glaube, ich brauche jetzt eine heiße Anti-Kummer-Schokolade. Die hilft fast gegen alle Wehwehchen; nach einer Tasse sind die Sorgen nur noch halb so schlimm.
Ich gehe nach hinten in die kleine Küche meiner Chocolaterie. Messe ausreichend Milch ab, gebe einen Schuss Honig und meine speziellen Gewürze zu, erhitze diese auf etwa sechzig Grad und schmelze hierin die Zartbitterkuvertüre. Den Schneebesen wirble ich etwas zu schnell und zu laut im Topf. Mein T-Shirt bekommt mehrere Schokoladenflecken ab. Heute gebe ich noch einen Hauch mehr Kardamom in den Topf. Jetzt riecht es herrlich exotisch schokoladig in dem kleinen Raum. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Eine heiße Anti-Kummer-Schokolade schafft es immer, mich mit dieser Welt zu versöhnen.
Die zwei Tassen mit heißer Schokolade jongliere ich an unseren Stammtisch, gehe zur Auslage zurück und lege vier Pralinen auf ein kleines Tellerchen, Schoko-Traum-Pralinen für mich und Cappuccino-Trüffel für meine Freundin.
»Wenn wir schon sündigen, dann richtig!«
Birgit wehrt ab. Sie sei auf Reis-Diät, daher würde sie heute lieber nicht zugreifen. Ich will Genaueres wissen.
»Seit zehn Tagen esse ich morgens, mittags und abends Reis.«
»Nur Reis? Ist das nicht ein bisschen spartanisch? Wie viele deiner Kilos sind denn in dieser Zeit schon gepurzelt?«
»Na ja«, Birgit druckst rum, »also, bis jetzt nichts, nicht ein Gramm.«
Dies scheint das Stichwort zu sein, jetzt greift Biggi doch zu einem Cappuccino-Trüffel. Meine Esoterik-Freundin ist immer auf irgendeiner Diät. Bis jetzt hat sie allerdings durch keine auch nur ein einziges Gramm abgenommen, im Gegenteil zu ihrer Geldbörse. Ich verstehe nicht, dass sie sich das immer wieder antut. Aber: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Eigentlich müsste sie doch in den Karten lesen können, dass dies alles nichts bringt.
»Wie konntest du nur eine Chocolaterie eröffnen? Dein Schoko-Traum macht uns alle drei noch kugelrund. Ich sehe schon kommen, dass wir zu dritt Sport treiben. Sport! Vielleicht Jogging oder womöglich Stockenten-Rennen? Allein dieser Gedanke!«
Ehrlich gesagt kann ich mir Biggi nur schwerlich Sport treibend vorstellen. Sie trägt Kleidergröße achtundvierzig oder fünfzig, ich frage da lieber nicht genau nach, das wäre geschäftsschädigend.
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür und unsere gemeinsame Freundin Stefanie rauscht herein. Sie trägt den gleichen kurzen Rock von H&M, den meine fünfzehnjährige Tochter letzte Woche gekauft hat.
»Hallo ihr Süßen!« Sie greift sich eine Praline vom Teller, legt ihre Zeitung auf den Bistrotisch, tänzelt auf ihren High Heels zum Kaffeeautomaten und brüht sich einen Latte macchiato auf. Aus der Auslage stibitzt sie sich eine weitere Praline, sicherlich eine mit Alkohol, ihre Favoriten sind die Baileys-Trüffel.
»Ich hab’s gesehen«, sage ich warnend.
Im Gegensatz zu Biggi trägt Steffi Größe 38. Sie behauptet: Sex macht schlank. Vielleicht hat sie recht, sie muss es ja wissen, Steffi ist süchtig danach, nach Essen und Sex. Sie kann tatsächlich essen, was sie will, ohne auch nur ein Gramm an Gewicht zuzulegen. Das ist schon gemein. Aber noch fieser ist es, dass jede Woche ein neuer Kerl in ihrem Bett liegt. Ihr wöchentliches Frischfleisch bezieht sie aus den vielen Partnerschaftsbörsen im Internet. Nun gut, das ist nicht unbedingt mein Lebenstraum, aber wenn ich ehrlich sein soll, irgendwie bin ich schon ein bisschen neidisch und Biggi auch, die würde das jedoch niemals zugeben.
Die Tür geht auf und sieben kleine, dick in Regenjacken eingemummte, Japanerinnen kommen hereingewuselt.
Die Touristengruppe hat kein schönes Wetter für ihren Heidelberg-Besuch erwischt. Schon seit fünf Tagen regnet es ununterbrochen, wenn es noch zwei Tage so weitergeht, dann tritt der Neckar über die Ufer und der Rand der Altstadt steht wieder unter Wasser. Es ist Anfang Juni, das Wetter jedoch treibt Kapriolen wie im April.
Jede der Japanerinnen kauft ein Pfund Pralinen und mehrere Tafeln Schokolade. An manchen Tagen kommt es mir vor, als wäre Heidelberg eine Kleinstadt in Japan. Es braucht unzählige Minuten und unendlich viele gegenseitige Verbeugungen, bis sie alle glückselig mein Geschäft verlassen. Ich muss erst einmal alles wieder an die richtige Stelle räumen.
Mein Wunsch, eine Chocolaterie zu eröffnen, entstand, als ich zum ersten Mal den Film Chocolat im Fernsehen sah. Dieser Film erweckte die exotischsten Düfte und schönsten Erinnerungen meiner Kindheit zu neuem Leben. Meine Großmutter Anna, die Mutter meines Vaters, suchte jeden Dienstagnachmittag ein Schokoladen- und Kaffeegeschäft auf, oft nahm sie mich mit. Dort trank sie einen starken Kaffee aus frisch gemahlenen Bohnen; ich bekam eine dickflüssige heiße Schokolade und dazu aßen wir Pralinen. Der Kakao katapultierte mich in eine statte und glückselige Welt und die Pralinen waren die Köstlichsten, die ich jemals gegessen hatte. In so einem Geschäft arbeiten zu dürfen, erschien mir wie die Erfüllung aller meiner geheimsten Wünsche. Zunächst war es nur ein Traum, aber je öfter ich meinen Lieblingsfilm in den letzten Jahren sah, umso konkretere Formen nahm dieser Wunsch an.
Zufrieden sehe ich mich in meiner Chocolaterie um. Vor einer Woche habe ich noch zwei weitere kleine Tische in den Schoko-Traum gestellt. Inzwischen haben an den vier Bistrotischen insgesamt vierzehn Leute Platz. So voll war es allerdings noch nie. Meist sind es die Stammkunden, die sich auf eine heiße Schokolade oder einen Kaffee hier niederlassen. Mit meinen Freundinnen sitze ich immer an dem hinteren Tisch neben der Theke, damit ich einen Überblick über den gesamten Laden habe. Manchen Kunden muss man schon genau auf die Finger sehen. Einmal rumgedreht und weg ist die teuerste Schokolade.
Seufzend lasse ich mich auf den freien Stuhl zwischen meine Freundinnen sinken.
»Ganz schön was los bei dir«, stellt Birgit fest.
»Ich bin froh, dass das Geschäft so brummt. Schließlich haben mich alle für verrückt erklärt, als ich meine Stelle bei Oliver gekündigt habe.«
»Noch so einen blöden Schokoladen-Laden in der Heidelberger Altstadt braucht kein Mensch.« O-Ton mein Ex. Oliver hat nicht wirklich damit gerechnet, dass ich meine Mädchen-für-alles-Stelle in seiner Kanzlei kündigen würde. Erst als ich die Räume in der Heidelberger Fußgängerzone, in einer Gasse quer zur Hauptstraße, unweit der Heiliggeistkirche, angemietet hatte, begriff er den Ernst der Lage. Der Vater meiner Kinder hasst Süßigkeiten, besonders Schokolade, er mag mehr das Herzhafte; daher gab er meinem Laden höchstens einige Monate, dann sei ich pleite und käme wieder bei ihm angekrochen.
»Mensch, wenn ich daran denke, wie dein Ex ausgeflippt ist, als du vor drei Monaten den Schoko-Traum eröffnet hast.«
Kein Wunder, seit fünfzehn Jahren war ich eine billige Arbeitskraft in seiner Anwaltskanzlei. Ich wusste, wie der Hase läuft. Jetzt musste er eine neue Sekretärin einstellen, die erstens lange nicht so gut durchblickt und zweitens teurer ist und das ist besonders schmerzhaft für den alten Schnäppchenjäger. Oliver ist ein Mensch, der, ohne einen Gedanken zu verschwenden, bereit ist, fünfzig Kilometer mit dem Auto zu fahren, wenn dort der Liter Benzin zwei Cent billiger ist.
Steffi stöbert im Immobilienteil der Tageszeitung, dann teilt sie uns mit, dass sie beabsichtige, eine Wohnung in der Bahnstadt als Kapitalanlage zu kaufen, das hätte ihr der neue Bankberater nahegelegt.
»Lohnt sich das denn?«, will Biggi wissen.
»Schau, hier in der Zeitung steht’s auch.« Steffi zeigt uns die Überschrift eines Aufmachers: Mit Immobilien der Finanz- und Wirtschaftskrise trotzen.
»Seit wann hast du denn so viel Kohle?« Es interessiert mich, woher Steffi plötzlich so viel Geld hat; Heidelberg ist ja bekanntlich nicht gerade ein billiges Pflaster.
»Mein Bankberater sagt, ein Viertel soll ich selbst finanzieren, den Rest als Kredit aufnehmen.«
»Klar, den Kredit vermittelt er dir völlig selbstlos«, lästert Biggi.
»Wie war eigentlich dein Wochenende?«, will ich jetzt von Steffi wissen.
»Stimmt, hab ich euch ja noch nicht erzählt. Der Typ war vierzig, obwohl in den Infos fünfunddreißig stand. Aber egal. Ich sage euch: Der war echt der Hammer, eine Zunge, länger als jedes Rindviech und damit hat der mich fast in den Wahnsinn geleckt.«
Biggi sieht mich an und rollt die Augen.
»Soll ich euch mal vormachen, wie der geleckt hat?«
»NEEIINNN!«, schreien Birgit und ich wie auf Kommando.
»Ihr wisst nicht, was euch entgeht, ehrlich.«
»Lass stecken, Steffi!« Ich versuche meine Freundin endgültig daran zu hindern in die Einzelheiten zu gehen. Zum Schluss muss ich nur wieder zwischen der prüden Biggi und der sexbesessenen Steffi schlichten.
»Oh, die Lingenthal kommt, ohne die würde mein Laden nur halb so gut laufen.«
Frau von Lingenthal schwebt in den Schoko-Traum ein. Blondierte halblange Haare, cremefarbenes Kostüm, den Hals behangen mit schweren Klunkern, am linken Handgelenk eine neue, sündhaft teure Uhr.
Ich begrüße sie, wie immer mit Handschlag: »Frau von Lingenthal, schön, Sie zu sehen. Sie sehen wieder fantastisch aus. Wie machen Sie das nur, dass Sie immer jünger werden? Bitte, bitte verraten Sie uns Ihr Geheimrezept.«
Kundenpflege nennt man das. Obwohl, es ist tatsächlich was dran, diese Frau sieht jedes Mal jünger aus. Ich würde darauf tippen, dass die sich liften lässt. Jede Wette!
»Ach, Frau Eppstein, Sie machen mich verlegen; ich bin doch nur eine alte Frau.«
Sie kokettiert heute wieder heftig.
»Sie sind doch nicht alt, Sie doch nicht, Frau von Lingenthal.«
Um das Thema zu wechseln, sage ich: »Geht es Ihnen gut?«
»Hervorragend, ganz hervorragend, meine Gute, aber Ihre kleinen Köstlichkeiten sind mir leider ausgegangen. Ich benötige ein Kilo Pralinés. Und haben sie noch dieses Schokoladen-Peeling, da nehme ich zwei Kilo mit.«
»Zwei Kilo Schoko-Peeling?«, frage ich verwundert nach.
Was macht die mit zwei Kilo Schokoladen-Peeling? Wahrscheinlich möchte ich das lieber nicht wissen. Steffi schon, die grinst sich hinter dem Rücken der Kundin, einen ab und ihre Zunge macht äußerst verdächtige Verrenkungen.
Frau von Lingenthal sucht sich jede Praline einzeln aus und will wissen, was drin ist, obwohl sie die verschiedenen Trüffel und Pralinen schon hundertmal gekauft hat. Ich erkläre es aufs Ausführlichste, als würde ich ihr die Zusammensetzung jeder Schokoladenspezialität zum ersten Mal erläutern.
Birgit und Stefanie unterhalten sich weiter über den Sinn von Immobilien.
»Da haben Sie ganz recht, meine Damen, mir hat ein junger Finanzexperte auch dazu geraten, Immobilien zu kaufen. Ich besitze ja schon mehrere Häuser, aber man weiß ja nicht, was noch alles auf uns zukommt. Mit einer Immobilie ist man auf der sicheren Seite. Betongold, meint Herr Konradi. Wir werden uns heute ein paar geeignete Objekte ansehen. Für morgen hat er vorsorglich einen Notartermin ausgemacht.«
»So einen umsichtigen Finanzexperten könnte ich auch gebrauchen.« Steffi nun wieder.
Nachdem Frau von Lingenthal den Laden verlassen hat, prusten wir alle drei erst mal los.
»Ich möchte doch zu gerne wissen, was Frau von Lingenthal und vielleicht dieser Konradi mit zwei Kilo Schoko-Peeling machen.« Steffi kann’s einfach nicht lassen. Und dann will sie wissen, ob mein Schoko-Peeling auch schleimhautverträglich sei. Und ob, versichere ich ihr. Sie will wissen, wie viel ich vorrätig habe, damit sie sich eine ausreichende Ration für nächstes Wochenende sichern kann.
»Kein Wunder Steffi, dass die Männer nach einem Wochenende mit dir alle ausnahmslos am Montag auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Du überforderst sie maßlos mit deiner Sexbesessenheit, da wird doch der stärkste Tarzan mürbe.«
Jetzt geht das wieder los!
»Ach Biggi, du bist doch nur neidisch. Wann hattest du das letzte Mal Sex?«
»Gestern.«
»Ich meine nicht mit deinem neuen purpurroten Vibrator, sondern mit einem männlichen Wesen, so ein echtes, aus Fleisch und Blut. Sag doch mal, würde mich jetzt echt interessieren.«
»Du bist gemein. Mit dir gehe ich nie wieder in einen Sex-Shop.«
»Mensch Mädels, wir müssen uns doch nicht über Männer oder Sex streiten, ich bitte euch«, versuche ich, mal wieder zwischen den beiden zu schlichten.
Den purpurroten Vibrator hat sich Biggi vor drei Wochen in einem Sex-Shop gekauft, in den Steffi uns geschleppt hatte, weil sie unbedingt spezielles Sexspielzeug für ihren aktuellen Lover – der inzwischen schon wieder Vergangenheit ist – besorgen musste. Birgit und ich kamen aus dem Staunen nicht mehr raus, was es alles so gibt. Auf diesem Gebiet sind wir beide nicht sonderlich bewandert, Stefanie hingegen bewegte sich auf sicherem Terrain. Dass sich gerade unsere prüde Birgit zum Kauf dieses Vibrators überreden ließ, erstaunte mich dann doch.
Am Abend regnet es schon wieder, ich gehe mit aufgespanntem Schirm schnell durch die Fußgängerzone bis zur Schiffgasse. Ich schließe unseren Briefkasten auf und finde ein benutztes Papiertaschentuch zwischen mehreren Briefen. Ich denke: Wer wirft so etwas in einen Briefkasten? Und dann weiß ich es. Blockwart Grantler, unser Hausmeister, steht schon hinter mir. Ich sehe ihn nicht, aber ich fühle ihn, seine negative Ausstrahlung, und ich rieche ihn, seinen penetranten Mundgeruch.
Abrupt drehe ich mich um: »War’n Sie das, Herr Grantler?«
»Ja, ich habe Ihnen dieses Corpus Delicti in den Briefkasten geworfen.«
»Herr Grantler, sind Sie noch bei Sinnen?«
»Also, jetzt reicht’s aber. Erst schmeißt ihre aufmüpfige Tochter ihren Müll in den Hausflur und dann werde ich noch beschimpft, wenn ich den Dreck Ihrer Familie aufhebe. Das ist die Höhe!«
»Meine Tochter wirft ihren Dreck nicht in den Hausflur; sie ist schließlich keine Drei und außerdem ist sie besonders ökologisch eingestellt. Alina würde nie und nimmer ihren Abfall auf die Erde schmeißen.«
»Hat sie aber getan. Ich hab’s doch gesehen. Wollen Sie mir unterstellen, dass ich lüge?«
»Vielleicht ist ihr das Papiertaschentuch aus der Jackentasche gefallen, als sie ihren Hausschlüssel hervorgekramt hat. Keine Ahnung. So etwas passiert.«
Warum rege ich mich über den Blockwart Grantler auf, bringt doch nichts. Der kapiert sowieso nix.
Ich fasse das Papiertaschentuch mit einem neuen an und will es in den Mülleimer unter den Briefkästen werfen.
»TUN SIE DAS NICHT!«, schreit er. »Werfen Sie den Abfall Ihrer Familie gefälligst in Ihre eigene Tonne.«
»Mensch, Herr Grantler, das ist ein Mülleimer, der ist dafür da, dass man Abfall hineinwirft.«
»Der ist für Reklame und so.«
Der Hausmeister steht breitbeinig vor mir, als würde er gleich den Colt aus seinem Gürtel ziehen und mich eigenhändig erschießen, sollte ich mich seiner Anordnung widersetzen und das Taschentuch widerrechtlich in den Abfallbehälter werfen.
»Der ist für Papier!«
»Ja. Und was ist das?« Ich halte ihm das Papiertaschentuch zwei Millimeter vors Gesicht.
»Ein verrotztes Taschentuch ihrer Tochter.«
»Ja, und es ist aus Papier.«
»Und, wer muss dann wieder den Abfalleimer leeren? Ich.«
»Ist ja auch Ihr Job als Hausmeister.«
Ich habe gute Lust, das Taschentuch in den Metalleimer unter den Briefkästen zu werfen, aber ich bin mir sicher, dass der Grantler es sofort wieder in unseren Briefkasten zurückbefördern würde.
Ich gebe mich geschlagen und gehe mit dem Taschentuch in der Hand die Treppen nach oben in unsere Altbauwohnung in den zweiten Stock. In dem Augenblick, als ich die Wohnungstür aufschließe, fällt mir ein, dass ich vergessen habe einzukaufen. Mist!
»Hallo Mama, was gibt’s denn heute zu essen, ich hab Hunger und der Kühlschrank ist leer.«
Mein Sohn hat immer Hunger, ich nehme an, er hat mehrere Untermieter in seinem Darm: Bandwurm und Co.
Ich gestehe, dass ich den Einkauf vergessen habe.
»Mensch Mama, ich habe gleich gewusst, dass das mit dem Laden zu viel für dich wird. Was soll ich denn jetzt essen?«
Diese Unverschämtheit überhöre ich geflissentlich. Stattdessen schlage ich meinem Sohn vor, dass er sich Geld aus der Haushaltskasse nehmen und einkaufen gehen soll, ist ja wohl nicht zu viel verlangt von einem Siebzehnjährigen?
»Keine Zeit. Bin mit Lara verabredet.«
»Mit Lara? Müsste ich die kennen?«
»Nee Mama, hab ich dir noch nicht vorgestellt. Haste Geld, damit wir Essen gehen können, oder soll ich welches beim Schottergott holen?«
»Wie, du willst bei deinem Vater Geld eintreiben?«, frage ich irritiert.
»Ach Mama«, sagt mein Sohn gütig, »ein Schottergott ist doch ein Geldautomat.«
Ich schüttle den Kopf, zücke aber meinen Geldbeutel.
»Danke Mama!« Lucas grinst, gibt mir einen Kuss auf die Wange und weg ist er.
Kurze Zeit später kommt Alina nach Hause, sie grüßt kurz und verschwindet in ihrem Zimmer.
Immerhin leben wir alle drei noch. Ich muss an Biggi denken; sie hat mir dieses Mal tatsächlich Angst eingejagt mit ihrem Hokuspokus.
Irgendetwas stimmt mit meiner Tochter nicht. Sie hat so oft verweinte Augen in der letzten Zeit. Doch ich bin vorsichtig, schließlich muss man eine Fünfzehnjährige sachte anfassen. In dem Alter sind Töchter tickende Zeitbomben; ich möchte nicht, dass sie explodiert. Nur zu gut erinnere ich mich an meine eigene Jugend, ständig hatten meine Mutter und ich Zoff.
Alina hat ihr Zimmer abgeschlossen. Ich klopfe, meine hübsche Tochter öffnet die Tür, sie hat schon wieder rote Augen.
»Schatz, ich gehe einkaufen, soll ich dir etwas Bestimmtes mitbringen oder möchtest du mitkommen?«
»Muss noch Hausaufgaben machen. Bring mir den gleichen Käse wie letzte Woche, Sojamilch, Biokarotten, Fenchel und Bioäpfel.«
Ich streiche sanft über ihren Arm. Meine Tochter sieht traurig aus, wahrscheinlich normal in diesem Alter.
Stefanie poltert drei Tage später mit der Boulevardzeitung in den Schoko-Traum.
»Hier sieh mal!« Aufgeregt hält die mir die große Schlagzeile auf der ersten Seite vor die Nase.
Die Schoko-Leiche lese ich. Darunter ein Bild von einer weiblichen Person, den Kopf sieht man nicht, der restliche Körper ist vollständig mit Schokolade beschmiert.
Meine Freundin reißt mir die Zeitung wieder aus der Hand und liest: »Hauptkommissar Rauenbergs erster Kommentar, als er die Tote sah: ›Das ist wenigstens mal eine leckere Leiche.‹ Vor ihm lag die in Heidelberg lebende Gisela v. L., von oben bis unten mit Schokoladen-Peeling beschmiert, tot, erschlagen mit einem schweren Gegenstand.«
»Ach du Scheiße!« Erst jetzt kapiere ich, warum Steffi so aufgeregt ist. »Du meinst, das ist Frau von Lingenthal?«
»Klar. Hat sonst noch jemand zwei Kilo Schoko-Peeling bei dir gekauft?«
»Die arme Frau von Lingenthal«, sage ich.
»Mensch, die haben deine beste Kundin gekillt!«
»Woher haben die solche Bilder? Kann man einfach an einen Tatort spazieren und die Leiche mal schnell abfotografieren und den Kommissar belauschen?«
»Tanja, du bist aber auch wieder naiv, irgendein Bulle hat das Foto mit seinem Handy geschossen und an die Zeitung verkauft, den Kommentar haben sich die Zeitungsfritzen ausgedacht.«
Da hat sie wohl recht.
»Wer erbt denn jetzt den ganzen Schotter und das viele Betongold?«, will Stefanie wissen.
»Keine Ahnung«, sage ich, »wahrscheinlich ihre Schwester, die ist doch seit zwanzig Jahren in ihren Diensten, die hat alles für sie gemacht, den Haushalt gemanagt, die Empfangs- und Unterhaltungsdame, aber vielleicht vererbt sie ja auch alles der Kirche oder einer Stiftung.«
»Oder ihrem jungen Finanzexperten. Wie hieß der noch?«
»Konradi, oder?«
»Ja, genau.«
»Ich glaube, ich brauche dringend eine Anti-Kummer-Schokolade.«
Steffi möchte auch eine.
In der Küche bereite ich für uns meine Lieblingsköstlichkeit zu. Wirklich blöd, wenn Frau von Lingenthal die Schoko-Leiche ist. Sie war meine allerbeste Kundin. Seit der Eröffnung kaufte sie wöchentlich, oft gemeinsam mit ihrer Schwester, bei mir ein, meist jedes Mal ein Kilo Pralinen. Sie war die einzige Kundin, die wöchentlich ein Kilo von dem Zeug verputzte, und dann noch das Schoko-Peeling.
»Du solltest eine Werbeanzeige für dein Schokoladen-Peeling in der Zeitung schalten, jetzt ist das Zeug in aller Munde. Na ja, du weißt schon, was ich meine.«
»Stefanie, du bist echt pietätlos.«
»Ach, hab dich nicht so, Geld stinkt nicht; du musst den Laden doch am Laufen halten.«
»Aber doch nicht auf diese Art«.
Steffi ist manchmal unmöglich. Sie schlägt mir vor, dass ich für alle Fälle ein paar Kilo von dem Zeug herstellen soll, jetzt wäre die Zeit für Schokoladen-Peeling.
Na, ja, vielleicht hat sie damit gar nicht so unrecht. Es ist ja immer so, wenn etwas in der Zeitung steht, wollen es die Leute haben, gute oder schlechte Presse spielt dann keine Rolle. Ich beschließe, heute Abend zu Hause für alle Fälle mehrere Kilo Schokoladen-Peeling herzustellen.
Stefanies Handy dudelt los und spielt einen Song von Lady Gaga.
»Hallöchen Uuuwe! Das ist schön, dass es mit uns am Wochenende klappt. Ach, du musst nix mitbringen, komm einfach zu mir.« Meine Freundin lauscht zwei Minuten, dann sagt sie: »Jaaah, alles darf, nix muss. Bis Freitag! Ich freu mich auf dich.«
Wie schafft es eine Frau, jedes Wochenende einen anderen Lover zu haben? Das wäre mir viel zu anstrengend, jede Woche wieder von vorne zu beginnen, aber für Stefanie scheint das eine Art Leistungssport zu sein, dessen Herausforderungen sie sich immer wieder gerne stellt.
Als ich abends nach Hause komme, sitzen meine beiden Kinder am Küchentisch.
»Das ist voll der Hass«, höre ich meine Tochter sagen.
Alina weint und Lucas tröstet sie.
»Du musst es Mama sagen!«
»Was muss mir Alina sagen? Was ist denn los?«
Ich will sofort wissen, was passiert ist.
»Sag es ihr! Los, sag’s ihr!«, feuert Lucas seine Schwester an.
Meiner Tochter laufen die Tränen hemmungslos über die Wangen und sie schluchzt herzzerreißend, ich nehme sie erst einmal fest in die Arme und streiche sanft über ihre grün gefärbten Haare.
»Was ist denn los mein Schatz? Du kannst mir alles sagen.«
»Und du flippst wirklich nicht aus?«, dazwischen schnieft sie mehrmals, »egal, ganz egal, was es ist?«
»Klar doch«, sage ich so dahin, ahne aber bereits, dass ich meine Äußerung sehr wahrscheinlich heftig bereuen werde, aber das spielt jetzt keine Rolle, ich möchte wissen, wer meinem Kind Leid zugefügt hat.
»Also mein Freund …«, beginnt Alina.
»DU hast einen Freund?«, frage ich verwundert. Bis zum heutigen Tag wusste ich nicht, dass meine fünfzehnjährige Tochter einen Freund hat. Aber gut, ich habe ja versprochen nicht auszuflippen, daher frage ich betont ruhig: »Was ist mit deinem Freund?«
Wahrscheinlich hat er sie betrogen, so etwas tun Männer ja bekanntlich ständig, kann ich ein Lied von singen.
»Er …« Vor lauter Schniefen und Weinen kann Alina fast nicht sprechen. »Er …, er ist verhaftet worden.«
Na klasse, meine Tochter hat einen kriminellen Freund. Sicherlich hat er eine CD oder so geklaut. Kommt ja mal vor bei Jugendlichen, versuche ich, mich zu beruhigen.
»Max …«
Max heißt der Typ also!
»Er soll eine Frau erschlagen haben. Aber er ist unschuldig. Max würde so etwas niemals tun.«
»Er soll WAS? Er soll eine Frau erschlagen haben?«
»Er ist unschuldig, Mama, ich weiß das.«
»Mein Schatz«, sage ich betont unaufgeregt, »wenn er unschuldig ist, dann wird das die Polizei schon rausfinden, dafür ist sie ja da.«
»Aber er hat die Tat gestanden«, erklärt Lucas.
Jetzt muss ich mich erst einmal hinsetzen.
»Er hat die Tat gestanden? Ja, dann war er es ja wohl auch.«
Alina hat ihre langen grünen Haare wie einen Vorhang vor ihr Gesicht gezogen. Jetzt öffnet sie ihn ein wenig, indem sie einige Haarsträhnen auf die linke Seite schiebt, und erklärt: »Nein Mami, er war bestimmt auf Turkey und die Bullen haben ihm dann die Worte in den Mund gelegt.«
»Auf TURKEY? Was soll das heißen? Ist dein Freund etwa drogenabhängig? ALINA REDE!«
»Siehst du, ich hab gleich gesagt, die wird hysterisch!«, raunt Alina trotzig zu ihrem Bruder gewandt.
»Alina, was heißt hier hysterisch? Ich will jetzt wissen, ob dein Freund ein Junkie ist. JA ODER NEIN?«
»Jjjj…a.«
»Du bist mit einem Junkie befreundet und er hat eine Frau erschlagen?«
Meine Tochter zuzelt schon die ganze Zeit an ihrem Lippenpiercing herum, das macht sie immer, wenn sie Angst hat oder unsicher ist.
»Er ist unschuldig, ich weiß das.«
Ich will jetzt auf der Stelle wissen, wie alt dieser Mensch ist, der meine Tochter verführt hat. Zweiundzwanzig gibt mir Alina zur Antwort. Ich kann das alles nicht fassen.
»DU bist mit einem Junkie zusammen, der zweiundzwanzig ist?«
»Mama beruhig dich, ich habe noch nicht mit ihm geschlafen.«
»Du hast NOCH NICHT mit ihm geschlafen?«
Langsam werde ich doch hysterisch, sogar sehr hysterisch.
»Mama, wir müssen ihn da rausholen, er ist unschuldig.«
»Mein liebes Kind, wie stellst du dir das vor, dass wir da mit einem Hubschrauber reinfliegen und er hält sich unten an einem Seil fest, so á la 007?«
»Nein, so doch nicht.«
»Ja, wie denn dann? Sollen wir die Wäschefirma bestechen, die den Faulen Pelz beliefert, dass sie deinen Max in einen großen Sack stecken und dann aus dem Heidelberger Knast mit der Dreckwäsche rausschmuggeln?« Ich sehe meine Tochter kopfschüttelnd an. »Weißt du überhaupt, was auf Gefangenenbefreiung steht? Wir wandern alle auf ewig hinter Gitter.«
»Nein Mama, so meine ich das doch nicht. Er braucht einen guten Strafverteidiger.«
Kluges Kind.
»Er braucht Papa.«
Vielleicht doch nicht so ein kluges Kind.
»Papa muss ihn da rausholen, ganz legal. Max hat doch kein Geld. Und dieser Pflichtverteidiger hat ihm geraten, alles zu gestehen. Er hat aber sein Geständnis widerrufen, weil er einen wahnsinnigen Turkey hatte, in diesem Zustand hätte er alles zugegeben.«
Ich wundere mich, dass mir der Gedanke erst in diesem Augenblick kommt: »OH GOTT, ALINA, bist du auch drogenabhängig?«
»Spinnst du jetzt Mama? Ich nehme doch keine Drogen, zumindest keine harten.«
»Aber weiche schon?«
Meine Tochter erklärt mir, dass das jetzt wirklich keine Rolle spiele und ja, natürlich habe sie schon mal was geraucht, ja, sie habe auch schon mal so eine Pille in einem Klub genommen, aber das sei völlig normal, das würden alle machen, wirklich alle.
Ich wusste nicht einmal, dass Alina schon einmal in einem Klub war. Bis heute dachte ich, ich hätte ein gutes Verhältnis zu meinen Kindern. Aber wie es scheint, geht es mir wie allen Müttern: Ich weiß verdammt wenig über meine Sprösslinge.
»Mamili, kannst du mit Papa reden?«
Klar, Mamili, das musste ja kommen, und dann dieser flehende Blick. Kenn ich nur zu gut. Das erste Mal hörte ich Mamili, als Lucas mit fünf seinen neuen Fußball durch die riesige Fensterscheibe des Wohnzimmers unserer Nachbarn gedonnert hatte. Mamili, wie sehr ich dieses Mamili hasse.
»Ja, ich rede mit ihm. Aber es wird deinem Vater nicht gefallen, dass du mit einem Junkie befreundet bist, der, wegen was ist er eigentlich angeklagt?«
»Mord, glaube ich«, piepst Alina.
»MORD?« Eigentlich logisch, wenn er die Frau erschlagen hat, um an Kohle zu kommen. Ich will wissen, wen dieser Junkie überhaupt getötet haben soll.
»Die Schoko-Leiche! Hast du keine Zeitung gelesen, Mama?«, wirft Lucas ein.
»DIE SCHOKO-LEICHE? Frau von Lingenthal? Dieser Max hat MEINE beste Kundin Frau von Lingenthal erschlagen?«
Das darf doch alles nicht wahr sein.
»Hat er nicht, Mama, er ist unschuldig«, beharrt Alina.
Langsam habe ich das Gefühl, dass mir dies hier alles über den Kopf wächst; ich kann nicht mehr klar denken. Mit meinem rechten Daumen und dem Zeigefinger zwicke ich mich in den linken Arm. Aua! Scheiße, das hier ist leider kein Albtraum, wäre auch zu schön gewesen.
»Ich glaube auch nicht, dass Max schuldig ist. Der kann nicht mal ‘ne Fliege erschlagen, ehrlich Mama.«
»Du kennst diesen Max also auch?«
»Ja, er ist mein …, äh …, der Bruder von Flori.«
»Der Bruder von Flori und dein WAS?«
Dieser Max ist hoffentlich nicht das, was ich jetzt denke.
Und dann berichtet mir mein Sohn, dass er halt schon mal was von ihm gekauft habe, aber nur Gras. Ich müsse also keine Angst haben.
»DU rauchst GRAS?« Oh Gott, ich weiß wirklich nichts über meine Kinder.
Dein Sohn hat einen Dealer und dieser Drogenabhängige ist der Freund deiner Tochter und ein Mörder. Nicht irgendein Mörder, nein, der Mörder von Frau von Lingenthal. Tanja, du hast bei der Erziehung deiner Kinder auf voller Linie versagt.
Mit diesen wenig hilfreichen Worten meldet sich meine innere Stimme zu Wort.
Irgendwie bekomme ich das alles nur schwer zusammen.
Mein Sohn klärt mich weiter über seinen Drogenkonsum auf. Früher hätte er öfter mal was geraucht. Jetzt rauche er so gut wie nichts mehr.
So gut wie …, bleibt in meinen Ohrmuscheln stecken und tönt dort in einer Art Endlosschleife weiter: So gut wie …, so gut wie …, so gut wie …
Ich will wissen, seit wann dieser Max denn schon harte Drogen nehme. Alinas Antwort dient nicht gerade meiner Beruhigung. Seit vier Jahren wäre er auf Heroin. Na, toll!
»Alina, so jemand ist verdammt gefährlich. Er will bestimmt, dass du das Zeug auch mal probierst, dann macht er dich abhängig und schickt dich auf den Strich.«
»Mensch Mama, jetzt hör aber auf mit dem Blödsinn. Max würde so etwas niemals tun.«
»Alina hat recht, Max würde ihr niemals Drogen geben, nicht mal was zu rauchen. Da musst du null Angst haben, Mama. Das sind doch nur Klischees. Der Max ist echt in Ordnung.«
»Na ja, ich weiß nicht.«
»Mama, ich liebe ihn.«
»Du liebst ihn. Du bist erst fünfzehn.«
»Ja und, darf man erst ab achtzehn lieben oder was?«
Tja, was soll ich dagegen sagen?
»Max ist unschuldig. Mama, ich weiß es.«
»Wenn das so ist, dann wird ihn dein Vater sicherlich aus dem Faulen Pelz holen.«
Lukas klärt mich auf: »Der Max sitzt im Mannheimer Knast, dem Café Landes. Der Faule Pelz wird nicht mehr als Gefängnis genutzt.«
Ich schlage vor, dass wir uns jetzt gleich auf die Socken machen, am besten alle drei. Ich kündige uns schon mal telefonisch bei Oliver an. Meine beiden Kinder protestieren, ich soll das lieber alleine machen, aber den Gefallen tue ich ihnen nicht. Wir gehen da zu dritt hin oder gar nicht. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu unserem früheren Zuhause auf der anderen Neckarseite in Handschuhsheim.
Die augenblickliche Geliebte meines Ex schicken wir erst mal aus dem Wohnzimmer, es geht schließlich um eine Familienangelegenheit, außerdem bin ich mir nicht sicher, ob die solche Sachen in ihrem Alter schon hören darf. Sie sieht nicht viel älter aus als unsere Tochter. Mein Ex muss nebenan schnell noch ein Telefonat zu Ende führen. Wir warten. Wahrscheinlich treibt er’s mal wieder mit seiner Praktikantin. Da ist er ganz Clinton. Ich kenne mich damit aus. Schließlich habe ich während meines Studiums auch mal ein Praktikum in seiner Kanzlei absolviert. Das Ende vom Lied: Ich hing mein Jurastudium an den Nagel. Natürlich wollte ich das Studium nur unterbrechen, aber nach Lucas kam Alina.
Von wegen, ich reagiere hysterisch. Oliver schreit rum und tobt wie ein Wahnsinniger, nachdem er alles erfahren hat. Ich nehme ihn zur Seite und wir beide gehen raus auf die Terrasse des Bungalows.
Der weitläufige Garten sieht verwahrlost aus, es scheint niemanden zu geben, der das Unkraut jätet und die Pflanzen im Sommer wässert.
Olivers Handy klingelt schon wieder.
»Sorry«, haucht er in meine Richtung.
Es irritiert mich immer noch, in unserem Garten zu stehen, mich in unserem Haus aufzuhalten. Ich weiß, es ist nicht mehr mein Garten und nicht mehr mein Haus. Aber diesen Rosenstock habe ich gesetzt, ich habe ihn aufgepäppelt, als ihn die Blattläuse hemmungslos aussaugen wollten. Die samtblaue Couch im Wohnzimmer habe ich ausgesucht, die Naturholz-Schrankwand genauso wie die Buchenholz-Stühle und den großen Tisch im Esszimmer. Ich zwinge mich, damit aufzuhören. Schließlich geht es uns inzwischen ohne Oliver viel besser.
Ich könnte ihm jetzt Vorwürfe machen, dass das passieren musste, nachdem er seine Kinder im Stich gelassen hat, tue ich aber nicht, wäre ja auch ziemlich unfair. Kann er nix für, wäre auch geschehen, wenn wir noch zusammen wären.
»Tanja, du hast die Kinder nicht im Griff. So etwas hätte niemals passieren dürfen.«
»Das ist ja wohl die Höhe! Du vögelst deine neue Praktikantin, hast keine Zeit für deine Kinder. Und ich bin an allem schuld. Verdammt Oliver, es sind auch deine Kinder.«
Am liebsten würde ich ihm jetzt alle seine Fehler aufzählen und das wäre eine überaus lange Liste.
»Und übrigens, es war abgemacht, dass du die Pfingstferien mit Alina und Lucas irgendwo am Meer verbringst. Aber du hast ja wieder Mal keine Zeit.«
Ich bin rasend vor Wut.
»Das hatte ich ja auch vor, aber jetzt ist mir dieser wichtige Strafprozess dazwischengekommen.«
»Bei dir kommt IMMER irgendein wichtiger Strafprozess dazwischen.«
»Ja, es tut mir leid. Du hast ja recht«, sagt er jetzt zerknirscht. »An allem bin nur ich schuld. Unsere Kinder kommen auf die schiefe Bahn, weil ich unsere Ehe zerstört habe.«
Am liebsten würde ich ihn anraunzen: So wichtig bist du auch wieder nicht. Ich halte aber brav meine Schnauze und sage stattdessen: »Nun rede dir da mal nichts ein. Unsere Kinder sind in Ordnung. Alina sagt, sie liebt diesen Typen. Sie ist fünfzehn, du weißt doch, wie das ist, in dem Alter ist das nichts Ernstes, aber wenn wir ihr den Umgang verbieten, dann hält sie an ihm fest und alles wird noch schlimmer. Kannst du nicht die Verteidigung von diesem Max übernehmen, vielleicht ist er ja tatsächlich unschuldig und dann ist er ganz schnell wieder draußen.«
»Wir haben in unserer Erziehung versagt.«
»Ach, jetzt mach mal halblang. Alina ist schließlich nicht angeklagt, nur ihr Freund.«
»Ein Junkie, unsere Tochter hat einen Junkie zum Freund.«
»Sie ist fünfzehn. Das ist doch noch lange nicht der letzte Freund. Jetzt mach nicht so ein Aufhebens drum und versuch dem Jungen zu helfen.«
»Danke Mamili«, sagt Alina und gibt mir einen dicken Schmatzer, als wir an diesem lauen Juniabend auf dem Nachhauseweg sind. »Gut, dass du Papa rumgekriegt hast.«
Die ganze Nacht über wälze ich mich in meinem Bett hin und her und finde keinen Zipfel Schlaf. Meine innere Stimme wirft mir im Minutentakt vor: Du hast als Mutter versagt. Hundertmal kaue ich dieses Gespräch mit meinen Kindern und dann das mit meinem Ex durch. In regelmäßigen Abständen keimt in mir diese Hoffnung auf, dass alles nur ein Albtraum gewesen war und wenn ich aufstehen werde, meine kleine Welt heil ihren gewohnten Lauf nehmen wird.
Ans Küchenfenster prasselt der Regen. Die rote Lampe über dem großen Esstisch baumelt am Kabel, ihr Schatten schaukelt bedrohlich durchs Zimmer.
»Sag es ihr endlich«, feuert Max seine Schwester an.
»Was sollst du mir sagen?«
»Mama, ich …, ich bin ein Junkie, seit einem Jahr, du hast nur noch nichts davon bemerkt.«
»ALINA, das glaube ich nicht.«
Langsam wickelt meine Tochter die langen Ärmel ihrer blauen Tunika hoch und zeigt mir ihre mit Einstichen übersäten Unterarme.
»ALIIIINNNAAA!«, schrei ich, »an allem ist nur dieser Max schuld.«
Schweißgebadet wache ich auf. Der piepende Ton des Weckers gräbt sich unerbittlich über meine Ohrmuscheln in meine Gehirnwindungen.
Alina sitzt zusammengekauert wie eine alte Frau an unserem Holzküchentisch, sie heult schon wieder. Vor ihr liegt eine Boulevardzeitung, in großen Lettern steht da geschrieben: Mörder der Schoko-Leiche hat gestanden. Nach Auskunft der Polizei konnte der mutmaßliche Mörder von Gisela v. L. der drogensüchtige Max B., umgehend verhaftet werden. Er hat die Tat inzwischen gestanden …
Ich nehme mein Kind in den Arm und streiche immer wieder über ihre grünen Haare. Heute kann sie unmöglich zur Schule gehen.
»Schatz, soll ich dich in der Schule entschuldigen?«
Als Antwort erhalte ich lediglich ein Schniefen.
»Glaubst du, Papa gelingt es, Max da rauszuholen?«, will Alina von mir wissen, nachdem sie an ihrer warmen Sojamilch genippt hat, die ich in ihre Reichweite geschoben habe.
»Klar schafft er das«, sage ich zuversichtlich, »wenn dieser Max unschuldig ist.«
Meine Tochter sieht mich skeptisch an und zuzelt schon wieder an ihrem Lippenpiercing. Mein armes Kind!
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