Das Böse, das du bist - Kristin Lukas - E-Book

Das Böse, das du bist E-Book

Kristin Lukas

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Beschreibung

Marie Wagenfeld glaubte, mit dem Tod ihres Bruders Erik hätten die "Kunstkillermorde" ein Ende gefunden. Aber dann sterben zwei Frauen in Berlin. Die IT-Expertin und Kommissar Kellermann müssen sich der Ungeheuerlichkeit stellen: Das Morden beginnt von Neuem. Die Spur des Serientäters führt über das Frankfurter Finanzzentrum bis in die namibische Stadt Lüderitz. Und je näher das Ermittlerduo dem Täter kommt, desto deutlicher wird, dass der eine persönliche Rechnung mit Marie begleichen will. "In ihrem Krimidebüt lässt Kristin Lukas die Samthandschuhe aus und geht direkt in die Vollen." Michael Schulte, Westfälische Nachrichten über "Das Letzte, was du siehst" "Kristin Lukas entwickelt sich zu einer Spezialistin für Krimiabgründe. Denn sie konfrontiert ihre Ermittlerin mit den dunkelsten Seiten der menschlichen Seele ... Höllisch spannend und überraschend bis zum Schluss." Monika Willer, Westfalenpost über "Der Zorn, der dich trifft"

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Seitenzahl: 409

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Die Autorin

Kristin Lukas, geboren 1976 in Hagen, studierte Architektur in Berlin, Paris und Zürich, bevor sie an der Universität St. Gallen ihre Dissertation schrieb. Parallel zu ihrer Beratungstätigkeit in der freien Wirtschaft arbeitet sie als Professorin für Immobilienmanagement und Projektentwicklung.

2017 erschien im Grafit Verlag ihr erster Thriller mit Marie Wagenfeld: Das Letzte, was du siehst. Ein Jahr später folgte: Der Zorn, der dich trifft.

An den Leser

Mein Name ist Marie Wagenfeld. Sie kennen ihn vielleicht, aus der Presse, aus den Nachrichten. Die Journalisten sind nicht gerade sorgsam mit mir umgegangen. Nein, ganz und gar nicht. Die Geschichte meiner Familie ist ein gefundenes Fressen für die Medien. Erik, mein Bruder, ist ein Serienmörder. Der Kunstkiller, wie er in den Nachrichten betitelt wurde. Gemeinsam mit seinen Jüngern tötete er unschuldige Menschen und stellte mit den Leichen Kunstwerke nach. Sein Ziel war die Nachbildung der Höllenpforte von Auguste Rodin.

Wir haben ihn entlarvt. ›Wir‹, das heißt vor allem Kommissar Kellermann aus Frankfurt. Er ist mürrisch, einsilbig und legt den Kopf gern schräg. So wie alles an ihm ein bisschen schief ist. Selbst seine Augen sind von unterschiedlicher Farbe. Bei den Ermittlungen zu der Mordserie haben wir eng zusammengearbeitet. Das ist zumindest die positive Wahrnehmung. Man könnte es auch so beschreiben: Er arbeitet mit mir, weil ich als IT-Beraterin Zugang zur Bank Sega Invest habe, in der damals der erste Tote gefunden wurde, und weil ich vor Jahren für das Dezernat für Wirtschaftskriminalität tätig war. Darüber hinaus verfüge ich über ein umfangreiches Kunstverständnis. Dank meinem Vater. Er war Direktor des Frankfurter Städels. Wahrscheinlich ein Grund, warum ich mir eine Wohnung in Sachsenhausen gesucht habe, nur einen Steinwurf vom Museum entfernt.

Wenn ich sage ›wir‹, umfasst das aber noch weitere Personen. Stallenberg, Aufsichtsratsvorsitzender der Sega Invest, Professor an der TU Berlin und zudem Kunstliebhaber, hat die Ermittlungen ebenfalls vorangetrieben. Aus persönlichen Motiven. Mein Bruder hat Stallenbergs unehelichen Sohn getötet. Bastian war ein ungewollter Spross aus einer Liaison mit einer Assistentin.

Das gleiche Motiv treibt den Franzosen Patisse um: Auch seine Lebensgefährtin war ein Opfer Eriks und seiner Jünger. Der Franzose ist fest davon überzeugt, dass es neben meinem Bruder und zwei entlarvten ehemaligen Mitarbeitern der Sega Invest mindestens einen weiteren Täter gibt. Ein Foto, das meinen Bruder und einen seiner mutmaßlichen Komplizen inmitten lauter Erstsemesterstudenten der Hochschule der Künste in Berlin zeigt, nährt diesen Verdacht. Für die Erfüllung seiner Rache hat sich Patisse von seinem vorherigen Leben verabschiedet, nutzt seine Fähigkeiten als IT-Spezialist und geht Wege jenseits der Legalität. Er glaubt, dass der Schlüssel zu dem Komplizen in meiner Familie verborgen liegt, und hat mich unter Druck gesetzt, ihm zu helfen.

Der eigene Bruder ein brutaler Serienmörder. Nicht Opfer, sondern Täter. Lange Zeit ging ich von Ersterem aus. Denn Erik hat sich in seinen Jugendzeiten als drogenabhängiger Stricher im SM-Milieu verdingt und in dem Klub Dark Magic das Geld für den nächsten Schuss verdient. Doch Erik war nicht das Opfer. Er entdeckte in den Räumen des Klubbesitzers Kreutzer seine Leidenschaft und war dann Täter, was vielen Menschen ihr Leben kostete.

Seit Eriks Enttarnung vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht frage, was ich hätte tun können, um seine Karriere als Mörder zu verhindern. Was ich früher hätte erkennen müssen, um seine Opfer vor ihrem Tod zu bewahren. Und wie viel Schuld auf meinen eigenen Schultern lastet. Fragen, die mich tagtäglich matern.

Wahrscheinlich wäre ich längst darüber wahnsinnig geworden, wenn mich nicht mein Beruf so in Anspruch nehmen würde. Und wenn ich nicht liebe Menschen um mich hätte, wie meine Freundinnen Karla und Anna.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Weitere Informationen

1

Marie, ach, Marie, weißt du denn nicht, was du tust? Warum gerade dieses Bild? Warum ausgerechnet das Gemälde? Aber natürlich, du kannst nicht wissen, was du damit anrichtest. Du kannst es nicht erahnen, kannst mich noch nicht einmal sehen. Wie auch, das Offensichtliche bleibt oft im Dunkel. Du weißt nicht, dass ich nur wenige Schritte hinter dir stehe, so nah, dass ich deinen Geruch wahrnehme. Du hast dein Parfum nie gewechselt, den dezenten Duft nach frischem Holz und weißem Tee. So nah bin ich dir, dass ich deinen Atem höre, auch wenn sich deine Lungen nur ganz sacht heben. Gleichmäßig, ohne Anstrengung, wie von allein.

Aber dass du dieses Bild wählen musst, vor dem du jetzt verharrst, es im Detail betrachtest, ganz konzentriert, mit zusammengekniffenen Augen, dann wieder mit entspannten Gesichtszügen. Warum nicht das Palmen-Bild, auf dem nur Grünzeug zu sehen ist? Warum nicht Die Dinge sehen wie sie sind? Ein Bild, das nur ein Schriftzug ziert. Doch es muss unbedingt dieses sein. Auf dem sich zwei Schönheiten räkeln. Zwei junge Damen, die an amerikanische Pin-up-Girls erinnern. Wie Fotomodelle spielen sie mit dem Auge des Betrachters. Kokett werfen sie sich in Pose, den Arm hochgereckt, das Kinn vorgeschoben.

Banal würde dieses Bild wirken, wenn es nicht von Polke wäre. Dispersionsfarbe auf Leinwand. Fast abgeschmackt, ein bisschen billig. Doch das ist seine Ironie. Polkes kritischer Verweis auf die Konsum- und Warenwelt.

Jetzt trittst du noch ein bisschen näher heran. Nur wenige Zentimeter trennen dich vom Gesicht des brünetten Mannequins mit der Matrosenmütze. Jetzt wirst du sehen, dass ihre Augenhöhlen schwarz und tot sind. So wie die ihrer Begleiterin. Die junge blonde, deren schulterlange Strähnen ihr Gesicht so sanft umspielen.

Mariechen, jetzt weichst du sogar einen Schritt zurück, vor all der Dunkelheit. Erkennst vielleicht das angeschnittene Hakenkreuz und stolperst über all die zerstörenden Kleckse und Flecken, die dem Bildnis ihre Idylle rauben.

Bevor du dich dem nächsten Werk zuwendest, prüfst du noch die Beschriftung: Sigmar Polke, Freundinnen, 1965/ 1966 wirst du jetzt gerade lesen. Und zwei Freundinnen werde ich jetzt suchen müssen. Gleich zwei auf einen Streich. Auch ihre Augen werden am Ende kalt und leer sein. So schwarz und dunkel wie die der schönen Damen. Ach, Marie, warum hast du nicht das Palmen-Bild gewählt?

2

»Warum diese Wohnung hier? Frau Wagenfeld, warum sind Sie nach Berlin gezogen?« Der Kommissar kratzt sich am Hinterkopf, was die ohnehin schon strubbeligen, grau melierten Haare noch mehr in Aufruhr bringt.

»Ich habe in der Hauptstadt ein neues Beratungsprojekt, da macht sich eine Zweitwohnung nicht schlecht«, antworte ich in Seelenruhe und streiche mit dem Daumen am Henkel der Kaffeetasse entlang. Mein Puls ist ruhig, ich habe mich heute Morgen bereits beim Joggen an der Spree ausgetobt.

»Sie haben auch zuvor für auswärtige Kunden gearbeitet, ohne dass Sie sich an Ihrer Wirkungsstätte häuslich niedergelassen haben.«

»Letztendlich ist es günstiger, als im Hotel zu wohnen«, entgegne ich.

»Ich denke, Sie arbeiten noch bei der Sega Invest in Frankfurt?« Kellermann lässt sich nicht so leicht vom Thema abbringen.

»Man kann auch an zwei Projekten gleichzeitig arbeiten. Ist in der Beraterbranche so üblich«, gebe ich zurück, streiche eine widerspenstige Strähne meines kurzen, braunen Haarschopfs hinter mein Ohr und frage leichthin: »Möchten Sie noch einen Kaffee?«

Der Kommissar geht auf das Ablenkungsmanöver nicht ein. »Lassen Sie den Quatsch. Sie haben die Wohnung nur gemietet, weil Sie diesem Hinweis von dem Franzosen nachgehen wollen. Das Foto, das Patisse Ihnen gegeben hat. Ein Gruppenbild, das bereits vor Jahren aufgenommen worden ist und das Ihren verstorbenen Bruder unter den Erstsemstern der hiesigen Hochschule der Künste zeigt. Das ist der Grund für Ihre Bleibe hier. Sie wollen auf eigene Faust ermitteln, in der Vergangenheit Ihres Bruders graben und nach diesem Titus Scherf suchen.« Der Kommissar macht eine Pause, um mit tieferer, theatralischer Stimme fortzusetzen: »Ihr Bruder war ein psychopathischer Serienmörder. Er hat Menschen verstümmelt, um mit ihren Körperteilen Werke aus der Kunst nachzuahmen. Wenn Patisses Vermutung sich bestätigt und dieser Titus Scherf tatsächlich sein Komplize war, ist auch Scherf ein geistesgestörter Gewaltverbrecher.«

»Ich habe meine Wohnung in Frankfurt nicht gekündigt«, reagiere ich umgehend.

Der Kommissar schließt die Augen. Atmet tief ein. Dann öffnen sich seine Lider wieder und die verschiedenen Farbtöne der Iris kommen zum Vorschein. Die eine blau, die andere grau. Die feinen Falten, die sich in den Augenwinkeln abzeichnen, sind jedoch gleich verteilt.

Kellermann hat mich sofort entlarvt. Selbstverständlich rechtfertig die Auftragslage keinen zweiten Wohnsitz. Aber bei Anna oder Karla zu übernachten, das kommt nicht infrage. Jana, eine Mitarbeiterin aus meinem Team, zählte zu den Todesopfern meines Bruders und seiner Jünger. Wir haben nicht nur beruflich, sondern auch privat viel geteilt. Wir waren Freundinnen. Sie starb, weil sie mich kannte, mir nahe war. Nicht noch einmal werde ich einen Menschen in Gefahr bringen, weil ich dem Täter den Weg zu ihm weise. Denn die Gefahr, die von Titus Scherf ausgeht, ist mir sehr wohl bewusst. Auch wenn ich das Kellermann gegenüber nicht offen zugebe.

»Aber Sie sind nicht hier, um sich mit mir über meine neue Wohnung zu unterhalten, oder?«

Ich spiele gedankenverloren mit den Fingern auf der abgegriffenen Resopalplatte des Küchentischs. Ich habe die Wohnung möbliert übernommen und bei dem Interieur beide Augen zugedrückt.

Kellermann schüttelt den Kopf. Dann steht er vom Küchenstuhl auf und fischt, ohne einen Schritt gehen zu müssen, seinen Mantel von der Anrichte. Er zieht den Trenchcoat auf seinen Schoß und ein Foto aus der Innentasche. Dann schiebt er meine Kaffeetasse beiseite und legt die Aufnahme auf die frei gewordene Fläche.

Ich lasse den Kopf etwas sinken und richte den Blick frontal auf das Bild. Ich muss schlucken. Doch ich weigere mich aufzublicken. Denn dann müsste ich etwas sagen. Daher bleiben meine Augen auf dem Bild geheftet. Auf den beiden jungen Frauen, die bestimmt noch keine dreißig sind. Die eine blond, die andere versteckt ihre brünetten Locken unter einer Matrosenmütze, die viel zu groß erscheint. Ich schlucke noch einmal, bevor mein Blick ein letztes Mal zu den tiefen schwarzen Löchern wandert, in denen einmal ihre Augäpfel waren.

Nun hebe ich langsam den Kopf, suche aber noch nicht den Kontakt zu Kellermann. Ich schaue aus dem Küchenfenster, ziellos auf das gegenüberliegende Backsteingebäude, das vor Jahrzehnten eine Mädchenschule beherbergte. Dann bricht es tonlos aus mir hervor: »Es ist noch nicht vorbei.«

»Was meinen Sie damit? Führt dieser Titus Scherf das Werk Ihres Bruders fort?«

Ich ziehe die Schultern hoch. »Wenn nicht er, dann ein anderer Komplize, Hintermann oder ein Nachahmungstäter. Eins ist sicher, mit diesem Tatort wollte der Mörder definitiv ein Kunstwerk nachstellen. Es ist die gleiche Verhaltensweise, der gleiche Tathergang.«

»Um welches Bild handelt es sich? Wer ist der Künstler?«, fragt Kellermann umgehend.

»Es ist von Polke, Sigmar Polke und es heißt Freundinnen«, gebe ich matt zurück.

»Kein Zweifel?«

Ich schüttle vehement den Kopf. »Nein. Ich habe es mir erst vor ein paar Tagen angesehen. Es gibt eine Ausstellung zwei Häuser weiter in der Straße.«

Kellermann kneift die Augen zusammen und legt den Kopf schräg. »Und Sie sind sich sicher, dass Sie hier wohnen wollen?«

3

Ein Taxi hat uns zur Polizeidirektion in Friedrichshain gebracht. Noch in meiner neuen Küche hat Kellermann mir berichtet, dass die beiden Frauen am Ufer der Spree entdeckt worden sind. Ganz in der Nähe des Holzmarkts, des neu gestalteten Multi-Kulti-Kreativdorfes, dass sich direkt am Wasser entlangschlängelt. Am Ende des bunten Territoriums gibt es eine Bretterwand, die das Grundstück von dem Nachbarareal abgrenzt. Eine Brachfläche noch frei von jeglicher Bebauung und bestückt mit wild wucherndem Gestrüpp. Dort hat man sie gefunden. Auf einer Lichtung aus platt gedrückten Gräsern und Farnen. Ein Besucher des Holzmarkts hat die beiden entdeckt. Seine Kinder haben auf dem Marktplatz Stockbrot über dem Lagerfeuer gebacken, während der Hund, ein Beagle, auf Spurensuche gegangen ist. Plötzlich brach er in wildes Kläffen aus, weigerte sich, auf sein Herrchen zu hören und hinter der Bretterwand hervorzukommen. Daraufhin ist der Mann seinem Hund gefolgt.

Das ist jetzt keine achtundvierzig Stunden her.

Ich kenne den Tatort, war erst letztens dort, um mir dieses Vorzeigewerk einer neuen urbanen Lebenswelt anzusehen. In Gedanken spaziere ich erneut über die Sandwege, Planken und Treppenstufen des Kreativareals und gehe dann stromabwärts bis zu dieser Grundstücksgrenze. Einer Sackgasse. Ich selbst habe dort den Ausgang gesucht und musste wieder umkehren.

Wie, frage ich mich, hat der Täter die Frauen auf das Grundstück geschafft? Oder hat er sie gezwungen, selbst in das Dickicht zu gehen? Mir schwant etwas Böses. Was ist, wenn es gar nicht nur ein Täter gewesen ist?

»Kommen Sie!«, ruft es vom anderen Ende des schier endlosen Ganges der Polizeidirektion und ich schrecke hoch.

Kellermann streckt den Kopf aus einer der zahllosen, aneinandergereihten Bürotüren und wiederholt: »Frau Wagenfeld, kommen Sie!«

Entgegen zu Kellermanns Frankfurter Dienstsitz in einem ehrwürdigen Altbau handelt es sich bei dem Berliner Polizeigebäude um einen schnöden, lieblos entworfenen Verwaltungstrakt aus den Siebzigerjahren. Das feuchte Herbstwetter und die kahlen Bäume lassen die Polizeidirektion nicht freundlicher erscheinen. Das Büro von Kellermanns Berliner Kollegen ist nüchtern und mit fahlen, aschgrauen Schränken möbliert. Von der unterkühlten Atmosphäre hat sich der Polizeibeamte jedoch nicht anstecken lassen. Verschmitzt blitzen seine Augen hinter seiner Nickelbrille. Das ergraute, feine Haar ist in leichte Wellen gelegt. Die Wangen pausbackig. Wenn er sich mir nicht als Herr Winkovski vorgestellt hätte, würde ich ihn für einen nahen Angehörigen Meister Eders halten. Er wirkt so großväterlich, dass man wie der Protagonist der Fernsehserie Pumuckl auf seinen Schoß hüpfen möchte. Als ich ihm meine Hand entgegenstrecke und sich sein Griff fest und dennoch wohlig warm anfühlt, muss ich zum ersten Mal heute lächeln.

»Sie sind also die Marie Wagenfeld.«

Normalerweise hallt in diesem Moment in meinem Kopf nach: die mit dem psychopathischen Bruder, die mit dem Serienmörder in der Familie. Doch das Echo bleibt aus. Winkovskis Gesichtsausdruck ist derart offen und einnehmend, dass sich kein Hintergedanke einschleicht.

»Frau Wagenfeld, dieses Foto hier«, sagt der Berliner Beamte und reckt, in einer Plastiktüte umhüllt, ein Schwarz-Weiß-Bild in die Luft, »haben Sie von einem Mann namens Patisse erhalten, dem Lebensgefährten eines der früheren Opfer. Korrekt?«

Trotz der Distanz erkenne ich meinen Bruder sofort in der Gruppe der Studenten, die Erstsemester der Hochschule der Künste. Sein kurzer Blondschopf ragt hervor. Ein Spitzbube, mit schelmischem Gesichtsausdruck und funkelnden Augen. Strahlender als die der anderen. Damals zumindest. Als er noch lebte. Als ich noch nicht wusste, dass er ein abartiger Mörder ist. Als ich noch weit entfernt davon war, auch nur zu ahnen, dass Erik und seine Jünger Menschen töteten, um die Opfer zu einem grausamen Kunstwerk zu formen, einer Nachbildung der Höllenpforte des Bildhauers Auguste Rodin.

»Ja«, sage ich leise. »Patisse hat es mir gegeben. Im Hamburger Hafen.« Bevor Winkovski danach fragt, ergänze ich: »In der nächsten Sekunde war er verschwunden. Hat sich in Luft aufgelöst, ohne ein weiteres Wort.«

»Der Franzose hat Sie über Wochen verfolgt und bedroht, hat Ihnen nachgestellt, in der Hoffnung durch Sie an die Hintermänner der Kunstmörder zu gelangen. Sein ganzer Lebensinhalt richtet sich nur darauf aus, den Tod an seiner Lebensgefährtin zu rächen. Haben Sie wirklich seit dieser Übergabe des Bildes nichts mehr von ihm gehört?«

»Nein, nichts«, versichere ich sachlich.

»Aber er hat Ihnen zuvor gedroht«, interveniert der Berliner Polizeibeamte.

»Ja, bei einem früheren Zusammentreffen. Er sagte, ich solle ermitteln oder er bringe mich um. Er glaubt, dass ich durch die Verbindung zu meinem Bruder die Spur zu möglichen weiteren Komplizen finden würde.«

Winkovski zeigt erneut auf das Foto: »Wissen Sie, woher er das hat?«

»Auch dazu kann ich Ihnen nichts sagen«, antworte ich erst knapp und füge dann ausführlicher hinzu: »Bevor Patisse sich von seinem bisherigen Leben verabschiedete und auf Rachefeldzug ging, war er Teamleiter Netzwerktechnik eines Pharmaunternehmens in einem Vorort von Paris. In dieser Funktion war er verantwortlich für den Betrieb von Software-Applikationen, IT-Schnittstellen und Themen rund um die Systemsicherheit. Für ihn ist es ein Leichtes, an Informationen zu kommen, sich in andere Systeme einzuhacken. Selbst zu meinem Laptop hat er sich durch einen Trojaner Zugang verschafft. Die Recherche zu einem Foto, bei dem der Name meines Bruders in der Bildunterschrift auftaucht, ist ein Kinderspiel für ihn.«

»Er hat sich in Ihren Laptop gehackt?«, fragt Winkovski mit großen Augen. Anscheinend ist ihm noch nicht die ganze Akte bekannt.

»Ja, er kennt sich bestens mit Spionagesoftware und Überwachungstechnik aus. Und er scheut nicht davor zurück, seine Kenntnisse einzusetzen, auch wenn er sich dadurch abseits der Legalität bewegt.«

Der Berliner Kommissar grübelt einen Moment. Dann fragt er mit solch einer sonoren Stimme, als könne er allein durch den Klang seiner Worte sein Gegenüber in eine warme Decke hüllen: »Und über diesen Titus Scherf, diesen jungen Mann, der laut Bildunterschrift neben Ihrem Bruder steht, hat Patisse auch über ihn nichts gesagt?«

Ich schüttle den Kopf und fokussiere meinen Blick auf den Studenten neben meinem Bruder. Er scheint etwas älter als Erik zu sein. Kantig ist sein Gesicht und doch wirkt es zugleich verletzlich. Er hat etwas Androgynes an sich. Das schmal zulaufende Kinn, die hohen Wangenknochen. Auf eine spezielle Art ist er hübsch. Dem aktuellen Trend entsprechend würde er sicher als Model gebucht. »Nein. Patisse hat nichts zu dem jungen Mann gesagt. Die Verbindung Eriks zu Titus Scherf ist nur durch den mysteriösen Buchstaben T deutlich geworden, der ab und an aufgetaucht ist.«

»Sie meinen die Unterzeichnung auf der Beileidskarte zum Tod Ihres Bruders?«

Das Bild der Karte hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Auf dem Deckel war eine Marmorstatue der Mutter Gottes abgebildet. Im Inneren der Klappkarte war mit Kugelschreiber vermerkt: Er war kein schlechter Mensch. T.

Doch nicht nur die Karte, auch eine zweite Szene spult sich vor meinem inneren Auge ab: In einer heruntergekommenen Villa vor den Toren Hamburgs, die zwischenzeitlich als Bordell genutzt worden war, haben Kellermann und ich ein Graffito gefunden. Daher antworte ich: »Ja, die Karte und der Schriftzug, den wir in dem verlassenen Gebäude in Harburg entdeckt haben. Deathless E + T, mit schwarzen Lettern an die Wand gesprüht.«

Winkovski beugt sich nach hinten und fischt etwas von seinem Schreibtisch. Ein zweites Foto, diesmal ohne Plastikhülle. Darauf ist das Graffito zu sehen.

Mich strengt das Gespräch inzwischen unheimlich an. Der Austausch mit diesem mir fremden Polizisten, die Fragen zu meinem Bruder, die Erinnerung an seine Mordopfer. Das alles vor dem Hintergrund der beiden toten Frauen. Mir wird heiß, die Luft wirkt dünn und ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke auf. Als das nichts hilft, schäle ich mich ganz aus meinem Mantel und falte ihn über dem Arm.

Erst jetzt bemerkt Winkovski, dass wir drei immer noch stehen. Er tritt einen Schritt zurück. Zeigt mit einem Arm auf einen Besucherstuhl und zieht einen zweiten aus der Ecke hervor.

»Setzen Sie sich doch«, bietet er an.

Kellermann und ich nehmen sein Angebot an und sitzen jetzt nebeneinander wie zwei Schulkinder. Winkovski selbst nimmt mit der Schreibtischplatte vorlieb. Mit einer Pobacke stützt er sich auf der Kante ab. Dabei wölbt sich sein Bauchansatz vor und spannt sein kariertes Flanellhemd, was ihn augenblicklich noch heimeliger erscheinen lässt.

In meiner neuen Position muss ich zum Berliner Kommissar aufschauen, als ich wissen will: »Titus Scherf, haben Sie wirklich gar nichts über ihn herausgefunden?«

Meine Frage ist hypothetisch. Nachdem Patisse mir im Sommer das Foto gegeben hatte, aktivierte Kellermann seine Kollegen in der Hauptstadt. Sie sollten an der Berliner Hochschule der Künste nachfragen, ob jemand mit diesem Namen dort eingeschrieben gewesen war. Und tatsächlich hatte Scherf die Hochschule besucht. Aber nur kurz – vor Ende des zweiten Semesters ward er nicht mehr gesehen. Wie mein Bruder. Dann stellte sich allerdings heraus, dass Scherf offiziell nicht existierte. Es gab keinen Mann mit Namen Titus Scherf in Berlin, niemanden in der ganzen Republik, dessen Name und Alter mit dem jungen Studenten auf dem Foto übereinstimmten. Die Zeugnisse, alle Unterlagen, die dieser Titus Scherf zur Einschreibung an der Hochschule eingereicht hatte, waren gefälscht. Nichts an seinem Lebenslauf war echt. Das hatte die Berliner Polizei herausgefunden, und ich bin mir sicher, Winkovski war mit diesen Ermittlungen betraut, sonst wären wir jetzt nicht hier. Warum sonst hätte er so schnell einen Frankfurter Kollegen um Amtshilfe gebeten? Nie und nimmer wäre Winkovski ohne Vorwissen bei dem Mord an den beiden jungen Frauen auf die Idee gekommen, es könne sich um die Nachbildung eines Kunstwerks handeln.

»Nein«, bestätigt Winkovski meine Gedanken. »Nichts, es scheint, als hätte es diesen Menschen nie gegeben.«

Winkovskis Augen wandern prüfend von mir zu Kellermann. Der Frankfurter Kommissar ist von ihm als Sonderermittler in die Mordkommission berufen worden. Der Berliner setzt auf die Expertise seines Kollegen aus der Frankfurter Mordserie. Zwei Jahre ist es jetzt her, dass Kellermann den Kunstkiller gestellt hat.

Ich bin nicht überrascht, als Winkovskis nächste Frage lautet: »Polke, da sind Sie sich sicher? Die Vorlage zum Mord ist ein Kunstwerk von Sigmar Polke?«

4

Auf dem Alexanderplatz kündigt sich eine Demo an und die Stralauer Straße wird von Polizeifahrzeugen abgeschirmt. Der Taxifahrer, der Kellermann zum Flughafen Tegel bringen soll, biegt daher in den Mühlendamm ein und nimmt Kurs auf den Potsdamer Platz. Aufgrund des dritten Mannes an Bord erübrigen sich Gespräche zum Tathergang. Kellermanns Fragen widmen sich einem anderen Kontext: »Jetzt verraten Sie mir einmal, welches Projekt Sie angeblich hier in der Hauptstadt abwickeln?«

»Nennt man das in Ihrem Fachjargon nicht eine Suggestivfrage?«, gebe ich von der Seite zurück. Der Kommissar und ich haben auf der Rückbank wieder Position in Zweierreihe bezogen.

»Aha, Frau Kollegin, etwas von Ihrem Wissen als ehemalige Polizistin ist Ihnen also noch erhalten geblieben. Da es sich jedoch nicht um eine offizielle Vernehmung handelt, ist es kein Verstoß gegen die Ordnungsvorschrift. Also beantworten Sie meine Frage.«

Vor uns überquert eine mehrköpfige Familie die Fahrbahn. Als der letzte Sprössling sicher die Zebrastreifen überwunden hat, erkläre ich: »Zum einen: Kollegin ist übertrieben. Ich war schließlich beim Wirtschaftsdezernat. Und zum anderen: Es handelt sich um einen alten Kunden, aber ein neues Projekt. Die Firma heißt CMP.«

»Und was beinhaltet dieses neue Projekt?«

»Big Data. Sie möchten mit großen, heterogen Datenmengen Prognosen zu der Entwicklung von Immobilienmärkten erstellen.«

»Also Vorhersagen treffen, welche Immobilien zukünftig stark nachgefragt werden und welche nicht?«

»Ja, genau. Das ist das Ziel«, erkläre ich. »Ob es funktioniert, ist noch ungewiss. Es gibt so viele Einflussvariablen auf die Marktbewegungen. Finanzmärkte agieren nicht rein rational. Auch wenn man das lange Zeit angenommen hat und glaubte, Aktientrends allein mit mathematischen Modellen berechnen zu können. Bei Finanzanlagen handelt es sich immer um Entscheidungen unter Unsicherheit, die von einem Individuum getroffen werden. Wird die Unsicherheit zu groß, agieren Individuen mit Panik, selbst wenn keine rationale Begründung dafür vorliegt. Diese Angst kann ein Herdenverhalten auslösen.«

»Und ganze Märkte zum Einsturz bringen«, schlussfolgert der Kommissar. »Aber warum entwickeln Sie ein solches Modell dann überhaupt?«

»CMP möchte die Daten mit einem selbst lernenden System verknüpfen, einer künstlichen Intelligenz, die es erlaubt, aus den großvolumigen Datenmengen, Erkenntnisse zu ziehen. Kennen Sie das uralte chinesische Brettspiel Go?«

Kellermann schüttelt zögerlich den Kopf.

»Das ist ein Strategiespiel«, erläutere ich und sehe, wie jetzt auch der Taxifahrer einen interessierten Blick in den Rückspiegel wirft. »Beim Go versuchen zwei Spieler, die sogenannten Kriegsherren, ein noch freies Gebiet mit eigenen Spielsteinen zu besetzen und gleichzeitig die Steine des Gegners zu erbeuten. Am Ende wird die Größe der beherrschten Gebiete verglichen sowie die Anzahl der gefangenen Steine gezählt. Man war sich sicher, dass auf Jahre hinaus ein Computer niemals so gut das Spiel beherrschen könne wie ein Mensch. Dazu gibt es zu viele Kombinationsmöglichkeiten, die nicht allein mit Rechenleistung abgedeckt werden können. Hervorragende Go-Spieler verfügen über das, was wir als Intuition bezeichnen. Diese Ansicht ist vor Kurzem widerlegt worden. Ein Computer hat die weltbesten Go-Spieler vernichtend bezwungen.«

»Und wie?« Kellermanns Stirn kräuselt sich.

»Auf Basis von neuronalen Netzen.«

»Also wie ein Schachcomputer?«

»Nein, man ist einen Schritt weiter gegangen. Anders als bei Schach, bei dem selbst die besten Spieler schon längst keine Chance mehr gegen die Computer haben, widersetzte sich Go bislang Algorithmen und galt daher als eine der letzten Bastionen menschlicher Überlegenheit im Spiel. Durch die sogenannten künstlichen neuronalen Netze lässt sich das KI-System allerdings trainieren.«

»Künstliche Intelligenz?«

»Ja, genau. Ein KI-System baut auf Mustererkennung und kann aus seinen Fehlern lernen. So wie ein menschliches Gehirn. Das Training basiert auf zig Millionen Spielzügen von Partien fortgeschrittener Spieler. Im Anschluss kann das KI-System vorhersagen, welche Spielzüge am lukrativsten sind.«

»Mmh«, brummt Kellermann skeptisch. »Und wo sitzt Ihr Auftraggeber, diese ominöse Immobiliengesellschaft CMP?«

Ich strecke unwillkürlich den Arm aus und zeige auf das Sony Center, in dessen Glasfassade sich die Nachmittagssonne spiegelt. »Dort oben.«

»Hier?«, fragt Kellermann erstaunt.

»Hier?«, kommt es noch erstaunter vom Fahrersitz. »Wollen Sie hier halten?«

»Nein, nein«, löse ich das Missverständnis auf. »Das Fahrtziel bleibt Tegel. Aber Sie können mich am Hauptbahnhof rauslassen.«

Kellermann schaut mich ungläubig an. »Wo wollen Sie denn hin? Wir können auch kurz bei Ihnen zu Hause vorbeifahren. So viel Zeit habe ich noch, bis mein Flieger geht.«

»Nein, nein. Das ist nicht nötig«, winke ich ab und ergänze, bevor Kellermann auf seine Frage nach meinem Zielort zurückkommen kann: »Morgen bin ich auch wieder bei Ihnen in Frankfurt. Am Nachmittag habe ich eine Sitzung mit Stallenberg.«

»Aha«, bemerkt der Kommissar spitz, denn Stallenberg leitet schließlich die Bank, in der nicht nur vor zwei Jahren der erste Tote der Frankfurter Mordserie gefunden wurde, sondern in der auch zwei von Eriks Jüngern arbeiteten. »Und worüber reden Sie mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Sega Invest?«

»Nur eine Besprechung zum Reporting-Konzept.«

Kellermanns Aufmerksamkeit sinkt. Seine Aufnahmefähigkeit für IT-Themen stößt schnell an ihre Grenzen. Daher schiebe ich zwei, drei weitere Sätze hinterher, die gespickt sind mit Begriffen wie »Daten« und »Software«. Sie verhallen ungehört in der Fahrzeugkabine und ehe ein neues Thema angeschnitten werden kann, schert das Taxi in die Vorfahrt zum Hauptbahnhof ein.

Die Berliner S-Bahn bringt mich über drei Stationen zum Bahnhof Zoo. Draußen auf der Hardenbergstraße pfeift ein kühler Herbstwind und es fröstelt mich. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Daunenjacke ein Stück höher, obwohl es nur ein paar hundert Meter bis zum Hauptgebäude der Hochschule sind. Die Bezeichnung ist auch nicht ganz korrekt. Hochschule der Künste oder kurz HdK hieß sie zu der Zeit, als mein Bruder und Titus Scherf ihr erstes Semester dort verbrachten. Kurz darauf wurde die Institution in Universität der Künste umbenannt und erhielt damit auch in neues Kürzel.

Ich stoße die großflügelige Tür des palaisartigen Gebäudes auf und stehe im nächsten Moment in der weiträumigen, neobarocken Eingangshalle, von der links und rechts zwei breite Treppenaufgänge abgehen. Sofort sticht mir das scharfe Putzmittel in die Nase, dessen Geruch mir in den letzten Tagen so vertraut geworden ist. Nichts von der Erhabenheit kann mich mehr beeindrucken. Zu oft war ich hier, zu gewöhnlich kommen mir die Räumlichkeiten inzwischen vor.

Im Foyer wirbelt eine Meute Studenten umher. Sie errichten eine Videoinstallation. Monitore, auf denen eine Sammlung von Schuhen unterschiedlichster Art zu sehen sind. Bunt zusammengewürfelte Lederschuhe, Turnschuhe, Sandalen. Ein Plakat an einem Pfeiler kündigt das Ganze als eine Abschlussarbeit der Fakultät für Gestaltung an.

Ich schlängle mich durch die aufgewühlte Menge und nehme den rechten Treppenaufgang. In diesem Gebäudeflügel ist die Fakultät für Bildende Kunst untergebracht. Passend zum Studium strömen mir auf dem Flur im Obergeschoss drei junge Männer entgegen, deren weiße Kittel mit bunten Farbklecksen beschmutzt sind.

Ich öffne die Tür zu dem Atelier, aus dem die drei gekommen sind. Im Inneren des Saales herrscht das wohlvertraute Chaos: Dutzende Farbeimer, hintereinander gereihte Staffeleien, vor Pinsel und Kreidestiften überquellende Tische. Der Boden ist mit Tapeten und Plastikplanen ausgelegt. Zwischen den Pfeilern sind Seile gespannt, an denen Leinwände zum Trocknen hängen. Die jungen Männer und Frauen scheinen sich in dieser Unordnung zurechtzufinden. Wie ein quirliger Ameisenhaufen basteln sie an Figuren oder arbeiten an Skizzen. So sehr sind sie in ihre Aufgaben vertieft, dass ihnen meine Anwesenheit nicht auffällt.

Ich durchquere das Atelier bis zum Ende des Raumes, wo eine großzügige Fensterfront Licht eindringen lässt. Ich quetsche mich auf eine der Fensterbänke und ziehe die Knie an, bis ich sie mit beiden Armen fest umschließen kann. Von dieser Position aus habe ich beides im Blick: das bunte Treiben im Atelier und, wenn ich meinen Blick nach draußen lenke, die gehetzten Passanten, die im Laufschritt die Hardenbergstraße entlangeilen. Die Marmorplatte unter meinem Po ist glatt und kalt. Nur ungefähr mittig ist eine Kerbe an der Kante. Nicht scharfkantig, eher rund, als hätte sie jemand abgefeilt. Ich hatte genug Zeit, sie zu inspizieren. Diese Fensternische habe ich in den letzten Tagen ein Dutzend Mal aufgesucht.

Erik, denke ich, was hast du hier gemacht? Warum bist du hier gewesen? Du hast kein Abitur, hast die Schule mit sechzehn geschmissen. Du hast das Rotlichtviertel zu deinem Zuhause erklärt und dich von Drogen wie deinem täglichen Brot ernährt. All die Energie, das gefälschte Zeugnis, die Aufnahmeprüfung, all diese Anstrengungen für ein Studium. Wozu? Wozu in aller Welt ein Studium?

Meine Gedanken kreisen wieder und wieder um diese Fragen. Doch wie zuvor wollen mir keine Antworten kommen. Wie töricht von mir zu glauben, dass ich des Rätsels Lösung näher komme, weil ich mich am Ort des Geschehens befinde. Als könne ich allein durch meine Anwesenheit in diesem Atelier aus längst verwischten Spuren lesen. Spuren, die mein Bruder vor mehr als zehn Jahren hier hinterlassen hat. Zu einer Zeit, als die grausame Mordserie noch vor ihm lag. Es wird zu nichts führen, denke ich frustriert und starre aus dem Fenster. Mach dir nicht länger etwas vor. Erik wird nicht wie ein Geist erscheinen und zu mir sprechen.

Doch in meinem eigenen Spott unterbricht mich eine Stimme von hinten. Ich drehe meinen Kopf und werfe einen Blick über die Schulter. Diesmal kein weißer Kittel. Auch vom Alter her dürfte der Herr kein Student mehr sein. Seine abrasierte Glatze schimmert wie seine Brillengläser. Für den jugendlichen Charme stecken seine Füße in Chucks. Ein Professor oder einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter, tippe ich.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erklingt es zum zweiten Mal aus dem Mund des hageren Mannes.

Wohl aufgrund meines Alters, aber vielleicht auch als Reaktion auf meinen überraschten Gesichtsausdruck, fügt er hinzu: »Sie sind keine Studentin, oder?«

Ich schüttle den Kopf und suche fieberhaft nach einer guten Erklärung für meine Anwesenheit. Als mir keine plausible einfallen will, entscheide ich mich für die ehrlichste Variante: »Nein, nein. Ich komme schon zurecht. Mein Bruder war hier.«

»Ihr Bruder? Wann denn?«, fragt mein Gegenüber interessierter, als es mir lieb ist.

Ich mache eine abwinkende Handbewegung, die Belanglosigkeit vortäuschen soll. »Das ist schon an die zehn Jahre her.« Als sich seine forschenden Augen nicht von mir lösen, ergänze ich: »Er ist nur für ein, zwei Semester hier gewesen. Er hatte sich für Bildende Kunst eingeschrieben.«

»Vielleicht kenne ich ihn. Wie heißt er denn? Das muss ungefähr zu der Zeit gewesen sein, als ich meine Arbeit an der Hochschule aufgenommen habe. Übrigens, Klapproth ist mein Name. Sebastian Klapproth.«

»Wagenfeld, Marie Wagenfeld«, gebe ich zögerlich zurück und grüble kurz. Vielleicht kann mir der Mann tatsächlich weiterhelfen. »Mein Bruder hieß Erik Wagenfeld«, schiebe ich hinterher und bereue es im nächsten Moment.

»Arbeitet er heute noch als Künstler?«

Es war nicht mein Ziel, Eriks Leben nach der Hochschule auszubreiten. Mich überkommt der dringende Wunsch, dieses Gespräch sofort zu beenden, und daher entscheide ich mich für eine Antwort, bei der die Mehrheit der Menschen allein aus Pietätsgründen auf Distanz geht. »Mein Bruder ist gestorben.«

Der hochgewachsene Mann nickt verstehend, jedoch nicht mitleidig. Ganz entgegen meiner Erwartung lässt er sich nicht beeindrucken und fragt: »Suchen Sie noch nach Exponaten von ihm? Werke, die er für die UdK erstellt hat?«

Ich löse mich jetzt aus meiner Nische und stelle mich ihm gegenüber, bleibe jedoch an die Fensterbank gelehnt. Eine Art Bodenhaftung. »Meinen Sie, da existiert noch etwas? Das liegt ja lang zurück, damals hieß die Hochschule noch HdK. Und er war nur ein paar Monate hier.«

Klapproths wachsame Augen weichen kurz aus. Es arbeitet hinter seiner Stirn. Dann kommt ihm ein Gedanke: »Vielleicht seine Mappe. Jeder Student bewirbt sich mit einer Sammlung von Arbeitsproben. Das ist die Basis für die Aufnahmeprüfung. Da es sich dabei um ein offizielles Prüfungsdokument handelt, werden die Mappen aufbewahrt. Vielleicht haben Sie Glück.«

Die hageren Wangen meines Gegenübers schieben sich zu einem Lächeln nach oben, so weit, dass selbst die Brille ein Stück die Nase hinaufrutscht.

Während mir die Information durch den Kopf schwirrt und ich noch nicht weiß, ob ich mich darüber freuen oder mich fürchten soll, winkt er mich pragmatisch heran. »Kommen Sie, ich begleite Sie zum Prüfungsamt. Wir werden sehen, ob sich etwas finden lässt.«

Er macht auf dem Absatz kehrt und sucht sich seinen Weg durch das Gewimmel der Studenten. Ohne Kommentar folge ich ihm quer durch das Atelier und hinab in die Eingangshalle, in der der Aufbau der Videoinstallation ihren Lauf nimmt. Mit langen Schritten nimmt der Hochschullehrer Kurs auf den rückwärtigen Verwaltungstrakt. Dort angekommen biegt er kurzerhand in einen weiteren Flur ab und wir betreten die Räume des Prüfungsamts. Ich schiebe mich vor einen abgegriffen Holztresen und versuche Blickkontakt zu dem Personal aufzunehmen.

Nach einer ganzen Weile nähert sich schleppend eine ältere Dame mit krausem Haar und krächzt: »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Ihre stumpfe Stimme und ihre ablehnende Gestik signalisieren mehr als deutlich, dass sie genau das nicht im Sinn hat und ihre Hilfe auf ein Minimum beschränken wird.

Ich will mein Anliegen vorbringen, als sich mein neu gewonnener Hochschulkontakt regt. »Wir suchen die Bewerbungsmappe von Erik Wagenfeld. Sie müsste im Archiv liegen.«

Bei dem Wort »Archiv« durchzuckt es die kraushaarige Frau, als ob es sich um einen weit entfernten, unzugänglichen Ort handle. Aber nach einer kurzen missmutigen Grimasse erklärt sie sich bereit, die Mappe zu suchen, sie sogar in das Zimmer von Professor Klapproth zu bringen. Sie nimmt einen Schlüssel vom Brett und verschwindet durch die Tür.

»Danke«, raune ich dem Professor zu. Seine Position in der Hierarchie der Hochschulorganisation war für die Bereitschaft der Aktensuche sicher hilfreich.

»Das kann jetzt einen Moment dauern. Kommen Sie doch mit in mein Büro. Dort kann ich Ihnen zumindest einen Kaffee anbieten.«

Wieder folge ich dem Professor, ohne dass ich eine mündliche Zustimmung gegeben habe.

Klapproths Zimmer ist im Vergleich zu den riesigen Atelierräumen winzig. Die vollgestopften Regale, die in das Büro hineinwachsen, verstärken den Eindruck noch. Da auch der Besucherstuhl als Ablagefläche missbraucht wird, muss Klapproth erst ein paar Bildbände beiseiteräumen, bevor sich eine Sitzfläche ergibt.

»Kaffee?«, fragt er dann.

»Haben Sie Milch?«

»Leider nein. Nur eine Espressomaschine und eine bunte Vielfalt an Kaffeekapseln.«

»Hätten Sie denn Zucker?«

Professor Klapproth nickt.

»Dann gerne.«

Der Dozent kehrt mir den Rücken zu und macht sich an der Maschine zu schaffen. Es klickt, dann plätschert ein dünner Strahl und Kaffeeduft breitet sich in dem kleinen Zimmer aus.

Statt hinter seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, bleibt der Professor stehen und lehnt sich an eines der Bücherregale. Fast aus der Vogelperspektive blickt er auf mich herab, was bei mir automatisch ein Unwohlsein auslöst. Doch mit meiner Tasse in der Hand bin ich auf den Stuhl verbannt und werde meine Position vorerst aushalten müssen.

»An welchem Lehrstuhl hat Ihr Bruder studiert?«, erkundigt sich Professor Klapproth interessiert.

Verdammt, denke ich. Ich werde ihm diese Frage nicht beantworten können. Ich weiß so gut wie nichts darüber, was mein Bruder hier gemacht hat. Zu der Zeit hatten wir keinen Kontakt und von dem Studium hatte ich keine Ahnung. Ich kenne nur das Foto. So kann ich nur ahnungslos mit den Schultern zucken und darauf hoffen, dass dem Professor meine Unwissenheit nicht seltsam vorkommt.

Zum Glück klopft es in dem Moment und die Frau aus der Verwaltung steckt ihre Nase durch die Tür. In der nächsten Sekunde schiebt sie eine DIN-A1-Mappe hinterher, die durch eine braune Paketschnur zusammengehalten wird. Dann fällt die Tür ins Schloss und die kraushaarige Dame ist verschwunden. Hochkant lehnt die Mappe meines Bruders nun an der Wand. Ich spüre ein flaues Gefühl im Magen und meine Hände werden feucht.

»Dann schauen wir mal«, äußert sich Professor Klapproth beherzt. Im nächsten Moment wird ihm seine Forschheit bewusst und er fragt vorsichtig: »Oder ist es Ihnen nicht recht, wenn ich dabei bin?«

»Nein, nein. Bleiben Sie nur. Ich schaue mir die Arbeitsproben gerne mit Ihnen gemeinsam an.«

Mit Schwung hievt Herr Klapproth die überdimensionale Kladde auf seinen Schreibtisch und stößt dabei einen Becher mit Stiften um. Das scheint ihn nicht zu stören. Er lässt die Schreibutensilien dort, wo sie hingerollt sind, und nestelt an der Schleife. Ich stelle mich neben ihn. Als der Deckel aufklappt und die erste Zeichnung erscheint, wird mir schummerig. Die Knie werden weich. Mit Nachdruck richte ich mich auf und strecke den Rücken gerade.

Die erste Zeichnung zeigt einen Akt. Die Bleistiftskizze einer jungen Frau, die auf dem Boden kniet. Ihr Blick ist dem Betrachter über der Schulter zugewandt, als hätte sie ihn eben erst hinter sich entdeckt. Ihr Rücken ist sanft geschwungen, die Hüften rund. Ihre Figur würde man als barock bezeichnen. Üppige Formen standen in dieser Kunstepoche hoch im Kurs. Zeitlich wesentlich später besann sich auch Auguste Rodin auf dieses Schönheitsideal. Die Skizze hätte eines seiner Modelle darstellen können.

Sachte blättert der Professor weiter, betrachtet ausgiebig die folgenden Skizzen. Studien nackter Frauenkörper, auch Details einzelner Körperteile. Eine Hand, ein Fuß, eine Schulter. Waren das die Vorläufer?, frage ich mich bitter. Skizzen einzelner Fragmente, Ausschnitte des menschlichen Körpers. Zeichnungen, die Erik später in die Tat umsetzte. Er entriss seinen Opfern die Gliedmaßen, stutzte sie, bis nicht viel mehr als ein Torso von ihnen übrig blieb. Ich balle die Hände zu Fäusten und die Fingernägel graben sich tief in meine Haut.

Klapproth ahnt nichts von meinem inneren Aufruhr und schlägt die nächste Seite um. Es folgen Tierdarstellungen, gezeichnet mit Kohle. Ein Wolf mit wütenden, angriffslustigen Augen, dann eine riesige Ameise.

Als das nächste Blatt sichtbar wird, stockt mir der Atem. Ein Selbstporträt des Künstlers. Erik hat sich mit wenigen Kohlestrichen so treffend charakterisiert, dass die schlichte Skizze ganz lebendig erscheint. Alle Details sind zurückgenommen und die aussagekräftigen Konturen umso stärker hervorgehoben.

Mit der Kuppe des Zeigefingers streiche ich über seine Wange. Die schwarze Linie, die sein Kinn anzeichnen sollte, verwischt dabei und auf der Haut spüre ich leichten Staub. Sorgsam zerreibe ich die feinen Kohlebrösel zwischen meinen Fingerspitzen, als wären sie ein letztes Lebenszeichen.

Professor Klapproth deckt die letzte Arbeitsprobe auf. Ein Porträt in Öl. Wieder ein junger Mann, doch diesmal ist es nicht Erik, dessen Gesicht sich halb unter einer Kapuze versteckt. Es ist das Antlitz seines Kompagnons, es sind die Züge von Titus Scherf.

Ich wage nicht, auch dieses Bild, auch ihn zu berühren. Noch kenne ich seine Rolle nicht, weiß nichts über sein Verhältnis zu meinem Bruder und auch nicht, ob er in die Mordfälle verstrickt ist. Hat er gemeinsam mit meinem Bruder all die Menschen so verstümmelt? Erik hat Scherfs Gesichtszüge weich dargestellt, fast schmeichelhaft. Nicht so kantig und forsch, wie sie auf dem Foto von Patisse erschienen. Titus wirkt so jugendlich, rein und unschuldig. Erik, frage ich mich, hast du ihn so gesehen, so lieblich und unbedarft?

Neben mir regt sich der Professor. »Ich würde Ihnen die Mappe gerne mitgeben, doch das geht leider nicht«, wirft er bedächtig ein, als er die Mappe zugeklappt hat und nach den Enden des Paketbands greift. »Dazu müssten Sie erst einen offiziellen Antrag für die Nachlassverwaltung stellen.«

Noch ganz versunken in meine Gedanken hebe ich die Hände. »Ist schon gut. Vielen Dank. Sie haben mir einen großen Gefallen getan.«

Ich trete einen Schritt zurück. Näher in Richtung der Tür. Ich will raus, raus aus diesem engen Zimmer, das mir die Luft abschnürt. Ich muss all meine Kräfte aufbieten, meine Beine zwingen, nicht augenblicklich fortzulaufen.

Dem Professor ist der sich anzeichnende Aufbruch nicht entgangen. Als würde er dem etwas entgegensetzen wollen, schaut er mich auffordernd an. Kurz öffnet sich sein Mund, doch es ertönt kein Wort. Stattdessen fischt er etwas von seinem Schreibtisch. Mit der linken Hand streckt er mir eine Visitenkarte entgegen. »Hier. Melden Sie sich, wenn Sie noch einmal einen Blick in die Mappe werfen möchten. Oder auch nur Lust auf einen Kaffee haben.«

Als ich nach dem kleinen Stück Karton greife, will er kameradschaftlich mit der anderen Hand meine Schulter berühren. Doch dazu kommt es nicht mehr. Ich bin bereits im Türrahmen verschwunden.

5

Am Tag darauf in Frankfurt lässt mich die Assistentin des Aufsichtsratsvorsitzenden der Sega Invest im Vorzimmer warten. Doch die Zeit, bis sich die Durchgangstür zu Stallenbergs Reich öffnet, reicht nicht einmal dazu, eine der ausliegenden Immobilienzeitschriften durchzublättern. Seiner Position entsprechend, thront der Professor hinter einem massigen Eichenpult, gibt mir jedoch mit Handzeichen zu verstehen, dass er sich mit mir auf der beigefarbenen Polstergruppe niederlassen will. Während er sich dem Ledersessel mit kantigem Schritt nähert, wehen seine weißen schulterlangen Haarsträhnen am Kinn entlang.

Es ist unüblich, dass sich ein Aufsichtsratsvorsitzender mit einer IT-Beraterin trifft, um die letzten Züge eines Reporting-Konzepts zu besprechen. Diese Themenstellung wäre viel zu detailliert für seine Position. Aber Stallenberg und ich haben keine übliche Verbindung. Auch er jagte einst dem Serienmörder hinterher, der sich letztendlich als mein Bruder herausstellte. Erik und seine Jünger töteten Stallenbergs Sohn. Und zwei dieser Jünger entpuppten sich sogar als Kollegen Stallenbergs, als Mitarbeiter der Sega Invest. Diese Vergangenheit hat uns zusammengeschweißt und den oft so dogmatisch und cholerisch wirkenden Stallenberg weich werden lassen. Und so wundert es mich nicht, dass er auch heute meine ausgestreckte Hand mit beiden Händen umfasst und sie einen Moment länger als nötig hält.

Gegenübersitzend erläutere ich ihm den aktuellen Stand des IT-Projekts, dass wir in den letzten Zügen der Programmierung sind und kurz davorstehen, das System live zu schalten. Der Professor nickt höflich, auch wenn ich an seinen Augen erkenne, dass er meinen Ausführungen nicht wirklich folgt. Erst als ich meinen Bericht schließe und er eine Anschlussfrage stellt, scheint er hellwach. Ich lag mit meiner Vermutung richtig. Das Reporting-Konzept steht nicht im Zentrum seines Interesses, denn er wechselt das Thema.

»Kommissar Kellermann hat mich angerufen und mich gefragt, ob ich einen gewissen Titus Scherf kenne.« Seine wässrigen blauen Augen sind auf mich gerichtet. Er blinzelt nicht einmal, als er ergänzt: »Auch ein Foto hat er mir zukommen lassen, von einer Studentengruppe. Dieses Bild haben Sie von dem Franzosen erhalten, korrekt?«

»Ja, das Foto ist von Patisse. Er war sich immer sicher, dass es noch weitere Komplizen oder Hintermänner geben könnte. Die Rache an seiner Lebensgefährtin ist sein einziger Lebensinhalt.«

»Bedroht er Sie noch?«

Stallenberg schneidet ein Thema an, dass ich bewusst zu verdrängen versuche. Patisse hat seine Meinung bei unserem ersten Zusammentreffen sehr klar zum Ausdruck gebracht. Entweder ich ermittle und helfe ihm, die Hintermänner zu entlarven, oder eine Person wird leiden. Jemand der mir nahesteht oder im Zweifelsfall ich selbst.

Auch jetzt versuche ich, die Bedrohung nicht an mich herankommen zu lassen, und antworte ausweichend: »Seit der Bildübergabe hatte ich keinen Kontakt mehr. Aber der Name Titus Scherf, sagt Ihnen das etwas? Haben Sie ihn schon einmal gehört?«

Stallenberg schüttelt den Kopf, sodass eine weiße Strähne an seiner faltigen Wange hängen bleibt. »Leider nein.« Ohne Übergang setzt der Manager umgehend zu einer Gegenfrage an: »Denken Sie, der Junge ist einer von Eriks Komplizen?«

Stallenbergs Gesprächstaktik gleicht einem Verhör und stößt bei mir unmittelbar auf Ablehnung. Ich beiße mir auf die Lippen. Ein Reflex, um Zeit zu gewinnen und um meine eigene Gefühlsaufwallung zu hinterfragen. Lange hatte ich Stallenberg verdächtigt, selbst Teil des Kunstmord-Komplotts zu sein. Seine umfassenden Kenntnisse in der Kunst, seine Sammlerleidenschaft und sein tyrannisches Auftreten in Wirtschaftskreisen nährten diesen Verdacht. Doch ich wurde eines Besseren belehrt. Ich hatte den Professor unschuldig verdächtigt. Allein durch das wieder aufflammende schlechte Gewissen antworte ich rasch: »Ja, das vermute ich. Aber von ihm fehlt jede Spur. Und jetzt ist ein neuer Mordfall aufgetreten. Zwei junge Frauen wurden nahe der Spree in Berlin getötet. Davon hat Kellermann Ihnen sicher schon berichtet.«

Der Aufsichtsratsvorsitzende nickt.

»Titus Scherf hatte sich damals, noch vor der ersten Mordserie, zusammen mit meinem Bruder an der Universität der Künste in Berlin eingeschrieben«, fahre ich fort. »Mit gefälschten Unterlagen. Damit verliert sich seine Spur. Ein Titus Scherf existiert nicht.«

»Titus. Titus Scherf. Was für eine Namensgebung! Wieso hat er sich dieses Pseudonym gegeben?«, sinniert Stallenberg laut. »Titus ist ein bedeutungsschwangerer Name. Ein römischer Kaiser. Er folgte seinem Vater auf den Thron.« Der Sega-Chef lässt sich tiefer in die Polster sinken und wirkt entrückt.

Ich kann seinen geschichtlichen Kenntnissen nichts entgegensetzen und frage daher: »Was hat es mit diesem römischen Kaiser auf sich?«

»Titus war ein angesehener Feldherr«, gibt Stallenberg zur Antwort und nimmt dabei den Blickkontakt wieder auf. »Er wurde für seine Kriegsführung gerühmt. Für die Beendigung des Jüdischen Kriegs und seinen Sieg als militärischer Oberbefehlshabe wurde er mit dem Titusbogen in Rom geehrt.«

»Der Titusbogen?«, frage ich hellhörig. »Glauben Sie, das könnte ein Pendant zur Porte d’Enfer sein? Zur Höllenpforte, die mein Bruder durch seine Opfer nachbilden wollte?«

Ratlos zuckt Stallenberg mit den Schultern. »Der Zusammenhang erschließt sich mir nicht. Bei den Bildern des Triumphbogens und den eingearbeiteten Reliefs handelt es sich um Szenen der Belagerung und Zerstörung Jerusalems. Selbstverständlich geht es auch da um Mord und Totschlag. Aber Titus war als ehrenwerter Feldherr bekannt. Er war um ein gutes Verhältnis zum Senat bemüht. Er schwor, was damals eher unüblich war, niemals einen Senator zu töten. Auch zum Volk suchte er die Nähe und meisterte einige Krisen. Als der Vesuv ausbrach und Rom von einer Epidemie heimgesucht wurde, leitete Titus umgehend Hilfsmaßnahmen ein, ohne fremde Spenden anzunehmen. Das schindete in der Bevölkerung Eindruck. Für mich hört sich das alles nicht nach einer guten Vorlage für einen psychopathischen Serienmörder an.«

»Nun, Sie vergessen das Kolosseum.« Während Stallenbergs Abhandlung sind mir wieder ein paar Fetzen meines Geschichtswissens in den Sinn gekommen. »War es nicht Titus, der das Amphitheater erbauen ließ und dort Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen abhielt?«

»Ja, sicher«, gibt Stallenberg zu. »Da ist etwas dran. Das Kolosseum ist Austragungsort höchst grausamer und brutaler Veranstaltungen gewesen, die nur zur Unterhaltung und Belustigung des Kaiserhauses und der freien Bewohner Roms dienten. Titus selbst hat es mit dem Beginn der hunderttägigen Spiele eingeweiht. Aber der Bau des Amphitheaters wurde schon von seinem Vater begonnen. Unter Titus’ Herrschaft wurde es nur vollendet.«

»Mmh«, brumme ich missmutig.

Der Professor räuspert sich und erklärt ausschweifender: »Wissen Sie, in der Geschichtsschreibung wird Titus oft als der vollkommene Herrscher beschrieben, als beliebt, harmonisch und milde. Das sind keine Ideale, nach denen ein geistesgestörter Serienmörder strebt.«

Eine Weile verharren wir jeder in seinen Gedanken. Ich zeichne mit dem Finger die Nähte des Ledersofas nach und spüre den kühlen, aber weichen Stoff auf meiner Haut. Dann wirft Stallenberg einen Gedanken ein: »Wenn Titus Scherf das gleiche denaturierte Kunstinteresse verfolgt wie Ihr Bruder, könnte auch ein Künstler als Namensgeber hergehalten haben. Er hat sich eventuell den Namen eines bekannten Meister gegeben.«

Nun muss ich den Aufsichtsratsvorsitzenden enttäuschen. Ich habe sämtliche Künstler, die ich mit Namen Titus oder Scherf finden konnte, recherchiert. Selbst Namen mit einer leicht abgewandelten Schreibweise habe ich unter die Lupe genommen. Bei keinem von ihnen habe ich einen Hinweis entdeckt, der auf eine Vorbildfunktion für einen Psychopathen schließen lässt. Als hätte ich ihre Namen auswendig gelernt, liste ich die Maler und Bildhauer auf. Als Experte sind Stallenberg die aufgeführten Künstler ein Begriff. Dass auch er keine triftige Analogie herstellen kann, ist an seinem müden Gesichtsausdruck zu erkennen.

Plötzlich hellt sich seine Miene auf. »Vielleicht ist der Name kein direkter Verweis auf einen Künstler, sondern auf seinen Sohn?«

Ich weiß nicht, worauf der Professor hinauswill, und kann seine Begeisterung nicht teilen. Vielleicht, denke ich ernüchtert, hat Titus Scherf auch einfach nur der Name gefallen, der Klang der Silben und ansonsten hat es gar nichts zu bedeuten. Matt frage ich: »An welchen Sohn denken Sie denn?«

»An einen der bekanntesten der Kunstgeschichte. Den Sohn Rembrandts. Titus van Rijn hieß er und stand dem großen Meister mehrfach als Modell.«

»Es gibt Bilder von Rembrandts Sohn?«

»Ja, ja!«, betont Stallenberg, stützt die Hand auf dem Knie ab und streckt sich. »Hier im Städel finden Sie sicher eins dieser Gemälde.«

Das Städel liegt auf meinem Heimweg in Richtung Sachsenhausen und so beende ich meinen Arbeitstag als Beraterin bei der Sega Invest rechtzeitig, um die Öffnungszeiten nicht zu verpassen. Am Eingang löse ich ein Ticket, auf dem betont wird, dass es sich bei der Sammlung um Deutschlands älteste und renommierteste Museumsstiftung handelt. Etwas, was mir mein Vater in meinen Kindertagen immer wieder verdeutlicht hat.

Ich begebe mich direkt zur Treppe. Die Alten Meister befinden sich im Obergeschoss. Ich durchquere die ersten drei Ausstellungsräume, ohne den Gemälden Beachtung zu schenken. Erst im Rembrandt-Saal verlangsame ich meine Schritte. Gigantische Leinwände kombiniert mit kleinformatigen Skizzen bestücken den Raum. In der Mitte steht eine mit rotem Samt bespannte Bank, die den Besucher zum Verweilen einlädt. Doch die dazu notwendige Ruhe fehlt mir heute und so wandere ich an den Gemälden entlang und inspiziere die danebenstehenden