Der Zorn, der dich trifft - Kristin Lukas - E-Book

Der Zorn, der dich trifft E-Book

Kristin Lukas

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Beschreibung

Vor einem Jahr wurde die IT-Beraterin Marie Wagenfeld fast von einer okkulten Gruppe ermordet. Da tritt Kommissar Kellermann erneut an sie heran. In Hamburg wurde eine brutal zugerichtete Leiche gefunden, deren Inszenierung unschöne Erinnerungen weckt und in deren Unterarm der Schriftzug Wagenfeld eingeritzt wurde. Kurz darauf gibt es einen weiteren Toten. Sind Trittbrettfahrer am Werk oder ist ein Mitglied des damaligen Zirkels noch auf freiem Fuß? »Kristin Lukas entwickelt sich zu einer Spezialistin für Krimiabgründe. Denn sie konfrontiert ihre Ermittlerin mit den dunkelsten Seiten der menschlichen Seele ... Höllisch spannend und überraschend bis zum Schluss.« Monika Willer, Westfalenpost »Ein höllisch spannender Thriller.« Silke Disselkötter, Preis-Rätselspaß

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Seitenzahl: 611

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Die Autorin

Kristin Lukas, geboren 1976 in Hagen, studierte Architektur in Berlin, Paris und Zürich, bevor sie an der Universität St. Gallen ihre Dissertation schrieb. Parallel zu ihrer Beratungstätigkeit in der freien Wirtschaft arbeitet sie als Professorin für Immobilienmanagement und Projektentwicklung.

Der Zorn, der dich trifft ist der zweite Band einer Trilogie, in der die IT-Beraterin Marie Wagenfeld in den Fokus eines Serienkillers gerät. Mit Das Letzte, was du siehst startet die Reihe, mit Das Böse, das du bist schließt sie ab.

Für R.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

1

Ich wache auf und spüre unmittelbar meinen pochenden Zeigefinger. Mein Mittelfinger schmiegt sich kurz an seinen schmerzenden Nachbarn und bestätigt, dass das provisorisch gewickelte Taschentuch noch als Pflaster dient. Also keine Blutflecken auf dem Bettlaken.

Mit geschlossenen Lidern lasse ich den gestrigen Abend Revue passieren. Das Blitzen in Karlas strahlend grünen Augen, als sie mir mit Stolz die Auszeichnung für einen ihrer Artikel zeigte. Der spontane, aber einstimmige Entschluss, diese Ehrung sofort zu feiern. Unsere Flucht vor den Touristenströmen in Kreuzberg, den Aperol-Spritz-Trinkern und dem Englisch sprechenden Klientel mit deutschem Personalausweis. Gestrandet in Mr Browdys Whiskey Club, einem winzigen, vernachlässigten Kleinod zwischen den überquellenden Szenebars der Nachbarschaft. Eine Insel der Nichtattraktiven, der immerwährend Bärtigen und der Chucks-Träger, deren Turnschuhe noch aus dem Originalzeitalter stammen. Der Preis dafür: eine schmale, klebrige Theke und Fruchtfliegen, die über einer handbetriebenen Zitronensaftpresse schweben. Die Regale sind mit allem möglichen Krimskrams vollgestopft, die Boxenkabel mit Klebeband geflickt und in den Aschenbechern klebt eine feste Staubschicht. Trotz des maroden Charmes der Kneipe, oder gerade deswegen, lässt Karla sich nicht davon abbringen, einen zweiten Whiskey Sour zu bestellen. Und auch nicht davon, den Barkeeper in ein Gespräch zu verwickeln. Wie er denn hieße, erkundigt sie sich, über den Tresen gebeugt, der nur von uns beiden belegt und trotzdem schon voll besetzt ist.

Der Barkeeper ist langhaarig bei gleichzeitiger Halbglatze, sodass seine Frisur in starkem Kontrast zu der gängigen Berliner-Hipster-Montur steht. Er antwortet wortkarg: »Hartmut.«

Karla lacht. Zu laut. Ich befürchte, der Barkeeper könnte es persönlich nehmen. Doch nicht nur die Kneipe, auch er hat in seinem Leben bereits ganz anderes erlebt, und so akzeptiert er Karlas Reaktion mit der gleichen Gelassenheit, mit der er auch unsere Drinks mixt.

Als sie nachhakt, ob er denn auch so gerufen würde oder einen Spitznamen habe und ob es sich dabei um ›Hatti‹ oder vielleicht um ›Mutti‹ handle, rechne ich fest damit, dass ihr inzwischen gestiegener Alkoholpegel nicht mehr als Entschuldigung herhalten wird.

Doch auch diese Fragen locken Hartmut nicht aus seiner stoischen Reserve. »Nee«, antwortet er, »das klingt ja blöd. Aber ich habe mal eine Freundin gehabt, aus Frankreich. Die nannte mich immer Artmüt.«

Während das Ü gedehnt über seine Lippen kommt, heben sich seine Mundwinkel. Höher als es die Aussprache erfordert. Kleine Grübchen bilden sich. Es muss die Erinnerung an seine einstige Bekannte sein, die dieses zwar unscheinbare, aber doch deutlich vorhandene Lächeln hervorruft. Ich frage mich, wer sie gewesen ist und was aus ihr wurde. Doch nachzuhaken, wäre mir zu privat.

Das Rätsel um die Französin bleibt ungelöst, denn jetzt fragt Artmüt nach unseren Namen, mixt weitere Drinks und erklärt, dass es eine Runde Whiskey für alle gibt, sobald die Internationale in der Playlist ertönt. Der Abend plätschert dahin, das Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung erklingt und Schnapsgläser werden aus einer Staubschicht herausgelöst.

Unvermittelt erkundigt sich der Barkeeper bei Karla, ob er ihr vertrauen könne. Überrascht zieht sie die Schultern hoch, nickt jedoch zur Bestätigung.

Artmüt betrachtet sie kritisch und scheint zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen. Er bittet Karla, für ein paar Minuten die Bar zu übernehmen. Kurzerhand bindet sie ihre langen braunen Haare zum Pferdeschwanz und wir wechseln die Seiten.

Artmüt lässt sich Zeit und wir mischen Longdrinks und reichen Flaschenbier über den Tresen. Whiskey-Sour-Bestellungen und die daraus folgende Herstellung des Zitronensafts versuchen wir zu vermeiden.

Als auch nach einer halben Stunde nichts von Artmüt zu sehen ist, frage ich Karla, ob wir gerade eine herrenlose Bar geerbt hätten.

»Der kommt schon wieder«, meint sie optimistisch und mixt zwei Cuba Libre.

Doch auch ihre Zuversicht bringt Artmüt so schnell nicht hinter den Tresen zurück und so widme ich mich dem anwachsenden Berg schmutziger Gläser. Beherzt greife ich nach dem Spülschwamm und entferne die Zitronenfasern aus einem Longdrinkglas. Auch auf meinen mittlerweile gestiegenen Alkoholpegel ist zurückzuführen, dass ich auf das rot durchzogene Wasser starre, dann den Hautlappen an meinem Zeigefinger entdecke und erst zuletzt einen Schmerz verspüre. Ich schnappe mir ein Zellstoffküchentuch mit Blumenmuster und verabschiede mich vom Barbetrieb.

Draußen auf dem Bürgersteig lasse ich mich auf der knietiefen Fensterbank nieder, das Küchentuch fest um meinen Zeigefinger gepresst. Erst als das Blut hindurchsickert und mir flau im Magen wird, kommt Artmüt um die nächste Hausecke geschlichen.

»Willst du eine Kopfschmerztablette oder gleich dein Handy?«, höre ich Karlas Stimme.

Dann bebt die Matratze kurz und Karla wirft sich neben mich. Mit einer Hand wuschelt sie mir durch mein kurz geschnittenes Haar. »Marie, es hat schon dreimal geklingelt. An einem Sonntag um diese Uhrzeit ist jemand entweder penetrant genug, um nicht einfach aufzugeben, oder es ist wichtig.«

Trotz des Dröhnens in meinem Kopf gefällt mir keine der angebotenen Optionen und ich ziehe mir das Kopfkissen über das Gesicht.

So leicht gibt sich Karla jedoch nicht geschlagen. Mit verblüffender Energie springt sie vom Bett, tänzelt, nur mit Slip und Unterhemd bekleidet, Richtung Fenster und zieht die Vorhänge auf. Selbst unter meinem schützenden Kopfkissen bemerke ich die durchdringende Helligkeit. Ein strahlender Wintermorgen. Auch das noch.

Mit einem Ruck reißt Karla mein Kissen zur Seite und als sie sich vergewissert hat, dass ich zumindest blinzle, zeigt sie zu einem sprudelnden Wasserglas auf dem Nachttischschränkchen. »Das wird dir guttun! Und danach schauen wir uns deinen Finger an.«

Als ich mich gerade dazu aufgerafft habe, mit einer Hand nach meinem Smartphone zu langen, vibriert es erneut. Der Name auf dem Display lässt mich schlagartig hellwach werden. Wie gebannt starre ich auf die angezeigten Buchstaben, während das Gerät weiter in kurzen Abständen bebt.

Karla beobachtet das Schauspiel verblüfft von der Bettkante aus. »Alles okay, Marie?«

Ich blicke weder zu ihr auf noch beantworte ich die Frage. Mehrere Gedankenströme spulen sich parallel in meinem Kopf ab. Das Handy vibriert erneut. Instinktiv zucke ich zurück, halte es weiter weg, als könnte ich mit den gewonnenen Zentimetern dem Anruf seine Brisanz nehmen.

Zögerlich und nach einer Zeitspanne, die jeden anderen Anrufer bereits die Hoffnung hätte verlieren lassen, lege ich meine Fingerkuppe sacht auf den grünen Kreis. Das Gerät am Ohr, nehme ich mit einem knappen »Ja« den Anruf an.

»Wo sind Sie?«, ertönt mit ebenso knappem Wortlaut eine mir wohlvertraute Stimme.

»Sind Sie wahnsinnig?«, poltere ich los. »Wir haben uns seit über einem Jahr nicht gesehen, zwölf Monate gab es kein Wort von Ihnen. Es ist Sonntagmorgen und Sie fragen mich, wo ich bin?«

»Jetzt regen Sie sich nicht gleich auf«, beschwichtigt er. Sein Tonfall hat sich im vergangenen Jahr nicht verändert. Und genauso unverblümt wie zuvor fragt er ohne Erklärung: »Wann kann ich Sie treffen?«

»Wieso wollen Sie mich treffen?«, halte ich entgegen. Auch das Prinzip der Gegenfrage ist nicht neu.

Es entsteht eine Pause. Eine Pause, die lang genug ist, um in Karlas fragendes Gesicht schauen zu können, die sich mit einem Stirnrunzeln nach dem Anrufer erkundigt, worauf ich nur genervt die Augen verdrehe.

Als ich mich schon frage, ob die Leitung unterbrochen wurde, höre ich wieder seine Stimme, jedoch zurückhaltender als zuvor: »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Seine Erklärung ist nicht gerade umfangreich. Doch ihm scheint sie ausreichend. Er verstummt und erneut herrscht Stille zwischen uns. Als ich keine Anstalten mache, diese zu durchbrechen, ergänzt er: »Es handelt sich um einen neuen Fall. Ich glaube, es gibt eine Verbindung zu Ihrem Bruder.«

Der Kommentar folgt unmittelbar. Schneidend und endgültig. »Mein Bruder ist tot.«

Doch mein entschlossener Tonfall überzeugt ihn nicht. Statt aufzugeben, höre ich jetzt eine Bitte: »Kommen Sie ins Präsidium. Ich bin hier. Auch heute.« Danach klickt es und die Leitung wird stumm.

Abermals starre ich auf das Display, bis der Bildschirmschoner anspringt und sich die Glasfläche schwarz färbt.

»Wer war das?«, höre ich Karla fragen.

»Kellermann.«

»Der Kommissar aus Frankfurt?«

»Der Kommissar aus Frankfurt«, bestätige ich und lasse meinen Arm auf die Bettdecke sinken. Das Smartphone gleitet mir aus der Hand.

»Und er will dich treffen?«, hakt Karla nach.

Als ich nicht auf die Frage eingehe, schlussfolgert sie: »Du willst aber nicht.«

Ohne sie anzuschauen, weiß ich, dass ihr Blick eindringlich geworden ist.

»Es geht um irgendeinen Fall, der angeblich etwas mit Erik zu tun hat«, antworte ich gedehnt, fast belanglos. Das gespielte Desinteresse soll meine innere Anspannung verbergen.

Karla lässt nicht locker: »Warum willst du ihn nicht sehen?«

Bilder schießen mir durch den Kopf. Journalisten, die mir vor meiner Wohnung auflauern, Fotos meines Bruders in der Tagespresse und immer wieder die Schlagzeile: Serientäter gestoppt. Polizei erschießt bestialischen Kunstmörder. Ohne eine merkliche Bewegung schüttle ich innerlich den Kopf. Für keinen Preis der Welt würde ich dieses Kapitel meines Lebens freiwillig wieder öffnen. Die Anfeindungen der Presse und die Drohungen aus dem Internet ertrage ich nicht noch einmal. Entschieden bestimme ich: »Erik ist tot. Das Thema ist vorbei. Es gibt keinen Grund, mich mit dem Kommissar zu treffen.«

»Ist das nicht ein bisschen egoistisch?«, wirft Karla ein und legt den Kopf schief. Durch die Bewegung rutscht ihr Unterhemdträger herunter und legt das linke Schlüsselbein frei.

Innerlich brause ich auf. Was mischt sie sich überhaupt ein? Es war schließlich nicht ihr Bruder, der so viel Leid über andere brachte. Niemand aus ihrer Familie hat ein halbes Dutzend Menschen auf dem Gewissen, hat die Körper Unschuldiger in krankhaftem Wahn bestialisch verstümmelt. Nicht ihre Familie wurde an den Pranger gestellt. Wir haben unter Generalverdacht gestanden. Meine Mutter und ich. Wie hatte ein solches Monster unserer Familie entsprungen sein können? Der ständige Argwohn und die Vorwürfe der Journalisten haben mir schwer zugesetzt. Von welchen Taten hatte ich gewusst? War ich eine Mitwisserin, vielleicht sogar eine Mittäterin? Wildfremde Menschen schrieben mir anonyme Drohbriefe. Wüste Beschimpfungen prasselten auf mich ein. Ein Graffiti an meiner Hauswand wünschte mir den Tod.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Öffentlichkeit hat das Interesse an meiner Familie verloren. Die Journalisten sind weitergezogen. Auch weil ich mich nach der Sprühaktion nach Berlin absetzte und mich so wenig wie möglich in Frankfurt blicken ließ. Doch trotz der eingekehrten Ruhe sitzt der Schmerz tief.

Jetzt ist die Wunde wieder aufgerissen. Doch mir ist klar, dass Karla recht hat, dass in ihrer Aussage ein Funken Wahrheit steckt. Daher wechsle ich meine Taktik: »Ich habe keine Zeit.«

Karla prustet laut. »Du hast keine Zeit? Das ist die schlechteste Ausrede, die ich je gehört habe. Die Anzahl deiner Beratungsprojekte hast du so weit minimiert, dass man deinen Job auch als Hobby bezeichnen könnte. Deine Kollegen haben dich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Christian ist der Einzige, mit dem du wenigstens noch ab und an per Mail kommunizierst. Früher bist du von Kunde zu Kunde gereist, hast fast jede Nacht in einer anderen Stadt verbracht. Jetzt verkriechst du dich seit Monaten in Berlin und lungerst in irgendwelchen Galerien herum, damit dir die Decke nicht völlig auf den Kopf fällt.«

»Ich lungere nicht herum«, gebe ich trotzig zurück. »Ich setzte mich mit den Künstlern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts auseinander.«

»Ui, ui, ui«, ruft Karla aus und wedelt dabei mit ihren Händen wie ein Gespenst beim Kinderkarneval durch die Luft. »Fahr zu Kellermann. Auch deine Künstler machen die Vergangenheit nicht ungeschehen. Es wird Zeit, dass du ins einundzwanzigste Jahrhundert zurückkehrst.«

2

Noch am selben Abend nahm ich den Zug nach Frankfurt. Immer noch unschlüssig, ob ich die richtige Wahl getroffen habe, steige ich jetzt die Treppenstufen zu Kellermanns Dienststelle hinauf. Der Geruch des Putzmittels versetzt mich sofort zurück in eine Zeit, die ich hinter mir lassen wollte. Die Erinnerung gräbt sich in jede meiner Poren. Die fieberhafte Suche nach dem Serienmörder. Die Tage und Nächte, die ich mit bloßgelegten Nerven im Präsidium verbrachte. Und letztendlich die Gewissheit, dass es mein eigener Bruder war, der mit seinen beiden Komplizen an einem makabren Kunstwerk feilte, der Nachbildung der Porte de l’Enfer, Rodins Höllentor. Doch statt aus Bronze sollte es ein Monument aus menschlichem Fleisch und Blut werden. Für mich hatte Erik eine ganz besondere Rolle vorgesehen. Ich sollte das finale Puzzlestück werden. Doch bei dem Versuch, auch meinen Körper für sein Kunstwerk zu entstellen, starb er. Der Kommissar und seine Kollegen kamen mir rechtzeitig zu Hilfe.

Obschon der Polizist am Empfang mir verkündet hat, dass der Kommissar mich erwarten würde, ist sein Zimmer leer. Ich bleibe im Türrahmen stehen und betrachte das Büro. Kellermanns Schreibtisch, der sich in gewohnter Manier unter Papierbergen biegt. Sein alter Stuhl, dessen linke Lehne trostlos zur Seite herabhängt. Und eine Wand, an der zahlreiche Fotos und Aktenvermerke mit Klebestreifen befestigt wurden, auch wenn es nicht dieselben sind wie vor einem Jahr. Dass die Raufasertapete unter diesen Klebevorgängen leidet, ist ihr deutlich anzusehen. Der Putz schimmert an einigen Stellen hervor.

Es ist paradox. Trotz der Beklemmung, die die Erinnerungen auslösen, sehne ich mich auch nach dieser Zeit zurück, in der mein Bruder noch mein Bruder war. Unschuldig und vorbehaltslos geliebt.

Ich will gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als Kellermann förmlich in mich hineinstolpert. Statt sich für den rüden Empfang zu entschuldigen, fährt er mich verdutzt an: »Was machen Sie denn hier?«

»Das fragen Sie mich?«, kontere ich offensiv. Es war definitiv die falsche Entscheidung hierherzukommen, ich wünsche mich in das über fünfhundert Kilometer entfernte Berlin zurück.

»Ich meine nur, warum stehen Sie im Türrahmen?«, wiegelt Kellermann ab. Er fährt sich durch sein widerspenstiges Haar. Das Braun ist ausgeblichen, silbergraue Stellen nehmen überhand. Nachdem er sich sortiert und hinter seinem Schreibtisch verschanzt hat, meint er: »Jetzt setzen Sie sich doch erst mal.«

Ich ziehe den Besucherstuhl vor die Tischplatte. Als ich Platz nehme, ächzt er wie ein altes Waschweib. Der Kommissar und ich sitzen uns jetzt zwar gegenüber, doch das Ergebnis ist ernüchternd. Die überdimensionalen Papierstapel versperren den Blick. Mit einem tiefen Seufzer erhebt sich Kellermann und wuchtet zwei von ihnen, vorsichtig balancierend, hinunter auf den Linoleumboden. Mit kritischer Miene beobachte ich diese akrobatische Meisterleistung.

Nach getaner Arbeit lehnt sich der Kommissar zufrieden zurück, legt den Kopf schief und schaut mich erwartungsvoll aus seinen unterschiedlich farbigen Augen an. Die linke Iris ist hellblau, die rechte eher grau. An seinen Schläfen fächern sich kleine Fältchen auf, deren Anzahl in den letzten Monaten offensichtlich zugenommen hat. Auch sein blauer Seemannspullover zeigt Gebrauchsspuren, eines der Bündchen ist ausgefranst.

Das kann nicht sein Ernst sein, denke ich, als er schweigt. Er hat mich einbestellt und lässt mich jetzt auf dem Trockenen sitzen? Auch wenn es seine Paraderolle ist, kann er mich nicht mit bloßem Schweigen abspeisen.

Doch gerade als ich mich echauffieren will, räuspert sich Kellermann und fragt: »Hatten Sie noch einmal Kontakt zu Prof. Stallenberg?«

Stallenberg? Ich dachte, es ginge um meinen Bruder. Der kunstversierte Manager der Sega Invest war einer meiner früheren Auftraggeber. Bis zum Schluss hatte ich ihn als Hauptverdächtigen im Visier und wurde doch eines Besseren belehrt. Er selbst war meinem Bruder und seinen Jüngern auf der Spur gewesen, sein Sohn hatte zu Eriks Opfern gezählt.

»Nein«, antworte ich emotionslos.

Was ich nicht erwähne, ist, dass ich zwar keinen persönlichen Kontakt gesucht habe, Stallenbergs Aktivitäten aber in der Presse verfolge. Das ist nicht schwierig. Als Aufsichtsratsvorsitzender eines der größten Immobilienfondsanbieter Deutschlands und als Professor einer renommierten Hochschule gehören öffentliche Auftritte zu seinem Tagesgeschäft.

Wieso fragt Kellermann nach ihm? Ist Stallenberg etwas zugestoßen? Ist der Aufsichtsratsvorsitzende einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Aber würde der Kommissar mir diese Nachricht nach so einem Vorgeplänkel verkünden? Nein, denke ich, wenn Stallenberg etwas passiert sein sollte, wäre selbst Kellermann nicht so herzlos, es mir auf diese Weise zu vermitteln. Da der Kommissar jedoch auch keine Anstalten macht, mich über sein Anliegen aufzuklären, fordere ich ihn heraus: »Ich bin wohl kaum hier, weil Sie sich über die Kontaktpflege zu meinen ehemaligen Kunden unterhalten möchten, oder?«

Statt einer Antwort reicht Kellermann mir eine der restlichen Aktenmappen auf dem Schreibtisch herüber. Darin entdecke ich einen Stapel Fotos.

Mein Gehirn blockiert sofort, weigert sich, das Motiv als real anzuerkennen. Ich will nicht wahrhaben, dass es sich bei dem Mann, der mit gefesselten Beinen kopfüber vor einer Mauer hängt, um ein leibhaftiges Wesen handelt. Doch nach und nach gibt mein Verstand auf. Die Hämatome sind zu offensichtlich. Auch das Blut, das ihm über seine Wangenknochen in die Augenhöhlen lief und schließlich von seiner Stirn tropfte, scheint echt. Schwarze Blutkrusten durchziehen sein Haar, das durch den Kurzhaarschnitt wie eine silberne Haube wirkt. Ein Helm, der ihn nicht schützen konnte. Denn die Gefahr kam von anderer Seite. Aus seinem Mund ragt ein grüner Flaschenhals. Ein kleines 0,33er Bier. Die Kiefer des Mannes sind gespreizt, weit genug, um die Flasche in seinen Rachen zu schieben, mit dem Boden voran. Sie trägt keinen Kronkorken, ist nicht verschlossen. An der Flaschenöffnung klebt Blut. Auch an den Mundwinkeln – dort, wo sich ein kleiner Zwischenraum gebildet hat und die Haut nicht luftdicht das Glas umschließt – zeichnen sich dunkle Krusten ab. Dahinter schimmern abgebrochene Zähne hervor.

Ich lege die Mappe zurück auf den Schreibtisch, ohne mir die weiteren Bilder anzusehen, und verharre für einen Moment, konzentriere mich auf meinen nächsten Satz, denn ich möchte nicht, dass Kellermann das Zittern meiner Stimme hört. Daher beschränke ich mich auf wenige Worte: »Wer ist das?«

»Werner Grüter, CEO der Nord Assekuranz.«

»Kenne ich nicht«, kommentiere ich prompt und bin selbst über meine spröde Reaktion überrascht. Mein Gehirn arbeitet immer noch eigenmächtig, möchte mich schützen und Abstand zwischen mir und dem gerade Gesehenen schaffen.

Kellermann beobachtet mich kritisch. Seine Stirn legt sich in Falten. Dann werden seine Gesichtszüge weicher und er räuspert sich. »Wie heißt noch einmal der Künstler, der die Menschen immer verkehrt herum gemalt hat, sodass sie auf dem Kopf stehen?«

»Baselitz. Aber nur weil der Tote an den Füßen aufgehängt wurde, muss das noch nicht heißen, dass hier ein Kunstwerk nachgebildet werden sollte«, gebe ich zu bedenken. Ich schlucke und ergänze bestimmt: »Wenn Sie darauf hinauswollen, dass jemand die Taten meines Bruders imitieren will, dann sehe ich dafür keine Indizien. Mit Baselitz’ Werken hat dieser Mord nichts gemein.«

Der Kommissar lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. »Der Mord geschah unweit eines der letzten Tatorte. Sie erinnern sich sicher an den Toten in Hamburg.«

Bilder steigen in mir auf. Ein Mann, gefesselt an eine eiserne Leiter, die Arme nach oben gereckt. Der Körper war übersät von Kanülen, aus denen sein Lebenssaft rann. Auch er war ein Opfer meines Bruders und seiner Jünger geworden, ein Teil des grausamen Höllentores.

»Der Mord geschah im Hamburger Hafen?«

»Ja«, bestätigt Kellermann. »Diesmal aber auf der anderen Seite des Flusses, in der Nähe des südlichen Eingangs zum alten Elbtunnel.«

Während Kellermann den Tatort geografisch für mich einordnet, überfällt mich das dringende Bedürfnis, dem Präsidium zu entfliehen. Die Erinnerungen an die zurückliegenden Mordfälle überwältigen mich. Mir wird heiß und der Schweiß juckt unter meinen Achseln. Ich ziehe den Reißverschluss meines Kapuzenpullis auf, doch auch das verschafft wenig Linderung.

Meine nächsten Worte klingen hysterisch: »Ich sehe keinen Zusammenhang. Die Tatorte liegen in zwei verschiedenen Stadtteilen, getrennt durch die Elbe. Einen Kunstbezug kann ich auch nicht erkennen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.«

Während ich die letzten Worte ausspreche, stehe ich bereits und wende mich der Bürotür zu, fest entschlossen, das Präsidium zu verlassen. Doch Kellermann hält mich zurück.

»Warten Sie. Bitte, sehen Sie sich nur noch diese eine Aufnahme an.«

Der Zeigefinger des Kommissars ruht auf einem Foto, ausgedruckt auf einem DIN-A4-Blatt. Hier soll ein Detail im Großformat betrachtet werden. Doch von meiner Position aus kann ich nichts erkennen. Kellermanns Hand versperrt den Blick.

Der Kommissar macht keine Anstalten, auf mich zuzugehen. Ich hingegen weigere mich, meine Stellung im Türrahmen aufzugeben. So verstreichen die Sekunden. Schließlich tippt Kellermann erneut auf das Foto und meint in kollegialem Ton: »Kommen Sie, nur einen Blick.«

Ich atme einmal durch und trete wieder an den Schreibtisch heran. Kellermann kommt mir entgegen und reicht mir das Foto. Ich betrachte es im Stehen. Am oberen Rand der Aufnahme steht ein Verweis, eine Beschriftung: Werner Grüter. Dann fokussiere ich die Bildmitte. Der Ausschnitt eines Unterarms. Ich starre auf die behaarte Haut, die zerschunden ist, aufgerissen durch einen eingeritzten Schriftzug. Buchstabe für Buchstabe entziffere ich die blutige Nachricht. Der erste, ein W, ist stümperhaft eingeritzt, der erste Strich wurde doppelt ausgeführt, als müsste der Verfasser noch üben, als hätte er gleich mehrfach angesetzt. Die Schnitte sind uneben, für ein Messer nicht gerade und gleichmäßig genug. Vielleicht wurde ein Nagel verwendet.

Mein Gehirn klammert sich an diesem Gedanken fest, will erforschen, mit welchem Instrument die Markierung ausgeführt wurde, welches Material die Haut malträtiert hat. Denn mein Geist will immer noch nicht wahrhaben, was mein Blick erfasst. Einmal, zweimal wandern meine Augen über den Schriftzug. Erst nach und nach begreife ich den Inhalt. In Grüters Unterarm ist das Wort Wagenfeld eingeritzt.

3

Meine Gedanken überschlagen sich auch noch, nachdem Kellermann mir detailliert geschildert hat, wie nach Stand der aktuellen Polizeiermittlungen mein Familienname auf Grüters Arm gekommen ist. Der Geschäftsführer der Nord Assekuranz hat sich mit dem Scharnier des abgebrochenen Brillenbügels selbst den Unterarm aufgeritzt. Die Buchstaben seien zwar schwer lesbar, ließen aber dennoch den Begriff ›Wagenfeld‹ erkennen.

Ein Name, den es wer weiß wie oft auf dieser Welt gibt. Wer sagt, dass der meiner Familie gemeint ist?

Trotzig stelle ich die Ermittlungsergebnisse infrage: »Wie kann es sein, dass Grüter sich selbst so verunstaltet hat? Er war doch gefesselt.«

Kellermann nimmt meinen Vorstoß gelassen entgegen. »Seine Arme waren nicht parallel zum Körper, sondern über Kreuz vor der Brust gebunden. Zudem ließ die Fesselung ausreichend Spiel, dass Grüter seine Brille fassen und mit dem Bügel den Unterarm aufritzen konnte.«

»Hat man denn eine Fremdeinwirkung ausgeschlossen?« Noch während ich die Frage ausspreche, weiß ich, wie töricht sie ist. Selbstverständlich werden die Beamten das überprüft haben. Doch ich will mir Zeit verschaffen, die ich brauche, um mich in dieser Situation zurechtzufinden.

Kellermann scheint meine Taktik zu bemerken und lächelt milde. Nach einer kurzen Pause setzt er zu einer Erklärung an: »Wir haben die Fingerabdrücke auf der Brille und dem Bügel geprüft. Es waren keine fremden Spuren zu finden. Jedoch ist die Frage berechtigt. Die Abdrücke einer fremden Person könnten auch abgewischt oder durch Handschuhe verhindert worden sein. Zudem liegen nur Ritze in der Haut vor. Bei einer Schnittwunde könnten wir den Schnittwinkel prüfen und daraus die Position des Täters ableiten. Bei diesen flachen Hautabschürfungen können wir nur mutmaßen und im Moment weisen die Indizien darauf hin, dass Grüter sich diesen Schriftzug selbst beigebracht hat.«

Zu gern würde ich mir jetzt die Kapuze überstülpen und sie tief in die Stirn ziehen. Wieso sollte jemand auf meinen Bruder hinweisen? Er ist vor gut einem Jahr gestorben. Welchen Hinweis wollte Grüter mit dem Schriftzug geben? Ein neuer Gedanke lässt mich erschauern: Weiß die Presse bereits davon? Ich ertrage die Journalisten nicht noch einmal, die mich vor meiner Wohnung abfingen und Tag und Nacht wie Hyänen belagerten.

»Sind die Medien bereits informiert?« Mein erster Satz nach einem langen Schweigen.

Kellermann schüttelt den Kopf.

Dank der unmittelbar einsetzenden Erleichterung bin ich versucht, ihm zu danken. Doch ich lasse es. Dass die Presse noch nicht informiert wurde, ist nicht mir zuliebe geschehen, sondern wird taktische Gründe gehabt haben. Stattdessen wage ich einen letzten Versuch: »Und Sie sind sich sicher, dass mit dem Schriftzug meine Familie gemeint ist? Erik? Er ist schließlich tot!«

Wieder schüttelt Kellermann den Kopf. Aber diesmal ergänzt er: »Im Moment sammeln wir nur Indizien. Fest steht, dass sich das Wort auf Grüters Arm mit dem Nachnamen Ihrer Familie deckt und Ihr Bruder mehrere ähnlich gelagerte Straftaten begangen hat. Daher gehen wir dieser Spur nach.«

Mich erstaunt die einfühlsame Wortwahl, mit der er die Morde meines Bruders anspricht. Eine weitere Hilfestellung, um mir die Situation zu erleichtern? Ich bin überrascht von dieser Empathie. Hat der Kommissar sich im letzten Jahr so stark verändert?

»Und Sie werden mir dabei helfen!«, bestimmt der Kommissar und durchbricht meine Gedanken. Dann schaut er mich mit schief gelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen auffordernd an. Das ist Kellermann, wie ich ihn in Erinnerung habe. Kellermann, wie er typischer nicht sein könnte. Nein, nichts, rein gar nichts hat sich in den vergangenen zwölf Monaten geändert.

»Wieso sollte ich?«

Der Kommissar reißt theatralisch die Arme in die Luft, verkneift sich jedoch ein ›Herrgott noch mal‹. Stattdessen fährt er sich durch die bereits wild abstehenden Haare. Dann sagt er: »Weil eine Verbindung zu Ihrer Familie besteht.«

»Es könnte eine Verbindung zu meiner Familie bestehen«, korrigiere ich ihn. »Und von dieser sogenannten Familie sind nur noch zwei Personen übrig. Meine Mutter lebt weit weg auf Mallorca und hat ebenso wenig Interesse daran wie ich, in diesen Fall verstrickt zu werden.«

Kellermann wirft sich in seinem Bürostuhl zurück. Seine Augen sind jetzt zu Schlitzen verengt. Er mustert mich, taxiert mich wie ein Skatspieler, dem eben ein Kontra angesagt wurde. »Weil Sie mal eine von uns waren«, meint er dann schmeichelnd.

»Waren!«, kommentiere ich brüsk, ohne auf seinen vorgetäuschten Charme hereinzufallen. »Sie sprechen ganz richtig von der Vergangenheit. Ich habe vor Jahren den Beruf gewechselt.« Ich verschränke die Arme vor der Brust.

Kellermanns Ton wird eindringlich. »Also gut, Herr Prof. Stallenberg bittet Sie darum.«

Wieso jetzt schon wieder der Aufsichtsratsvorsitzende? Aber auch ohne dass mir der Zusammenhang zwischen Stallenberg und Grüter klar ist, hat Kellermann den richtigen Knopf gedrückt. Stallenbergs Sohn starb durch die Hand meines Bruders. Ich wäge ab, doch ein diffuses Schuldgefühl lässt mir keine Möglichkeit, sein Anliegen von vornherein auszuschlagen.

»Also gut«, lenke ich ein. »Dann erklären Sie mir mal, welche Bitte Herr Stallenberg genau an mich richtet und wieso ich sie ihm erfüllen sollte.«

»Werner Grüter war Vorstandsvorsitzender einer Versicherungsgesellschaft. In seiner Verantwortung lag auch die Steuerung des Immobilienportfolios der Nord Assekuranz. Die Versicherung besitzt eigene Immobilien und hat zudem in externe Fonds investiert. Unter anderem zwanzig Millionen Euro in einen Spezialfonds namens EuroShop XXL. Sie wissen sicher, wer diesen Fonds aufgelegt hat.«

»Die Sega Invest.« Meine Antwort kommt schnell. Der Fonds ist mir noch aus meiner Beratungstätigkeit bei der Bank vertraut.

»Ganz genau«, bestätigt der Kommissar und unterstreicht seine Worte mit einem zustimmenden Nicken.

»Und da in die Mordfälle meines Bruders Mitarbeiter der Sega Invest involviert waren und der Bank dadurch ein ordentlicher Imageschaden zugefügt wurde, fürchtet Stallenberg erneut um sein Renommee? Das macht doch keinen Sinn. Mein Bruder ist tot. Seine beiden Komplizen sind ausgeschaltet. Weck hat sich umgebracht und Meier sitzt im Gefängnis. Somit kann keiner der drei Grüter ermordet haben.« Meine Stimme ist laut geworden.

»Nun«, beginnt Kellermann diplomatisch, »wir konnten einen der Mordfälle nie definitiv mit Ihrem Bruder oder seinen Jüngern in Verbindung bringen. Es konnten keine DNA-Spuren zugeordnet werden.«

»Und das war der Mord in Hamburg?« Ich bin hellhörig geworden.

»Ganz recht.«

»Glauben Sie etwa, dass es noch einen weiteren Jünger gibt, der nicht gefasst wurde und das Werk meines Bruders vollenden will?« Bei dem Gedanken wird mir schlagartig kalt.

»Wir wissen es nicht«, räumt Kellermann mit ruhiger Stimme ein, »aber wir können es nicht ausschließen. Daher ermitteln wir auch in diese Richtung.«

Ich versuche, meine Gedanken zu sortieren, doch ich komme nicht weit, denn der Kommissar fährt fort: »Der Mord war im Detail vorbereitet. Die Leiche wurde inszeniert. Der Täter hat Grüter mit einer Seilwinde hochgezogen, bis sein Kopf einen Meter über dem Boden schwebte. Das Seil, ein Tau, das man um seine Füße band, stammt aus einem Spezialgeschäft für Angler. Spreizzangen halfen, Grüters Mund zu weiten. Der Flasche, die in seinem Rachen stecke, wurde säuberlich der Boden abgetrennt. Dann ließ man den Körper am Seil schwingen, sodass die Flasche gegen die Kaimauer schlug und …«

»Den Rest kann ich mir vorstellen. Danke, das reicht«, werfe ich blitzschnell ein und hebe abwehrend die Hände. Um die Diskussion auf eine andere Ebene zu lenken, bemerke ich: »Und jetzt suchen Sie nach einem Kunstwerk, das zu diesem Mordfall passt, weil es ein weiteres Indiz dafür wäre, dass es einen dritten Jünger gibt?«

»Ganz genau. Dafür brauche ich Ihre Expertise. Sie kennen sich mit Kunst aus und können eventuelle Analogien entdecken. Schließlich haben Sie mir schon einmal sehr geholfen.«

Kritisch halte ich seinem bittenden Blick ein paar Sekunden stand. Dann wende ich mich ab und greife erneut nach dem Dossier auf dem Schreibtisch. Ich bemühe mich, das vor mir liegende Foto als Arbeitsdokument zu betrachten. Sorgfältig untersuche ich jeden Winkel der Aufnahme. Die tödlichen Verletzungen kommen jetzt nicht mehr so nah an mich heran. Nachdem ich das erste Foto eingängig geprüft habe, nehme ich mir die restlichen Bilder vor. Sie zeigen die Leiche aus verschiedenen Blickwinkeln, Nahaufnahmen des Gesichts, die abgehängte Leiche auf dem feuchten Sandboden liegend.

Kellermann schaut mir stillschweigend zu. Er stellt keine Fragen, drängt mich nicht zur Eile. Erst nachdem ich das letzte Foto gemustert habe, vernehme ich von der gegenüberliegenden Schreibtischseite ein einsilbiges: »Und?«

»Schwer zu sagen«, gebe ich zurück und wiege den Kopf hin und her. »Ich glaube nicht, dass die Position des Körpers eine künstlerische Absicht verfolgt. Eher vermute ich, dass sie gewählt wurde, um ihn als Pendel verwenden zu können, sodass er zur eigenen Tatwaffe wurde. Daher glaube ich auch nicht an die Nachahmung eines Werkes von Baselitz.«

»Aber Sie haben eine andere Vermutung?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, wäge ich ab. »Es könnte daran liegen, dass ich kürzlich in der Ausstellung gewesen bin.«

»In welcher Ausstellung?« Kellermanns Stimme klingt mit einem Mal aufgekratzt.

Ich teile diesen Enthusiasmus nicht und antworte gleichmütig: »Die Berlinische Galerie zeigte letztens Arbeiten des österreichischen Künstlers Erwin Wurm. Er ist aktuell sehr populär. Im Mittelpunkt seiner Werke steht der menschliche Körper. Dabei verfolgt er einen partizipatorischen Ansatz.«

»Welchen Ansatz bitte?«, unterbricht mich Kellermann.

»Nun, vereinfacht gesagt, lässt der Künstler den Betrachter zu einem Teil des Kunstwerkes werden, das gilt insbesondere für seine Instruktionszeichnungen. Auf diesen Skizzen ist ein Mensch in verschiedenen Körperstellungen abgebildet und hantiert mit einzelnen Gegenständen: Stühlen, Lampenschirmen, Büchern oder eben auch Flaschen. Und auf einem dieser Werke steckt im Mund des porträtierten Mannes eine Flasche.«

»Können Sie mir das Bild im Internet zeigen?« Der Kommissar richtet seinen Blick auf meine Umhängetasche, in der er mein Handy vermutet.

Langsam schüttle ich den Kopf. »Ich glaube nicht, dass wir die Skizze im Netz finden, aber ich habe ein paar Fotos von der Ausstellung gemacht. Mit etwas Glück ist die Instruktionszeichnung dabei.«

Ich fingere mein Handy aus der Tasche und tippe auf das Display. Wenige Augenblicke später strecke ich Kellermann das Smartphone entgegen. Er reckt sich über den Schreibtisch und kneift die Augen zusammen. Dann schiebt er sich ein Stück zurück und fixiert den Bildschirm erneut. Ich frage mich, ob seine Eitelkeit einer Brille entgegensteht oder er sich schlichtweg nicht aufrafft, zum Optiker zu gehen.

»Meinen Sie, die Ähnlichkeit reicht?«, fragt der Kommissar skeptisch.

Ich zucke die Schultern. »Ich weiß es nicht. Das ist das Kunstwerk, das mir spontan zu der Mordszenerie einfiel. Aber die Analogie steckt für mich auch nicht zwingend in der Skizze selbst. In den Erklärungstexten zu den Instruktionszeichnungen wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei den Darstellungen um autoritäre Anweisungen handelt, die der Betrachter strikt befolgen soll.«

»So, so, autoritäre Anweisungen«, brummt Kellermann und starrt gedankenverloren auf die Schreibtischplatte. Auch meine Ergänzungen scheinen ihn nicht zu überzeugen. Dann blickt er auf: »Wann wurde die Ausstellung gezeigt?«

»Im Sommer. Wenn Sie es genau wissen möchten, kann ich es nachschauen.«

Kellermann nickt zustimmend.

Nach einer kurzen Recherche berichte ich: »Vom vierzehnten bis zum zweiundzwanzigsten August. Der Täter kann die Zeichnungen allerdings auch woanders gesehen haben. Soweit ich weiß, entstanden diese Skizzen bereits in den Neunzigerjahren. Und im Moment werden Wurms Werke in einer Stadt nach der anderen ausgestellt.«

»Mmh«, brummt der Kommissar gedankenverloren und beginnt, durch mich hindurchzusehen, als wäre er allein mit sich und seinen Gedanken.

Nach einer Weile beschließe ich aufzubrechen. »Gut«, ich lege die Hände startbereit auf meine Oberschenkel, »damit habe ich Ihnen alles gesagt, was mir einfällt. Ich wünsche viel Erfolg bei der Kunstrecherche.«

»Moment, Moment«, hält Kellermann mich zurück. »Sie können nicht einfach gehen.«

»Wieso?«, frage ich verdattert.

Kellermanns Blick könnte man jetzt als verwundert beschreiben. Er wirkt so erstaunt, als hätte ich einen wildfremden Menschen auf der Straße angesprochen. Völlig unbedarft kommt es aus ihm hervor: »Weil der Fondsmanager des EuroShop XXL wenige Tage nach Grüters Tod vermutlich Selbstmord begangen hat.«

Ich gerate in Rage. »Können Sie mich bitte einmal über den gesamten Fall informieren und mir nicht ständig mit irgendwelchen Überraschungen kommen?«

Kellermann hebt entwaffnend die Hände. »Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal wieder.«

Doch allein seine altbekannte Standardfloskel, mit der er mir eine völlig unberechtigte emotionale Reaktion vorwerfen will, lässt die Wut weiterkochen.

»Also gut«, meint Kellermann seufzend. »Alexander Kerbas ist am vergangenen Donnerstag verstorben. Er hatte Diabetes, litt unter akuter Unterzuckerung, fiel ins Koma und starb. Wir führen das auf eine Überdosis Insulin zurück. Alles deutet auf Selbstmord hin. Es konnte keine Gewalteinwirkung festgestellt werden.«

»Aber Sie haben dennoch ermittelt?«, hake ich nach.

»Ja, dabei habe ich auch Kerbas’ berufliches Umfeld durchleuchtet, mit seinen Arbeitskollegen bei der Sega Invest geredet und mit Stallenberg. In dem Gespräch thematisierten wir auch die Geschäftsbeziehung zu Grüter. Als Fondsmanager stand Kerbas im direkten Austausch zu dem Manager. Stallenberg ist nervös geworden. Vor einem Jahr erweist sich einer seiner Geschäftsführer als Mörder, jetzt wird einer seiner besten Kunden bestialisch ermordet und wenige Tage später begeht die verantwortliche Kontaktperson unter noch ungeklärten Umständen Selbstmord. Da sind die Schlagzeilen in der Presse vorprogrammiert. Wie sensibel die Finanzbranche auf einen Imageschaden reagiert, muss ich Ihnen nicht erklären.«

»Aber wenn Kerbas sich umgebracht hat, wieso ist er dann relevant für den Fall?«

»Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Sie wissen ja bestimmt, dass eine Fremdeinwirkung bei Insulinverabreichung schwer nachzuweisen ist. Insbesondere bei einem Diabetiker. Im Moment ermitteln wir in alle Richtungen, privat wie beruflich, und Grüter gehörte zu Kerbas’ direkten Geschäftspartnern.«

Vor meinem inneren Auge taucht Alexander Kerbas auf. Mir ist er während unseres Projekts nur ab und an auf den Fluren der Sega Invest begegnet. Es kam höchstens zu einem kurzen Hallo oder einem Kopfnicken. Beruflich bestand keine Notwendigkeit zu einem Austausch und persönlich fehlte mir das Interesse. Kerbas strotzte vor Selbstbewusstsein und wenn er im Stechschritt durch die Bank eilte, drohte seine vor stolz geschwellte Brust sein Hemd platzen zu lassen. Damit vor lauter Dynamik sein Haar nicht durcheinandergeriet, klebte er es mit Gel eng an die Kopfhaut.

Plötzlich wird mir bewusst, dass ich nicht sehr positiv über den Toten denke und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Doch auch wenn es mir leidtut, dass er gestorben ist, macht ihn das nicht sympathischer. Ich frage mich, was ihn zum Selbstmord getrieben hat. War da mehr als diese aalglatte Fassade, die er vor sich hertrug? Hatte er innerlich solche Zweifel? Welche Ängste oder Sorgen zehrten an ihm? Falls es überhaupt Selbstmord war, kommt mir Kellermanns Einwand wieder in den Sinn. »War Kerbas verheiratet oder hatte er eine Freundin?«, frage ich daher, um einen Einblick hinter die Kulissen zu erhalten.

»Verheiratet, seit drei Jahren. Und er hatte eine anderthalbjährige Tochter.«

Perfekter Zeitplan, denke ich bei mir. Auch in der Familienplanung hat er die gesellschaftlichen Erwartungen eingehalten. Nimmt man sich als erfolgreicher, aufstrebender Fondsmanager mit junger Familie das Leben?

»Sie sehen die Ungereimtheiten. Daher sollen Sie für die Investoren des EuroShop XXL ein Reporting-Konzept erstellen.«

Wieder ein Überraschungshieb in Form eines unvermuteten Themenwechsels. Diesmal werde ich jedoch nicht wütend, sondern bleibe betont gelassen. Ich ziehe einzig meine Stirn kraus, um still zu äußern: Was wollen Sie denn nun von mir?

Kellermann wird etwas geschäftiger, beugt sich auf seinem ramponierten Schreibtischstuhl vor, verlagert das Gewicht von einer Pobacke auf die andere. »Also, Sie sollen ein Reporting-Konzept für die Sega Invest erstellen und dabei Kontakt zu den Investoren aufnehmen.« Erwartungsvoll schaut er mich an. Als keine Reaktion kommt, ergreift er erneut das Wort: »Es gibt fünf Investoren. Auch wenn Grüter tot ist, bleibt die Nord Assekuranz als Kunde selbstverständlich bestehen.«

»Sie wollen, dass ich Ihr V-Mann bin?«, frage ich ruhig, aber kritisch.

»Genau gesagt, eine V-Frau«, berichtigt mich Kellermann.

»Sachlich korrekt, inhaltlich bleibt meine Frage jedoch bestehen«, gebe ich zurück.

»Sie würden natürlich für das Projekt bezahlt. Stallenberg benötigt das Reporting-Konzept tatsächlich. In letzter Zeit hat es wohl Reklamationen gegeben. Und er meinte, Sie wären dafür die perfekte Besetzung, würden sich mit den Systemen der Sega Invest auskennen, hätten viel Erfahrung im Immobilienmarkt und …«

»… und ich würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, unterbreche ich Kellermanns Wortschwall.

»Was nicht schaden kann«, resümiert der Kommissar spitzbübisch. »Sein Wunsch nach rascher Aufklärung der Todesfälle ist sicherlich der größere. Falls das Image der Bank beschädigt würde oder sich sogar ein weiterer Mitarbeiter als Komplize herausstellen sollte, braucht er sich um Reklamationen zum Reporting nicht mehr zu scheren. Als Karl Peter Weck und Mark Meier letztes Jahr verhaftet wurden, war das für Stallenberg ein Desaster. Daher sollen Sie in seinen Reihen recherchieren.«

Wie die Zeiten sich geändert haben, denke ich. Vor Kurzem noch saßen wir uns hier gegenüber und Kellermann wollte mich aus den Ermittlungen heraushalten. Jetzt unternimmt er jeden Versuch, um mich ins Boot zu holen. Aber auch ich habe mich verändert. Die letzten zwölf Monate habe ich damit verbracht, Abstand zu gewinnen. Abstand zu der Tatsache, dass mein Bruder ein psychopathischer Serienmörder war. Mein Bruder ist tot. Und wenn Stallenberg und Kellermann eine Verbindung im beruflichen Umfeld der beiden Opfer vermuten, dann hat das nichts mit Eriks grausamen Taten zu tun. Das hier ist nicht mehr mein Fall. »Nein«, antworte ich daher. »Ohne mich.«

Kellermann ist nicht überrascht über meine Reaktion. Er wirkt eher, als hätte er mit meiner Ablehnung gerechnet und lässt meine Antwort daher still über sich ergehen. Seinen erwartungsvollen Gesichtsausdruck gibt er jedoch keineswegs auf.

Eine unangenehme Stille entsteht. Er weiß es, denke ich fuchsig. Er weiß genau, was er tun muss. Er weiß, dass er mich bei meinem Schuldgefühl packen kann. Als Nächstes wird er an den Teamgedanken appellieren, das alte Musketierkonzept: Einer für alle, alle für einen.

Doch dann kommt es anders als gedacht. Kellermann legt noch ein Gewicht obendrauf: »Wenn der Täter ein unentdeckter Jünger Ihres Bruders ist, der im Alleingang weitermordet, könnten Sie vielen Menschen einen grausamen Tod ersparen. Sie kannten Erik am besten. Sie können uns Hinweise liefern, die niemand sonst erkennt.«

Kellermanns Ton ist sachlich, nüchtern, geradlinig. Und trotz des fehlenden Pathos haben seine Worte ins Schwarze getroffen. Ich muss schlucken. Alles in mir sträubt sich, dieses Kapitel wieder aufzuschlagen. Daher wage ich einen letzten Versuch: »Warum fragen Sie nicht Meier? Er sitzt im Gefängnis und müsste wissen, ob es einen weiteren Jünger gibt.«

Kellermanns Antwort kommt prompt: »Mark Meier behauptet vehement, dass Erik, Weck und er die Morde allein begangen hätten. Die Tat in Hamburg schreibt er einem von den anderen beiden zu, doch uns fehlt der eindeutige Beweis. Und Weck können wir ja nicht mehr befragen.«

Leichtes Spiel für Meier. Weck hat in der Untersuchungshaft Selbstmord begangen. Ohne stichhaltige Beweise kann die Aussage also nicht verifiziert werden. Mein Blick schweift zurück auf das Dossier. Wieder erscheint Grüters Gesicht vor meinem inneren Auge. Der weit geöffnete Mund, die aufgerissenen Lippen, das Blut, das am Flaschenhals klebt. Übelkeit vermischt sich mit Trauer und Wut. Um diese Gefühle nicht zuzulassen, antworte ich mit Nachdruck: »Also gut, ich mache es.«

Der Kommissar klatscht triumphierend in die Hände wie ein am Spielfeld stehender Trainer, der gewahr wird, dass seine Mannschaft gerade ein Tor geschossen hat. Dann besinnt er sich in seinem Jubel und wird wieder sachlich. »Die IT-Abteilung der Sega Invest ist informiert, Sie können direkt auf Herrn Blasek zugehen.«

Die IT ist bereits informiert? Und wer ist dieser Blasek? Zum letzten Mal fühle ich mich im heutigen Gespräch übertölpelt.

Kellermann springt auf, klopft mir kameradschaftlich auf die Schulter und wiederholt, über jeden Zweifel erhaben: »Sie machen das schon. Ganz bestimmt.«

4

Herr Blasek stellt sich mir als der neue IT-Leiter vor. Er trägt einen silbernen Anzug, der sich farblich deutlich von seinem raspelkurzen Rotschopf abhebt. Mit seiner hochgewachsenen, schmalen Statur erinnert er mich an ein überdimensionales Streichholz.

Nach der Vorstellung klärt Blasek mich darüber auf, dass er aus der Versicherungsbranche kommt und die Betreuung der IT-Systeme der Sega Invest vor gut einem halben Jahr übernommen hat.

Dass der neue IT-Leiter mir noch unbekannt ist, hat auch Vorteile. Im damaligen Projekt gehörte ich praktisch zum Inventar und Sitzungen fanden in der Regel in einem der stickigen Projekträume statt. Heute treffe ich meinen zukünftigen Ansprechpartner hingegen in einem der repräsentativen Konferenzräume in der Geschäftsführungsetage. Ergänzend zu Kaffee und Wasser, wurde Gebäck auf einem Silberschälchen bereitgestellt. Diese Zusatzverköstigung wurde damals nur externen Besuchern gewährt.

»Möchten Sie einen Kaffee?« Blasek weist auf die bereitgestellte Verpflegung und fügt damit nach seiner Begrüßung eine weitere Höflichkeitsformel hinzu. Trotz dieses charmanten Entgegenkommens wirken seine Gesten hölzern, als würde er aufmerksam eine auswendig gelernte Liste abarbeiten.

»Gerne«, antworte ich. »Vielen Dank.« Seine Augen blitzen kurz zufrieden auf und ich frage mich stillschweigend, wie viel der IT-Leiter von meinem inoffiziellen Auftrag weiß.

Nachdem er eingeschenkt hat, nimmt Blasek mir gegenüber Platz. Hinter ihm gibt die Glasfassade den Blick auf das Frankfurter Bankenviertel frei. Ich rühre meine Tasse noch nicht an, ich mag meinen Kaffee gerne lauwarm.

»Frau Wagenfeld, die IT-Systeme der Sega Invest sind Ihnen ja bestens aus Ihrem vorherigen Projekt vertraut und Sie kennen sicherlich auch die Vielzahl der Berichte, die wir tagtäglich erstellen müssen. Soll-Ist-Vergleiche, Übersichten zu laufenden Bauprojekten, Renditeberechnungen der Fonds. Daten, die wir in mühsamer Kleinarbeit zu Reports aufbereiten.« Mit dem Wechsel zu fachlichen Themen verliert sich Blaseks hölzerne Art. Jetzt ist er in seinem Metier. Mir kommt dieser direkte Einstieg sehr entgegen und ich lausche aufmerksam Blaseks Ausführungen.

»Wir möchten diese zeitraubende händische Berichterstattung abstellen. In einem zentralen Reporting-Tool sollen Daten aus den verschiedenen Applikationen zusammengeführt werden. Dazu werden wir in zwei Schritten vorgehen. Zuerst möchten wir die Inhalte der zukünftigen Reports mit unseren Kunden abstimmen und anschließend die Programmierung des Tools vornehmen. Wir werden Ihre Unterstützung insbesondere für den ersten Teil benötigen.«

Neben der Nord Assekuranz, die von Grüter gemanagt wurde, sind zwei weitere Versicherungen als Investoren beteiligt. Die Neue Leben aus München und die Swiss Protect mit Sitz in Zürich. Darüber hinaus ist der Berliner Pensionskassenverband in den Fonds EuroShop XXL investiert und fünftes Mitglied ist die SAB, kurz für Stockholm Asset Bank.

Ich mache mir Notizen und frage dann: »Wie werde ich die Reporting-Bedürfnisse bei den Kunden abfragen? Sind dazu Sitzungen in Frankfurt angedacht?«

»Nein. Bei den Kontaktpersonen handelt es sich um das oberste Management, da werden wir so schnell keinen gemeinsamen Termin finden. Daher haben wir entschieden, dass Sie vorerst Einzelgespräche bei den Unternehmen vor Ort durchführen. Eine gemeinsame Sitzung ist dann für die MIPIM geplant.«

Da werden die Investoren aber mit Puderzucker bestäubt. Für jeden einzelnen wird ein Vor-Ort-Besuch kreuz und quer durch Europa anberaumt. Und neben dieser Prestigebehandlung ist ein anschließendes Treffen in Cannes auf der internationalen Immobilienmesse natürlich nur standesgemäß.

»Sind die Investoren bereits über das Vorhaben informiert?«, erkundige ich mich.

»Ja, sie wissen Bescheid. Daher können Sie umgehend auf die Unternehmen zugehen. Ich sende Ihnen im Nachgang die Kontaktdaten.«

Das ging ja schnell, denke ich und frage mich, ob die Vorinformation der Investoren vor oder nach dem Gespräch mit Kellermann erfolgt ist. Hat der Kommissar fest darauf gesetzt, mich überreden zu können?

Während ich abwäge, wie sehr ich verschaukelt wurde, fährt Blasek fort: »Neben den Geschäftsführern werden Sie auch mit den Verantwortlichen aus der IT sprechen. Wir möchten unseren Kunden die Basisdaten zur Verfügung stellen, daher ist es wichtig, dass Sie deren ITSysteme kennen.«

Ich bin überrascht über das Ausmaß der Datenlieferung. Daher stelle ich infrage, ob dieser Umfang wirklich erforderlich ist.

Blasek verdreht die Augen und erläutert: »Sie kennen das doch. Wenn man einmal den kleinen Finger reicht, reißen einem alle anderen den Arm ab. Ob sie die Daten letztendlich einsetzen, steht auf einem anderen Blatt, aber haben wollen sie sie. Die Schweden werden wahrscheinlich sogar tatsächlich damit arbeiten, die Skandinavier sind uns in ihrer IT-Entwicklung weit voraus.«

Damit mag Blasek recht haben. Nach der jahrelangen unangefochtenen Vormachtstellung der USA in der Digitalisierung bilden sich inzwischen immer mehr regionale Kompetenzinseln in der restlichen Welt heraus. Einer dieser digitalen Hotspots ist definitiv Stockholm.

»Gut«, resümiert Blasek. »Den Projektauftrag habe ich Ihnen per Mail zugestellt. Kommen wir zum Organisatorischen. Werden Sie das Projekt allein abwickeln oder ziehen Sie einen Ihrer Kollegen hinzu?«

Kurz gehe ich in Gedanken unser Team durch. Einzig Christian käme für mich infrage. Doch er ist ein typischer IT-Nerd, der das Tageslicht scheut und sich am liebsten allein hinter seinen Datenbanken verschanzt. Er wäre für die Kommunikation mit den Investoren völlig unbrauchbar. Daher antworte ich: »Ich werde das Projekt allein abwickeln. Für technische Fragestellungen ziehe ich eventuell einen Kollegen hinzu.«

»Also gut, dann müssen wir nur für Ihre Ausrüstung sorgen.« Blasek ist sofort mit meinem Vorschlag einverstanden und schlägt noch nicht einmal vor, selbst mit zu den Investoren zu reisen. Jetzt bin ich mir sicher, dass Stallenberg ihn auf irgendeine Weise über meinen Zusatzauftrag informiert hat.

Unbedarft plaudert der IT-Leiter weiter: »Um Ihren Arbeitsplatz, einen Rechner und die Zutrittskarte für das Gebäude wird sich Frau Schröder kümmern.« Jetzt muss Blasek meinen fragenden Blick bemerkt haben, denn er ergänzt: »Prof. Stallenbergs Assistentin. Frau Tennschild, seine ehemalige Sekretärin, ist vor ein paar Monaten in den Vorruhestand gegangen. Ich werde Sie Ihnen gleich vorstellen. Sie wird Sie bei den Terminvereinbarungen unterstützen.«

Auf dieses Tempo war ich nicht eingestellt und mein Gesichtsausdruck scheint immer noch Unverständnis zu vermitteln, denn der IT-Leiter meint vorsorglich: »Also, wenn von Ihrer Seite noch Fragen sind, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Sie können jederzeit auf mich zählen.«

Ich schüttle den Kopf. Fragen hätte ich viele, aber keine, die er mir beantworten könnte.

5

»Frau Wagenfeld, herzlich willkommen. Ich bin Frau Schröder. Sie wollen bestimmt Ihre Zugangskarte abholen?« Mit dynamischem Schritt kommt Stallenbergs neue Assistentin mit flotter Kurzhaarfrisur auf mich zu. Ihre Statur und Vitalität erinnert mich an meine damalige Sportlehrerin aus Schulzeiten.

»Genau. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Ich schüttle ihre Hand.

»Ich habe Ihnen ein ganz besonders hübsches Büro besorgt«, berichtet die Assistentin beschwingt. »Wir haben hier auf der Geschäftsführungsetage noch einen Raum frei, mit Blick auf die Alte Oper.«

Ich finde Gefallen an meiner neuen Rolle. Neben Schokoladenkeksen erhalte ich ein Büro mit exklusivem Ausblick. Bevor ich mir meine neuen Räumlichkeiten anschaue, frage ich jedoch: »Und Prof. Stallenberg? Ist er im Haus?«

»Ja, er ist heute hier. Soll ich kurz fragen, ob er einen Moment Zeit hat?«

Ohne auf meine Antwort zu warten, eilt Frau Schröder in ihren Ballerinas auf das Büro des Aufsichtsratsvorsitzenden zu. Der Kopf der Assistentin verschwindet im Türspalt und kurz darauf winkt sie mich heran. Ich trete über die Schwelle und erblicke Prof. Stallenberg, der hinter seinem massiven Eichenpult thront, das einer Kanzel gleicht.

Der Aufsichtsratsvorsitzende tritt hinter seinem Pult hervor und schreitet mir zackig entgegen. Ein General alter Schule. Das schlohweiße Haar verkündet sein fortgeschrittenes Alter. Die langen Strähnen sind zurückgekämmt, um die ersten kahlen Stellen zu überdecken.

Die Tür in meinem Rücken hat Frau Schröder bereits sanft geschlossen. Noch etwas überrumpelt blicke ich auf Stallenbergs ausgestreckte Hand. Ich bin unsicher, ob ich sie einfach ergreifen soll. Der Aufsichtsratsvorsitzende hätte allen Grund zur Wut auf mich. Doch aus seinen Augen blitzt kein Ärger hervor. Ich spüre keine Antipathie, er nimmt mich nicht in Sippenhaft. Beherzt greife ich nach seiner Hand. Während ich sie fest umschließe, vermittelt mir sein Blick noch etwas ganz anderes. Eine Spur von Vertrauen. Wir haben damals beide den Mörder gejagt, auch wenn ich lange nicht wusste, dass mein Bruder das Zielobjekt war. So wurden wir zu Mitstreitern, die es beide bis zum Ziel geschafft haben. Daraus entstand Anerkennung, ein gegenseitiger Respekt, den ich jetzt in seinen Augen erkenne.

»Herr Stallenberg«, grüße ich und erhöhe kurz den Händedruck.

»Frau Wagenfeld«, erklingt betont das Echo.

Dann weist Stallenberg mit der freien Hand auf eine Polstergruppe und wir setzen uns einander gegenüber. Auf Augenhöhe.

Der Aufsichtsratsvorsitzende wählt eine förmliche Eröffnung: »Schön, dass Sie Ihre Teilnahme am Projekt zugesagt haben. Ich bin sicher, dass Sie die richtige Person zur Erstellung des Reporting-Konzepts sind.«

Und um als verdeckte Ermittlerin die Mitarbeiter und die Investoren auszuspionieren, ergänze ich stillschweigend.

Just kommt Stallenberg auf dieses brisante Thema zu sprechen: »Ihre Analysequalitäten haben wir in der Vergangenheit ja bereits kennengelernt. Ich denke, Kommissar Kellermann hat Sie über die delikaten Zwischenfälle in unserem Firmenumfeld informiert. Es käme uns sehr gelegen, wenn Sie bei der Erstellung des Reporting-Konzepts Augen und Ohren offen halten könnten.«

»Gerne«, antworte ich zustimmend, frage mich jedoch, was der Auftrag alles beinhalten wird.

»Es ist gut, dass wir Sie an Bord haben.« Stallenberg räuspert sich. Sein sonst so strammes Auftreten wird weicher, sein Tonfall milde. »Ich schätze Sie und Ihre Arbeit wirklich sehr, Frau Wagenfeld. Ich vertraue Ihnen und das ist mir wichtig. Ich möchte nicht mit irgendeinem x-beliebigen Ermittler zusammenarbeiten. Wir brauchen jemanden, der Rückgrat hat und sich auch vor unbequemen Fragen nicht scheut.«

Diese offene, persönliche Herzlichkeit macht mich sprachlos. Der Manager ist nicht gerade für warme Töne bekannt und hat sich in der Vergangenheit eher durch sein konsequentes Auftreten einen Namen gemacht. Unsere gemeinsame Jagd hat sein Verhalten mir gegenüber tatsächlich verändert.

Weil ich bisher nichts erwidert habe, räuspert sich Stallenberg erneut und fragt: »Haben Sie denn bereits alle Unterlagen erhalten? Wurden Sie von Herrn Blasek umfassend informiert?«

Seine Pupillen sind auf mich fixiert, die Augen erscheinen mir wässriger als noch vor einem Jahr. Auch die Altersflecken haben zugenommen. Die Geschehnisse haben ihre Spuren hinterlassen.

»Ja, alles bestens. Auch ein Büro habe ich bereits bekommen. Wir sind jetzt quasi Nachbarn.«

»Hervorragend. Das freut mich.« Eine kinnlange weiße Haarsträhne löst sich bei dem euphorischen Ausstoß aus seinem zurückgekämmten Haar und schwingt eigenwillig vor Stallenbergs rechter Wange.

Die IT-Themen habe ich bereits mit Blasek diskutiert, die sind auch nicht Stallenbergs Steckenpferd. Dafür hoffe ich, von ihm weitere Informationen zu den Investoren zu bekommen, und spreche ihn darauf an.

Geschäftsmäßig erläutert er mir die Beziehung zu den Unternehmen, ihr Anteilsvolumen, die vereinbarte Laufzeit der Investition und beschreibt jede einzelne verantwortliche Person auf Kundenseite. Ich mache mir Notizen, doch Besonderheiten fallen mir keine auf. Alle Eckdaten weisen auf eine übliche Geschäftsbeziehung hin.

Als ich nach seinem persönlichen Kontakt frage, versichert er: »Ich bin bei den regelmäßigen Anlegersitzungen dabei und treffe den einen oder anderen Geschäftsführer bei den üblichen Branchenveranstaltungen. Zu keinem von ihnen habe ich ein besonders gutes oder schlechtes Verhältnis. Das galt auch für Grüter. Ich kannte ihn allerdings seit vielen Jahren und schätzte ihn als Immobilienexperten.«

»Gab es keine Konflikte? Keine Reklamationen zur Performance des Fonds?«, hake ich nach. Ich weiß, dass das unwahrscheinlich ist, denn ich habe mir die guten Ergebnisse des EuroShop XXL im Vorfeld angesehen. Dennoch stelle ich die Frage, in der Hoffnung, auf eine andere brauchbare Information zu stoßen.

»Nein«, antwortet Stallenberg und unterstreicht seine Aussage mit einem Kopfschütteln. »Die Performance war einwandfrei.«

»Und Herr Kerbas war verantwortlich für diese positive Wertentwicklung?« Ich nutze das Thema für eine Überleitung zum toten Fondsmanager, meinem zweiten Interessenschwerpunkt.

»Ja, er hat den EuroShop XXL gemanagt, zweifelsohne mit Erfolg. Der Fonds hat in den letzten Jahren an Wert zugelegt und den Investoren eine beachtliche Ausschüttung beschert. Auch als Person war Herr Kerbas bei unseren Kunden geschätzt und anerkannt.«

Diese Lobenshymne auf den mir so unsympathischen Fondsmanager ist mir suspekt. Doch ich will mich nicht von persönlichen Eindrücken leiten lassen. Kerbas’ arrogantes Auftreten wird in Investorenkreisen sicher auf seinesgleichen gestoßen sein.

»Hat Herr Kerbas einen intensiven Kundenkontakt auch außerhalb der Anlegerausschusssitzungen geführt?«, frage ich mein Gegenüber.

»Auf jeden Fall, er hat eine enge Beziehung zu den Geschäftsführern gesucht. Insbesondere in Zürich war er sehr oft.«

Stallenbergs Bestätigung wundert mich nicht im Geringsten. Wie die Motten das Licht suchen Menschen wie Kerbas die Nähe statusträchtiger Amtsträger. An deren Schein möchten sie partizipieren, in ihrem Licht mit erstrahlen. Reiß dich zusammen, herrsche ich mich innerlich an, als ich merke, wie meine Skepsis Kerbas gegenüber mit mir durchgeht. Diese Kritik ist weder berechtigt noch angebracht und bei all dem Lob, das Stallenberg dem verstorbenen Fondsmanager zuteilwerden lässt, sicher auch nicht erwünscht.

Bevor ich mich in die Nesseln setze, frage ich daher diplomatisch: »Kannten Sie Herrn Kerbas persönlich?«

»Aber sicher. Er war mein Neffe.«

6

Kerbas ist mit Stallenberg verwandt. Diese Information hat Kellermann mir bisher verschwiegen. Oder hat er es selbst nicht gewusst? Das ist kaum vorstellbar. Der Kommissar wird umfangreiche Ermittlungen eingeleitet haben und dabei wäre die familiäre Beziehung zu dem Aufsichtsratsvorsitzenden sofort zutage getreten.

Aber was bedeutet die verwandtschaftliche Verbindung? Meine Gedanken kreisen um diese zentrale Frage, während ich mein neues Büro einrichte. Ich bin so konzentriert, dass ich des gelobten Ausblicks auf die Alte Oper gar nicht gewahr werde. Stumpf starre ich aus der Glasfront und versuche, die Zusammenhänge zu entschlüsseln. Falls Kerbas’ Selbstmord keiner war und Kellermann mit seiner Vermutung richtigliegt, dass die Spur zu Erik und seinen Jüngern führt, käme auch ein weiteres Motiv infrage. Bei der Tat muss es nicht zwingend um die Nachbildung eines Kunstwerks gehen, es könnte sich auch um einen Racheakt gehandelt haben. Stallenberg war es, der damals als Erster die Spur zum Mörder, zum Mordkomplott meines Bruders fand. Der Professor hat Erik zu Fall gebracht, die Fertigstellung des Kunstwerks vereitelt. Ein weiteres Gruppenmitglied könnte sich rächen wollen. Aber ist es wirklich möglich, dass aus dem Kreis von Eriks Jüngern einer unerkannt blieb und das Werk meines Bruders nun fortsetzt?

Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer weiß ich, dass ich aktuell keine Antwort finden werde. Daher wende ich mich von der Glasfassade ab und meinen anstehenden Projektaufgaben zu. Die Termine mit den Investoren werden durch Frau Schröder ausgehandelt. Also öffne ich den Projektauftrag in meinem Posteingang. Es überrascht mich nicht, dass Herr Blasek alle Aufgaben und das anstehende Vorgehen äußerst strukturiert dargestellt hat. Der IT-Leiter weiß, wovon er spricht. Doch trotz der guten Lesbarkeit komme ich nicht weit. Mein Handy klingelt und das Display verrät mir, dass Anna mich erreichen will. Ich unterbreche meine Lektüre sofort.

»Hallo«, melde ich mich. »Wie stehts in Berlin? Hast du heute keine Vorlesungen?« Lange Einführungsfloskeln sind bei meiner besten Freundin nicht mehr nötig.

»Nein, ich bleibe heute verschont von meinen Studenten. Aber was auf meinem Schreibtisch liegt, macht mich auch nicht glücklicher. Ich muss einen Vortrag für den Innovationstag der Berliner Hochschulen vorbereiten. Hast du schon einmal von ›Blockchain‹ gehört?«

»Klar. Darum wird ja zurzeit viel Wirbel gemacht. Mit dieser Technologie sind Digitalwährungen wie Bitcoin erst möglich.«

»Ja, genau.«

»Und was machst du in der Finanzwirtschaft?«, wundere ich mich.

»Der Technologie wird viel Potenzial für die Immobilienwirtschaft nachgesagt. Ich lese dir mal meine Einleitung vor: Die Blockchain, zu Deutsch ›Blockkette‹, scheint magisch zu sein, wird als innovativste Entwicklung seit Erfindung des Internets bezeichnet und stellt bestehende Geschäftsmodelle auf den Kopf. Doch was genau steckt hinter dieser Technologie und wie wird sie die Immobilienwirtschaft verändern?«

»Klingt doch spannend. Und wie geht es weiter?«

»Das ist ja mein Problem. Weiter weiß ich noch nicht!«

Ich muss lachen. Typisch Anna. Sie ist eine Meisterin darin, tausend Dinge gleichzeitig anzureißen und dann von ihrer eigenen Dynamik überrascht zu werden.

»Also wenn du dazu etwas Schlaues entdeckst, ich bin für jegliche Hinweise dankbar.«

»Ich halte Augen und Ohren offen«, versichere ich und stolpere über meine eigene Wortwahl. Habe ich meine neue Aufgabe bereits so verinnerlicht?

»Als Dankeschön sende ich dir unser Lied zum Wochenende bereits heute!«

»Du bist ein Goldschatz«, gebe ich zurück und meine es auch so.

Ihr seit Jahren gepflegtes Ritual ist mir sehr ans Herz gewachsen. An jedem Freitag bekomme ich ein Musikvideo aus unterschiedlichsten Stilrichtungen geschickt. Mal vergnügt, mal melancholisch, mal politisch, mal populär, aber immer überraschend.

»Wo treibst du dich überhaupt herum? Bist du nicht auch in Berlin? Bei Karla?«

»Nein, ich bin in Frankfurt. Ein neues Projekt hat begonnen«, versuche ich, meinen Auftrag möglichst belanglos klingen zu lassen. Die Worte ›Polizei‹, ›Kommissar‹ oder ›Sega Invest‹ nehme ich nicht in den Mund.

Doch Anna lässt nicht locker, bis sie sämtliche Geschehnisse der letzten Tage aus mir herausgequetscht hat. Die Neuigkeiten stoßen bei meiner Freundin nicht auf Begeisterung. Noch allzu lebendig sind die Erinnerungen an die Tatsache, dass ich bei der letzten Ermittlung nur knapp mit dem Leben davongekommen bin.

»Du musst wissen, was du tust«, schließt Anna ihren letzten Einwand. Sie ist nicht nachtragend und eher für Diplomatie bekannt. Ein ›Siehste, hab ich dir doch gesagt‹ habe ich trotz unserer vielen gemeinsamen Jahre noch nie von ihr gehört.

Nachdem Anna aufgelegt hat, lege ich das Handy nicht weg, sondern tätige erneut einen Anruf.

»Marie, von dir habe ich ja lange nichts gehört«, erklingt die brüchige Stimme meiner Mutter.

In den letzten Jahren hat sie sich mehr und mehr dem Yoga verschrieben und schwört inzwischen auf vegane Kost. Sie ist hager geworden. Wenn sie unter der Sonne Mallorcas schulterfreie Tops trägt, erkennt man die hervorstehenden Sehnen an ihren Armen. Doch nicht nur ihr Körper hat an Fett verloren, auch ihre Stimme hat Geschmeidigkeit eingebüßt. Jeden Moment droht sie wegzubrechen.

»Geht es dir gut?«, erkundige ich mich.

Es folgen die üblichen Geschichten aus der Yogaschule, über neue Kochexperimente und jüngst entdeckte Wanderwege durch die mallorquinischen Berge.

Nach einer knappen Viertelstunde eröffne ich mein Anliegen: »Mama, hat sich nach Eriks Tod eigentlich mal jemand bei dir gemeldet? Hat vielleicht jemand angerufen oder dir geschrieben, der dir sonderbar vorkam?«

»Ach, mein Liebes«, meint meine Mutter seufzend. »Warum lässt du dieses Kapitel nicht ruhen?«

»Bitte, Mama, es ist mir wichtig«, insistiere ich.

Meine Mutter atmet tief ein und berichtet dann: »Es gab ein paar Briefe, weißt du? Beileidsbekundungen und Kondolenzschreiben. Und natürlich sind die Reporter wie Aasgeier über mich hergefallen.«

»Hast du die Briefe noch?«

»Die habe ich dir doch geschickt. Ein paar Wochen nach Eriks Tod. Ich wollte sie nicht mehr um mich haben und du hast zugestimmt, dass ich dir die Post sende. Du hast ja auch ein paar Sachen aus seiner Wohnung behalten. Kannst du dich erinnern?«

Jetzt, wo sie es anspricht, kann ich das tatsächlich. Das Gespräch mit meiner Mutter ist mir wieder präsent. Ich habe alles in einen Umzugskarton im Keller verstaut und ihn nie wieder angerührt.

»Ja, ja, stimmt«, erwidere ich in dem Versuch, die aufkommende Unruhe meiner Mutter zu besänftigen.

»Geht es dir wirklich gut, Marie?«

Mein Vorhaben war nicht von Erfolg gekrönt. »Ganz bestimmt, alles in Ordnung«, versichere ich erneut.

»Wann kommst du mich mal wieder besuchen? Du warst schon so lange nicht mehr hier.«

»Bald, Mama.«

7